Herbstoffensive der Gewerkschaften
Für eine gerechte Aufteilung von Arbeit und Lohn auf die Beschäftigten und Nichtbeschäftigten

Die Gewerkschaften ziehen eine Lehre aus ihrem gescheiterten Kampf um mehr Beschäftigung: sie übernehmen die Perspektive des Sozialstaats und die Sichtweise des Kapitals vom Kostenfaktor Arbeit. Und entfalten einen Ideenreichtum zur gerechteren Aufteilung von Arbeit und Lohn, der den Ansprüchen und Forderungen der Unternehmen nach rentabler Arbeit z.B. über weit reichende Öffnungsklauseln ganz neue Alternativen eröffnet…

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Herbstoffensive der Gewerkschaften
Für eine gerechte Aufteilung von Arbeit und Lohn auf die Beschäftigten und Nichtbeschäftigten

Neulich stellte sich die IG-Metall die Frage, ob für sie nicht das Ende der Bescheidenheit gekommen ist. Die Lohnzurückhaltung der letzten Jahre habe nicht zum gewünschten Umschwung am Arbeitsmarkt geführt,[1] stellt ihr Vorsitzender fest. Der DGB-Chef sieht die Sache ähnlich: Die Beschäftigten hätten Vorleistungen erbracht. Was fehle, seien die Gegenleistungen.[2] Die Gewerkschaften kommen zu dem Ergebnis, daß ihr Kampf um mehr Beschäftigung gescheitert ist.

Womit sie derzeit von sich reden machen, sind tarifvertragliche Regelungen zur Altersteilzeit, die einen Arbeitsplatz-Tausch zwischen Alt und Jung[3] ermöglichen sollen. Ins Gespräch gebracht wird von ihnen die 32-Stunden-Woche, die in der Metallindustrie rund 300000 Arbeitsplätze bringen und im Jahr 2001[4] zum Verhandlungsgegenstand gemacht werden soll. Der ÖTV-Vorsitzende ist beleidigt, weil seine Gewerkschaft seinem Vorstoß nicht gefolgt ist, im Interesse der Arbeitslosen Verhandlungen über eine Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich[5] aufzunehmen. Außerdem zeigen sich die Gewerkschaften überaus aufgeschlossen gegenüber flexiblen Arbeitszeitmodellen mit einer Vielzahl von Wahlmöglichkeiten,[6] gegenüber mehr Teilzeitarbeit, eventuell auch staatlich bezuschußten Niedrigst-Kombilöhnen – weil all das zu mehr Beschäftigung führen kann.[7] Die Frankfurter Allgemeine Zeitung registriert mit Genugtuung einen qualitativen Wechsel in der Tarifpolitik.[8]

Unter dem Motto: Wer neue Arbeit will, muß sich zum gerechten Teilen von Arbeit bekennen,[9] schreiten die Gewerkschaften zu neuen Taten. Sie gestehen sich ihre Ohnmacht ein, etwas für die Ausweitung der Nachfrage nach Arbeitskräften tun zu können, gehen davon aus, daß es auf Dauer viel zu wenig Arbeit für viel zu viele Arbeitskräfte gibt, und sehen sich angesichts dieser Lage herausgefordert, die Verteilung der knappen Güter Arbeit und Lohn auf die lohnabhängigen Massen zu organisieren. Dafür wollen sie über die Tarifpolitik Gestaltungsspielräume schaffen.[10]

Damit haben die Gewerkschaften den logischen Endpunkt ihres Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit erreicht.

1. Etappen des Gewerkschaftskampfes gegen die Arbeitslosigkeit

Dieser Kampf beginnt noch in den Zeiten der „Vollbeschäftigung“ als Kampf gegen Massenentlassungen und krankt von Anfang an daran, daß die Arbeitslosigkeit für die Gewerkschaften nichts als ein immer größer werdendes Problem der Nichtbenutzung der auf Arbeit angewiesenen Mannschaft ist, das sie nach „Beschäftigung“ rufen läßt. Sie wollen nichts davon wissen, daß sich die Arbeitslosen dem Gebrauch verdanken, den kapitalistische Unternehmen von ihren Belegschaften machen. Der einzig und allein der Vergrößerung eines Kapitalvermögens geltende Einsatz von Arbeit – der wegen dieser seiner ökonomischen Zweckbestimmung auch nur stattfindet, wenn er rentabel ist, und sämtliche Bemühungen konkurrierender Kapitalisten einschließt, ihn rentabel zu machen, also von weniger Arbeitskräften und damit mit weniger Lohnzahlungen mehr mit Gewinn zu verkaufende Ware herstellen zu lassen – ist vielmehr das, was die Gewerkschaften fordern, wenn er nicht mehr gefragt ist. Anfangs noch kämpferisch – die Drohung, das Geschäft der zu Entlassungen schreitenden Unternehmen zu unterbinden, wenn die beachtliche Teile ihrer Belegschaften ihrer Existenzmittel berauben, wird von ihnen jedoch nie auch nur in Erwägung gezogen. Geschäftsschädigende Praktiken widersprechen nämlich der Forderung nach Weiterbeschäftigung, die einen Dienst von diesem Geschäft einklagt und es als positive Grundlage der von ihm abhängigen Arbeiterexistenzen unterstellt und anerkennt. Deswegen bleibt den Gewerkschaften letztlich nichts anderes übrig, als die auch von ihnen nicht nur so genannten, sondern auch als solche anerkannten „Arbeitgeber“ nachdrücklich zur Benutzung der von ihnen überflüssig gemachten Arbeitskräfte anzuhalten – und die Geschäftsbedingungen, denen diese Benutzung unterworfen ist, zur Kenntnis zu nehmen, zu akzeptieren und sich ihnen anzupassen. Der Kampf gegen Entlassungen mündet in die Forderung nach ihrer sozialverträglichen Abwicklung, weil den Gewerkschaften die aus dem Geschäftsinteresse der Unternehmen erwachsenden Gründe für Entlassungen einleuchten – nämlich als Schwierigkeiten von Arbeitgebern, für Beschäftigung zu sorgen.

Als dann die Zahl der Arbeitslosen in der Nation rapide ansteigt, verlegen sich die Gewerkschaften auf den Kampf um Arbeitsplätze. Sie machen es sich zur positiven Aufgabe, den dafür Zuständigen die Schaffung von Arbeitsplätzen zu ermöglichen, und lassen sich auf deren „Schwierigkeiten“ mit viel Verständnis dafür ein, daß sich der Einsatz von Arbeitskräften für sie rentieren muß. Sie erklären „Beschäftigung“ zu dem Arbeiterinteresse, das sie vertreten wollen. Damit sind für sie zum einen die Zeiten endgültig vorbei, in denen sie Bedingungen an den geschäftsmäßigen Gebrauch von Arbeitskräften zu knüpfen hatten; überhaupt gebraucht und gewinnträchtig ausgenutzt zu werden, ist für sie seitdem das Glück, das die von ihnen Vertretenen im besten Fall zu erwarten haben. Zum anderen bringen sie die Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche aufs Tapet. Diese ist von Anfang an nicht als Versuch gemeint, den Arbeitenden das Leben zu erleichtern. Sie verbinden mit ihr schon damals die Vorstellung, durch eine Verkürzung der Einsatzzeit der Beschäftigten ließe sich die Anzahl der Beschäftigten vermehren. Und weil ihnen einleuchtet, daß sich die Verkürzung der Wochenarbeitszeit für die andere Seite rechnen muß, sind sie bereit, den Preis für sie zu zahlen: Der Klartext ihrer Parole vom „vollen Lohnausgleich“ besteht in der dann jahrelange geübten Zurückhaltung bei den Lohnforderungen; außerdem und vor allem aber kommen sie dem Antrag der Gegenseite auf Flexibilisierung der Arbeitszeiten nach, die es den Unternehmern ermöglicht, ihre Arbeitskräfte bedarfsgerecher und effektiver einzusetzen, also an deren Anzahl weiter zu sparen.

Nach einigen Jahren einer stetig wachsenden Massenarbeitslosigkeit rufen die Gewerkschaften den Staat und den Unternehmerstand dann zu einem Bündnis für Arbeit auf. Sie haben mittlerweile reichlich Erfahrungen mit jener von Marx dargelegten Gesetzmäßigkeit sammeln können, derzufolge eine große Reservearmee Druck auf die Beschäftigten ausübt. Die Unternehmer erpressen ihre Belegschaften immer häufiger und unverschämter damit, daß ihre Weiterbeschäftigung von der Bereitschaft abhängt, in Sachen Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen die Verhältnisse zu akzeptieren, die ihnen der Betrieb diktiert. In der Position des Fordernden sind nun die Unternehmer, auch gegenüber den Gewerkschaften. Sie kündigen erstmals Tarifverträge und stellen damit klar, daß die mit ihnen vereinbarten Tarife und Arbeitszeitregelungen für sie ziemlich generell inakzeptabel sind. Ihren geheuchelten Vorwurf, die Arbeitnehmervertreter hätten mit ihrer notorischen Regelungswut für die Durchsetzung von lauter Beschäftigungshindernissen gesorgt, lassen die Gewerkschaften nicht auf sich sitzen. Er leuchtet ihnen ein, weil sie ihre tarifrechtlichen „Errungenschaften“ von gestern – die Lohn und Arbeitszeit betreffenden Bestimmungen, die ein geregeltes Arbeitsverhältnis und den damit verbundenen Lebensstandard definieren – zunehmend selbst als Behinderungen der Unternehmenstätigkeit im Lande begreifen, von der viel mehr Beschäftigung ausgehen soll; und mit diesem Standpunkt gehen sie in die Offensive. Mit der Bereitschaft zu weitreichenden Zugeständnissen wenden sie sich an die Unternehmer, denen sie dafür die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze abhandeln wollen. Zu einem Vertrag in diesem Sinne kommt es zwar nicht – auf Seiten der Unternehmer ist man weder bereit noch hält man es für nötig, irgendetwas zu garantieren –, das hindert jedoch die Gewerkschaften nicht daran, auf Branchen- und Betriebsebene zahllose Vereinbarungen zu treffen, in denen sie erheblichen Lohnkürzungen, unbezahlten zusätzlichen Arbeitsstunden, der Ausweitung von Arbeitszeitkorridoren, dem Einsparen von Überstundenzuschlägen durch Arbeitszeitkonten u.a.m. zustimmen: gegen die die Unternehmer zu nichts verpflichtende Aussicht auf mehr Beschäftigung bzw. gegen das Versprechen einer vorübergehenden betrieblichen Beschäftigungssicherung bzw. gegen die Zusicherung, einen geplanten Beschäftigungsabbau nicht ganz so dramatisch ausfallen zu lassen wie angekündigt.

Als der – insbesondere im Osten des Landes – dann doch in ziemlich katastrophalem Umfang weitergeht, kommen die Gewerkschaften zu der „Einsicht“, daß der von ihnen als „Bollwerk gegen die Unternehmerwillkür“ gefeierte „starre“ Flächentarifvertrag sie in ihrem Bemühen beschränkt, die Bedingungen für Beschäftigung weiter zu verbessern. Sie akzeptieren Öffnungsklauseln, die es den Betrieben u.a. gestatten, befristete Gehaltssenkungen um zehn Prozent[11] unter Tarif vorzunehmen, wenn ihr Geschäftsergebnis zu wünschen übrig läßt. Diese mit der Absicht der Beschäftigungssicherung von ihnen mitbetriebene Aushöhlung der Verbindlichkeit von Tarifen macht für sie inzwischen auch noch in einer übergeordneten Hinsicht Sinn: Da die Betriebe – nicht nur im Osten Deutschlands – in großem Umfang dazu übergegangen sind, sich ihrer tarifrechtlichen Bindung durch Austritt aus ihrem Verband zu entledigen oder sie einfach nicht mehr zu beachten,[12] geht es den Gewerkschaften nunmehr darum, den Flächentarifvertrag durch weitere Öffnungs- und Ausstiegsklauseln, Entgeltkorridore, Branchenfenster, betriebsnahe Sonderbedingungen etc. an die „Realität“ anzupassen und so zu „retten“. Denn: Seine Rettung ist für die Arbeitnehmer wichtig, um nicht, je nach wirtschaftlicher Situation, den Unternehmen ausgeliefert zu sein.[13]

Bewirkt haben die für mehr Beschäftigung zu jedem Zugeständnis bereiten Gewerkschaften einiges. Sie haben ihre Mitglieder zunehmend an die Willkür der Unternehmer ausgeliefert, die die ihnen zugestandenen Freiheiten im Umgang mit Arbeit und Lohn nutzen, und damit das Ihre zu einer Unternehmenskultur in Deutschland beigetragen, in der „atmende“ Fabriken mit und ohne Berücksichtigung tarifrechtlicher Bestimmungen die bedarfsgerechte Regelung der Beschäftigung ihrer Belegschaften perfektionieren.

Nachdem nun schön langsam unübersehbar geworden ist, daß eine wachsende Massenarbeitslosigkeit zu den Dauererscheinungen einer funktionierenden Marktwirtschaft gehört, stellen sich die Gewerkschaften erneut um, d.h. auf diese neue Realität ein.

2. Die Lehre der Gewerkschaften aus ihrem gescheiterten Kampf um mehr Beschäftigung

Frage an den DGB-Chef: Was haben Sie gelernt? Zu vermeiden, daß die Realität die Beschlußlage außer Kraft setzt.[14]

Wenn sich die Gewerkschaften heute dafür zuständig erklären, die vorhandene Arbeit unter Jung und Alt, Beschäftigten und Nichtsbeschäftigten aufzuteilen, gestehen sie einerseits ihre Ohnmacht ein, etwas für mehr Arbeit zu tun, und legen ihren Kampf um mehr Beschäftigung ad acta. Andererseits verkünden sie, weiterhin alles ihnen Mögliche zu tun, um Lohnarbeitern das Zurechtkommen mit ihrer Einkommensquelle zu ermöglichen.

Den für sie enttäuschenden Ausgang ihres Kampfes um mehr Beschäftigung nehmen sie als praktischen Beweis, daß es nicht in ihrer Macht liegt, die Arbeitslosigkeit aus der Welt zu schaffen oder auch nur zu mindern. Und in dieser Hinsicht sind sie ja auch tatsächlich ohnmächtig. Die Lohnarbeit läßt sich nicht nach dem Bedarf derjenigen vermehren, die von ihr leben müssen, weil sie ihren Zweck im Unternehmensgewinn hat und als Mittel für diesen Gewinn zugerichtet wird: indem sie effektiviert und an ihr gespart wird. Alle Versuche der Gewerkschaften, die Unternehmer durch positive Anreize, also durch Beschneidung des Lebensstandards der von ihnen Vertretenen, zu mehr Beschäftigung im Land anzustiften – selber können sie ja keine Arbeitsplätze schaffen! –, laufen deswegen darauf hinaus, den Unternehmern neue Freiheiten im Umgang mit der Arbeit zu verschaffen, die sie nutzen: zur Effektivierung des Mittels ihres Gewinns eben, also zur Einsparung bislang bezahlter Arbeitskräfte. Den nüchternen Befund, daß die Lohnarbeit ihren Dienst als Erwerbsquelle für einen beträchtlichen Teil der auf sie angewiesenen Klasse dauerhaft versagt und Gewerkschaften dagegen nichts unternehmen können, nehmen die Gewerkschaften allerdings keineswegs als vernichtendes Urteil über die Lohnarbeit. Ihre Bemühungen, sie als Lebensmittel der arbeitenden Klasse zu erhalten, geben sie nicht auf. Aus ihrem gescheiterten Kampf um mehr Beschäftigung ziehen sie den Schluß, daß sie die Lage anerkennen und die Lohnabhängigen mit dem Zustand zurechtkommen müssen, daß die Lohnarbeit die auf sie Angewiesenen in großer Anzahl nicht mehr ernährt. Sie gelangen zu der „Einsicht“, daß sie sich darauf einstellen müssen, machen sich nichts mehr darüber vor, an der Untauglichkeit der Erwerbsquelle, die Arbeitern nicht einmal ihre Existenz sichert, etwas ändern zu können, akzeptieren, daß sie den Unterhalt der viel zu vielen Anwärter auf einen Arbeitsplatz auf Dauer einfach nicht mehr hergibt – und anerkennen das als positiven Ausgangspunkt für ihre künftigen Aktivitäten. Es ist nämlich leider nicht so, daß den Gewerkschaften zur Betreuung der Lohnarbeiter nichts mehr einfallen würde.

Ihren Auftrag sehen sie darin, das Problem der Arbeitslosigkeit zu bewältigen: D.h. sie unterstellen sie als das Unausweichliche, mit dem sie fertigzuwerden haben, wollen eingesehen haben, daß Arbeits- und Lohnknappheit die Sachgesetze einer „modernen, erfolgsorientierten Wirtschaft“ sind, denen sie gerecht werden müssen, und sehen sich da gar nicht ohnmächtig, sondern vor einer großen Gestaltungsaufgabe: Zusammen mit den Unternehmern wollen sie die gerechte Verteilung der knappen Güter Arbeit und Lohn auf die Mitglieder der arbeitenden Klasse organisieren. Mit dieser Umdefinition der Herausforderung, vor der sie stehen, nehmen die Gewerkschaften zur Arbeitslosigkeit eine andere Stellung ein. Sie ist für sie kein Skandal mehr, der zur Kritik an den Zuständen in der Republik berechtigt, sondern gehört für sie zu den bedauerlichen, aber normalen Begleiterscheinungen der modernen Arbeitswelt. Die Frage nach den Verursachern der Misere ist für sie erledigt: Wo die kein Skandal mehr ist, ist auch die Schuldfrage vom Tisch, mit der sie den Gründen der anwachsenden Reservearmee zwar nie richtig nachgegangen sind – die Suche nach Schuldigen unterstellt allemal, daß die Sache, an der Anstoß genommen wird, an sich nicht notwendig ist, sondern nur wegen persönlicher Verfehlungen zustande kommt –, die aber allemal dafür gut war, „den Verantwortlichen“ in der Wirtschaft und in der Politik Vorhaltungen zu machen. Nun haben sie „eingesehen“, daß die Arbeitslosen nicht zu vermeiden, also doch notwendig sind. So wie sie das Problem „Arbeitslosigkeit“ neu definieren und angehen wollen, als Problem der gerechten Verteilung des Mangels an Arbeit und Lohn, ergeben sich aus ihm keine Forderungen an die andere Seite mehr, sondern nur noch konkurrierende Ansprüche innerhalb der Arbeiterklasse, zwischen Beschäftigten und Nichtbeschäftigten, die sie gemeinsam mit den Unternehmern regeln wollen. Die sozialen Ungerechtigkeiten, die Gewerkschaften heute ausgleichen wollen, sehen sie dementsprechend nicht mehr darin, daß die „Reichen immer reicher“ werden, während die ehrlich arbeitende Menschheit mit sinkenden Lohnquoten Vorlieb nehmen muß. Einen Arbeitsplatz zu besitzen, erscheint ihnen heute angesichts der vielen Arbeitslosen als das Privileg, das sie nach „Verteilung“ rufen läßt.

3. Die Gewerkschaften übernehmen die Perspektive des Sozialstaats

Mit dieser sozialen Grundidee nehmen die Gewerkschaften in Analogie zum Sozialstaat den Standpunkt ein, daß die von der Lohnarbeit abhängige Klasse ihren Unterhalt aus dieser Erwerbsquelle bestreiten muß und mit dem, was sie hergibt, auszukommen hat. Sie gehen von dem vom Kapital geschaffenen Faktum aus, daß die Lohnarbeit die Ernährung der auf sie angewiesenen Mannschaft in großem Umfang nicht mehr hergibt, und entnehmen ihm den Auftrag, diese Lage als klasseninternes Problem der von ihm Betroffenen zu regeln. Dabei beziehen sie sich auf die vom Kapital produzierten Klassenfraktionen von Beschäftigten und Nichtbeschäftigten, arbeitsloser Jugend und zur Entlassung anstehenden Alten, um zwischen diesen Fraktionen einen Ausgleich zu organisieren, der die Erwerbsquelle Lohnarbeit als gemeinsames Lebensmittel der Klasse behandelt, mit dem beide Seiten auskommen müssen, und den Beschäftigten das von diesem Lebensmittel wegnimmt, was er den überflüssig gemachten Massen von ihm zukommen läßt. Während der Sozialstaat diesen Ausgleich so organisiert, daß er den in der Gesellschaft verdienten Lohn in Gestalt der von ihm beschlagnahmten Prozente für den Unterhalt der vom Kapital nicht ernährten Bestandteile der Arbeiterklasse einspannt und damit Beschäftigte und Nichtbeschäftigte in den funktionalen, dem Erhalt der Klasse dienenden Gegensatz von Beitragszahlern und Leistungsempfängern stellt, übertragen die Gewerkschaften die Methode des sozialstaatlichen Ausgleichs auf die von ihnen betreuten Arbeitsverhältnisse und bringen dadurch „Arbeitsplatzbesitzer“ und Arbeitslose noch viel grundsätzlicher in Gegensatz zueinander. Mit der Zielsetzung, die gesamtgesellschaftlich verrichtete Arbeit zu verteilen, um diejenigen, die keine haben, an ihr partizipieren zu lassen, betreiben sie die Senkung des mit einem herkömmlichen Arbeitsplatz verbundenen Standards von Arbeit und Lohn bzw. die Verallgemeinerung des mit der massenhaften Arbeitslosigkeit gegebenen Mangels, den sie verteilen und in die Beschäftigungsverhältnisse hineinorganisieren. Daß mit der Arbeit, die sie aufteilen wollen, ein Lohn verdient wird, der sich nicht aufteilen läßt, ohne seine Qualität als Lebensmittel des Arbeiters gänzlich einzubüßen, daß ihr Programm also in der Schaffung von Arbeitsplätzen besteht, mit deren Bezahlung ein Arbeiterhaushalt nicht mehr auskommen kann, ist diesen Gewerkschaften klar. Sie halten es nämlich für die unvermeidliche Konsequenz aus der Tatsache, daß die Lohnarbeit die auf sie Angewiesenen massenhaft nicht mehr ernährt.

Sie machen sich dafür stark, daß unter diesen Voraussetzungen die Reproduktion der Arbeiterklasse ganz neu geregelt wird, und machen sich mit diesem Standpunkt zum Vorreiter der „Einsicht“, daß der sozialstaatlich organisierte Unterhalt der Klasse nicht mehr drin ist – letzteres begründen sie schlicht und ergreifend damit, daß die Lohnnebenkosten zu hoch[15] sind. Leute, die es sich nicht ausgesucht haben, daß das Kapital sie für überflüssig befindet und der Staat sie zu Leistungsempfängern macht, werden von ihnen umstandslos als Belastung des Kostenfaktors Arbeit definiert, stellen als solche für sie ein einziges Beschäftigungshindernis dar und müssen deswegen unbedingt in einem Beschäftigungsverhältnis untergebracht werden. So gibt es für die Gewerkschaften auch nach der Seite derjenigen hin, die Arbeit brauchen, wegen der mangelnden Nachfrage nach Arbeit einen großen Bedarf an neuartigen Arbeitsverhältnissen, die sie mit ihrem untrüglichen Sinn für die Realität entsprechend auszugestalten bereit sind; die Absicht, den in ihnen Verstauten ein Auskommen zu sichern, ist da von vornherein gar nicht erst am Werk. Das ist die andere Seite der „Solidarität“, die die Gewerkschaften zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen organisieren wollen.

4. Ein weites Feld für eine „Tarifpolitik jenseits klassischer Tarifrituale“

In ihrer Überlegung, wer in der Gesellschaft Arbeit abgeben kann, tun sich den Gewerkschaften etliche „Gestaltungsmöglichkeiten“ auf. Als erstes stoßen sie regelmäßig auf den gigantischen „Berg“ von Überstunden – Im öffentlichen Dienst werden jährlich 250 Millionen Überstunden gemacht –, die sie „abbauen“ wollen. Dabei interessiert sie weder, warum diese Überstunden angeordnet werden, noch – um einen ihnen völlig fremden Gesichtspunkt zu erwähnen –, daß das Entgelt für die Überstunden, die sie abbauen wollen, kein verzichtbarer Luxus, sondern fester Bestandteil des Lohns ist, von dem Arbeiterhaushalte ihre notwendigen Ausgaben bestreiten. Aus ihrer Sicht handelt es sich um ein „Potential“, das man verteilen könnte. Ein weiteres „Potential“ entdecken sie zweitens in den vielen Wochenarbeitsstunden, von denen jeder welche hergeben könnte. Dabei tun sie so, als wäre die von ihnen vorgeschlagene Arbeitszeitverkürzung etwas anderes als eine neue Fixierung der Berechnungsgrundlage, an der sich die Über- und Unterarbeit in den Betrieben bemißt; nämlich eine tatsächliche Reduktion der pro Mann verrichteten Arbeitsstunden. Und der Einfall, in Verhandlungen darüber von vornherein mit der Parole „ohne vollen Lohnausgleich“ einzutreten, verrät einiges über den Geist von Gewerkschaftern, die nicht von gestern sein wollen: Daß beim Lohn Abstriche zu machen sind, betrachten sie nicht mehr als „die bittere Pille“, die sie „zu schlucken haben“, weil anders mit der sich „stur“ stellenden Arbeitgeberseite wieder mal kein Verhandlungsergebnis zu erzielen war, sondern als ihnen einleuchtende Konsequenz der allgemeinen Arbeits- und Lohnknappheit, deren Berücksichtigung von vornherein in ihrem Programm inbegriffen ist.[16] Drittens sind sie auf die Alten gekommen. Der menschenfreundliche Einfall geht dahin, diejenigen, denen sowieso die Entlassung aus dem Arbeitsleben bevorsteht, durch eine Neuregelung des Vorruhestandes zu Halbarbeitslosen zu machen, die Arbeitslosigkeit also von den Jungen auf die Alten zu verlagern und so die Neueinstellung von arbeitslosen Jungen zu ermöglichen – das Ganze ohne unvertretbare Einkommensverluste[17] für die Alten, also nur mit den Einkommensverlusten, die Gewerkschaften vertreten können. Auf der anderen Seite machen sich die Gewerkschaften so ihre Gedanken darüber, wie die Beschäftigungsverhältnisse derjenigen aussehen müssen, die die Arbeit kriegen sollen. Teilzeit-Jobs, die gar nicht erst so gedacht sind, daß sie die Funktion als Lebensmittel eines Arbeiters zu erfüllen haben, stehen da als Möglichkeit, den Kostenfaktor Arbeit von Lohnnebenkosten zu entlasten, bei ihnen ziemlich hoch im Kurs. Außerdem wollen sie sich auf keine generelle Niedriglohndiskussion einlassen, bloß weil sie niedrigeren Einstiegslöhnen, der Schaffung von neuen Lohngruppen unterhalb der untersten Entgeltstufe 1 u.a.m. schon zugestimmt haben und gerade die Frage des Kombilohnes, also eines staatlichen Zuschusses zum Niedriglohn andenken und entsprechende Modelle auf ihre Realisierbarkeit prüfen.[18] Sie halten solche „Arbeitsplätze“ nämlich für das Passende für Leute, die sonst keine Beschäftigung finden, auch wenn sie realistisch genug sind, damit nicht die Hoffnung (zu verbinden), daß im Niedriglohnbereich massenhaft neue Arbeitsplätze entstehen.[19]

Bei allem Sinn für die Realität unterstellt der Ideenreichtum der Gewerkschaften freilich ziemlich sachfremd, daß es sich bei der Arbeit, die in der Nation verrichtet wird, um so etwas wie einen gesamtgesellschaftlichen Topf handelt, der zur Aufteilung zur Verfügung steht. Mit dieser Vorstellung, die gerne in Gestalt von Durchschnittsrechnungen ausgebreitet wird, welche demonstrieren sollen, wieviele Arbeitsplätze sich schaffen ließen, wenn „man“ die Überstunden abbauen, die durchschnittliche Wochenarbeitszeit weiter verkürzen und die Arbeit gleichmäßig auf alle Anwärter verteilen würde, ignorieren die Gewerkschaften erst einmal souverän die Gründe, warum die Arbeit so merkwürdig ungleichmäßig verteilt ist: daß nämlich erstens die Arbeit, von der da die Rede ist, niemand anderem verfügbar ist als kapitalistischen Unternehmen, die sie sich gegen Lohnzahlungen aneignen; und daß zweitens diese Unternehmen den Umgang mit der Arbeit ihren Berechnungen gemäß flexibel gestalten; je nach ihrem Bedarf nach Arbeit, der nicht nur konjunkturellen Schwankungen unterworfen ist, sondern sich vor allem die ihm gemäßen Arbeitsverhältnisse schafft, in denen neben- und nacheinander Beschäftigung und Nichtbeschäftigung stattfinden, Über- und Unterarbeit einander abwechseln, flexibel gemachte Arbeitskräfte stundenweise abgerufen, Zwangspausen verordnet, Maschinenlaufzeiten verlängert werden etc.

Auf dieses Szenario der modernen Arbeitswelt, das sie zugelassen haben, beziehen sich die Gewerkschaften – und stellen fest, daß sie mit ihm einiges anfangen können. Wenn ihr Chef verkündet: Es wird zu einer so großen Vielfalt an Arbeitszeitmodellen kommen, daß sich das heute niemand vorstellen kann,[20] denkt er selbstverständlich in erster Linie nicht an die Unternehmer, die Arbeitszeit„modelle“ einführen, wenn und weil sie ihnen mehr Freiheiten im Umgang mit der Arbeit verschaffen, sondern an die vielen Gestaltungsmöglichkeiten, die so eine Arbeitswelt von seinem Gesichtspunkt der gerecht verteilten Arbeit aus bietet. Erst in zweiter Linie kommen für ihn die Unternehmer ins Spiel, weil er und die unter seinem Dach versammelten Gewerkschaften ja gar keine Arbeit zu verteilen haben, sondern darauf angewiesen sind, daß die Unternehmer an ihrem Antrag, die Arbeitsverhältnisse umzukrempeln, Gefallen finden. Der gewerkschaftliche Standpunkt der gerechten Verteilung von Arbeit trifft da erst einmal auf den mit ihm gar nicht kompatiblen Standpunkt der bedarfsgerechten Nutzung von Arbeit, der auf seine Freiheiten im Umgang mit der nationalen Arbeitskraft pocht und deswegen recht grundsätzlich nichts von Regelungen hält. Deswegen haben die Gewerkschaften einiges zu tun, um tarifpolitisch „Gestaltungsspielräume“ zu schaffen. Dabei sind sie längst darüber hinaus, die Gegenseite zur Erfüllung ihrer „Arbeitgeber“-Pflichten anzuhalten. Mehr denn je wollen sie sie dazu befähigen; unter Anerkennung der Sachzwänge konkurrenzfähiger Arbeitsplätze, unter Berücksichtigung der Ansprüche also, die auf dem Weltmarkt engagierte Unternehmen an die Arbeit und den Lohn stellen. Im Bewußtsein, ihre zentrale Aufgabe zu erfüllen, wenn sie die sich zunehmend differenzierende Situation der Betriebe und Branchen berücksichtigen,[21] gehen sie auf diese Ansprüche ein, weil sie das Interesse der Unternehmer als Mittel betrachten, eine Neuverteilung der Arbeit zustande zu bringen. Deswegen ist es gar nicht so, daß es wegen der inkompatiblen Standpunkte zu keinen Regelungen kommt. Dem Antrag der Gewerkschaften auf gemeinsame Regelung der Arbeitsverteilung in der Gesellschaft setzen die Unternehmer ihre Rechnungen entgegen, die angesichts des Erpressungsmittels, welches sie mit der Massenarbeitslosigkeit in der Hand haben, ständig anspruchsvoller ausfallen und bei den Gewerkschaften auf ziemlich offene Ohren stoßen. Und zwar gar nicht bloß, weil die sich erpreßt und an die Wand gedrückt sehen, sondern weil sie die Unternehmerforderungen nach mehr Freiheit im Umgang mit der Arbeit unbedingt daraufhin „ausloten“ wollen, was sie für ihre Beschäftigungsperspektive hergeben – und Anknüpfungspunkte finden, die tragfähig genug sind, um mit den Unternehmern für beide Seiten zukunftsweisende Tarifverträge zur Altersteilzeit auszuhandeln.

5. Die tarifvertraglichen Regelungen zur Altersteilzeit

In der Absicht erstens den älteren Menschen die Möglichkeit zu geben, vor dem Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze schrittweise aus dem Berufsleben auszuscheiden – und zwar ohne unvertretbare Einkommensverluste[22] –, und zweitens über einen Arbeitsplatz-Tausch zwischen Alt und Jung[23] Neueinstellungen zu erreichen, setzen sich die Gewerkschaften mit den Unternehmern ins Benehmen, für die derzeit aus ganz anderen Gründen die „Neuregelung des Vorruhestands“ ansteht. Ihre bisherige Praxis, die Verschlankung ihrer Belegschaften in der Weise vorzunehmen, daß sie die abgearbeiteten Alten in den mit Geldern aus der Arbeitslosen- und Rentenkasse finanzierten Vorruhestand abschieben, geht wegen geänderter staatlicher Vorgaben nicht mehr. Dazu brauchen sie eine Alternative. Wiederum aus ganz anderen Gründen, nämlich mit großem Verständnis für das Entsorgungsbedürfnis der Unternehmer und deswegen mit dem Ziel, die Entsorgung für seine Sozialkassen günstiger zu gestalten, ist der Staat daran interessiert, daß die Tarifparteien zu einer neuen Regelung kommen, und hat dafür mit einem Gesetz zur Altersteilzeit die Rahmenbedingungen festgelegt:

„Ab Vollendung des 55. Lebensjahres können Arbeitnehmer in Altersteilzeitarbeit eintreten. Dazu müssen sie mit ihrem Arbeitgeber die Verminderung der Arbeitszeit auf die Hälfte vereinbaren. Die Arbeitszeit muß aber mindestens 18 Wochenstunden betragen. Der Arbeitgeber stockt das Arbeitsentgelt für die Altersteilzeitarbeit um mindestens 20 % auf. Da dieser Betrag steuer- und sozialabgabenfrei ist, erreicht der Arbeitnehmer durch die Altersteilzeit in der Regel mindestens 70 % des Nettoeinkommens, das er bei Vollzeitarbeit erzielen würde. Soweit das bei unteren Einkommen nicht der Fall ist, muß ein höherer Aufstockungsbetrag gezahlt werden. Außerdem werden durch den Gesetzgeber zusätzliche Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet, so daß der Arbeitnehmer mindestens so rentenversichert wird, als verdiene er noch 90 % des Vollzeitentgeltes.
Wer für mindestens 24 Monate in Altersteilzeit gearbeitet hat, hat nach Maßgabe der rentenrechtlichen Bestimmungen Anspruch auf eine Altersrente nach Altersteilzeitarbeit. Wenn der Arbeitgeber den durch die Altersteilzeitarbeit freigewordenen Arbeitsplatz durch einen Arbeitslosen oder einen Arbeitnehmer nach Abschluß der Ausbildung wiederbesetzt, erstattet ihm die Bundesanstalt seine Leistungen an den Arbeitnehmer für bis zu fünf Jahre. Diese Förderung gilt für Arbeitnehmer, die bis zum 31. Juli 2001 mit der Altersteilzeitarbeit beginnen.“[24]

Das waren die gesetzlichen Rahmenrichtlinien, an deren Ausfüllung sich die Tarifparteien gemacht haben. Herausgekommen ist ein „Pilotabschluß“ der Metallbranche im Bezirk Nordwürttemberg-Nordbaden, bei dem laut Tarifkommission der vertragsschließenden IG-Metall erheblicher Erklärungsbedarf[25] besteht. Offenbar ist sich die Gewerkschaft selbst nicht im Klaren darüber, was sie da eigentlich abgeschlossen hat. Nach Auskunft der IG-Metall wurde

„bei der Altersteilzeit ein Grundmodell vereinbart, das verbindlich ist und für jeden Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch begründet. Ab dem 61. Lebensjahr kann jeder Arbeitnehmer den Vorruhestand in Anspruch nehmen, zwei Jahre en bloc arbeiten und dann mit 63 ausscheiden, immerhin zwei Jahre früher, als es die Rentengesetzgebung der Bundesregierung vorsieht. Darüberhinaus gibt es ein freiwilliges Modell, das einer Zusatzvereinbarung zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung bedarf. Dieses Modell ist sozusagen das Sahnehäubchen dieser ganzen Vereinbarung.“ [26]

Dem Pochen auf den „Rechtsanspruch“, den die Gewerkschaft „rausgeholt“ haben will, steht die – wohl verläßlichere – Auskunft der Arbeitgeber gegenüber, deren Verbandspräsident die Einigung für „wegweisend“ hält, weil sie die betriebliche Freiwilligkeit weitestgehend gewährleistet.[27]

Da auch fachkundige Kommentatoren nicht so recht durchsteigen, was da eigentlich vereinbart wurde, dokumentieren wir ihre Schwierigkeiten, den Gehalt der Vereinbarung darzustellen. Zunächst die Frankfurter Rundschau:

„Die IG-Metall war bei dem viertägigen Verhandlungsmarathon unter dem Schlichter Dieter Spöri nicht mit der Forderung durchgedrungen, daß freiwerdende Arbeitsplätze zwingend neu besetzt werden. Erfolgt aber keine Neubesetzung – schon die Bedeutung dieses Begriffs ist umstritten –, so braucht die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit laut Bundesgesetz über die Altersteilzeit jene 20 Prozent Lohnanteile nicht zu zahlen, mit deren Hilfe die Löhne in der gesamten Altersteilzeit (nach derzeitiger Gesetzeslage zunächst einmal maximal zweieinhalb Jahre volle Arbeitsphase, anschließend gleichlange Freistellung) auf 82 Prozent des letzten Nettoeinkommens angehoben werden. Der künftige Tarifvertrag wird also nur dann angewendet, wenn eine Betriebsvereinbarung Eigenbeiträge in jeweils auszuhandelnder Höhe festgelegt hat. Eine Eigenbeteiligung wird jedoch auch bei jenen Arbeitnehmern fällig, die mit Vollendung des 61. Lebensjahres ihren Rechtsanspruch auf Altersteilzeit, den die Arbeitgeber dieser keinen Gruppe älterer Mitarbeiter zugestanden haben, einlösen wollen. Gleich zu Beginn ihres Einstiegs – zwei Jahre volle Arbeit, mit 63 in die Freistellung, mit 65 in die Gesetzliche Rente – müssen sie zweieinhalb Bruttomonatslöhne, im Schnitt etwa 10000 Mark beisteuern, wenn sie in der gesamten vierjährigen Altersteilzeit auf 82 Prozent vom Nettolohn kommen wollen.“ [28]

Nun das Handelsblatt:

„Per Betriebsvereinbarung kann der individuelle Altersteilzeitanspruch abbedungen werden, und es können weitere Kriterien festgelegt werden, um z.B. eine Überforderung des Unternehmens durch die Altersteilzeit zu verhindern. Will der Arbeitnehmer das finanziell attraktivere Altersteilzeitmodell, so muß er einen Eigenbeitrag in Höhe von 2,5 Brutto-Vollzeit-Entgelten einbringen. Kommt eine Betriebsvereinbarung zustande, kann die Altersteilzeit maximal 10 Jahre, also vom 55. bis zum 65 Lebensjahr verblockt werden. Der Altersteilzeitler erhält 82% des monatlichen Vollzeitnettos während der gesamten Altersteilzeit. Die IG-Metall hatte 85% gefordert. Außerdem zahlt der Arbeitgeber Rentenbeiträge auf der Basis von 95% des Vollzeitbruttos. Hier hatte die IG-Metall 100% verlangt, die Arbeitgeber hatten 90%, wie im Gesetz vorgesehen, angeboten. Zusätzliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld werden während der aktiven Phase der Altersteilzeit halbiert und entfallen in der Freizeitphase völlig. Während der Arbeitsphase steigt das Altersteilzeitentgelt entsprechend den vereinbarten Tariferhöhungen, in der Freizeitphase nur mit 60% der jeweiligen Tarifanhebung. Rentenabschläge bei vorzeitigem Rentenbezug werden grundsätzlich nicht ausgeglichen. Geht der Altersteilzeitler jedoch auf Wunsch des Arbeitgebers mit 60 in Rente, erhält er eine Abfindung von drei Vollzeitbruttogehältern. Die Abfindung verringert sich proportional mit jedem Jahr, das der Altersteilzeitler später in Rente geht. Endet das Altersteilzeitverhältnis vorzeitig, muß der Arbeitgeber die für die Freistellungsphase vom Arbeitnehmer angesparten Beträge ohne Zinsen auszahlen. Für den Insolvenzschutz dieser Beträge ist das Unternehmen zuständig. Diese Bestimmung findet für den Fall, daß die Bundesanstalt für Arbeit keinen Zuschuß zahlt, nur Anwendung, wenn eine Betriebsvereinbarung über eine angemessene Beteiligung der Altersteilzeitler an den zusätzlich entstehenden Kosten zustande kommt. Von den tariflichen Bedingungen für eine mehr als vierjährige Verblockung der Altersteilzeit kann abgewichen werden, wenn statt dessen „wertgleiche“ Regelungen vereinbart bzw. gefährdete Arbeitsplätze erhalten werden können.“[29]

Klar ist bei so luziden Vertragsverhältnissen immerhin soviel:

  • Die Betriebe verfügen über eine echte Alternative zur bisherigen Vorruhestandsregelung. Wie bisher werden sie ohne Kündigungsprobleme und ohne Abfindungen ihre Alten los, können also die „Verschlankung“ ihrer Belegschaft und deren Verjüngung verknüpfen – wenn sie das wollen. Neueinstellungen bleiben ihnen freigestellt. Wenn sie dem Arbeitsamt plausibel machen, daß eine Einstellung eine solche ist, kosten sie die Halbzeit-Alten bis zu deren Rentenbeginn auch definitiv nur ungefähr den halben Lohn, andernfalls kaum mehr.
  • Minister Blüm macht:
    „darauf aufmerksam, daß Altersteilzeitbeschäftigte nach dem Donaueschinger Modell – anders als bei der inzwischen abgeschafften Vorruhestandsregelung – weiterhin in die Rentenversicherung einzahlen und dadurch die Rentenkassen entlastet werden.“ [30]
  • Die Alten, die in den Genuß der neuen Regelung kommen, erleben die umfassende Erfüllung des Wunsches nach einem „gleitenden Übergang“ in den Rentenstand: Schon in den letzten Jahren ihrer Lebensarbeitszeit „gleiten“ sie auf das Lebenshaltungsniveau herunter, das dann erst Monate oder Jahre nach dem letzten Handschlag mit der vergleichsweise wenig geminderten Rente noch einmal absinkt.
  • Die Gewerkschaft hat einen Sieg errungen. Ihr Projekt der Umverteilung von Arbeit und Lohn, weg von den Alten, hin zu den Jungen, ist praktisch zwar nur halb aufgegangen: Der Verzicht der Alten ist geregelt; ob bei den Jüngeren etwas ankommt, ist offen. Dafür ist die Umverteilung aber als Ideal des ganzen Vertragsunternehmens anerkannt. Dieser Erfolg war der Gewerkschaft alle von Unternehmerseite gewünschten Öffnungsklauseln wert.

Damit ist freilich ein Fortschritt erreicht, der sich in der Tat noch als folgenreich für die IG-Metall erweisen[31] dürfte. Die Gewerkschaft hat damit nämlich einen Vertrag abgeschlossen, der den wirklichen Inhalt der getroffenen Regelungen ganz den Betrieben überläßt – also dem erpresserischen Einvernehmen der Arbeitgeber mit ihren dem Betriebswohl verpflichteten Betriebsräten. Sie hat sich damit als das kollektive Subjekt von Tarifvertragsabschlüssen faktisch aus dem Verkehr gezogen – per Tarifvertragsabschluß. Die erste Folge ist auch umgehend eingetreten: Die nächste Auseinandersetzung der Metall-Arbeitgeber mit der Metall-Gewerkschaft setzt genau hier an.

6. Das nächste „Thema“ der Gewerkschaften: „Die Zukunft der Tarifpolitik und der Gestaltung von Tarifverträgen“

Die Unternehmer stellen in Gestalt des Gesamtmetall-Sprechers Stumpfe neue Forderungen auf: Die Gewerkschaften sollen den Flächentarifvertrag endlich anpassungsfähig machen, eine weitere Ausweitung des „Arbeitszeitkorridors“ zulassen, dem Einstieg in eine erfolgsabhängige Entlohnung zustimmen. Und überhaupt sollen sie zu zeitgemäßen Formen der Konfliktregelung finden und auf die längst obsolet gewordene Methode des Arbeitskampfes verzichten.

Die Gewerkschaften gehen prompt darauf ein. Das Streikrecht mögen sie zwar nicht gleich herschenken. Immerhin veranstalten sie aber schon einmal eine Tagung zum Thema Tarifautonomie und Flächentarifvertrag, um sich auf Verhandlungen über eine Reform des Flächentarifvertrags vorzubereiten, die sie mit den Unternehmern noch im Dezember aufnehmen wollen. Der IG-Metall-Vorsitzende Zwickel läßt an der Notwendigkeit der Reform keinen Zweifel, er ist der Auffassung, daß Tarifregelungen, die größtenteils aus den 60er Jahren stammten, nicht mehr der Arbeitswirklichkeit entsprächen.[32]

Vorgeführt wird da ein weiteres Mal das Grundmuster des Schlusses, mit dem sich die Gewerkschaften erstens für ohnmächtig erklären, um sich zweitens die Frage vorzulegen, was dann noch für sie möglich ist. Sie beziehen sich mit diesem Schluß positiv auf eine „Arbeitswirklichkeit“, in der die Unternehmer die Massenarbeitslosigkeit souverän als ihr Erpressungsmittel handhaben, lassen sich von daher die Sachnotwendigkeiten der Lohnarbeit einleuchten, leiten aus denen ihre Pflichten ab und machen sich damit zu selbstbewußten Exekutoren des Drucks, den die Reservearmee auf die Arbeiter ausübt. Mit diesem Schluß sind sie nun allerdings ziemlich am Ende der Fahnenstange angelangt. Nämlich bei der Frage, wie Tarifverträge künftig überhaupt abgeschlossen werden sollen. Sie haben tatkräftig an der Erledigung des Prinzips von Leistung und Gegenleistung mitgewirkt; ihnen leuchtet ein, daß ein Tarifvertrag ein Instrument der Unternehmer zu sein hat; und mit diesem Standpunkt sind sie der Forderung der Unternehmer gegenüber durchaus aufgeschlossen, man solle es den Betrieben überlassen, den Umgang mit ihren Belegschaften zu regeln. Andererseits sehen sie sich nach wie vor in der Verantwortung für die Arbeitswelt, so daß ihnen die Kombination von Mindestbedingungen im Flächentarifvertrag ergänzt um Zusatzverträge in den Betrieben nur auf den ersten Blick reizvoll erscheint. In diesem Zwiespalt laborieren sie an der Frage, worin eigentlich ihre Funktion heute besteht. Sie bekennen sich dazu, nützlich sein zu wollen, leiden daran, daß die Unternehmer sie loswerden wollen, und setzen mit denen deswegen Verhandlungen an, zu denen sie verlautbaren lassen, es müsse erst geklärt werden, worüber die Gewerkschaft mit den Arbeitgebern verhandeln wolle.

Den Arbeitgebern, wie gesagt, ist das längst klar. Sie loben sich gemeinsam mit den Gewerkschaften dafür, wie prächtig sie als Tarifpartner in einem produktiven „Bündnis für Arbeit“ zusammenwirken – den demokratischen Politikern ein Vorbild, die sich immer bloß streiten. Daß es dabei bleibt: Das möchten sie so sehr, daß sie ihrem Partner um einer weiterhin reibungslosen „Konfliktbeilegung“ willen gleich den vorsorglichen Verzicht auf jede Konfliktfähigkeit nahelegen. Damit wäre dann endlich der definitive Schlußpunkt hinter alles Gewerkschaftswesen gesetzt, das ja nicht bloß seinen historischen Ausgangspunkt einstmals darin hatte, die Fähigkeit und Bereitschaft von Lohnarbeitern zum Streik dauerhaft zu organisieren, sondern sogar noch den sozialfriedlichen Status des Tarifvertrags-Kontrahenten – letztlich – diesem Standpunkt der „Gegenmacht“ verdankt. Von der gewerkschaftlich organisierten Arbeitermacht würde dann endgültig nichts weiter geleistet als die verbindliche Unterschrift unter Verträge, die für die Arbeitgeber nichts Verbindliches enthalten. Sache der Gewerkschaft bliebe es, diese Funktion des regulativen Absegnens von Unternehmerinteressen ihren Anhängern als unverzichtbare soziale Betreuungsleistung zu verkaufen, die einen Mitgliedsbeitrag wert ist.

Aber was heißt hier wäre und würde?

„Spiegel: Wohin sollen die Gewerkschaften sich in Zukunft entwickeln?
Schulte: Sie sollen die Kraft behalten, soziale Standards zu verteidigen, und die Stärke wiedergewinnen, Zukunft gerechter zu gestalten. In letzter Zeit habe ich die Stichworte Flächentarifvertrag und mehr Beweglichkeit thematisiert. Das dient vor allem einem Ziel: In 15 oder 20 Jahren soll es noch ein Tarifvertragssystem geben. Das ist für die Arbeitnehmer wichtig, um nicht, je nach wirtschaftlicher Situation, den Unternehmen ausgeliefert zu sein. Es nutzt aber auch den Unternehmen, wenn es einen Tarifvertrag mit seiner Bindewirkung gibt… Zur Zeit sind wohl noch über zwei Drittel der Arbeitsverhältnisse klassische Arbeitsverhältnisse, bei denen sowohl die Arbeitszeit als auch Lohn und Gehalt durch Tarifverträge geregelt sind… Ich fürchte…, daß die klassischen Arbeitsverhältnisse in 20 Jahren atypisch sein werden.
Spiegel: Was können Sie da tun?
Schulte: Ein sogenannter Scheinselbständiger ist weniger gesichert als ein Mensch im Rahmen eines normalen Arbeitsverhältnisses. … nicht wirklich selbständig. Deshalb müssen wir etwas tun. Aber das wird ein mühseliger Prozeß werden.
Spiegel: Wenn in unserer Zeit die klassischen Arbeitsverhältnisse schwinden, droht auch den Gewerkschaften die Schwindsucht.
Schulte: Wenn wir uns auf unsere klassische Klientel beschränken würden, hätten Sie recht. Deshalb müssen wir die anderen mit einbeziehen. … man muß versuchen, die Probleme aufzunehmen und vernünftige Regelungen zu treffen… Aber wenn ich mir die letzten Jahre anschaue: Verflixt noch mal, wir haben etwas bewegt. Und wir haben uns selbst bewegt. Die Gewerkschaftsreform ist nicht zu Ende, aber sie findet statt.“

Aus eigener Initiative und aus freien Stücken läßt die organisierte Arbeiterbewegung von sich selber nichts weiter übrig als einen spitzenmäßigen Überbau, der „vernünftige Regelungen“ trifft und immer in Bewegung ist; für einen Unterbau, der ihm sonst wegbricht. Das ist doch mal eine schöne Aufgabe. Gewerkschaft und Unternehmer sollten gemeinsam bei der Regierung vorstellig werden und beantragen, daß eine dermaßen nützliche Einrichtung nicht mehr sachfremd aus Mitgliedsbeiträgen, sondern gleich ganz aus Steuergeldern finanziert wird.

[1] Zwickel im HB, 8.10.97

[2] Schulte in der FR, 15.10.97

[3] Zwickel in der FR, 30.9.97

[4] ders.

[5] Mai im Spiegel Nr. 40/97

[6] Der Vorsitzende der fusionierten Industriegewerkschaft Bergbau Chemie, Energie (IG BCE) Schmoldt, SZ 9.10.97

[7] Schulte im Spiegel Nr. 37/97

[8] FAZ vom 20.9.1997

[9] Schulte in der FAZ vom 2.10.97

[10] Schulte im Spiegel Nr. 37/97

[11] FAZ vom 22.9.97

[12] Unternehmer berufen sich dabei immer häufiger auf das „Günstigkeitsprinzip“, das die FAZ (23.9.97) zusammen mit der zeitgemäßen Auslegung wie folgt erläutert: Vom Tarifvertrag kann im Einzelfall abgewichen werden, wenn dies für die Arbeitnehmer günstiger ist. Die Standardformel bezog sich früher immer auf mehr Geld oder kürzere Arbeitszeiten. Seit die Beschäftigung gefährdet ist, wird darüber diskutiert, ob es auch günstiger ist, einen Arbeitsplatz zu behalten, wenn dieser unter Tarif entlohnt wird.

[13] Schulte im Spiegel Nr. 37/97

[14] ders.

[15] ders.

[16] Wenn diese Gewerkschaften das Ende der Bescheidenheit verkünden, ist also nicht anzunehmen, daß sie sich wieder darauf besinnen, daß der Lohn das erste Arbeiterinteresse ist, das Gewerkschaften zu vertreten haben. Aufgebracht hat die Parole bezeichnenderweise die IG-Metall, die dieses Jahr gar keine Lohnverhandlungen führt, weil sie den Lohn bis Ende des kommenden Jahres ausgemacht hat. Mit dem Hinweis, die Gewerkschaften könnten auch anders, unterstreichen die Gewerkschaften gegenüber den Unternehmern ihren Antrag auf mehr Kooperationsbereitschaft bei dem sie drängenden Problem der Beschäftigungsregelung. Zweifel daran sind kaum möglich angesichts der keineswegs selbstkritisch gemeinten Wortmeldung des DGB-Vorsitzenden Schulte: Wir hätten auch in den letzten Jahren mehr rausholen können, aber wir haben gesagt: Laßt uns zurückstecken, um den arbeitslosen Menschen zu helfen. (Spiegel Nr. 37/97) Es geht also darum, in diesem Sinne weiterzumachen – und diese Linie in den eigenen Reihen durchzusetzen. Dabei sollen die Unternehmer die Gewerkschaften nicht mit ihren Rechtfertigungsproblemen im Regen stehen lassen.

[17] Schulte, Spiegel 37/97

[18] ders.

[19] Riester, Spiegel Nr. 40/97

[20] ders.

[21] Harald Schartau, Betriebsleiter der IG Metall, FAZ 22.9.97

[22] Schulte, Spiegel Nr. 37/97

[23] Zwickel in der FR vom 30.9.97

[24] Bundesregierung, „Politik für mehr Wachstum und Beschäftigung“

[25] FR vom 1.10.97

[26] Zwickel in der FR vom 30.9.97

[27] Hundt in der FR vom 30.9.97

[28] FR vom 1.10.97

[29] Handelsblatt vom 29.9.97

[30] ebd.

[31] FR vom 1.10.97

[32] Zitiert aus der SZ vom 18.11., 21.11., 22./23.11 und 24.11.97