Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Germanwings-Flug 9525
Vom guten nationalen Sinn einer Katastrophe
Ein Flugzeug der Germanwings stürzt ab, 72 Deutsche sind unter den Opfern, Familienangehörige und Freunde trauern, Kollegen, Nachbarn und Mitschüler sind geschockt, viele Menschen leiden mit ihnen. Wie immer bei solchen Katastrophen heißt es: die Nation ist betroffen!
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Germanwings-Flug 9525
Vom guten nationalen Sinn einer Katastrophe
Ein Flugzeug der Germanwings stürzt ab, 72 Deutsche sind unter den Opfern, Familienangehörige und Freunde trauern, Kollegen, Nachbarn und Mitschüler sind geschockt, viele Menschen leiden mit ihnen. Wie immer bei solchen Katastrophen heißt es: die Nation ist betroffen!
Die tiefere Bedeutung davon ist, dass jetzt die Stunde für die politisch Zuständigen als Repräsentanten der Nation geschlagen hat – was nicht nur diesen selbst, sondern auch allen verantwortungsbewussten Medienmenschen des Landes schlagartig klar ist. Sofort finden allerorten Pressekonferenzen statt und werden ganze Frequenzbereiche des deutschen Äthers freigeräumt für die pausenlose Aussendung von Worten der Betroffenheit und des Trosts, die es alle wichtigen Führungs- und Repräsentationsfiguren jetzt drängt, an ihr Volk zu richten, während sie zwischen ihren Statements schnellstmöglich Strecke machen, um den Betroffenen und dem Unglücksort selbst nahe zu kommen.
Joachim Gauck bedauert sehr, zur falschen Zeit am
falschen Ort zu sein, nämlich ausgerechnet im fernen Peru
zu weilen, wo doch gerade deutsches Leben beim
französischen Nachbarn an europäischen Hochgebirgsflanken
zerschellt. Er weiß aber auch über große Distanz hinweg
auf das heimatliche Publikum trostreich einzuwirken:
Ich bin bei Ihnen mit meinen Gedanken und meinen
Gefühlen
, verkündet er, bevor man ihn ins
Präsidentenflugzeug steigen sieht. Auch Angela Merkel
zögert keinen Moment, am Unglückstag alle
Kanzlerinnen-Termine für diesen einen, zwar nicht
bestellten, aber doch alles andere überragenden Termin
abzusagen. Deutsche Politiker und ihre französischen
Kollegen, endlich, endlich an der Absturzstelle
angelangt, finden – erstaunlich genug – auch live vor Ort
die richtigen Worte, obgleich das Geschehene mit
Worten nicht zu fassen
ist. Das politische Protokoll
für die Inszenierung menschlicher Betroffenheit und
tiefster Volksverbundenheit aus Anlass von Unglücksfällen
mit vielen deutschen Toten findet schließlich
gewohnheitsmäßig auch einen gottesdienstlichen Höhepunkt,
stets Gelegenheit für die Führer der schwer geprüften
Nation, sich in die Schar der Leidtragenden einzureihen.
Das gehört einfach zum Berufsbild des Politikers: Eine
Katastrophe mitsamt Toten und Trauernden vollumfänglich
als nationale zu okkupieren, durch den Aufmarsch
der Repräsentanten des Gemeinwesens Trauern zum Staatsakt
zu erheben und so die Identität von menschlicher und
staatlicher Betroffenheit feierlich zu beglaubigen.
Warum Politiker das machen, das wird von BILD erläutert. Deren „Briefe“-Schreiber Franz Josef Wagner verarbeitet das Unglück nicht nur zu gefühliger Patriotismus-Poetry, sondern sagt auch gleich die Funktion dazu. Das braucht nur wenige Zeilen:
„Liebes Deutschland,
Fahnen auf Halbmast, Schweigeminuten, Kerzen, die wie Tränen tropfen, Blumen in Bierflaschen, die vielen tröstenden Worte der Offiziellen, die Kanzlerin am Unglücksort. Wir sind ein Land in Trauer. Mit dem Absturz hat sich unser Land verändert. Wir sind zusammengerückt. Wir sind Mitfühlende geworden. In Freud und Leid. Wir sind geschwisterlich geworden. Wir sind uns nähergekommen. Über das Leid der Opferfamilien sind wir uns nähergekommen. Wir Deutschen gehen ja normalerweise unseren Geschäften nach, keiner guckt sich an. Wir gehen aneinander vorbei wie Fremde. Und da ist dieses Unglück. Wir umarmen uns. Wir sind uns alle plötzlich so nah. Wenn es irgendetwas Gutes gibt an dieser Katastrophe, ist es, dass wir uns alle so nah sind. Herzlichst, Ihr F. J. Wagner“
Die Veränderung unseres Landes
, die Wagner in
einen Flugzeugabsturz hineinsinniert, ist von höchst
abstrakt-ideeller Art. Offizielle Symbole nationaler
Trauer wie auch Äußerungen ganz persönlicher Anteilnahme
werden von Wagner mit der Perspektive eines großen „Wir“
schlicht in eine Reihe gestellt. Er setzt ein
Gleichheitszeichen zwischen alle
Betroffenheitsbekundungen, gleichgültig, ob sie aus
tatsächlichem Mitleiden entspringen oder Teil offizieller
und professioneller Statements von Politikern oder
Lufthansa-Leuten sind, ob sie Inszenierungen
sensationsgeiler Reporter oder des voyeuristischen
Publikums sind. Differenzierung soll nicht sein, die
Katastrophe vielmehr alle, von der Führungsspitze bis
hinunter zum einfachen Volk, in Mitfühlende
verwandeln, die sich in der Trauer geschwisterlich
vereinen. Mit-Gefühl ist eben Wir-Gefühl – was sonst! Auf
dergestalt schlichte Art ist die Nation zu einer Gemeinde
verschönert, deren Mitglieder wie eine quasi
verwandtschaftliche Gefühlsgemeinschaft zusammenstehen.
Das verweist Wagner auf das Gute an der
Katastrophe
, auf eben diese schöne Wirkung, die man
auch einem Flugzeugabsturz nicht absprechen kann: Die
Erzeugung eines Gemeinschaftsgefühls, das Wagner
offenkundig zu den edelsten menschlichen Regungen zählt
... Wagner dient das Unglück dem moralischen Gemüt, das,
so wie er das sieht, im Alltag arg strapaziert wird, als
Balsam an. Er weiß, dass die Deutschen
normalerweise
etwas anderes miteinander zu tun
haben; er betont ja ausdrücklich den Kontrast zum
Alltagsleben, wo wir unseren Geschäften nachgehen
.
Diesen Alltag fasst er allerdings gleich selber nur
moralisch. Welcher Art von Geschäft da der Einzelne
nachgeht, ob man sein Geld als Arbeitnehmer oder als Chef
verdient, spielt ebenso wenig eine Rolle wie der Umstand,
welche materiellen Gegensätze und Schädigungen im
Konkurrenzgetriebe einer solchen Klassengesellschaft
‚Alltag‘ sind. Das alles ist belanglos, gemessen an dem
echt gemeinschaftlichen Miteinander, das Wagner im Alltag
der Deutschen vermisst. Die Konkurrenzgesellschaft macht
er nur als abstrakt-negatives Abziehbild seiner
moralischen Idee einer nationalen Gemeinschaftlichkeit
vorstellig: Die Leute kümmern sich wie Fremde
–
obwohl sie es doch als Landsleute in Wahrheit gar nicht
sind! – bloß um ihre eigenen Angelegenheiten, also gar
nicht umeinander! Alles was es an Drangsalen und
Zwistigkeiten im Land gibt, besteht eigentlich in nichts
anderem als einer ganz verkehrten, bedauerlichen, aber
eben so eingerissenen menschlichen Nachlässigkeit der
Leute im alltäglichen Umgang miteinander: Sie gucken
sich nicht an
und gehen aneinander vorbei
,
ganz so als würden sich Politiker und ihr Volk,
Arbeitgeber und ihre Leute, Mieter und Vermieter einfach
nur dauernd ignorieren.
Diese Fremdheit und Beziehungslosigkeit macht Wagner ein
bisschen traurig, Katastrophen wie die gegenwärtige
machen ihm dagegen wieder ein wenig Hoffnung: An ihnen
sieht er, dass die Deutschen ihre abstrakte Gemeinsamkeit
als nationales Kollektiv – für ihn die einzig wahre
Gemeinschaftlichkeit aller Mitbürger – nur ein wenig
vergessen haben, und ein Ereignis wie in Frankreich sie
an ihr wirkliches, besseres Wesen erinnern kann: daran,
dass sie nur dann als Menschen einander nah
sind,
wenn sie nicht immer nur an sich und ihren Nutzen denken,
sondern zwischen zwei großen Unglücks- oder auch
Glücksfällen – Geschwister
sind wir ja in Freud
und Leid
– auch einmal an die anderen als gleich
gesinnte und zusammengehörige Volksgenossen. So enthält
eben ein Ereignis wie der Absturz von hundertfünfzig
Leuten immer auch eine frohe Botschaft, wenn wir uns nur
richtig von ihm anrühren lassen. Dann zeigt sich mit
Wagners Hilfe, dass egoistische Selbstbezogenheit nur
eine schlechte Alltagsgewohnheit ist und dass es im Leben
doch eigentlich darum geht, im Miteinander der nationalen
1. Person Plural wirklich Ich, nämlich Wir zu
sein! Simpler hat schon lange keiner mehr das Fremdwort
Nationale Identität erklärt.
Eingedenk dieser umarmen wir uns
– als Teil eines
starken Teams, in dem jeder, gleichgültig gegen seinen
Stand und von keiner abwägenden Berechnung angekränkelt,
geborgen ist und sich mit allen Mitbürgern und dazu einem
ganzen Staatsapparat in eins setzen darf. Im Licht der
Katastrophe sagt der Hofnarr von Bild die bittere Wahrheit:
Heimat ist nicht mehr als das Ideal der
Konkurrenzgesellschaft, die mit ihren ungemütlichen
Grundrechnungsarten dauerhaft die hartnäckige Sehnsucht
nach echter Gemeinschaft erzeugt. Das geht
F.J.W. nichts an. Aber dass das patriotische Gemüt gerade
in gemeinsamem Jubel und im Stimmungstief -in Freud
und Leid
- so besonders lebendig ist, also eine
Flugzeugkatastrophe die Massen ihre erlogene
Gemeinsamkeit genauso anrührend erleben lässt wie ein 7:1
über Brasilien – das findet er richtig gut.
*
Zu den ungezählten und ungesühnten Verbrechen des DDR-Staats gehört auch dasjenige am nationalen Wir, das SZ-Fahnder anlässlich des Flugzeugunglücks als Frucht ihres bis heute andauernden retrospektiven Systemvergleichs aufdeckten:
„FLUG OHNE WIEDERKEHR! Die Hinterbliebenen der Germanwings-Absturzopfer haben bei einer Gedenkfeier im Kölner Dom Abschied genommen. Als 1986 eine Tupolew in der DDR zerschellte, wurde den Angehörigen eine öffentliche Trauerfeier verwehrt. Sie blieben allein mit der quälenden Frage: Warum?“
Schlimme Zeiten damals! Das Regime, das sonst bekanntlich mit jedem Staatsakt den freiheitsfeindlichen Zugriff auf seine Bürger bewiesen hat, erweist im genannten Fall seine unmenschlichen Qualitäten einmal mehr dadurch, dass es seine Toten im Unglück allein lässt und sie nicht, wie dies demokratische Politiker so mitfühlend tun, staatlich vereinnahmt. Bei uns ehrt die Nation ihre Katastrophenopfer. Die sind zwar tot, aber nicht umsonst gestorben: Die Ehre, die ihnen erwiesen wird, ehrt immerhin den Staat, der sie ihnen erweist – das gibt ihrem Tod einen höheren Sinn. Diesen Zirkus hat die DDR unseren Brüdern & Schwestern also vorenthalten; dafür wurde sie vier Jahre später zu Recht selber beerdigt.