Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Berlin, 9. November, Staat und Volk „gemeinsam gegen rechts“:
Ein Volksbelehrungstag zur richtigen Scheidung des guten vom bösen Nationalismus
Die Staatsmacht höchstpersönlich ruft zu einer Demonstration auf: sie will ihr ganzes Staatsvolk ein bisschen umerziehen, so dass es seinen gesunden Hass auf alles Undeutsche bremsen lernt und der Staatsmacht überlässt zu entscheiden, wer als Nicht-Deutscher in Deutschland bleiben darf und wer nicht. Das ist dann ein guter Patriotismus, nicht so ein „dumpfer Nationalismus“, wie ihn Neo-Nazis praktizieren.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Berlin, 9. November, Staat und Volk „gemeinsam gegen
rechts“:
Ein Volksbelehrungstag zur richtigen
Scheidung des guten vom bösen Nationalismus
Manchmal hat der politische Alltag der deutschen
Demokratie auch seine ausgesprochen scherzhaften Seiten.
Da gibt es das großzügigerweise allen gewährte Recht,
sich für ein spezielles Anliegen, sofern es nicht
polizei- oder sittenwidrig ist, öffentlich Gehör zu
verschaffen. Wer immer sein Interesse von der politischen
Obrigkeit nicht bedient und es auch in der demokratischen
Öffentlichkeit nicht so repräsentiert findet, wie es sich
nach seinem Dafürhalten gehört, darf – zwar nicht auf
seine Erfüllung hoffen, aber immerhin doch – sich
demonstrativ zu Wort melden. Er darf – im Rahmen
der einschlägigen Gesetze – für einen Moment die
Straßenverkehrsordnung missachten und so um
Aufmerksamkeit für sich und sein Anliegen werben. Und da
wird zum 9. November eine Mannschaft beim Berliner
Bezirksamt Mitte vorstellig, zu deren Beruf es gehört,
Anliegen, die sie hat, einfach durchzusetzen. Eine
Minderheit, die schon deswegen nie in die Verlegenheit
gerät, für ihr Interesse öffentlich werben zu müssen,
weil sie schlicht die Macht dazu hat, es allen anderen
verbindlich zu diktieren; die mit ihren Meinungen und
Ansichten tagtäglich auf allen öffentlich-rechtlichen und
privaten Kanälen präsent ist und ganz selbstverständlich
davon ausgeht, dass auch der ganze restliche Apparat der
demokratischen Öffentlichkeit zur Bildung genau der
politischen Meinung zur Verfügung zu stehen hat, an der
ihr gelegen ist: Die Staatsmacht
höchstpersönlich, in Gestalt ihrer bestallten
Amtsinhaber, deren parlamentarischer Konkurrenten und
aller staatstragenden Kräfte, die im Rahmen der
demokratischen Öffentlichkeit an der Meinungsbildung
mitwirken, ruft zu einer Demonstration auf! Der
zweite Scherz folgt gleich auf dem Fuß, denn das Objekt,
das – wie bei jeder Demonstration – aufgerufen wird, ist
niemand Geringerer als das Volk, das die Veranstalter der
Demo regieren, und entsprechend sieht ihr Aufruf auch
aus: Die Obrigkeit bestellt ihre Untertanen zum
massenhaften Erscheinen auf der Straße ein; Kasernen,
Behörden und Firmen gewähren Ausgang; die Mobilisierung
des restlichen Volks übernehmen die Pluralisten der
öffentlichen Meinungsbildung – mit den Regierenden
zusammen mitzumachen bei einer guten Sache, heißt ihr
Argument zur Überzeugung. Denn wie jede gescheite
Demonstration hat auch diese ein Dagegen.
Gegen rechts
heißt ihre Parole, und das ist dann
der dritte Scherz dieser Veranstaltung: Gemeinsam mit
seiner staatlichen Obrigkeit soll das deutsche Volk sich
aufstellen – gegen einen rechten Ungeist
, der in
ihm selbst verbreitet ist!
*
So trifft sich eine alle Klassen- und herrschaftlichen
Schranken einebnende und insofern echt repräsentative
Auswahl des guten Deutschtums zum Aufstand der
Anständigen
. Zeichen
wollen sie setzen
gegen rechte Gewalt
, Gesicht zeigen
und
Zivilcourage
im Kampf gegen rechts
. Genau
das tun sie dann auf dieser Veranstaltung,
demonstrativ eben, genau dazu und zu nichts mehr
sind sie einbestellt worden und genau zu diesem Zweck
wächst die Zahl der Kundgebungsteilnehmer im Laufe der
Berichterstattung von 70000 auf mehrere
Hunderttausend
. Denn was den Kampf gegen rechte
Gewalt
betrifft, so haben sich die Veranstalter der
Demonstration aus ihren Gründen zu dem
entschlossen. Seitdem sie es für opportun
erachten, führt die wehrhafte Demokratie mit allen dem
Rechtsstaat zu Gebote stehenden Mitteln diesen
Kampf
, verfolgt rechte Rechtsbrecher als
Kriminelle und betreibt zielstrebig die Kriminalisierung
der politischen Gesinnung, die sie für die Rechtsbrüche
haftbar macht. Und was die demonstrative Ächtung dieses
rechten Ungeistes
betrifft, so kommt auch die
nicht als Werk der demonstrierten Gesinnung dieser vielen
guten Deutschen zustande: Die steht als moralischer
Zusatz zur rechtsstaatlichen Verfolgung der rechten
Umtriebe vorab fest. Wozu also diese Veranstaltung, wenn
alles, wofür und wogegen sie sich aufstellt, bei den
Verantwortlichen im Staat ohnehin schon bestens
aufgehoben und auf den Weg gebracht ist? Wozu rufen die
ihr Volk zusammen, um sich gemeinsam
mit dem den
Kampf gegen rechts
als Verpflichtung aller guten
Deutschen zu vergegenwärtigen? Offenbar genau dazu.
Offenbar halten sie es für nötig, die Volksmoral in ihrer
– theoretischen wie praktisch in die Tat umgesetzten –
Scheidung zwischen guten Deutschen und schlechten
Ausländern, die hier nichts zu suchen haben, neu auf
Linie zu bringen, und zwar auf ihre neue
moralische Linie. Sie wollen, dass nicht den Skinheads
überlassen wird, wie hier mit Ausländern umgegangen
wird
(Kanzler Schröder), sondern dass diesbezüglich
sie das Entscheidungsmonopol besitzen. Um diese
unmissverständliche Klarstellung geht es ihnen – und zwar
Leuten gegenüber, denen ihre Indoktrination von
neulich, ihre Agitation mit der drohenden
Überfremdung
Deutschlands, mit
Wirtschaftsflüchtlingen
und kriminellen
Ausländern
, die den Deutschen Arbeitsplätze stehlen,
so perfekt eingeleuchtet hat, dass sie sich selbst zur
Erledigung dieser anti-deutschen Machenschaften in ihrem
Vaterland aufmachen. Weil die Regierenden selbst nur zu
gut wissen, dass derselbe Rassismus, den sie seit
jüngstem als undeutsch ächten und verfolgen, keineswegs
auf eine kleine schlagkräftige Minderheit im Deutschen
Osten beschränkt ist, sondern auch sehr viele brave und
gute Deutsche allein schon in einer doppelten
Staatsbürgerschaft für Ausländer eine Verletzung ihrer
heiligsten Rechte sehen, wissen sie auch, dass sie im
Grunde ihr ganzes Volk ein bisschen umerziehen müssen:
So, wie sie selbst es rassistisch verhetzt haben, passt
das Volk mit seiner Moral einfach nicht zu dem
Umgang mit Ausländern, wie er dem deutschen Staat nun
opportun erscheint. Deswegen stellt sich die
Staatsmacht auch parteienübergreifend auf. Der
einheitliche politische Wille der Nation soll es sein und
ist es, der da das richtige Deutschland
repräsentiert, demonstrativ und feierlich die Toleranz
aufkündigt, die man hierzulande den Manifestationen einer
nur allzu verständlichen Gesinnung im Volk
entgegenbrachte. Und der die Masse der wirklich guten
deutschen Nationalisten mit dem Verweis auf die zu
bekämpfende verkehrte deutsche Minderheit, die
mit ihrem Nationalismus der Nation nur schadet, dazu
anhält, sich die Verhaltensmaßregeln für ihren
Patriotismus ausschließlich von denen abzuholen, die für
deren Definition von Amts wegen zuständig sind.
*
Die haben mit ihrer diesbezüglichen Vorgabe, es gelte in
der Ausländerfrage
die nützlichen Ausländer
von denen zu unterscheiden, die Deutschland nur
ausnützen wollen
, zwar auch nicht gerade ein Dokument
von Vaterlandsverrat verfasst. Sie sind sich aber im
Klaren darüber, dass in ihrem nationalistisch gut
erzogenen Volk allein schon die bloße Kombination von
Ausländern auf deutschem Boden und der Vorstellung, das
könnte Deutschland nützen, auf breites Unverständnis
stoßen muss. Das bekämpfen sie, indem sie ihren
Patrioten, die sehr stolz
darauf sind, Deutsche
zu sein
, einträufeln, was sich für stolze Deutsche
gehört und was nicht mehr. Intoleranz gegen
alle, die mit hierzulande präsenten fremdländischen
Elementen auf eigene Faust abrechnen, ist zwingend
geboten. Die Bürger haben gefälligst einzusehen, dass die
Entscheidungsbefugnis über des Bleiberecht
Nicht-Deutscher in Deutschland nicht bei ihnen, sondern
bei ihrer Obrigkeit liegt. Sich von der sagen zu lassen,
gegen wen man sein darf und gegen wen nicht, das ist die
Toleranz gegenüber Ausländern, die man vom
deutschen Volk wohl erwarten kann. Dabei kann das
patriotische Volksgemüt sich schon darauf verlassen, dass
die Verantwortlichen im Staat auch weiterhin für den
Abtransport derer sorgen werden, die hier nichts verloren
haben, weil sie Deutschland nichts nützen, und für die
Abwendung der Gefahr, dass noch mehr von solchen zu
uns
kommen, stehen sie gleichfalls ein. Ob das
Asylrecht nun endgültig abgeschafft gehört, wie die CSU
meint, oder weiter gesetzlich verschärft werden soll, was
sich die CDU überlegt, oder ob Schily recht hat, der mit
konsequenter Anwendung der bestehenden Rechtslage dafür
sorgt, dass das Boot nicht zu voll wird – das sind
konkurrierende Vorstellungen von Leuten, die sich in der
Sache herzlich einig sind. Das gilt auch für den Umgang
mit dem fremdländischen Menschenmaterial, dessen Präsenz
in Deutschland die Herrschaften ihrem Volk zumuten
müssen, weil die Deutschland nützen und deswegen hier
bleiben dürfen. Dafür bieten die regierenden
Volkserzieher ihren original deutschen Menschen einen
feinen Ersatz für deren alten
„Ausländer-raus!“-Patriotismus an: Jetzt sollen die
Deutschen gefälligst stolz darauf sein, dass jeder, der
hier ist, einfach nur hier ist, um Deutschland zu
nützen. Dies, die Zugehörigkeit zu einer Nation, die
nicht nur die globalisierten Waren- und Geldmärkte zur
Mehrung ihrer Macht und ihres Reichtums in Anspruch
nimmt, sondern zum selben Zweck auch die Menschen fremder
Herren und Länder bei sich antreten lässt – sich einem
imperialistischen Herrenvolk zurechnen zu
können, das die Verachtung fremder Rassen dem Nutzen
hintanstellt, den ihre kapitalistische Indienstnahme
verspricht: Das und gefälligst nur das hat einen modernen
Deutschen mit Stolz zu erfüllen! Im Namen Deutschlands,
und das heißt: weil dies der imperialistische Zugriff
dieser Nation auf den Rest der Welt gebietet, sollen sich
die guten Deutschen in ihrem gesunden Hass auf alles
Undeutsche bremsen. Sie sollen sich an einem Deutschland
begeistern, das heute eben anders als früher unterwegs
ist, sich die Welt als seinen Lebensraum
zu
erobern. Weil es dabei eben sehr multi-kulturell zugeht,
kann es gar nicht ausbleiben, dass inzwischen auch
Schwarze und andere Angehörige fremder Rassen stolz
darauf sind, Deutsche zu sein – umgekehrt ist aus
demselben Grund und für den Dienst an derselben
nationalen Sache von den eingeborenen Deutschen ein wenig
patriotischer Kosmopolitismus auch
nicht zu viel verlangt.
*
So erledigt diese gelungene Veranstaltung ganz nebenher
auch noch ein anderes leidiges Kapitel der deutschen
Moralkultur. An diesem symbolträchtigen 9. November waren
in Berlin ja schon einmal sehr viele stolze Deutsche auf
der Straße, und gegen einen inneren Feind, gegen den es
zu gehen hat, wurden sie auch damals mobilisiert. Weil
aber dieser Aufbruch zur Säuberung Deutschlands von
„undeutschen Elementen“ sein bekannt schlimmes Ende fand,
war es ein Zeit lang eher anrüchig, einfach seinen Stolz
auf Deutschland zu zeigen. Zum nationalen Konsens gehörte
es, das Bekenntnis zur Nation immer an den Vorbehalt zu
knüpfen: Demokratisch muss es sein – das Deutschland, auf
das man stolz sein darf. Der gescheiterte
Nationalsozialismus und jeder neue Rechtsradikalismus
wurden daher als unvereinbar mit der Demokratie
gebrandmarkt. Die Berliner Staatsdemonstration grenzt
dagegen die „Neo-Nazis“ als schädlich für
Deutschland, als undeutsch aus. Nach
Jahrzehnten bundesdeutsch-antifaschistischer Selbstkritik
werden Rechtsradikale nicht mehr als Demokratiefeinde,
sondern als Schädlinge an der Sache der Nation an den
Pranger gestellt. Deutschland ist jetzt der Maßstab,
gegen den sich diese falschen Liebhaber des Vaterlandes
vergangen haben. Diese Nation verdient heute zwar den
bedingungslosen Zuspruch ihrer Untertanen, und den dürfen
diese nicht nur, den sollen sie sich auch als ihre
innerste Gemütsregung heraushängen lassen. Aber solche,
die in Sachen deutscher Stolz und Vaterlandsliebe alles
richtig machen, die jedoch immer noch nicht einsehen
wollen, dass nicht sie, sondern allein ihre politischen
Herren das Recht haben, zwischen deutsch = gut und
undeutsch = böse zu scheiden, die nicht wirklich
echten Patrioten also – die gilt es heute
von den vielen guten zu scheiden und auszugrenzen. Diesen
guten Patrioten kann man den falschen – dumpfen
–
Nationalismus, wie ihn die „Neo-Nazis“ mit ihrer Art, mit
Ausländern umzuspringen, ausleben, nicht nachsagen. Dafür
ist die Demonstration, in der „die anständigen Deutschen
gemeinsam gegen rechts“ aufstehen, ja gerade der Beweis:
Den falschen Nationalismus schließen sie aus der Mitte
des deutschen Volkes als anti-national aus.
Und das ist dann der vierte und fast schönste Witz dieser
Demonstration: An einem anti-faschistischen Gedenktag
versammeln sich Volk und Führung der Deutschen und
bekunden zusammen mit dem Zentralratsvorsitzenden der
Juden in Deutschland ihre grimmige Entschlossenheit zum
Kampf gegen Neo-Nazis
– weil die einfach schlechte
Vertreter der deutschen Sache sind!