Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die „schwarz-rot-geile Fußballparty“
Das Opium fürs Volk, die Dröhnung für die Herrschaft – ein Drama in drei Akten
Nationalflaggen an Autos und Wohnungsfenstern, in Nationalfarben bemalte, in die Flagge gehüllte Bürger, die Siege der deutschen Elf fordern und sich überglücklich geben, wenn sie eintreten; ebenso gut spielen sie die stolzen Gastgeber der Welt, die gerade bei Freunden ist. Fans und Passanten zeigen den Gästen „unser“ schönes Land oder den Weg zur nächsten U-Bahn-Haltestelle, vor allem aber sich selbst als zugleich selbstbewusst deutsch und weltläufig: Man gratuliert den Ausländern zu ihrer Nationalität ebenso wie zur Wahl ihres Reiseziels und lädt sie ein, „to join the party“!
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- 1. Akt: Die Opiumhöhle wird eingerichtet
- Das Bühnenbild: Die Selbstfeier der Nation und ihr Spielfeld
- Die Premiere im neuen Haus: Weltmeisterschaft im eigenen Land
- Die Regieanweisung: Die Welt zu Gast bei Freunden
- 2. Akt: Das Volk nimmt Platz
- Die große Party
- „Schwarz-rot-geil“
- 3. Akt: Nach dem Rausch – der Chor der Rezensenten zieht Bilanz
- 1. Auftritt: Vertreter der politische Elite
- 2. Auftritt: Vertreter der geistigen Elite
Die „schwarz-rot-geile
Fußballparty“
Das Opium fürs Volk, die Dröhnung
für die Herrschaft – ein Drama in drei Akten
Hätten Sie’s gedacht, dass so etwas in Deutschland
möglich ist – dem Land der Krise, des Sozialabbaus, des
Angstsparens und der Miesepetrigkeit? Im Ton des
Triumphes bekommt das Volk über alle Medienkanäle Beweise
seiner nationalen Gesundheit vor Augen geführt, damit
auch der Letzte kapiert, was angesagt ist: Jetzt drehen
wir durch – so wunderbar, wie wir es bisher, neidvoll und
erstaunt, bei Amis, Türken, Italienern und eigentlich
allen anderen Nationen haben bewundern müssen.
Nationalflaggen an Autos und Wohnungsfenstern, in
Nationalfarben bemalte, in die Flagge gehüllte Bürger,
die Siege der deutschen Elf fordern und sich
überglücklich geben, wenn sie eintreten; ebenso gut
spielen sie die stolzen Gastgeber der Welt, die gerade
bei Freunden ist. Fans und Passanten zeigen den Gästen
„unser“ schönes Land oder den Weg zur nächsten
U-Bahn-Haltestelle, vor allem aber sich selbst als
zugleich selbstbewusst deutsch und weltläufig: Man
gratuliert den Ausländern zu ihrer Nationalität ebenso
wie zur Wahl ihres Reiseziels und lädt sie ein, to
join the party
! Die Gäste nimmt man als genau das zur
Kenntnis, was man selbst sein will und worauf man sich
hingeschminkt hat: als lebende Nationalfähnchen – die
gerade dann auch ganz privat gelöst, glücklich und echt
gut drauf sind, wenn sie darin aufgehen, Repräsentanten
ihres Landes zu sein.
Patriotismus als Party, nationale Emphase nicht als
Faschismus, sondern als Fasching: So feiert ein Volk
gerne, so lieben die Führer ihr ansonsten ewig nörgelndes
Volk. Eine Nation erhebt sich über ihren Alltag und dreht
durch. Sie genießt nicht nur ihren nationalen Rausch,
sondern ist darauf auch noch stolz, lässt die Grenzen von
Sein und Suff verschwimmen und sieht sich zu Höherem
befähigt und berufen. Die Spiele haben Deutschland
verändert!
, tönt es von nah und fern. Jedenfalls ein
bisschen, hört man, und alle wünschen sich, es wäre noch
ein bisschen mehr gewesen.
Erstaunlich, was vier Wochen Fußball alles bewirkt haben sollen. Was ist geschehen?
1. Akt: Die Opiumhöhle wird eingerichtet
(Die Regie entschließt sich dazu, das Gelingen des Stücks wesentlich der Laienspielgruppe ‚Volk‘ zu überantworten. Das ist einerseits kein allzu großes Risiko, weil das Volk am Sujet der Inszenierung seit jeher großen Anteil nimmt. Andererseits will es schon eigens in seine Rolle eingewiesen sein. Daher steht der Hauptdarsteller einstweilen vor der Eingangstür und wartet auf Einlass. Das Volk ist mit Bier und Kartoffelchips ausgerüstet und an der Rahmenhandlung sichtlich unbeteiligt. Schwenk auf die Bühne.)
Das Bühnenbild: Die Selbstfeier der Nation und ihr Spielfeld
Ein internationales Fußballturnier ist zu arrangieren,
ein sportlicher Wettstreit zwischen
Nationen. Die Beste unter ihnen soll ermittelt
werden, ausnahmsweise nicht in der Konkurrenz, die Macht
und Geld betrifft, sondern bei der heiteren Kunst, einen
Ball in ein Tor zu schießen. Aber dieser
Wettstreit ist ihnen dermaßen wichtig, dass für ziemlich
lange Zeit alles in den und für die Nationen Wichtige in
den Hintergrund rückt und sich alles um ihn
dreht. Schon seltsam. Offenbar legen diese Nationen sehr
viel Wert auf den Schein, sie wären etwas ganz anderes
als ordinäre Gewaltapparate, die daheim eine
Klassengesellschaft kommandieren und auswärts Reichtum an
Land ziehen. Eine Kulturnation
zum Beispiel, oder
eben auch eine Fußballnation
. Ungefähr so, wie sie
die noble Aura großer Dichter, Denker und des ganzen
übrigen Rattenschwanzes von Dienern an großer Kultur und
Sittlichkeit, die je auf ihrem Boden wirkten, für ihr
höheres Renommee in Anspruch nehmen, erschließen sie sich
auch ein Ballspiel als Stoff ihrer positiven
Selbstdarstellung. Bewaffnete Mächte, die das Kicken zum
Medium der Anerkennung erklären, die ihnen gebührt: Das
ist einerseits so absurd, wie es klingt. Andererseits
gehorcht auch diese Absurdität ganz der Logik, nach der
Nationen ein idealisiertes Bild von sich
pflegen, und dient auch ganz demselben Zweck, den sie
dabei im Auge haben. Grundsätzlich nämlich stellt sich
eine moderne bürgerliche Staatsmacht als Repräsentant
alles Guten, Wahren und Schönen vor, die diversen E- und
U-Formen an Volksbelustigung eingeschlossen.
Darin will sie anerkannt und gewürdigt werden,
von ihresgleichen, aber natürlich zuallererst von ihren
eigenen Bürgern, und von denen gleich so unbedingt, dass
vor dieser ihrer Anerkennung als Inbegriff aller
Insignien einer höheren Gemeinschaft, zu der sich
Menschen zwanglos vereinen, alle gewichtigen Posten der
Erfolgsbilanz, die sie wirklich groß macht, glatt in den
Hintergrund treten: In allem, was da die besondere
Werthaltigkeit ihres Gemeinwesens vorstellig macht, soll
den Bürgern vermittelt werden, dass und wo sie ihre im
höheren Ideellen verankerte Identität haben.
Unter diesem sittlichen Dach, das ihre Nation aufspannt,
folgen sie in all ihrem so unterschiedlichen Tun und
Treiben letztlich denselben Sitten und Tugenden.
Die sind es, die sie zu einem Volkscharakter
einen, welcher die alltäglichen Gegensätze zwischen ihnen
als absolut zweitrangig erscheinen lässt und sie zu dem
einen Volk zusammenschließt, das in
seiner Nation das Leben einer
Volksgemeinschaft entfaltet. Zur Pflege genau
dieser anheimelnden Vorstellung einer Gesamtkörperschaft
von Volk und Staat betreiben die modernen Klassenstaaten
auch noch den Aufwand einer Fußballweltmeisterschaft: Sie
definieren ein Spielfeld als Feld ihrer Ehre,
einen Erfolg der Mannschaft, die sich stellvertretend für
sie auf dem tummelt, als Ausweis ihrer
Großartigkeit, laden sich wechselseitig ein und
mobilisieren ihre Völker zur regen Anteilnahme an ihrer
Selbstdarstellung.
Den Fußball befrachtet dies mit einem gewissen Anspruch,
zumal dann, wenn die ganze Welt das Kollektiv ist, das da
seinen wahren Meister ermitteln soll. Sicher: Gewinnen
wollen Mannschaften im sportlichen Wettstreit immer. Im
höheren Auftrag ihrer Nation unterwegs, haben sie
allerdings eine höhere Verpflichtung zum Erfolg.
In der Sphäre spielerischen Genusses hat zum Beispiel die
deutsche Mannschaft – wie man es ein Jahr lang im Vorfeld
des Turniers und vor dessen Beginn immer eindringlicher
mitgeteilt bekommt – schon ziemlich unbedingt Glanz und
Größe ihres Landes zu repräsentieren. Sie hat den
selbstverständlichen Anspruch der Nation auf ihren Sieg
im Wettkampf einerseits mit allen Mitteln einzulösen. Sie
soll die Nation andererseits aber auch nicht nur mit
gnadenlosem Siegeswillen und Rumpelfußball
blamieren. Sie soll vielmehr mit Spielwitz beweisen, dass
Deutschland den Sieg auch verdient, gegen den Triumph der
Nation also auch vom Standpunkt des Sports aus kein
Einspruch erhoben werden kann: Nicht wenig, was elf Paar
Fußballstiefel da zu besorgen haben.
Freilich trifft ein Staat wie Deutschland da schon die
passenden Vorkehrungen. Das Volksvergnügen an diesem
Sport steht ja schon längst unter seiner Obhut. Er
fördert gemeinnützige Vereine, großzügiges Mäzenatentum,
ehrenamtliche Vereinsmeierei, richtet Sporthochschulen
und Leistungszentren ein und kümmert sich überhaupt
darum, dass aus dem Vergnügen an Sport & Spiel ein
gescheiter Leistungssport
wird. Das macht den
Fußball zu einem Volkssport
, genauer: zu einem
‚Zuschauersport‘, über den jeder mit jedem jederzeit und
über alle Klassen hinweg ein Gespräch anfangen kann; der
jeden interessiert, zu dem jeder auch etwas zu sagen hat
– kurz: der in der Wichtigkeit, die das Volk ihm
beimisst, auch ein gewichtiger Bestandteil der
praktizierten Identität einer Volksgemeinschaft ist. Nach
innen ist das sportliche Leben der Nation ohnehin schon
so eingerichtet, dass die politischen Untergliederungen
des Staates zu den natürlichen Bezugsgrößen sportlichen
Vergnügens und geselliger Verbundenheit werden: Von der
Kreisliga über Bezirks- und Regionalliga bis zur
Bundesliga reicht die Skala, an der Erfolge im
sportlichen Wettbewerb ihre nationale und darin
maßgebliche Wertigkeit erfahren, bei sehr vielen Bürgern
gehört zum Gefühl ihrer besonderen heimatlichen
Verbundenheit mit Stadt und Land unbedingt der Orts- oder
Regionalverein dazu, dessen Fan
sie sind.
Nach außen treten sich in der Welt des Sports als Abgesandte ihrer Staaten nationale Sportverbände gegenüber und kopieren mit ihren sportdiplomatischen Bündnissen und Unterbündnissen die Sitten der großen Politik: Bevor es so weit ist, dass Nationen auf einem Turnier um die Weltmeisterschaft miteinander Fußball spielen können, kämpfen hinter den Kulissen der Weltverbände zivile Repräsentanten des nationalen Sportbetriebs Jahre hindurch verbissen um die Ehre, das große Völkertreffen auf ihrem Boden veranstalten zu dürfen. An dieser verborgenen Front zwischenstaatlicher Konkurrenz treffen elder statesmen im Dienste des Sports auf verdiente und in Ehren ergraute Sportidole im Dienste ihres Landes, und sie alle ringen stellvertretend für ihre Nationen, aber mit deren Geld, Macht und Einfluss, darum, frühzeitig die Weichen für die richtige Entscheidung zu stellen. Das trägt schöne Blüten: Figuren kommen ins Spiel, die mit ihren guten Beziehungen nach allen Seiten als Scharnier zwischen der schönsten Nebensache der Welt und deren Hauptsache, der erfolgreichen Selbstpräsentation der Nation, fungieren – und sich die Synthese des dialektischen Verhältnisses von Sport und Politik als ihre persönliche Leistung zugute halten dürfen: Mit seinem unwiderstehlichen Charme hat uns unser Franz diese Weltmeisterschaft geschenkt, ist darüber endgültig zum Volkshelden aufgestiegen und heiratet, um dem Fass die Krone aufzusetzen, seine Sissi noch während des Turniers. Eine Demokratie, die solche Persönlichkeiten hat, braucht keinen Kaiser mehr.
So ist lange vor Beginn des großen Volksfestes einer WM ein Stab von freischaffenden und echten Beamten zu dem Zweck unterwegs, die Veranstaltung als engagierten Dienst der Politik am Sport und Unterhaltungsbedürfnis des Volkes erscheinen zu lassen, und das in diesem speziellen Fall ganz besonders.
Die Premiere im neuen Haus: Weltmeisterschaft im
eigenen Land
Diese WM ist keine gewöhnliche WM. Sie findet nicht irgendwo, sondern hier, bei uns im schönen Deutschland statt. Das ist ein besonderer Glücksfall für das Renommierbedürfnis der Nation. Während ein gewöhnlicher Teilnehmer sich Respekt dadurch verschafft, dass er seine Gegner besiegt, hat der Veranstalter des Treffens die ungleich lohnendere Aufgabe, die Anerkennung aller darüber zu erwerben, dass er für deren Angeberei eine prächtige Bühne zur Verfügung stellt. Auch dieser Ruhm will freilich verdient sein. Deutschland muss sich als guter Gastgeber bewähren, und das erfordert mehr als nur das Aufstellen einer möglichst erfolgreichen, zumindest nicht blamablen Fußballmannschaft. Das lässt man sich gerne etwas kosten. Nicht nur ein bisschen Gemauschel im Vorfeld der Fifa-Entscheidung, sondern richtig viel Geld für neue Stadien, für das Herausputzen der Hauptstadt und der Austragungsorte sowie für den passenden Ausbau der Infrastruktur. WIR sind schließlich die europäische Führungsmacht, kein Entwicklungsland wie Südafrika, das jetzt schon zur Sorge Anlass gibt, in 4 Jahren einer solchen Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Das macht eben da den Unterschied zwischen Nationen: Die einen können es sich leisten, mit einem Fußballturnier die eigene Klasse zu repräsentieren – und sind so großzügig, es Staaten aus dem 2. oder 3. Glied durchaus auch einmal zu gönnen, sich an so etwas zu versuchen, ohne sich zu blamieren.
Die Regieanweisung: Die Welt zu Gast bei Freunden
Die Welt
soll sehen, dass WIR uns der Ehre, das
große Völkertreffen auf dem Fußballfeld veranstalten zu
dürfen, als würdig erweisen und entsprechend zu feiern
verstehen. Damit steht der Auftrag für die vielen
Fußballfreunde in Deutschland. Sie und mit ihnen der
ganze Rest der Volksgemeinschaft werden ausgiebig davon
in Kenntnis gesetzt, womit man sich ab sofort der
Hauptsache nach zu befassen hat: Schaffen WIR es? Ein
deutscher Teamchef mit amerikanischem Wohnsitz – darf der
das?! Kann er’s daher überhaupt? Derart Monate im Voraus
für das große Ereignis sensibilisiert, bekommen die Fans
von der Regie auch noch die Anweisung, dass in Sachen
Fußballbegeisterung
und Daumendrücken fürs
deutsche Team schon ein wenig Überschäumen verlangt ist.
‚Public viewing‘ heißt dazu das Angebot, in
Innenstädten werden ‚Fanmeilen‘ hergerichtet, in
denen der Verkehr gerne zusammenbrechen darf.
Natürlich kann man eine derart aufgeweckte
Volksgemeinschaft, die Deutschland unbedingt siegen sehen
will, in ihrem Überschwang nicht sich selbst überlassen.
Allzu schnell pflegt, wie die Erfahrung lehrt,
Parteinahme fürs eigene nationale Kollektiv sich
unwillkürlich dessen wirkliche Substanz anzuverwandeln –
und in die private Gewalt umzuschlagen, mit der
sich ein völkisches WIR gegen fremde Elemente zu
behaupten sucht. Also kümmert sich die Regie um die
nötige Verbreitung der Einsicht, welche
nationale Begeisterung bei dieser Völkerkonkurrenz
geboten ist und welche nicht. Immerhin verfolgt der
Gastgeber die Aufgabe, das schöne Ideal der
Völkerverständigung zu inszenieren, hat damit die süße
Last auf sich genommen, sich als eine in dieser Hinsicht
besonders vortreffliche Nation ins Bild zu setzen, daher
entsprechend viel zu tun. Denn Deutschland macht sich
diesbezüglich Sorgen. Im Vorfeld der WM geht z.B. das
böse Wort von den „No-go-areas“ um. Dass so manche Teile
Deutschlands von Menschen mit dunkler Hautfarbe besser
nicht betreten werden sollen, ist zwar normal in dieser
schönen Republik. Es stört aber jetzt das Bild
empfindlich, das Deutschland der Welt präsentieren will.
Unterwandern und präventives Mattsetzen
des kleinen bekannten Teils der gewaltbereiten
Szene
und erfolgreiche Abschreckung des
großen unbekannten Teils des Gewaltpotentials, das man da
mobilisiert, ist daher geboten. Das moderne Deutschland
nimmt sich vor, zu seinen Gästen ganz besonders
freundlich zu sein, und dafür ist das größte
Polizeiaufgebot aller Zeiten, das die feiernde
Volksgemeinschaft unter Aufsicht hält, das genau passende
Festkomitee. Das hat dann bei aller unübersehbaren
Präsenz auch noch unbedingt den Eindruck eines ganz
besonders legeren Auftretens zu vermitteln: Die Welt zu
Gast im Hochsicherheitstrakt
– um Himmels willen,
wie sähe das denn aus!
2. Akt: Das Volk nimmt Platz
(Ausgiebig über seine Pflichten, aber auch über seine Rechte belehrt, wird das Volk auf die Bühne gebeten – und dankt der risikofreudigen Regie mit ungeahnter Schauspielkunst. Mit seiner vollkommen spontanen und absolut unbefangenen, gleichwohl stets hingebungsvollen Auslegung des Sujets verliert dieses seinen – in anderen Inszenierungen doch allzu oft als störend empfundenen – gravitätischen Ernst. ‚Hier ist des Volkes wahrer Himmel, zufrieden jauchzet groß und klein: Hier bin ich deutsch, hier darf ich’s sein!‘ – dies große Wort des größten Deutschen wird zum Ereignis auf dem Theater, zum noch nie da gewesenen Spiel dreier Farben.)
Die große Party
Die Regie hat die überzeugende Inszenierung eines Gemeinschaftserlebnisses in Auftrag gegeben, und das Volk geht hin und erlebt Gemeinschaft: Das Fußballturnier wird zu seinem Fest. Seit jeher daran gewöhnt, zwischen seinen schlechten Erfahrungen mit und seinen guten Vorstellungen von dem Gemeinwesen zu unterscheiden, ergreift es die Gelegenheit gerne beim Schopf, das Kollektiv auch einmal so erleben zu dürfen, wie es sich es so gerne vorstellt – nämlich als eine wirkliche Gemeinschaft. Was unmittelbar den Fußball betrifft, so ist das Publikum angenehm erschüttert, wenn auf dem Spielfeld das Gute wahr wird, die Tore auf der richtigen Seite fallen und der Wille zum Sieg zum Gegenstand einer schönen Darbietung gerät: Mit ihrem Gemeinschaftsgeist, ihrem unverwüstlichen Optimismus und der bedingungslosen Leistungsbereitschaft jedes einzelnen Spielers repräsentiert die deutsche Mannschaft auf dem Spielfeld all die Tugenden, die das echte nationale Kollektiv im Alltag allzuoft vermissen lässt.
Vor allem aber: Durch die kämpferische Abgrenzung gegen andere bekommt das WIR, das im wirklichen Leben nur als Abstraktion von allen privaten Interessen zustande kommt, überhaupt erst seinen positiven Gehalt. Alle Gegensätze sind vergessen, alle Menschen werden Brüder – jedenfalls alle Menschen innerhalb des einen Kollektives –, und zwar genau deshalb und genau so lange, wie sie die Gegensätze, die sie untereinander haben, einfach für nichtexistent erklären zugunsten des einen und einzig für entscheidend erachteten Gegensatzes, den sie als Kollektiv gegen ein anderes Kollektiv haben. Daher wird für ein Volk, das sich jenseits seiner Alltagssorgen als Gemeinschaft feiern will, das Fußballturnier im Land auch zur gern wahrgenommenen Gelegenheit einer ganz anderen Veranstaltung. Gemäß der Anweisung, die WM-Begeisterung jetzt mal unübersehbar zu zeigen, bringen die Fans sich wechselseitig in Stimmung und sind nicht nur von der WM, sondern vor allem von sich und ihrer eigenen Begeisterung begeistert. Ein neuer Wettbewerb wird geboren: Parallel zur Konkurrenz der Nationalmannschaften konkurrieren die nationalen Fans um die auffälligste und originellste Inszenierung ihres nationalen Rausches. Farbe, Phantasie und affirmative Ironie ist gefragt; das Bild des argentinischen Fans, der seinen Kopf als überdimensionalen Fußball in Nationalfarben modelliert, geht durch alle Zeitungen. Mit der x-fach breitgetretenen Versicherung, dass das alles ein Riesenspaß ist, kommt zu dem Fußballturnier der Nationen auch noch der Fasching der Völker dazu, und Deutschland feiert sich im Schwarzrotgold seiner Bürger. Eine Nation, die so zu feiern versteht, kann man einfach nur liebhaben, einem Nationalismus, der so spielerisch, so südländisch und so unbeschwert ist, kann man sich einfach nur anschließen, und das tun dann auch sehr bald sehr viele.
Das Feuilleton hatte sich schon auf das Klischee der
WM-geschädigten Ehe eingeschossen, da kommt alles doch
ganz anders: Jetzt wollen auch die Frauen nicht im
Abseits stehen, finden die Angelegenheit mit diesem Ball
irgendwie faszinierend, den einen oder anderen Fußballer
einfach süß, und setzen sich mit modischen Accessoires in
den aktuellen Farben an die Spitze der Bewegung. Jetzt,
wo ein Thema so viele in gemeinschaftlichem Hochgefühl
verbindet, erstreckt sich die Begeisterung auch auf
diejenigen, die sich sonst für Fußball nicht
interessieren
: Die Studienräte und die besseren
Kreise, die sich die Nation lieber als einen großen
Kunst- und Kulturzusammenhang zu Gemüte führen, befassen
sich genauso eine Woche lang mit dem Befinden der Wade
„unseres“ Hoffnungsträgers aus dem Mittelfeld wie die
Alten, die am Stock gehen, weil ihr Bein lahmt, und die
Jungen, die sich in bewusster Absetzung vom kulturellen
Mainstream ihre eigenen Welten von Anstand und Erfolg
gebastelt haben: Sie alle begeistern sich für den Fußball
als Kristallisationspunkt ihrer Gemeinsamkeit
und Ausgangspunkt von guter Laune, sind also weniger vom
Fußball als von der Welle ihrer eigenen Begeisterung
begeistert. Schön in Schwung gehalten wird die durch das
Turnier, das mit seiner Dramaturgie – erst die Vorrunde
zum Warmjubeln, dann alle paar Tage ein
Ausscheidungsspiel gegen richtig schwere Gegner – dafür
sorgt, dass die Spannungskurve nicht verflacht.
„Schwarz-rot-geil“
Mit dem Zusteuern der WM auf ihren fußballerischen
Höhepunkt hat es die Nation komplett erwischt. Man fährt
mit beflaggtem Auto und maskiert sich in denselben
Farben, die auch noch aus den Fenstern hängen. Nach
Spielende geht man dorthin, wo alle nach Spielende
hingehen, wenn man nicht vor dem Spiel schon dort war, wo
alle anderen Maskierten auch waren. Oder man fährt, wenn
man dorthin nicht mehr kommt, weil schon so viele dort
sind, im geschmückten Auto 1 Stunde Hupkonzert durch die
Stadt. Oder hupt einfach dort, wo man wohnt. Die seriöse
Presse spricht von einem kollektiven
Rauschzustand
, in den das ganze Land verfallen sei,
und da ist was dran. Das Kollektiv ‚Volk‘ berauscht sich
an sich selbst, sogar ohne Alkohol, aber
selbstverständlich auch mit: In einer konzertierten
Aktion mit einer Supermarktkette gibt’s für den treuen
Bild-Leser das Rundum-glücklich-Paket von
Deutschlandfahne und Fünfliterfässchen – zum
Super-Sonderpreis, zu dem sich auch ein Harz-IV-Empfänger
die Kante geben kann. Denn exakt das ist ja das Schöne an
diesem Fest: Mal einfach von allem absehen, was
einem das Leben in Deutschland schwer macht, und sich
vier Wochen lang den Umstand zum inneren Erlebnis werden
lassen, dass man mit allen anderen Deutschen jedenfalls
eines gemeinsam hat – die Zugehörigkeit zu
Deutschland. Dann, wenn einfach nichts mehr
präsent ist von all dem, was diese Zugehörigkeit im
normalen Leben so alles beinhaltet und mit sich bringt,
lässt sie sich auch prima feiern.
Übers pure Ignorieren von allem, womit die eigene Nation einem mit Steuern, Gesundheitsreform, Hartz IV und sonst noch was drangsaliert, vermag sich einem gewissermaßen die Schokoladenseite eines auf Gewalt gegründeten Zwangskollektivs zu erschließen: Wenn man alles andere von ihr weglässt, bleibt von der Nation einfach nur das Zusammen all derer übrig, die unter ihrem Dach hausen und sich als Kollektiv ohne Zwang entsprechend zwanglos wohlfühlen können: Dieses nationale WIR in seiner ganzen Nacktheit wird, wenn es sich bei Gelegenheit einer WM hochleben lassen soll und daher kann, zum schönen Gefühl aller, die sich ihm zurechnen dürfen und wollen, lebt sich entsprechend aus – und feiert damit die Nation. Denn die ist in dem Volksfest einerseits schon dauerhaft präsent, in Gestalt ihrer Hymne, ihrer Fahne sowie, natürlich, in dem Umstand, dass es gegen andere Nationalmannschaften geht. Und das feiernde Volk in seinem einheitlich bunten Aufzug und mit seinen einsilbigen Wortmeldungen ‚Deutschland!‘ und ‚Sieg!‘ ist ja auch gar nichts anderes und will auch nichts anderes sein als ihre Repräsentation. Aber dieses Nationalbewusstsein hat in seinem Selbstgenuss andererseits dermaßen gründlich von dem politischen Subjekt abstrahiert, das die Nation ist, dass man fast meinen könnte, das Vaterland müsste erst noch erfunden werden, das da von ergriffenen Patrioten gefeiert wird: Ein ganzes Volk hat nur Deutschland im Kopf – und keinen einzigen Gedanken über den Staat, der so heißt und in dem es lebt! In ihrer Feierlaune legen diese Patrioten auch – ganz anders, als sie es im gewöhnlichen Leben tun – in ihrer Eigenschaft als Gastgeber eine ausgesprochen kosmopolitische Einstellung an den Tag. Weil die anderen Nationalisten bei UNS zu Gast sind, fühlen WIR uns durch deren Schlachtgesänge nicht provoziert, sondern gewürdigt – so jedenfalls will es die Regie, so nehmen es auch die ausgiebig belehrten Deutschen und fühlen sich durch die Selbstfeier anderer Nationalisten selbst gefeiert. Wie bei jedem Ehrenhandel, gibt auch diesmal ein Wort das andere – nur eben jetzt nicht als Einstieg zur Prügelei, sondern als Begleitmusik zur friedlichen Fraternisierung zwischen den Landsmannschaften: Der Gastgeber, der sich geehrt sieht, ehrt seine Gäste, und so geht der Reigen der Artigkeiten reihum und will schier kein Ende nehmen.
Freilich: Diese große Begeisterung am deutschen WIR hat allerdings einen mindestens genauso großen Haken. Das ganze Vergnügen am nationalen Zusammenfinden, über das die Nation zu einer so feinen Sache wird, existiert einfach nur in den unendlich trostlosen Formen, in denen sich das große Gemeinschaftserlebnis betätigt. Ein Griff in den Farbtopf, eine Fahne auf dem Kopf, ein Hupkonzert, Gebrüll, Begeisterung darüber, dass man selbst zusammen mit so vielen so begeistert ist: Wenn ein Volk so seine Nation feiert, fasst sich eben in diesen Dummheiten alles zusammen, was es dem Gemeinwesen an Gutem, Schönem und Feiernswertem abgewinnen kann. Das Fatale an dieser Dummheit aber ist, dass die Fahne und die drei Farben, mit denen sich die Deutschen für die Dauer einer offiziell ausgerufenen 4-wöchigen nationalen Sonntagsfeier schmücken, eben dann doch die Nation repräsentieren, wie sie geht und steht: Mit der, also mit den politischen Verwaltern ihres gewöhnlichen Alltags, den sie einfach mal kurz, aber gründlich vergessen hat, identifiziert sich die Volksgemeinschaft tatsächlich, wenn sie sich Schwarzrotgold als Narrenkappe aufsetzt und als Girlande um den Hals wickelt! Und eigens dazu haben die Regierenden der Nation ihrem Volk die Feierwochen nicht nur gerne spendiert und perfekt organisiert: Von ihnen wird das Volk gleich nach dem Zapfenstreich des Festes auch noch daran erinnert, was es da eigentlich gefeiert hat.
(Der Vorhang fällt. Eine Leuchtschrift erscheint: ‚Deutschland – Italien 0:2‘. Das Volk feiert weiter – nun als tragischer Held, der weit über dem Erfolgreichen steht: Es braucht Siege über andere einfach nicht, um zu sich zu finden. Es ist nicht nur im Triumph, sondern auch im Schmerz vereint. Dieses Volk beweist wahre Größe und hat zum Stolz allen Grund. Tore mögen andere schießen‚ Weltmeister der Herzen‘ wird nur das beste Volk. Männer singen den Choral: ‚Lu-kas-Po-dolski‘, Frauen: ‚Wir-wolln-ein-Kind-von-dir‘. Alle gehen ab. Man hört von hinten: ‚Burenland, haha, abgebrannt, haha, in vier Jahren sind wir da!‘)
3. Akt: Nach dem Rausch – der Chor der Rezensenten zieht Bilanz
(Gedämpftes Licht, leise ertönt ein Streichquartett von Haydn. Mit gefasster Miene betreten nach und nach bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens die Bühne. Ihnen ist das Vergnügen, das ihnen der 2. Akt bereitet hat, deutlich anzusehen, alle tragen sie noch die schwarzrotgoldene Nelke im Knopfloch. Doch scheint für sie der Heiterkeit Wichtiges, Ernstes gar, nachzutragen zu sein. Jedenfalls schicken sie sich, jeder, wie er es kann, an, deutliche Worte dafür zu finden, was in des Volkes launigem Spiel womöglich doch untergegangen sein könnte.)
1. Auftritt: Vertreter der politische Elite
Für sie macht das Volk für gewöhnlich alles falsch. Es
arbeitet zu wenig und lebt zu lange. Es ist ständig krank
und belastet das Gesundheitswesen. Es besteht aus
fragwürdigen Elementen und pflanzt sich nicht fort, und
wenn doch, sind die Kinder prompt zu dick und zu dumm.
Aber diesmal hat das Volk nicht nur alles richtig
gemacht: Es hat gezeigt, welch Großes in ihm bislang
verborgen steckte. Die für Drehbuch und Regie der
Nationalfeier an erster Stelle Verantwortlichen können
sich daher zu ihrem Werk gratulieren – aber eben auch
nicht darauf verzichten, dem Volk seinen so überraschend
offenbar gewordenen wahren Charakter nochmals
eindringlich vor Augen zu stellen. Dazu zeigt der
Bundespräsident, was im obersten Repräsentanten des
gefeierten Landes von Dichtern & Denkern alles steckt. Er
hat einen großen Sinn fürs Schöne: Die
Deutschen identifizieren sich mit ihrem Land und seinen
Nationalfarben. Das finde ich großartig
. Er liebt das
Wahre und kann einen Satz mit ‚wenn – dann‘:
Es ist schön, wenn Patriotismus da ist. Dann gibt er
Halt.
Und natürlich weiß er auch ums Gute:
Wir können viel erreichen, wenn wir Mut haben, Neues
zu wagen. Daran sollten wir uns auch nach der WM
erinnern.
Ja, diese Deutschen mit ihrem
unbefangenen Nationalgefühl
(ders.), was sind das doch für Kerle.
Haben nicht lange überlegt, nicht nach vernünftigen
Gründen gesucht, ob sie das tun oder nicht doch besser
lassen sollen, sondern einfach ihrem untrüglichen
Gefühl freien Lauf gelassen und sich
bedingungslos mit ihrem Land identifiziert:
Einfach großartig findet ihr Präsident dieses Dokument
absoluter Unvernunft, genau so gehört sich das für ein
Volk. Noch großartiger findet er allerdings das, wovon
die feiernden Deutschen vier Wochen lang gerade nichts
wissen wollten, nämlich den politischen Inhalt der
Gesinnung, die von ihnen an den Tag gelegt wurde,
und da vor allem die Funktion, die eine solche
Gesinnung fürs Gemeinwesen hat. Und falls den feiernden
Deutschen dies entgangen sein sollte, erinnert ihr
Präsident sie ans Wesentliche: Wer sich schon so
unbedingt mit seinem Land identifiziert, hat in diesem
Zusammenschluss auch seinen Lebenssinn auf Dauer
zu finden, jenen innerlichen „Halt“ eben, der ihn dann
auch den ordinären Alltag im Staat Deutschland „nach der
WM“ als eine einzige Bestätigung seines so
grundsätzlichen wie grundguten Aufgehobenseins in der
Gemeinschaft der Deutschen durchleben lässt.
Dieses Quidproquo, den patriotischen Überschwang des
Volkes, der von den Härten des politischen Alltags gerade
nichts wissen wollte, als Ausweis seines glatten
Gegenteils zu deuten, beherrscht der zweite Mann im Staat
nicht minder. Der gibt sich überrascht von diesem
neuen, aufgeklärten Patriotismus
, den er in den
nationalen Feierwochen entdeckt haben will. Wie perfekt
von oben eingeleitet und organisiert die waren, vergisst
er einfach mal – und kann sich dann umso überraschter
davon geben, wie die Menschen sich da spontan
,
auf eine ganz natürliche, lockere Art zu diesem Land
bekannt haben.
(Bundestagspräsident Lammert) Das Volk
treibt seinen albernen Mummenschanz – und liefert für
seinen politischen Interpreten damit gleich ein einziges
Bekenntnis ab, und zwar zu nichts geringerem als
zu diesem Land, zu all den Härten und
Ungemütlichkeiten, die es für seine Bewohner bereithält,
zu den politisch Verantwortlichen, von denen die
drangsaliert werden, zur insgesamt
herrschaftlich-gewaltsamen Ordnung also, die dieses Land
bestimmt. Deutschen Nationalismus sans phrase
liest er in die Gaudi des Volks hinein, um gleich danach
mit demselben Quidproquo rückwärts dem Bekenntnis die
Härte wieder abzusprechen, die seine Substanz ausmacht:
Weil es ja als eine einzige Gaudi daherkam, ist
es mit der geächteten 1. Strophe vom Deutschlandlied
überhaupt nicht zu verwechseln und hat es mit
übersteigertem Nationalismus nichts zu tun.
Freilich
wäre es schon fein, gelänge es, dieses bedingungslose
vaterländische WIR auch ohne Fahnenschmuck und Fanmeilen
als alltägliches Lebensgefühl zu kultivieren: Wenn wir
Glück haben, könnte unser Land in diesem Jahr einen nicht
nur atmosphärisch weiten Sprung gemacht haben: Die
Begründung eines neuen Gefühls von Zusammengehörigkeit,
von gemeinsamer Zukunft, unbeschadet unterschiedlicher
Herkunft und Vergangenheit.
Denn so schön dieser
neue Patriotismus
mit seinem traditionsreichen
Bekenntnis zu den Werten und Leistungen der
Gemeinschaft
(Rüttgers,
CDU) auch war: Wer dieses Bekenntnis abgeliefert
hat, hat für die innerliche Bindung zum Großen Ganzen
dann schon auch einzustehen, die er eingegangen ist. Die
Gemeinschaft, in der er sich offensichtlich so gut
aufgehoben fühlt, dass er seinen „Halt“ in ihr findet,
nimmt ihn jedenfalls beim Wort. In der ist bekanntlich
auch das Durchregieren einer der obersten Werte.
Der gilt gleichfalls „unbeschadet unterschiedlicher
Herkunft“ der Regierten, bringt es aber mit sich, dass
beim Regieren schon ganz unterschiedliche Formen von
Betroffenheit zustande kommen. Und wofür da der
„Halt“, den Patriotismus spendiert, gut ist und
vor allem in Zukunft unbedingt gut zu sein hat,
weiß niemand besser als die Frau zu sagen, die beim
Ausüben der Macht die Richtlinienkompetenz hat: So schön
und so großartig ist für Politiker die bekundete
Begeisterung des gemeinen Volks für Deutschland, weil es
sich so womöglich auch gleich für jedes Opfer
mitbegeistern lässt, das sie ihm bei ihrem
verantwortungsvollen Dienst an der Nation demnächst
selbstverständlich bescheren werden – ja, Deutschland
ist ein Sanierungsfall. Wenn ich aber die
Begeisterungsfähigkeit der Menschen bei der
Weltmeisterschaft sehe, dann ist mir nicht bange, dass
wir auch diese Herausforderung meistern werden.
(Kanzlerin Merkel)
Hinter diesem hoffnungsvollen Blick nach vorn treten
freilich die Leistungen nicht zurück, die das Volk in
seinem nationalistischen Überschwang Deutschland schon
erbracht hat, und wiederum besteht die Technik ihrer
politischen Würdigung darin, die Form, in der
sich das Volk da mit seiner Herrschaft identifiziert hat,
zum in jeder Hinsicht unwidersprechlichen Argument
für die Sache zu machen, an denen seinen Herren
gelegen ist. Dankeschön! sagen die da erst mal zu dem
feinen Eindruck, den die Nation auf den Rest der Welt
gemacht hat: Unser wichtigstes Ziel war, dass wir uns
als gute Gastgeber erweisen, und ich finde, das ist in
wunderbarer Weise gelungen. Man muss unseren
Mitbürgerinnen und Mitbürgern wirklich ein großes
Kompliment machen
(Schily) – nämlich das größte, das ein
Polizeiminister ihnen nur machen kann: Das inoffizielle
Gewaltpotential, das da auf den Straßen unterwegs war,
hat sich doch tatsächlich so ordentlich betragen, dass
seine staatlich-offizielle Abteilung kaum in Erscheinung
treten musste. Man denke nur: Ein Volk, das wie ein Block
einfach nur die pure Parteilichkeit für die eigenen
Nation demonstriert, das aber bei seiner Eingrenzung auf
sich selbst niemanden deswegen ausgegrenzt, weil der sich
selbst gerade auf eine andere völkische Identität
eingrenzt und in anderen Landesfarben daherkommt und kaum
einem Ausländer ein Haar krümmt – ja wenn das Deutschland
nicht zu einem einzigen Vorbild in Sachen
„Völkerverständigung“ erhebt! Kam das deutschnationale
Bekenntnis bislang immer nur als Auftakt eher unschöner
Folgen fürs Ausland und für Ausländer daher, so haben die
feiernden Deutschen doch überzeugend vorgeführt, dass so
etwas überhaupt nicht sein muss. Und nicht nur das: Ein
Volk, das sich in seinem Zusammenstehen dermaßen
friedlich gegenüber anderen gibt, die nicht zu ihm
gehören, offenbart damit auch, was für eine
grundsätzlich friedfertige, absolut
unbedenkliche Angelegenheit es ist, wenn ein Kollektiv
deutscher Patrioten auf den Straßen unterwegs ist –
eigentlich schwingen sie ihre Fahnen nur, um fremde
Volksgenossen nach Neuschwanstein zu winken: Ganz
Deutschland jubelt schwarzrot-gold – und Freunde aus
aller Welt feiern mit. Die deutsche Flagge ist der
Ausweis der Gastgeber: ‚Kommt her, wir zeigen euch, wie
schön Deutschland sein kann.‘
(R. Künast, Die Grünen) Das macht
Deutschland nicht nur im Blick der Weltöffentlichkeit zum
kosmopolitischen Musterland der Völkergemeinschaft: Auch
in seinem Inneren hat das Volk mit seinem Fest die Nation
darüber belehrt, dass die es sich mit ihrem Bekenntnis zu
sich selbst doch nicht so schwer zu machen braucht. Mit
seinem Auftritt hat es dieser leidigen Quälerei, wegen
der dunklen Stellen der deutschen Vergangenheit immer nur
so befangen JA! zum Deutschland von heute sagen zu
können, einfach ein Ende gemacht. Nicht durch einen
Wortbeitrag in dieser blutleeren
Patriotismusdebatte
, in der die für Deutschland
Verantwortlichen 10 Jahre lang ihr Leiden unter diesem
unsäglichen Zustand wälzten, sondern auf seine Art: Durch
die schlichte praktische Tat. Sich als deutsches
Kollektiv feiernd, hat es in nicht mehr zu
übertreffender Unbefangenheit sein JA zum Land gesagt,
das sich deswegen auch endlich von allen
Befangenheiten befreit zu sich selbst bekennen
kann: Sein so schön unverkrampfter Patriotismus
hat der Nation zu verstehen gegeben, dass ab sofort die
Freiheit des Bekenntnisses zu Deutschland nicht mehr nur
denen reserviert ist, die sie sich schon immer
herausgenommen haben – viel zu lange haben wir die
Fahne und andere nationale Symbole den Rechten
überlassen!
(Stoiber)
Viel zu lange waren die Insignien der Nation in Händen
derer, die mit ihnen immer nur ihren Einspruch
gegen die nach ihrem Geschmack viel zu un-nationale
‚BRD-Demokratie‘ vorbringen wollen und die daher auch die
verkehrte, schwarz-weiß-rote Fahne schwingen. Diese
Rechten hat das die richtigen Fahnen schwingende Volk
schlicht untergehen lassen und damit seine absolute
Einverständniserklärung mit der Republik abgeliefert, in
der es lebt: Es hat, wie die Propaganda der Regierung es
vorgesagt hat, zu sich ‚Ich bin Deutschland!‘ gesagt, und
damit haargenau den deutschen Staat hochleben lassen, wie
er heute geht und steht. So sehen die Herren, die den
regieren, es jedenfalls, und können daher ihrem Volk nur
Danke! sagen.
(Die bekannten Persönlichkeiten haben ihr Wichtiges gesagt. Es treten Leute aus dem öffentlichen Leben auf, die man eher dem Namen nach oder gar nicht kennt. Sie versuchen, das schon Gesagte vor allem im Lichte ihres eigenen Erlebnishorizontes zu vertiefen.)
2. Auftritt: Vertreter der geistigen Elite
Verstummte Neonazis – Deutschland, wie es ist
(Tagesspiegel) –
Patriotismus, der selbst Nazis Sinnkrisen beschert: So
gefällt Intellektuellen ihr Land. Ein Autor aus dem Osten
der Republik, der die Fahnenparaden anno 1989 einmal
ebenso wenig berückend fand wie die gesamtdeutsch
wiedervereinigte Republik danach, weiß von sich selbst
Erstaunliches zu berichten. Er verdächtigt sich selbst
und viele andere erst derselben Geisteshaltung, die er
für gewöhnlich verachtet, um im nächsten Zug seine
Wertschätzung dieser Geisteshaltung zum Argument der
Verachtung derer zu machen, mit denen er keinesfalls auf
gleicher Stufe stehen will: Stolz auf Deutschland zu
sein, ohne auch nur ansatzweise zum Nazi zu mutieren – es
geht.
(Th. Brussig,
Autor) Ja, auch das geht, offensichtlich. Man muss
dazu nur das feine Ideal der Volksgemeinschaft nicht so
gewichtig und materiell verbindlich nehmen, wie
die Rechten das tun, und nicht meinen, der
kapitalistische Alltag hätte wirklich nach
seiner Maßgabe zu funktionieren und gehörte – bei
deutschen Arbeitslosen, bei fremden Zuwanderern… –
entsprechend radikal geändert. Nein, mit demselben
Blödsinn der Volksgemeinschaft, den Nazis im Kopf haben,
kann man den kapitalistischen Alltag, wie er geht und
steht, ja auch nur im Geiste begleiten – ohne
jeden Anspruch, der müsste dann auch so aussehen wie die
Idee von der Nation, die man im Kopf hat. So
lebt beides friedlich nebeneinander, die
kapitalistische Nation mit allem, was sie so treibt, und
der kritische Intellektuelle, der in seinem Ideal der
Volksgemeinschaft ganz Realist bleibt und sich in ihm
praktisch nur dann ergeht, wenn WM ist und die Nation ihn
zu ihrer Selbstfeier bittet.
Auch in Bezug auf seine Außenwirkung kann man dem
deutschen Patriotismus nur das Beste nachsagen: Endlich
ist auch er wieder die sturznormale Angelegenheit, die er
überall auf der Welt ist: Es war nur Fußball
,
titelt ein Chefredakteur der ‚Süddeutschen‘ über sein
Resümee, um nach gründlichem Nachdenken über den Sport
die Spielberichterstattung dann mit folgendem Signal an
die Völker auf den Punkt zu bringen: Die Botschaft
dieser WM, gebeamt in alle Welt, lautete eben nicht: Wir
sind wieder wer!, sondern vielmehr: Wir sind wie ihr!
– stehen also endlich so geschlossen hinter unserer
Nation wie ihr hinter eurer, sind daher eben schon auch
wieder wer, nämlich dieselbe Manövriermasse einer
national verfassten Körperschaft wie ihr! Ja, dann
muss alles in Ordnung sein mit den Deutschen.
Was das für eine heiter-mediterrane, sich ganz
spielerisch, einfach von selbst einfindende
Gemütsanwandlung ist, die diesen Schulterschluss zustande
bringt, darf im selben Blatt auch noch ein ganz sensibler
Feingeist berichten. Deutschland gegen Schweden: Ich
sah es auf einem Kindergeburtstag. Eltern und Kinder
versammelten sich vor dem Fernseher. Dann die deutsche
Hymne. Die Zehnjährigen erhoben sich langsam, legten
einander die Arme auf die Schultern und sangen mit zarten
Stimmen, zögernd zunächst, nicht bis zum Schluss
textsicher, aber doch: ‚Einigkeit und Recht und
Freiheit…‘ Ein anrührender Moment. Und wissen Sie was?
Ich habe mitgesungen.
(A. Hacke,
SZ-Magazin) Das Deutschlandlied aus Kindermund –
das ist ja so was von rührend! Und wissen Sie noch was?
Wenn diese unschuldigen Geschöpfe, die ja noch gar nichts
richtig verstehen können, mit ihren zarten Stimmen den
Sinn haargenau treffen und sich zum deutschen
Pimpfkollektiv formieren, dann wird so einem
weltoffen-demokratischen Vater überhaupt nicht schlecht
vom Werk seiner Erziehungskunst: Dann ist der umgekehrt
stolz auf sein selbstgezeugtes patriotisches Frühchen und
steigt, textsicher bis zum Schluss, in das Lied mit ein,
das einem Kindergeburtstag jenes Moment von Erhabenheit
beschert, von dem er angerührt wird! Und genau das muss
das lesende Publikum dann auch wissen: Dass doch glatt
auch einen wie ihn, von dem man’s wohl gar nicht
und er selbst kaum vermutet hätte, dieselbe Anwandlung
überfallen hat wie alle anderen! Ja, dann wird es ja wohl
sein Gutes mit der haben müssen.
Mit der – angesichts des ja so heiteren völkischen
Bekenntnisses zu Deutschland – sich auf einmal in Nichts
auflösenden kritischen Distanz zum deutschen
Nationalismus treten auch die Redakteure des ‚Spiegel‘
(Der Spiegel, 25/06) den
Beweis von dessen absoluter Unanfechtbarkeit an. Ihnen
fällt auf, wie unendlich leicht sich ein
patriotisch gut in Laune und Schwung gebrachtes Volk
regieren lässt: Für die große Koalition ist die
Weltmeisterschaft ein Glücksfall.
Mit den Gesetzen
zur Reform von ‚Hartz IV‘, Gesundheitswesen und anderem
werden dem Volk reihenweise neue Zumutungen oktroyiert –
aber es bekommt fast niemand mit: Vermutlich könnte
die Bundesregierung gerade auch die Mehrwertsteuer
verdoppeln und kaum einen würde es interessieren.
Vermutlich könnte sie, und der ‚Spiegel‘ weiß, warum sie
das kann. Er weiß auch um die Flüchtigkeit und um das
Fiktive, auf das diese unglaubliche Leichtigkeit und
Unbeschwertheit im Lande
zurückgeht, die dem Volk den
nüchternen Blick auf seine materiellen Belange so
gründlich vernebelt: Für die Dauer eines Turniers
interessieren sich Hartz-IV-Empfänger, Investmentbanker
und Intellektuelle für dasselbe. Im Jubel sind die
Grenzen sozialer Herkunft verwischt.
Er bringt auch
noch die Funktion zur Sprache, die ein sich als
nationales Kollektiv feierndes Volk für die im Staat
Regierenden hat – nur um im nächsten Zug jeden Gedanken
darüber, was da so prima funktioniert, durch die
Bekundung der eigenen Begeisterung darüber zu ersetzen,
dass dieser Patriotismus in seiner umwerfenden
Unmittelbarkeit einfach jede Bedenken verbietet: Einer
ostdeutschen Elendsgestalt, arbeitslos,
Hartz-IV-Empfänger, jeden Montag mit Pappschild auf der
Demo der eigenen Ohnmacht in Leipzig …, steigen die
Spiegel-Redakteure hinterher. Sie erwischen den Mann mit
schwarzrotgoldener Blumenkette und beflaggter Mütze – und
können ihm zu dem Entschluss, in der zur Nation
überhöhten Gemeinschaft mit anderen Leidensgenossen
endlich das Positive an Deutschland zu suchen,
das sonst nirgendwo zu finden ist, nur
beglückwünschen. Zwar scheint der Mann nun
ein wenig verwundert zu sein über seine Verwandlung vom
Kritiker Deutschlands zur Werbefigur für Deutschland.
Aber in Hamburg weiß man eben Bescheid über den ideellen
Lohn, der bei der Verwandlung von Kritik ins Gegenteil
herausspringt. Vor allem für einen, der sein Lebtag lang
keinen anderen mehr beziehen wird, also liegt der ganz
besonders goldrichtig mit ihr: Doch er fühlt sich gut.
Er ist ein bisschen angekommen
– in genau der freien
Psychiatrie, die der ‚Spiegel‘ wegen ihrer
bewusstseinsstörenden Funktion für vollkommen normal
hält.
(Vorhang.)