Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die „schwarz-rot-geile Fußballparty“
Das Opium fürs Volk, die Dröhnung für die Herrschaft – ein Drama in drei Akten

Nationalflaggen an Autos und Wohnungsfenstern, in Nationalfarben bemalte, in die Flagge gehüllte Bürger, die Siege der deutschen Elf fordern und sich überglücklich geben, wenn sie eintreten; ebenso gut spielen sie die stolzen Gastgeber der Welt, die gerade bei Freunden ist. Fans und Passanten zeigen den Gästen „unser“ schönes Land oder den Weg zur nächsten U-Bahn-Haltestelle, vor allem aber sich selbst als zugleich selbstbewusst deutsch und weltläufig: Man gratuliert den Ausländern zu ihrer Nationalität ebenso wie zur Wahl ihres Reiseziels und lädt sie ein, „to join the party“!

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Die „schwarz-rot-geile Fußballparty“
Das Opium fürs Volk, die Dröhnung für die Herrschaft – ein Drama in drei Akten

Hätten Sie’s gedacht, dass so etwas in Deutschland möglich ist – dem Land der Krise, des Sozialabbaus, des Angstsparens und der Miesepetrigkeit? Im Ton des Triumphes bekommt das Volk über alle Medienkanäle Beweise seiner nationalen Gesundheit vor Augen geführt, damit auch der Letzte kapiert, was angesagt ist: Jetzt drehen wir durch – so wunderbar, wie wir es bisher, neidvoll und erstaunt, bei Amis, Türken, Italienern und eigentlich allen anderen Nationen haben bewundern müssen. Nationalflaggen an Autos und Wohnungsfenstern, in Nationalfarben bemalte, in die Flagge gehüllte Bürger, die Siege der deutschen Elf fordern und sich überglücklich geben, wenn sie eintreten; ebenso gut spielen sie die stolzen Gastgeber der Welt, die gerade bei Freunden ist. Fans und Passanten zeigen den Gästen „unser“ schönes Land oder den Weg zur nächsten U-Bahn-Haltestelle, vor allem aber sich selbst als zugleich selbstbewusst deutsch und weltläufig: Man gratuliert den Ausländern zu ihrer Nationalität ebenso wie zur Wahl ihres Reiseziels und lädt sie ein, to join the party! Die Gäste nimmt man als genau das zur Kenntnis, was man selbst sein will und worauf man sich hingeschminkt hat: als lebende Nationalfähnchen – die gerade dann auch ganz privat gelöst, glücklich und echt gut drauf sind, wenn sie darin aufgehen, Repräsentanten ihres Landes zu sein.

Patriotismus als Party, nationale Emphase nicht als Faschismus, sondern als Fasching: So feiert ein Volk gerne, so lieben die Führer ihr ansonsten ewig nörgelndes Volk. Eine Nation erhebt sich über ihren Alltag und dreht durch. Sie genießt nicht nur ihren nationalen Rausch, sondern ist darauf auch noch stolz, lässt die Grenzen von Sein und Suff verschwimmen und sieht sich zu Höherem befähigt und berufen. Die Spiele haben Deutschland verändert!, tönt es von nah und fern. Jedenfalls ein bisschen, hört man, und alle wünschen sich, es wäre noch ein bisschen mehr gewesen.

Erstaunlich, was vier Wochen Fußball alles bewirkt haben sollen. Was ist geschehen?

1. Akt: Die Opiumhöhle wird eingerichtet

(Die Regie entschließt sich dazu, das Gelingen des Stücks wesentlich der Laienspielgruppe ‚Volk‘ zu überantworten. Das ist einerseits kein allzu großes Risiko, weil das Volk am Sujet der Inszenierung seit jeher großen Anteil nimmt. Andererseits will es schon eigens in seine Rolle eingewiesen sein. Daher steht der Hauptdarsteller einstweilen vor der Eingangstür und wartet auf Einlass. Das Volk ist mit Bier und Kartoffelchips ausgerüstet und an der Rahmenhandlung sichtlich unbeteiligt. Schwenk auf die Bühne.)

Das Bühnenbild: Die Selbstfeier der Nation und ihr Spielfeld

Ein internationales Fußballturnier ist zu arrangieren, ein sportlicher Wettstreit zwischen Nationen. Die Beste unter ihnen soll ermittelt werden, ausnahmsweise nicht in der Konkurrenz, die Macht und Geld betrifft, sondern bei der heiteren Kunst, einen Ball in ein Tor zu schießen. Aber dieser Wettstreit ist ihnen dermaßen wichtig, dass für ziemlich lange Zeit alles in den und für die Nationen Wichtige in den Hintergrund rückt und sich alles um ihn dreht. Schon seltsam. Offenbar legen diese Nationen sehr viel Wert auf den Schein, sie wären etwas ganz anderes als ordinäre Gewaltapparate, die daheim eine Klassengesellschaft kommandieren und auswärts Reichtum an Land ziehen. Eine Kulturnation zum Beispiel, oder eben auch eine Fußballnation. Ungefähr so, wie sie die noble Aura großer Dichter, Denker und des ganzen übrigen Rattenschwanzes von Dienern an großer Kultur und Sittlichkeit, die je auf ihrem Boden wirkten, für ihr höheres Renommee in Anspruch nehmen, erschließen sie sich auch ein Ballspiel als Stoff ihrer positiven Selbstdarstellung. Bewaffnete Mächte, die das Kicken zum Medium der Anerkennung erklären, die ihnen gebührt: Das ist einerseits so absurd, wie es klingt. Andererseits gehorcht auch diese Absurdität ganz der Logik, nach der Nationen ein idealisiertes Bild von sich pflegen, und dient auch ganz demselben Zweck, den sie dabei im Auge haben. Grundsätzlich nämlich stellt sich eine moderne bürgerliche Staatsmacht als Repräsentant alles Guten, Wahren und Schönen vor, die diversen E- und U-Formen an Volksbelustigung eingeschlossen. Darin will sie anerkannt und gewürdigt werden, von ihresgleichen, aber natürlich zuallererst von ihren eigenen Bürgern, und von denen gleich so unbedingt, dass vor dieser ihrer Anerkennung als Inbegriff aller Insignien einer höheren Gemeinschaft, zu der sich Menschen zwanglos vereinen, alle gewichtigen Posten der Erfolgsbilanz, die sie wirklich groß macht, glatt in den Hintergrund treten: In allem, was da die besondere Werthaltigkeit ihres Gemeinwesens vorstellig macht, soll den Bürgern vermittelt werden, dass und wo sie ihre im höheren Ideellen verankerte Identität haben. Unter diesem sittlichen Dach, das ihre Nation aufspannt, folgen sie in all ihrem so unterschiedlichen Tun und Treiben letztlich denselben Sitten und Tugenden. Die sind es, die sie zu einem Volkscharakter einen, welcher die alltäglichen Gegensätze zwischen ihnen als absolut zweitrangig erscheinen lässt und sie zu dem einen Volk zusammenschließt, das in seiner Nation das Leben einer Volksgemeinschaft entfaltet. Zur Pflege genau dieser anheimelnden Vorstellung einer Gesamtkörperschaft von Volk und Staat betreiben die modernen Klassenstaaten auch noch den Aufwand einer Fußballweltmeisterschaft: Sie definieren ein Spielfeld als Feld ihrer Ehre, einen Erfolg der Mannschaft, die sich stellvertretend für sie auf dem tummelt, als Ausweis ihrer Großartigkeit, laden sich wechselseitig ein und mobilisieren ihre Völker zur regen Anteilnahme an ihrer Selbstdarstellung.

Den Fußball befrachtet dies mit einem gewissen Anspruch, zumal dann, wenn die ganze Welt das Kollektiv ist, das da seinen wahren Meister ermitteln soll. Sicher: Gewinnen wollen Mannschaften im sportlichen Wettstreit immer. Im höheren Auftrag ihrer Nation unterwegs, haben sie allerdings eine höhere Verpflichtung zum Erfolg. In der Sphäre spielerischen Genusses hat zum Beispiel die deutsche Mannschaft – wie man es ein Jahr lang im Vorfeld des Turniers und vor dessen Beginn immer eindringlicher mitgeteilt bekommt – schon ziemlich unbedingt Glanz und Größe ihres Landes zu repräsentieren. Sie hat den selbstverständlichen Anspruch der Nation auf ihren Sieg im Wettkampf einerseits mit allen Mitteln einzulösen. Sie soll die Nation andererseits aber auch nicht nur mit gnadenlosem Siegeswillen und Rumpelfußball blamieren. Sie soll vielmehr mit Spielwitz beweisen, dass Deutschland den Sieg auch verdient, gegen den Triumph der Nation also auch vom Standpunkt des Sports aus kein Einspruch erhoben werden kann: Nicht wenig, was elf Paar Fußballstiefel da zu besorgen haben.

Freilich trifft ein Staat wie Deutschland da schon die passenden Vorkehrungen. Das Volksvergnügen an diesem Sport steht ja schon längst unter seiner Obhut. Er fördert gemeinnützige Vereine, großzügiges Mäzenatentum, ehrenamtliche Vereinsmeierei, richtet Sporthochschulen und Leistungszentren ein und kümmert sich überhaupt darum, dass aus dem Vergnügen an Sport & Spiel ein gescheiter Leistungssport wird. Das macht den Fußball zu einem Volkssport, genauer: zu einem ‚Zuschauersport‘, über den jeder mit jedem jederzeit und über alle Klassen hinweg ein Gespräch anfangen kann; der jeden interessiert, zu dem jeder auch etwas zu sagen hat – kurz: der in der Wichtigkeit, die das Volk ihm beimisst, auch ein gewichtiger Bestandteil der praktizierten Identität einer Volksgemeinschaft ist. Nach innen ist das sportliche Leben der Nation ohnehin schon so eingerichtet, dass die politischen Untergliederungen des Staates zu den natürlichen Bezugsgrößen sportlichen Vergnügens und geselliger Verbundenheit werden: Von der Kreisliga über Bezirks- und Regionalliga bis zur Bundesliga reicht die Skala, an der Erfolge im sportlichen Wettbewerb ihre nationale und darin maßgebliche Wertigkeit erfahren, bei sehr vielen Bürgern gehört zum Gefühl ihrer besonderen heimatlichen Verbundenheit mit Stadt und Land unbedingt der Orts- oder Regionalverein dazu, dessen Fan sie sind.

Nach außen treten sich in der Welt des Sports als Abgesandte ihrer Staaten nationale Sportverbände gegenüber und kopieren mit ihren sportdiplomatischen Bündnissen und Unterbündnissen die Sitten der großen Politik: Bevor es so weit ist, dass Nationen auf einem Turnier um die Weltmeisterschaft miteinander Fußball spielen können, kämpfen hinter den Kulissen der Weltverbände zivile Repräsentanten des nationalen Sportbetriebs Jahre hindurch verbissen um die Ehre, das große Völkertreffen auf ihrem Boden veranstalten zu dürfen. An dieser verborgenen Front zwischenstaatlicher Konkurrenz treffen elder statesmen im Dienste des Sports auf verdiente und in Ehren ergraute Sportidole im Dienste ihres Landes, und sie alle ringen stellvertretend für ihre Nationen, aber mit deren Geld, Macht und Einfluss, darum, frühzeitig die Weichen für die richtige Entscheidung zu stellen. Das trägt schöne Blüten: Figuren kommen ins Spiel, die mit ihren guten Beziehungen nach allen Seiten als Scharnier zwischen der schönsten Nebensache der Welt und deren Hauptsache, der erfolgreichen Selbstpräsentation der Nation, fungieren – und sich die Synthese des dialektischen Verhältnisses von Sport und Politik als ihre persönliche Leistung zugute halten dürfen: Mit seinem unwiderstehlichen Charme hat uns unser Franz diese Weltmeisterschaft geschenkt, ist darüber endgültig zum Volkshelden aufgestiegen und heiratet, um dem Fass die Krone aufzusetzen, seine Sissi noch während des Turniers. Eine Demokratie, die solche Persönlichkeiten hat, braucht keinen Kaiser mehr.

So ist lange vor Beginn des großen Volksfestes einer WM ein Stab von freischaffenden und echten Beamten zu dem Zweck unterwegs, die Veranstaltung als engagierten Dienst der Politik am Sport und Unterhaltungsbedürfnis des Volkes erscheinen zu lassen, und das in diesem speziellen Fall ganz besonders.

Die Premiere im neuen Haus: Weltmeisterschaft im eigenen Land

Diese WM ist keine gewöhnliche WM. Sie findet nicht irgendwo, sondern hier, bei uns im schönen Deutschland statt. Das ist ein besonderer Glücksfall für das Renommierbedürfnis der Nation. Während ein gewöhnlicher Teilnehmer sich Respekt dadurch verschafft, dass er seine Gegner besiegt, hat der Veranstalter des Treffens die ungleich lohnendere Aufgabe, die Anerkennung aller darüber zu erwerben, dass er für deren Angeberei eine prächtige Bühne zur Verfügung stellt. Auch dieser Ruhm will freilich verdient sein. Deutschland muss sich als guter Gastgeber bewähren, und das erfordert mehr als nur das Aufstellen einer möglichst erfolgreichen, zumindest nicht blamablen Fußballmannschaft. Das lässt man sich gerne etwas kosten. Nicht nur ein bisschen Gemauschel im Vorfeld der Fifa-Entscheidung, sondern richtig viel Geld für neue Stadien, für das Herausputzen der Hauptstadt und der Austragungsorte sowie für den passenden Ausbau der Infrastruktur. WIR sind schließlich die europäische Führungsmacht, kein Entwicklungsland wie Südafrika, das jetzt schon zur Sorge Anlass gibt, in 4 Jahren einer solchen Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Das macht eben da den Unterschied zwischen Nationen: Die einen können es sich leisten, mit einem Fußballturnier die eigene Klasse zu repräsentieren – und sind so großzügig, es Staaten aus dem 2. oder 3. Glied durchaus auch einmal zu gönnen, sich an so etwas zu versuchen, ohne sich zu blamieren.

Die Regieanweisung: Die Welt zu Gast bei Freunden

Die Welt soll sehen, dass WIR uns der Ehre, das große Völkertreffen auf dem Fußballfeld veranstalten zu dürfen, als würdig erweisen und entsprechend zu feiern verstehen. Damit steht der Auftrag für die vielen Fußballfreunde in Deutschland. Sie und mit ihnen der ganze Rest der Volksgemeinschaft werden ausgiebig davon in Kenntnis gesetzt, womit man sich ab sofort der Hauptsache nach zu befassen hat: Schaffen WIR es? Ein deutscher Teamchef mit amerikanischem Wohnsitz – darf der das?! Kann er’s daher überhaupt? Derart Monate im Voraus für das große Ereignis sensibilisiert, bekommen die Fans von der Regie auch noch die Anweisung, dass in Sachen Fußballbegeisterung und Daumendrücken fürs deutsche Team schon ein wenig Überschäumen verlangt ist. ‚Public viewing‘ heißt dazu das Angebot, in Innenstädten werden ‚Fanmeilen‘ hergerichtet, in denen der Verkehr gerne zusammenbrechen darf.

Natürlich kann man eine derart aufgeweckte Volksgemeinschaft, die Deutschland unbedingt siegen sehen will, in ihrem Überschwang nicht sich selbst überlassen. Allzu schnell pflegt, wie die Erfahrung lehrt, Parteinahme fürs eigene nationale Kollektiv sich unwillkürlich dessen wirkliche Substanz anzuverwandeln – und in die private Gewalt umzuschlagen, mit der sich ein völkisches WIR gegen fremde Elemente zu behaupten sucht. Also kümmert sich die Regie um die nötige Verbreitung der Einsicht, welche nationale Begeisterung bei dieser Völkerkonkurrenz geboten ist und welche nicht. Immerhin verfolgt der Gastgeber die Aufgabe, das schöne Ideal der Völkerverständigung zu inszenieren, hat damit die süße Last auf sich genommen, sich als eine in dieser Hinsicht besonders vortreffliche Nation ins Bild zu setzen, daher entsprechend viel zu tun. Denn Deutschland macht sich diesbezüglich Sorgen. Im Vorfeld der WM geht z.B. das böse Wort von den „No-go-areas“ um. Dass so manche Teile Deutschlands von Menschen mit dunkler Hautfarbe besser nicht betreten werden sollen, ist zwar normal in dieser schönen Republik. Es stört aber jetzt das Bild empfindlich, das Deutschland der Welt präsentieren will. Unterwandern und präventives Mattsetzen des kleinen bekannten Teils der gewaltbereiten Szene und erfolgreiche Abschreckung des großen unbekannten Teils des Gewaltpotentials, das man da mobilisiert, ist daher geboten. Das moderne Deutschland nimmt sich vor, zu seinen Gästen ganz besonders freundlich zu sein, und dafür ist das größte Polizeiaufgebot aller Zeiten, das die feiernde Volksgemeinschaft unter Aufsicht hält, das genau passende Festkomitee. Das hat dann bei aller unübersehbaren Präsenz auch noch unbedingt den Eindruck eines ganz besonders legeren Auftretens zu vermitteln: Die Welt zu Gast im Hochsicherheitstrakt – um Himmels willen, wie sähe das denn aus!

2. Akt: Das Volk nimmt Platz

(Ausgiebig über seine Pflichten, aber auch über seine Rechte belehrt, wird das Volk auf die Bühne gebeten – und dankt der risikofreudigen Regie mit ungeahnter Schauspielkunst. Mit seiner vollkommen spontanen und absolut unbefangenen, gleichwohl stets hingebungsvollen Auslegung des Sujets verliert dieses seinen – in anderen Inszenierungen doch allzu oft als störend empfundenen – gravitätischen Ernst. ‚Hier ist des Volkes wahrer Himmel, zufrieden jauchzet groß und klein: Hier bin ich deutsch, hier darf ich’s sein!‘ – dies große Wort des größten Deutschen wird zum Ereignis auf dem Theater, zum noch nie da gewesenen Spiel dreier Farben.)

Die große Party

Die Regie hat die überzeugende Inszenierung eines Gemeinschaftserlebnisses in Auftrag gegeben, und das Volk geht hin und erlebt Gemeinschaft: Das Fußballturnier wird zu seinem Fest. Seit jeher daran gewöhnt, zwischen seinen schlechten Erfahrungen mit und seinen guten Vorstellungen von dem Gemeinwesen zu unterscheiden, ergreift es die Gelegenheit gerne beim Schopf, das Kollektiv auch einmal so erleben zu dürfen, wie es sich es so gerne vorstellt – nämlich als eine wirkliche Gemeinschaft. Was unmittelbar den Fußball betrifft, so ist das Publikum angenehm erschüttert, wenn auf dem Spielfeld das Gute wahr wird, die Tore auf der richtigen Seite fallen und der Wille zum Sieg zum Gegenstand einer schönen Darbietung gerät: Mit ihrem Gemeinschaftsgeist, ihrem unverwüstlichen Optimismus und der bedingungslosen Leistungsbereitschaft jedes einzelnen Spielers repräsentiert die deutsche Mannschaft auf dem Spielfeld all die Tugenden, die das echte nationale Kollektiv im Alltag allzuoft vermissen lässt.

Vor allem aber: Durch die kämpferische Abgrenzung gegen andere bekommt das WIR, das im wirklichen Leben nur als Abstraktion von allen privaten Interessen zustande kommt, überhaupt erst seinen positiven Gehalt. Alle Gegensätze sind vergessen, alle Menschen werden Brüder – jedenfalls alle Menschen innerhalb des einen Kollektives –, und zwar genau deshalb und genau so lange, wie sie die Gegensätze, die sie untereinander haben, einfach für nichtexistent erklären zugunsten des einen und einzig für entscheidend erachteten Gegensatzes, den sie als Kollektiv gegen ein anderes Kollektiv haben. Daher wird für ein Volk, das sich jenseits seiner Alltagssorgen als Gemeinschaft feiern will, das Fußballturnier im Land auch zur gern wahrgenommenen Gelegenheit einer ganz anderen Veranstaltung. Gemäß der Anweisung, die WM-Begeisterung jetzt mal unübersehbar zu zeigen, bringen die Fans sich wechselseitig in Stimmung und sind nicht nur von der WM, sondern vor allem von sich und ihrer eigenen Begeisterung begeistert. Ein neuer Wettbewerb wird geboren: Parallel zur Konkurrenz der Nationalmannschaften konkurrieren die nationalen Fans um die auffälligste und originellste Inszenierung ihres nationalen Rausches. Farbe, Phantasie und affirmative Ironie ist gefragt; das Bild des argentinischen Fans, der seinen Kopf als überdimensionalen Fußball in Nationalfarben modelliert, geht durch alle Zeitungen. Mit der x-fach breitgetretenen Versicherung, dass das alles ein Riesenspaß ist, kommt zu dem Fußballturnier der Nationen auch noch der Fasching der Völker dazu, und Deutschland feiert sich im Schwarzrotgold seiner Bürger. Eine Nation, die so zu feiern versteht, kann man einfach nur liebhaben, einem Nationalismus, der so spielerisch, so südländisch und so unbeschwert ist, kann man sich einfach nur anschließen, und das tun dann auch sehr bald sehr viele.

Das Feuilleton hatte sich schon auf das Klischee der WM-geschädigten Ehe eingeschossen, da kommt alles doch ganz anders: Jetzt wollen auch die Frauen nicht im Abseits stehen, finden die Angelegenheit mit diesem Ball irgendwie faszinierend, den einen oder anderen Fußballer einfach süß, und setzen sich mit modischen Accessoires in den aktuellen Farben an die Spitze der Bewegung. Jetzt, wo ein Thema so viele in gemeinschaftlichem Hochgefühl verbindet, erstreckt sich die Begeisterung auch auf diejenigen, die sich sonst für Fußball nicht interessieren: Die Studienräte und die besseren Kreise, die sich die Nation lieber als einen großen Kunst- und Kulturzusammenhang zu Gemüte führen, befassen sich genauso eine Woche lang mit dem Befinden der Wade „unseres“ Hoffnungsträgers aus dem Mittelfeld wie die Alten, die am Stock gehen, weil ihr Bein lahmt, und die Jungen, die sich in bewusster Absetzung vom kulturellen Mainstream ihre eigenen Welten von Anstand und Erfolg gebastelt haben: Sie alle begeistern sich für den Fußball als Kristallisationspunkt ihrer Gemeinsamkeit und Ausgangspunkt von guter Laune, sind also weniger vom Fußball als von der Welle ihrer eigenen Begeisterung begeistert. Schön in Schwung gehalten wird die durch das Turnier, das mit seiner Dramaturgie – erst die Vorrunde zum Warmjubeln, dann alle paar Tage ein Ausscheidungsspiel gegen richtig schwere Gegner – dafür sorgt, dass die Spannungskurve nicht verflacht.

„Schwarz-rot-geil“

Mit dem Zusteuern der WM auf ihren fußballerischen Höhepunkt hat es die Nation komplett erwischt. Man fährt mit beflaggtem Auto und maskiert sich in denselben Farben, die auch noch aus den Fenstern hängen. Nach Spielende geht man dorthin, wo alle nach Spielende hingehen, wenn man nicht vor dem Spiel schon dort war, wo alle anderen Maskierten auch waren. Oder man fährt, wenn man dorthin nicht mehr kommt, weil schon so viele dort sind, im geschmückten Auto 1 Stunde Hupkonzert durch die Stadt. Oder hupt einfach dort, wo man wohnt. Die seriöse Presse spricht von einem kollektiven Rauschzustand, in den das ganze Land verfallen sei, und da ist was dran. Das Kollektiv ‚Volk‘ berauscht sich an sich selbst, sogar ohne Alkohol, aber selbstverständlich auch mit: In einer konzertierten Aktion mit einer Supermarktkette gibt’s für den treuen Bild-Leser das Rundum-glücklich-Paket von Deutschlandfahne und Fünfliterfässchen – zum Super-Sonderpreis, zu dem sich auch ein Harz-IV-Empfänger die Kante geben kann. Denn exakt das ist ja das Schöne an diesem Fest: Mal einfach von allem absehen, was einem das Leben in Deutschland schwer macht, und sich vier Wochen lang den Umstand zum inneren Erlebnis werden lassen, dass man mit allen anderen Deutschen jedenfalls eines gemeinsam hat – die Zugehörigkeit zu Deutschland. Dann, wenn einfach nichts mehr präsent ist von all dem, was diese Zugehörigkeit im normalen Leben so alles beinhaltet und mit sich bringt, lässt sie sich auch prima feiern.

Übers pure Ignorieren von allem, womit die eigene Nation einem mit Steuern, Gesundheitsreform, Hartz IV und sonst noch was drangsaliert, vermag sich einem gewissermaßen die Schokoladenseite eines auf Gewalt gegründeten Zwangskollektivs zu erschließen: Wenn man alles andere von ihr weglässt, bleibt von der Nation einfach nur das Zusammen all derer übrig, die unter ihrem Dach hausen und sich als Kollektiv ohne Zwang entsprechend zwanglos wohlfühlen können: Dieses nationale WIR in seiner ganzen Nacktheit wird, wenn es sich bei Gelegenheit einer WM hochleben lassen soll und daher kann, zum schönen Gefühl aller, die sich ihm zurechnen dürfen und wollen, lebt sich entsprechend aus – und feiert damit die Nation. Denn die ist in dem Volksfest einerseits schon dauerhaft präsent, in Gestalt ihrer Hymne, ihrer Fahne sowie, natürlich, in dem Umstand, dass es gegen andere Nationalmannschaften geht. Und das feiernde Volk in seinem einheitlich bunten Aufzug und mit seinen einsilbigen Wortmeldungen ‚Deutschland!‘ und ‚Sieg!‘ ist ja auch gar nichts anderes und will auch nichts anderes sein als ihre Repräsentation. Aber dieses Nationalbewusstsein hat in seinem Selbstgenuss andererseits dermaßen gründlich von dem politischen Subjekt abstrahiert, das die Nation ist, dass man fast meinen könnte, das Vaterland müsste erst noch erfunden werden, das da von ergriffenen Patrioten gefeiert wird: Ein ganzes Volk hat nur Deutschland im Kopf – und keinen einzigen Gedanken über den Staat, der so heißt und in dem es lebt! In ihrer Feierlaune legen diese Patrioten auch – ganz anders, als sie es im gewöhnlichen Leben tun – in ihrer Eigenschaft als Gastgeber eine ausgesprochen kosmopolitische Einstellung an den Tag. Weil die anderen Nationalisten bei UNS zu Gast sind, fühlen WIR uns durch deren Schlachtgesänge nicht provoziert, sondern gewürdigt – so jedenfalls will es die Regie, so nehmen es auch die ausgiebig belehrten Deutschen und fühlen sich durch die Selbstfeier anderer Nationalisten selbst gefeiert. Wie bei jedem Ehrenhandel, gibt auch diesmal ein Wort das andere – nur eben jetzt nicht als Einstieg zur Prügelei, sondern als Begleitmusik zur friedlichen Fraternisierung zwischen den Landsmannschaften: Der Gastgeber, der sich geehrt sieht, ehrt seine Gäste, und so geht der Reigen der Artigkeiten reihum und will schier kein Ende nehmen.

Freilich: Diese große Begeisterung am deutschen WIR hat allerdings einen mindestens genauso großen Haken. Das ganze Vergnügen am nationalen Zusammenfinden, über das die Nation zu einer so feinen Sache wird, existiert einfach nur in den unendlich trostlosen Formen, in denen sich das große Gemeinschaftserlebnis betätigt. Ein Griff in den Farbtopf, eine Fahne auf dem Kopf, ein Hupkonzert, Gebrüll, Begeisterung darüber, dass man selbst zusammen mit so vielen so begeistert ist: Wenn ein Volk so seine Nation feiert, fasst sich eben in diesen Dummheiten alles zusammen, was es dem Gemeinwesen an Gutem, Schönem und Feiernswertem abgewinnen kann. Das Fatale an dieser Dummheit aber ist, dass die Fahne und die drei Farben, mit denen sich die Deutschen für die Dauer einer offiziell ausgerufenen 4-wöchigen nationalen Sonntagsfeier schmücken, eben dann doch die Nation repräsentieren, wie sie geht und steht: Mit der, also mit den politischen Verwaltern ihres gewöhnlichen Alltags, den sie einfach mal kurz, aber gründlich vergessen hat, identifiziert sich die Volksgemeinschaft tatsächlich, wenn sie sich Schwarzrotgold als Narrenkappe aufsetzt und als Girlande um den Hals wickelt! Und eigens dazu haben die Regierenden der Nation ihrem Volk die Feierwochen nicht nur gerne spendiert und perfekt organisiert: Von ihnen wird das Volk gleich nach dem Zapfenstreich des Festes auch noch daran erinnert, was es da eigentlich gefeiert hat.

(Der Vorhang fällt. Eine Leuchtschrift erscheint: ‚Deutschland – Italien 0:2‘. Das Volk feiert weiter – nun als tragischer Held, der weit über dem Erfolgreichen steht: Es braucht Siege über andere einfach nicht, um zu sich zu finden. Es ist nicht nur im Triumph, sondern auch im Schmerz vereint. Dieses Volk beweist wahre Größe und hat zum Stolz allen Grund. Tore mögen andere schießen‚ Weltmeister der Herzen‘ wird nur das beste Volk. Männer singen den Choral: ‚Lu-kas-Po-dolski‘, Frauen: ‚Wir-wolln-ein-Kind-von-dir‘. Alle gehen ab. Man hört von hinten: ‚Burenland, haha, abgebrannt, haha, in vier Jahren sind wir da!‘)

3. Akt: Nach dem Rausch – der Chor der Rezensenten zieht Bilanz

(Gedämpftes Licht, leise ertönt ein Streichquartett von Haydn. Mit gefasster Miene betreten nach und nach bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens die Bühne. Ihnen ist das Vergnügen, das ihnen der 2. Akt bereitet hat, deutlich anzusehen, alle tragen sie noch die schwarzrotgoldene Nelke im Knopfloch. Doch scheint für sie der Heiterkeit Wichtiges, Ernstes gar, nachzutragen zu sein. Jedenfalls schicken sie sich, jeder, wie er es kann, an, deutliche Worte dafür zu finden, was in des Volkes launigem Spiel womöglich doch untergegangen sein könnte.)

1. Auftritt: Vertreter der politische Elite

Für sie macht das Volk für gewöhnlich alles falsch. Es arbeitet zu wenig und lebt zu lange. Es ist ständig krank und belastet das Gesundheitswesen. Es besteht aus fragwürdigen Elementen und pflanzt sich nicht fort, und wenn doch, sind die Kinder prompt zu dick und zu dumm. Aber diesmal hat das Volk nicht nur alles richtig gemacht: Es hat gezeigt, welch Großes in ihm bislang verborgen steckte. Die für Drehbuch und Regie der Nationalfeier an erster Stelle Verantwortlichen können sich daher zu ihrem Werk gratulieren – aber eben auch nicht darauf verzichten, dem Volk seinen so überraschend offenbar gewordenen wahren Charakter nochmals eindringlich vor Augen zu stellen. Dazu zeigt der Bundespräsident, was im obersten Repräsentanten des gefeierten Landes von Dichtern & Denkern alles steckt. Er hat einen großen Sinn fürs Schöne: Die Deutschen identifizieren sich mit ihrem Land und seinen Nationalfarben. Das finde ich großartig. Er liebt das Wahre und kann einen Satz mit ‚wenn – dann‘: Es ist schön, wenn Patriotismus da ist. Dann gibt er Halt. Und natürlich weiß er auch ums Gute: Wir können viel erreichen, wenn wir Mut haben, Neues zu wagen. Daran sollten wir uns auch nach der WM erinnern. Ja, diese Deutschen mit ihrem unbefangenen Nationalgefühl (ders.), was sind das doch für Kerle. Haben nicht lange überlegt, nicht nach vernünftigen Gründen gesucht, ob sie das tun oder nicht doch besser lassen sollen, sondern einfach ihrem untrüglichen Gefühl freien Lauf gelassen und sich bedingungslos mit ihrem Land identifiziert: Einfach großartig findet ihr Präsident dieses Dokument absoluter Unvernunft, genau so gehört sich das für ein Volk. Noch großartiger findet er allerdings das, wovon die feiernden Deutschen vier Wochen lang gerade nichts wissen wollten, nämlich den politischen Inhalt der Gesinnung, die von ihnen an den Tag gelegt wurde, und da vor allem die Funktion, die eine solche Gesinnung fürs Gemeinwesen hat. Und falls den feiernden Deutschen dies entgangen sein sollte, erinnert ihr Präsident sie ans Wesentliche: Wer sich schon so unbedingt mit seinem Land identifiziert, hat in diesem Zusammenschluss auch seinen Lebenssinn auf Dauer zu finden, jenen innerlichen „Halt“ eben, der ihn dann auch den ordinären Alltag im Staat Deutschland „nach der WM“ als eine einzige Bestätigung seines so grundsätzlichen wie grundguten Aufgehobenseins in der Gemeinschaft der Deutschen durchleben lässt.

Dieses Quidproquo, den patriotischen Überschwang des Volkes, der von den Härten des politischen Alltags gerade nichts wissen wollte, als Ausweis seines glatten Gegenteils zu deuten, beherrscht der zweite Mann im Staat nicht minder. Der gibt sich überrascht von diesem neuen, aufgeklärten Patriotismus, den er in den nationalen Feierwochen entdeckt haben will. Wie perfekt von oben eingeleitet und organisiert die waren, vergisst er einfach mal – und kann sich dann umso überraschter davon geben, wie die Menschen sich da spontan, auf eine ganz natürliche, lockere Art zu diesem Land bekannt haben. (Bundestagspräsident Lammert) Das Volk treibt seinen albernen Mummenschanz – und liefert für seinen politischen Interpreten damit gleich ein einziges Bekenntnis ab, und zwar zu nichts geringerem als zu diesem Land, zu all den Härten und Ungemütlichkeiten, die es für seine Bewohner bereithält, zu den politisch Verantwortlichen, von denen die drangsaliert werden, zur insgesamt herrschaftlich-gewaltsamen Ordnung also, die dieses Land bestimmt. Deutschen Nationalismus sans phrase liest er in die Gaudi des Volks hinein, um gleich danach mit demselben Quidproquo rückwärts dem Bekenntnis die Härte wieder abzusprechen, die seine Substanz ausmacht: Weil es ja als eine einzige Gaudi daherkam, ist es mit der geächteten 1. Strophe vom Deutschlandlied überhaupt nicht zu verwechseln und hat es mit übersteigertem Nationalismus nichts zu tun. Freilich wäre es schon fein, gelänge es, dieses bedingungslose vaterländische WIR auch ohne Fahnenschmuck und Fanmeilen als alltägliches Lebensgefühl zu kultivieren: Wenn wir Glück haben, könnte unser Land in diesem Jahr einen nicht nur atmosphärisch weiten Sprung gemacht haben: Die Begründung eines neuen Gefühls von Zusammengehörigkeit, von gemeinsamer Zukunft, unbeschadet unterschiedlicher Herkunft und Vergangenheit. Denn so schön dieser neue Patriotismus mit seinem traditionsreichen Bekenntnis zu den Werten und Leistungen der Gemeinschaft (Rüttgers, CDU) auch war: Wer dieses Bekenntnis abgeliefert hat, hat für die innerliche Bindung zum Großen Ganzen dann schon auch einzustehen, die er eingegangen ist. Die Gemeinschaft, in der er sich offensichtlich so gut aufgehoben fühlt, dass er seinen „Halt“ in ihr findet, nimmt ihn jedenfalls beim Wort. In der ist bekanntlich auch das Durchregieren einer der obersten Werte. Der gilt gleichfalls „unbeschadet unterschiedlicher Herkunft“ der Regierten, bringt es aber mit sich, dass beim Regieren schon ganz unterschiedliche Formen von Betroffenheit zustande kommen. Und wofür da der „Halt“, den Patriotismus spendiert, gut ist und vor allem in Zukunft unbedingt gut zu sein hat, weiß niemand besser als die Frau zu sagen, die beim Ausüben der Macht die Richtlinienkompetenz hat: So schön und so großartig ist für Politiker die bekundete Begeisterung des gemeinen Volks für Deutschland, weil es sich so womöglich auch gleich für jedes Opfer mitbegeistern lässt, das sie ihm bei ihrem verantwortungsvollen Dienst an der Nation demnächst selbstverständlich bescheren werden – ja, Deutschland ist ein Sanierungsfall. Wenn ich aber die Begeisterungsfähigkeit der Menschen bei der Weltmeisterschaft sehe, dann ist mir nicht bange, dass wir auch diese Herausforderung meistern werden. (Kanzlerin Merkel)

Hinter diesem hoffnungsvollen Blick nach vorn treten freilich die Leistungen nicht zurück, die das Volk in seinem nationalistischen Überschwang Deutschland schon erbracht hat, und wiederum besteht die Technik ihrer politischen Würdigung darin, die Form, in der sich das Volk da mit seiner Herrschaft identifiziert hat, zum in jeder Hinsicht unwidersprechlichen Argument für die Sache zu machen, an denen seinen Herren gelegen ist. Dankeschön! sagen die da erst mal zu dem feinen Eindruck, den die Nation auf den Rest der Welt gemacht hat: Unser wichtigstes Ziel war, dass wir uns als gute Gastgeber erweisen, und ich finde, das ist in wunderbarer Weise gelungen. Man muss unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern wirklich ein großes Kompliment machen (Schily) – nämlich das größte, das ein Polizeiminister ihnen nur machen kann: Das inoffizielle Gewaltpotential, das da auf den Straßen unterwegs war, hat sich doch tatsächlich so ordentlich betragen, dass seine staatlich-offizielle Abteilung kaum in Erscheinung treten musste. Man denke nur: Ein Volk, das wie ein Block einfach nur die pure Parteilichkeit für die eigenen Nation demonstriert, das aber bei seiner Eingrenzung auf sich selbst niemanden deswegen ausgegrenzt, weil der sich selbst gerade auf eine andere völkische Identität eingrenzt und in anderen Landesfarben daherkommt und kaum einem Ausländer ein Haar krümmt – ja wenn das Deutschland nicht zu einem einzigen Vorbild in Sachen „Völkerverständigung“ erhebt! Kam das deutschnationale Bekenntnis bislang immer nur als Auftakt eher unschöner Folgen fürs Ausland und für Ausländer daher, so haben die feiernden Deutschen doch überzeugend vorgeführt, dass so etwas überhaupt nicht sein muss. Und nicht nur das: Ein Volk, das sich in seinem Zusammenstehen dermaßen friedlich gegenüber anderen gibt, die nicht zu ihm gehören, offenbart damit auch, was für eine grundsätzlich friedfertige, absolut unbedenkliche Angelegenheit es ist, wenn ein Kollektiv deutscher Patrioten auf den Straßen unterwegs ist – eigentlich schwingen sie ihre Fahnen nur, um fremde Volksgenossen nach Neuschwanstein zu winken: Ganz Deutschland jubelt schwarzrot-gold – und Freunde aus aller Welt feiern mit. Die deutsche Flagge ist der Ausweis der Gastgeber: ‚Kommt her, wir zeigen euch, wie schön Deutschland sein kann.‘ (R. Künast, Die Grünen) Das macht Deutschland nicht nur im Blick der Weltöffentlichkeit zum kosmopolitischen Musterland der Völkergemeinschaft: Auch in seinem Inneren hat das Volk mit seinem Fest die Nation darüber belehrt, dass die es sich mit ihrem Bekenntnis zu sich selbst doch nicht so schwer zu machen braucht. Mit seinem Auftritt hat es dieser leidigen Quälerei, wegen der dunklen Stellen der deutschen Vergangenheit immer nur so befangen JA! zum Deutschland von heute sagen zu können, einfach ein Ende gemacht. Nicht durch einen Wortbeitrag in dieser blutleeren Patriotismusdebatte, in der die für Deutschland Verantwortlichen 10 Jahre lang ihr Leiden unter diesem unsäglichen Zustand wälzten, sondern auf seine Art: Durch die schlichte praktische Tat. Sich als deutsches Kollektiv feiernd, hat es in nicht mehr zu übertreffender Unbefangenheit sein JA zum Land gesagt, das sich deswegen auch endlich von allen Befangenheiten befreit zu sich selbst bekennen kann: Sein so schön unverkrampfter Patriotismus hat der Nation zu verstehen gegeben, dass ab sofort die Freiheit des Bekenntnisses zu Deutschland nicht mehr nur denen reserviert ist, die sie sich schon immer herausgenommen haben – viel zu lange haben wir die Fahne und andere nationale Symbole den Rechten überlassen! (Stoiber) Viel zu lange waren die Insignien der Nation in Händen derer, die mit ihnen immer nur ihren Einspruch gegen die nach ihrem Geschmack viel zu un-nationale ‚BRD-Demokratie‘ vorbringen wollen und die daher auch die verkehrte, schwarz-weiß-rote Fahne schwingen. Diese Rechten hat das die richtigen Fahnen schwingende Volk schlicht untergehen lassen und damit seine absolute Einverständniserklärung mit der Republik abgeliefert, in der es lebt: Es hat, wie die Propaganda der Regierung es vorgesagt hat, zu sich ‚Ich bin Deutschland!‘ gesagt, und damit haargenau den deutschen Staat hochleben lassen, wie er heute geht und steht. So sehen die Herren, die den regieren, es jedenfalls, und können daher ihrem Volk nur Danke! sagen.

(Die bekannten Persönlichkeiten haben ihr Wichtiges gesagt. Es treten Leute aus dem öffentlichen Leben auf, die man eher dem Namen nach oder gar nicht kennt. Sie versuchen, das schon Gesagte vor allem im Lichte ihres eigenen Erlebnishorizontes zu vertiefen.)

2. Auftritt: Vertreter der geistigen Elite

Verstummte Neonazis – Deutschland, wie es ist (Tagesspiegel) – Patriotismus, der selbst Nazis Sinnkrisen beschert: So gefällt Intellektuellen ihr Land. Ein Autor aus dem Osten der Republik, der die Fahnenparaden anno 1989 einmal ebenso wenig berückend fand wie die gesamtdeutsch wiedervereinigte Republik danach, weiß von sich selbst Erstaunliches zu berichten. Er verdächtigt sich selbst und viele andere erst derselben Geisteshaltung, die er für gewöhnlich verachtet, um im nächsten Zug seine Wertschätzung dieser Geisteshaltung zum Argument der Verachtung derer zu machen, mit denen er keinesfalls auf gleicher Stufe stehen will: Stolz auf Deutschland zu sein, ohne auch nur ansatzweise zum Nazi zu mutieren – es geht. (Th. Brussig, Autor) Ja, auch das geht, offensichtlich. Man muss dazu nur das feine Ideal der Volksgemeinschaft nicht so gewichtig und materiell verbindlich nehmen, wie die Rechten das tun, und nicht meinen, der kapitalistische Alltag hätte wirklich nach seiner Maßgabe zu funktionieren und gehörte – bei deutschen Arbeitslosen, bei fremden Zuwanderern… – entsprechend radikal geändert. Nein, mit demselben Blödsinn der Volksgemeinschaft, den Nazis im Kopf haben, kann man den kapitalistischen Alltag, wie er geht und steht, ja auch nur im Geiste begleiten – ohne jeden Anspruch, der müsste dann auch so aussehen wie die Idee von der Nation, die man im Kopf hat. So lebt beides friedlich nebeneinander, die kapitalistische Nation mit allem, was sie so treibt, und der kritische Intellektuelle, der in seinem Ideal der Volksgemeinschaft ganz Realist bleibt und sich in ihm praktisch nur dann ergeht, wenn WM ist und die Nation ihn zu ihrer Selbstfeier bittet.

Auch in Bezug auf seine Außenwirkung kann man dem deutschen Patriotismus nur das Beste nachsagen: Endlich ist auch er wieder die sturznormale Angelegenheit, die er überall auf der Welt ist: Es war nur Fußball, titelt ein Chefredakteur der ‚Süddeutschen‘ über sein Resümee, um nach gründlichem Nachdenken über den Sport die Spielberichterstattung dann mit folgendem Signal an die Völker auf den Punkt zu bringen: Die Botschaft dieser WM, gebeamt in alle Welt, lautete eben nicht: Wir sind wieder wer!, sondern vielmehr: Wir sind wie ihr! – stehen also endlich so geschlossen hinter unserer Nation wie ihr hinter eurer, sind daher eben schon auch wieder wer, nämlich dieselbe Manövriermasse einer national verfassten Körperschaft wie ihr! Ja, dann muss alles in Ordnung sein mit den Deutschen.

Was das für eine heiter-mediterrane, sich ganz spielerisch, einfach von selbst einfindende Gemütsanwandlung ist, die diesen Schulterschluss zustande bringt, darf im selben Blatt auch noch ein ganz sensibler Feingeist berichten. Deutschland gegen Schweden: Ich sah es auf einem Kindergeburtstag. Eltern und Kinder versammelten sich vor dem Fernseher. Dann die deutsche Hymne. Die Zehnjährigen erhoben sich langsam, legten einander die Arme auf die Schultern und sangen mit zarten Stimmen, zögernd zunächst, nicht bis zum Schluss textsicher, aber doch: ‚Einigkeit und Recht und Freiheit…‘ Ein anrührender Moment. Und wissen Sie was? Ich habe mitgesungen. (A. Hacke, SZ-Magazin) Das Deutschlandlied aus Kindermund – das ist ja so was von rührend! Und wissen Sie noch was? Wenn diese unschuldigen Geschöpfe, die ja noch gar nichts richtig verstehen können, mit ihren zarten Stimmen den Sinn haargenau treffen und sich zum deutschen Pimpfkollektiv formieren, dann wird so einem weltoffen-demokratischen Vater überhaupt nicht schlecht vom Werk seiner Erziehungskunst: Dann ist der umgekehrt stolz auf sein selbstgezeugtes patriotisches Frühchen und steigt, textsicher bis zum Schluss, in das Lied mit ein, das einem Kindergeburtstag jenes Moment von Erhabenheit beschert, von dem er angerührt wird! Und genau das muss das lesende Publikum dann auch wissen: Dass doch glatt auch einen wie ihn, von dem man’s wohl gar nicht und er selbst kaum vermutet hätte, dieselbe Anwandlung überfallen hat wie alle anderen! Ja, dann wird es ja wohl sein Gutes mit der haben müssen.

Mit der – angesichts des ja so heiteren völkischen Bekenntnisses zu Deutschland – sich auf einmal in Nichts auflösenden kritischen Distanz zum deutschen Nationalismus treten auch die Redakteure des ‚Spiegel‘ (Der Spiegel, 25/06) den Beweis von dessen absoluter Unanfechtbarkeit an. Ihnen fällt auf, wie unendlich leicht sich ein patriotisch gut in Laune und Schwung gebrachtes Volk regieren lässt: Für die große Koalition ist die Weltmeisterschaft ein Glücksfall. Mit den Gesetzen zur Reform von ‚Hartz IV‘, Gesundheitswesen und anderem werden dem Volk reihenweise neue Zumutungen oktroyiert – aber es bekommt fast niemand mit: Vermutlich könnte die Bundesregierung gerade auch die Mehrwertsteuer verdoppeln und kaum einen würde es interessieren. Vermutlich könnte sie, und der ‚Spiegel‘ weiß, warum sie das kann. Er weiß auch um die Flüchtigkeit und um das Fiktive, auf das diese unglaubliche Leichtigkeit und Unbeschwertheit im Lande zurückgeht, die dem Volk den nüchternen Blick auf seine materiellen Belange so gründlich vernebelt: Für die Dauer eines Turniers interessieren sich Hartz-IV-Empfänger, Investmentbanker und Intellektuelle für dasselbe. Im Jubel sind die Grenzen sozialer Herkunft verwischt. Er bringt auch noch die Funktion zur Sprache, die ein sich als nationales Kollektiv feierndes Volk für die im Staat Regierenden hat – nur um im nächsten Zug jeden Gedanken darüber, was da so prima funktioniert, durch die Bekundung der eigenen Begeisterung darüber zu ersetzen, dass dieser Patriotismus in seiner umwerfenden Unmittelbarkeit einfach jede Bedenken verbietet: Einer ostdeutschen Elendsgestalt, arbeitslos, Hartz-IV-Empfänger, jeden Montag mit Pappschild auf der Demo der eigenen Ohnmacht in Leipzig …, steigen die Spiegel-Redakteure hinterher. Sie erwischen den Mann mit schwarzrotgoldener Blumenkette und beflaggter Mütze – und können ihm zu dem Entschluss, in der zur Nation überhöhten Gemeinschaft mit anderen Leidensgenossen endlich das Positive an Deutschland zu suchen, das sonst nirgendwo zu finden ist, nur beglückwünschen. Zwar scheint der Mann nun ein wenig verwundert zu sein über seine Verwandlung vom Kritiker Deutschlands zur Werbefigur für Deutschland. Aber in Hamburg weiß man eben Bescheid über den ideellen Lohn, der bei der Verwandlung von Kritik ins Gegenteil herausspringt. Vor allem für einen, der sein Lebtag lang keinen anderen mehr beziehen wird, also liegt der ganz besonders goldrichtig mit ihr: Doch er fühlt sich gut. Er ist ein bisschen angekommen – in genau der freien Psychiatrie, die der ‚Spiegel‘ wegen ihrer bewusstseinsstörenden Funktion für vollkommen normal hält.

(Vorhang.)