Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Habermas dankt für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels mit der kommunikationstheoretischen Summe aller aufgeklärten Vernunft: Oremus!
Habermas verwandelt erstens Terror und staatlichen Gegenterror in einen Glaubenskrieg. Dann widmet er sich der philosophischen Frage, was den Menschen letztlich die nötige Orientierung in einer von Wissen geprägten Welt gibt. Und landet bei der „Geschöpflichkeit“, der Habermasschen Fassung von Gott, die moralischen Halt gibt.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Habermas dankt für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels mit der kommunikationstheoretischen Summe aller aufgeklärten Vernunft: Oremus!
Viele hatten sich ja mehr erwartet von ihm. Der
Philosoph Deutschlands, und so kurz nach dem
elften September: Da erhoffte man sich doch ein wenig
Wegweisendes vom großen Denker und Fachmann für die
Unübersichtlichkeit der Moderne
. Von ihm,
dem Erben kritischen Denkens
, wäre wohl
auch mit etwas Polarisierendem zu rechnen gewesen. Ein so
streitbarer Geist, der die Republik mit soviel
gewichtigen Bedenklichkeiten – zum Streit der Historiker,
zum Streit um Patriotismus, zum Streit ums Humangenom –
bereichert hat: Da darf man wohl meinen, dass er ein
wenig gegen den Stachel des Mainstream löckt. In Grenzen
natürlich. Denn wenn wieder einmal die Guten gegen das
Böse Krieg führen, ist von einem, der schon bei Saddam
auf der richtigen Seite stand und in der Bombardierung
Jugoslawiens den Nukleus der Weltbürgergesellschaft
begrüßte, nicht mit einem abweichenden Minderheitsvotum
zu rechnen. Aber zumindest dem kritisch hinterfragenden
Geist, wie er in den Feuilletons kultiviert wird, hätte
die Instanz aller kommunikativen Vernunft
doch
etwas Bedeutsames mitteilen können. Den Grundstein zu
einer echt kontroversen Terrorismus-Kontroverse
womöglich. Oder irgend eine interessante Entdeckung aus
dem Spannungsfeld zwischen Diskurs und Weltmacht.
Vorläufiges zur kommunikativen Kompetenz der NATO etwa.
Doch nichts von alledem. Erst Enttäuschung, dann
Verblüffung
suchten die Intellektuellen nicht nur in
Züricher Redaktionsstuben heim. Enttäuscht waren
sie auch in München, weil der Preisträger sich so
gründlich einer profilierten Stellungnahme in der
Tradition des eingreifenden Intellektuellen
(NZZ, 15.10.) enthielt. Und
verblüfft sogar in Frankfurt, weil sein
gelehrter Eingriff ins Tagesgeschehen sich in der zwar
durchaus profilierten, aber eher nicht besonders
intellektuellen Botschaft von Gott, dem Schöpfer, und vom
Menschen, dem Geschöpften, zusammenfasste.
Würdigungen dieser Art zeugen auf ihre Weise davon, worauf diese ach so auf kritisches Eingreifen erpichten Gemüter tatsächlich aus sind, wenn ein Habermas sich die Ehre einer Rede gibt: Selbst finden sie an ihrer feinen Weltordnung und ihren Kriegen offenbar nichts auszusetzen, wenn sie sich das Kritisieren so gerne von einer eigens dazu auserkorenen Instanz abnehmen lassen. Und wenn der große Rhetor ihnen den Aufwand beim Zuhören mit einer Botschaft versüßt, die sie so oder ähnlich auch bei Kardinal Ratzinger nachlesen können, finden sie auch daran nichts kritisierenswert: Allenfalls – und auch das noch sehr verhalten – maulen sie, dass die passenden Stichworte nicht gefallen sind, mit denen sie dann kritisch-problematisierend gut am Zeitgeist hätten weiterstricken können. Offensichtlich sind ihnen auch alle intellektuellen Ungeheuerlichkeiten längst gut geläufig, mit denen der letzte Frankfurter Stafettenläufer des Lichts der Aufklärung für nachtschwarzen Irrationalismus plädiert.
Der Philosoph und der Terror: Ein Zeichen von der Macht des Glaubens
Der erlauchte Redner steht vor einem kleinen Problem: Zu
dem, was die Gemüter seines Publikums bewegt und alle von
ihm hören wollen, hat er so recht nichts zu sagen. Er ist
geistig noch immer fest in der Welt verwurzelt, die bis
neulich noch die Öffentlichkeit und ihn vorneweg tief
bewegt hatte, und das lässt er seine Zuhörer unverzüglich
wissen: Noch vor kurzem schieden sich die Geister an
der Frage, ob und wie weit wir uns einer gentechnischen
Selbstinstrumentalisierung unterziehen oder gar das Ziel
einer Selbstoptimierung verfolgen sollen. Über die ersten
Schritte auf diesem Weg war zwischen den Wortführern der
organisierten Wissenschaft und der Kirchen ein Kampf der
Glaubensmächte entbrannt. Die eine Seite befürchtete
Obskurantismus und eine wissenschaftsskeptische Einhegung
archaischer Gefühlsreste, die andere Seite wandte sich
gegen den szientistischen Fortschrittsglauben eines
kruden Naturalismus, der die Moral
untergräbt.
[1] Diese äußerst bedeutsame
Diskussion, in der anlässlich eines kleinen
wissenschaftlichen Fortschrittes die größten geistigen
Heiligtümer des Abendlandes zur Debatte gestellt wurden,
hätte er nur zu gerne fortgesponnen. Aber was soll er nun
sagen, wenn uns die bedrückende Aktualität des Tages
die Wahl des Themas sozusagen aus der Hand schlägt
?
Der bedrückte Philosoph behilft sich, indem er ein
‚sozusagen‘ sagt und mit dem seinen mutigen Entschluss
einleitet, dann, wenn ihm die Aktualität schon sein Thema
versaut, den Spieß einfach umzudrehen und mit seinem
Thema die Aktualität zu erschlagen. Das Ansinnen, von
ihm, dem renommiertesten deutschen Berufsdenker, wäre
womöglich mit einem Urteil über ein politisches Attentat
und die Reaktion auf es zu rechnen, weist er als schiere
Hybris zurück: Eine Zumutung an uns Intellektuelle
wäre das glatt, um den schnellsten Schuss aus der
Hüfte zu konkurrieren.
Allenfalls traut er sich zu,
in die gut abgehangenen Einsichten Einblick zu gewähren,
die ihm bei der moralischen Durchleuchtung der
Genforschung zugewachsen sind. Denn, wie der Zufall es
will, sie passen auch hier haargenau. Genau so ein
Kampf der Glaubensmächte
und Krieg der Werte, wie
er vor dem 11. September tobte, ist nämlich auch bei dem
Attentat ausgebrochen, für ihn jedenfalls: Aber am 11.
September ist die Spannung zwischen säkularer
Gesellschaft und Religion auf ganz andere Weise
explodiert. Die zum Selbstmord entschlossenen Mörder, die
zivile Verkehrsmaschinen zu lebenden Geschossen
umfunktioniert und gegen die kapitalistischen Zitadellen
der westlichen Zivilisation gelenkt haben, waren, wie wir
ja aus Attas Testament wissen, durch religiöse
Überzeugungen motiviert. Für sie verkörperten die
Wahrzeichen der globalisierten Moderne den Großen Satan.
Aber auch uns, dem universalen Augenzeugen des
‚apokalyptischen‘ Geschehens, drängten sich am
Fernsehschirm biblische Bilder auf. Und die Sprache der
Vergeltung, in der zunächst – ich sage: zunächst – der
amerikanische Präsident reagierte, enthielt einen
alttestamentarischen Klang. Als hätte das verblendete
Attentat im Innersten der säkularen Gesellschaft eine
religiöse Saite in Schwingung versetzt, füllten sich
überall die Synagogen, Kirchen und Moscheen.
Wo alle
seine moralischen Zeitgenossen einen einzigen Ausbund
niederster verbrecherischer Gesinnung entdecken, gibt der
deutsche Nationalphilosoph sich doch sehr verhalten,
beinahe schon verständnisvoll: Ein religiöser Blitz hat
in unserer profanen Welt eingeschlagen. Ein Autodafé war
das für ihn in New York, eine Inquisition von unten, mit
Flugbenzin und Selbstverbrennung. Nicht zwei Hochhäuser
sind explodiert, nein, Spannung
hat sich da Luft
verschafft – und vornehmlich ein religiöses Residuum in
uns allen zum Schwingen gebracht. Irgendeinen auch nur in
Erwägung zu ziehenden politischen Beweggrund können Leute
jedenfalls nicht gehabt haben, wenn sie den Kapitalismus
als ‚Zitadelle‘, den Imperialismus als
‚westliche Zivilisation‘ und beides zusammen als
‚globalisierte Moderne‘ angreifen. Eher haben sich da
welche, die ziemlich ausschließlich religiös
motiviert
waren, an Exorzismus versucht. Der
allerdings erinnert schon an Apokalyptisches, und von da
ist es zur zusammenfassenden Charakterisierung des
Attentats als verblendet
und damit in
jeder Hinsicht grund- und begründungslos nicht
mehr weit. So wird aus einem Akt des politischen
Terrorismus ein sehr tiefes philosophisches Rätsel:
Irgendwie ist da irgendetwas Religiöses
in eine Welt geplatzt, in der es vorher nicht war.
Offenbar hat es in der gefehlt, denn kaum ist es
geplatzt, ist auch die Welt irgendwie plötzlich
sehr religiös, die Kirchen füllen sich und der Präsident
der Weltmacht aller bürgerlich-säkularisierten
Zivilisiertheit ist Moses zum Verwechseln ähnlich. Aber
in genau solchen Rätseln, die uns die
Glaubensmächte
in ihrem Ringen aufgeben, ist
Habermas ja, wie er gleich zu Beginn hat wissen lassen,
Experte. Auch in religionsphilosophischer Völkerkunde
kennt er daher sich aus: Er weiß von einem Etwas, das
sich in den Heimatländern der Täter (…) infolge einer
beschleunigten und radikal entwurzelnden Modernisierung
herausgebildet hat
, und dieses Etwas ist ein
entscheidendes Nichts, ein Nicht-Stattfinden von dem, was
eigentlich hätte stattfinden sollen. Entscheidend ist
der durch die Gefühle der Erniedrigung blockierte
Geisteswandel, der sich politisch in der Trennung von
Religion und Staat ausdrückt.
So also verhält es sich
mit diesen Völkern, an denen zwar unsere globalisierte
Moderne
nicht spurlos vorübergeht, die in der aber
dann doch nicht so modern Platz nehmen, wie wir es von
uns gewohnt sind: Dass sie entwurzelt
sind und
ihrer traditionellen Lebensformen
beraubt, ist der
eine Pol der Spannung, ihre Religion
der andere;
weil sie geistig blockiert und daher verkehrt gepolt
sind, wollen sie in einem wirklichen Gottesstaat leben
und verwechseln wirkliche Staaten mit dem Satan; das
explodiert dann in New York.
Soweit das Entrée. Der Philosoph hat Terror und
staatlichen Gegenterror sehr verständnisvoll als ein
Stück Glaubenskrieg verstanden, damit er endlich zu
seinem Thema kommt. Jetzt, wo jedermann drastisch die
Folgen einer entgleisenden Säkularisierung
vor
Augen stehen, kann er befreit mit allem loslegen, was ihm
auf dem Herzen liegt. Näher: damit, was
Säkularisierung in unserer eigenen postsäkularen
Gesellschaft bedeutet. In dieser Absicht nehme ich heute
ein altes Thema, Glaube und Wissen, wieder auf.
Der Philosoph und das Wissen: Vom Licht und vom Schatten des demokratisch aufgeklärten Geistesleben
Glaube und Wissen also, und mit der
Wiederauflage dieses in der Tat sehr traditionsreichen
intellektuellen Kunstgriffs, durch den Gebrauch einer
unschuldigen beiordnenden Konjunktion absichtsvoll einen
Gegensatz zu leugnen, hebt der Philosoph mit
seinen Erkenntnissen über den Geist in unserer
postsäkularen Gesellschaft
an. Natürlich ist dem Mann
der Wissenschaft bekannt, dass man sich mit
Geist und Willen zum Glauben an einen höheren Herrn
entschließt. Und er weiß schon auch, dass dieses
Bekenntnis zur eigenen Knechtsnatur das
dezidierte Gegenprogramm zum Standpunkt einer
Erkenntnis ist, worauf immer die sich richten
mag. Aber das ist ihm gleichgültig. Wenn unser Philosoph
vom Wissen
redet, interessieren ihn nicht dessen
Inhalte, sondern was sie für ihn bedeuten
.
Wissenschaftler können denken, was sie wollen: Für ihn
zeichnen sie sich vornehmlich durch die Autorität
aus, die sie beanspruchen, weil sie das
gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben.
Und für das, was ihm an diesem abstrakten Anspruch auf
unbegriffene Geltung, der für einen Habermas mit Wissen
einhergeht, von Wichtigkeit ist, ist es in der Tat nur
hinderlich zu wissen, was in den Werkstätten des
forschenden Geistes tatsächlich erkannt wird. Ihn
interessiert nämlich die Reichweite dieser
wissenschaftlichen Autorität, die Effekte, die
eine wissenschaftlich erforschte Natur
vornehmlich
im Bestand der vor- und unwissenschaftlichen moralischen
Menschen- und Weltbilder zeitigt, und um diese ideellen
Spuren in der Lebenswelt
ist es dem Mann zu tun.
Das, was früher ein Darwin oder Kopernikus an Weltbildern
revolutionierte
, heute eben Biochemiker,
Neurologen und andere mit ihren Erkenntnissen alles
anrichten können im gesellschaftlichen
Geisteshaushalt, ist ihm ein Problem. Die Denker der
Wissenschaft mögen ja meinen, nur die Gene oder das Hirn
zu erforschen: Allein schon, dass ein Habermas in ihrem
Tun z. B. eine gentechnische
Selbstinstrumentalisierung
ausfindig macht, bezeugt
sein philosophisches Naturgesetz, wonach
wissenschaftliche Erkenntnis unser Selbstverständnis
umso mehr zu beunruhigen (scheint), je näher sie uns auf
den Leib rückt
. So geht mit jedem Segen, den die
Erkenntnisse der Wissenschaft der säkularisierten
Menschheit bescheren, der Fluch einher, die Menschen um
ihre letzten moralischen Gewissheiten zu bringen, und das
stimmt ihn sehr bedenklich.
Doch ist er mit seinen beunruhigenden Sorgen um die
Intaktheit des moralischen Selbst, das von einer sich so
instrumentell-sorglos nur mit ihren Gegenständen
befassenden Wissenschaft affiziert wird, gar nicht
allein. Neben den kapitalistisch entfesselten
Produktivkräften von Wissenschaft und Technik auf der
einen Seite
gibt es – und da täuscht er sich nicht –
noch eine Autorität, die von haltenden Mächten von
Religion und Kirche auf der anderen
nämlich. Über
diesen auch noch in der modernsten der modernen
Gesellschaften
fest verwurzelten religiösen
Glauben
denkt unser Freund von Ratio und kritischer
Aufklärung dann auf seine Weise nach. Zwar kann es um den
Geisteszustand der Gesellschaft nicht sehr gut bestellt
sein, wenn in der Glaubenswahrheiten
neben anderen
zirkulieren, in einem Streit zwischen Wissens- und
Glaubensansprüchen
ausgemacht werden soll, was Sache
ist. Doch wie schon bei der Wissenschaft, so nimmt der
Philosoph auch beim Glauben nur die formbildenden Effekte
wichtig, die der fürs moralische Bewusstsein hat, und da
kann er, was die Aufklärung der säkularisierten Welt
betrifft, einerseits Entwarnung geben. Insofern eben auch
der Glaube heute nicht mehr ist, was er einmal war, und
von dem absoluten Geltungsanspruch, der ihm heilig ist,
theoretisch wie praktisch seinen Abschied genommen hat,
kann der Philosoph auch seine moderne Welt, in der
geglaubt wird wie im Mittelalter, schon für sehr
vernünftig
halten. An Gläubigen jedenfalls, die
auch noch andere Götter neben ihrem eigenen dulden, der
profanen Macht gehorchen und auch dem Umstand Respekt
erweisen, dass eine Wissenschaft vom Baum der Erkenntnis
nascht, hat er nichts auszusetzen. Denen kann er nur den
erfolgreichen Vollzug eines Reflexionsschubs
attestieren, ohne den die Monotheismen
nur ein
destruktives Potential
entfalten können.
Andererseits kommen – das zeichnet sich schon als Problem
ab – die konstruktiven Potentiale des Glaubens so recht
auch wieder nicht zum Zuge, wenn der zur Relativierung
all seiner Geltungsansprüche
genötigt wird.
Zumal der demokratische Pluralismus im Himmel auch noch
von einer dritten Autorität relativiert wird: Mit den das
sittlich-moralische Empfinden affizierenden Kräften aus
den Abteilungen Glaube & Wissen wetteifern darf auch ein
gewisser Commonsense
. Dieser
gesamtgesellschaftliche Rest-Sumpf des moralischen
Meinens, Gutheißens, Verurteilens und Fürwahrhaltens hat,
wie schon der Glaube und das Wissen, für unseren
aufgeklärten Wissenschaftler seine eigenen, zusätzlichen
funktionellen Reize, wirft aber auch seine Probleme auf.
Er ist selbstverständlich demokratisch
, weil sehr
pluralistisch. Er ist aufgeklärt
, weil nicht
unbedingt fromm, und dann muss man von den Inhalten des
öffentlichen Geistes vor allem noch wissen, dass sie
allein schon dadurch, dass es sie gibt,
zivilisierend
sind. Sicher: Natürlich muss sich
der Commonsense, der sich über die Welt viele Illusionen
macht, von den Wissenschaften vorbehaltlos aufklären
lassen
. Aber dieser weltanschauliche
Pluralismus
der demokratischen Bürger, in dem jeder
in Besitz tiefer Einsichten darüber ist, inwiefern er in
der Ordnung, in die es ihn verschlagen hat, gut
aufgehoben ist, im Grunde; worauf alles im Leben
hinausläuft, letztlich; also auch, worauf es
infolgedessen anzukommen hat, eigentlich, für einen
selbst, aber auch für alle anderen: Dieses Konzert von
weltanschaulich imprägnierten Überzeugungen
hat
schon auch sein Recht, mit eigenen
Geltungsansprüchen aufzuwarten. Daher steht für den
Philosophen einerseits fest, dass die in die
Lebenswelt eindringenden wissenschaftlichen Theorien den
Rahmen unseres Alltagswissens im Kern unberührt
(lassen).
Offen andererseits bleibt auch da aber für
ihn wieder, woher die Subjekte dieses versittlichten
Alltagswissens die Maßstäbe zur Beurteilung all dessen
beziehen, was ihnen selbst und allen anderen als wichtig
und wesentlich, heilig und wahr zu gelten hat. Wer vermag
Personen, die voneinander Rechenschaft fordern können,
die von Haus aus in normativ geregelte Interaktionen
verwickelt sind und sich in einem Universum öffentlicher
Gründe begegnen
, die nötige Orientierung
zu
stiften, die ihnen in ihrem moralischen Urteilen
Sicherheit stiftet? Was hilft diesen moralischen
Fundamentalisten, die von der modernen Wissenschaft in
ihrer letzten moralischen Bastion, ihrem Selbstbild, so
verunsichert werden? Wo sollen sie die in letzter Instanz
verbindlichen Auskünfte in Sachen Moral und Sittlichkeit
herkriegen, wenn die moderne Religion nichts mehr zu
sagen hat und sich diesbezüglich auch der
weltanschaulich neutrale
und einfach nur
liberale Staat
aus allem heraushält? Seitdem er
denken kann, plagt ihn das aus solchen Verunsicherungen
herrührende und keinesfalls zu unterschätzende Problem
einer vom Kulturkampf zerrissenen
Bürgergesellschaft
. Zur Pazifizierung
der
bürgerlichen Weltanschauer mit wissenschaftlichen
Wortmeldungen beizutragen, ist schon immer das tägliche
Brot des Frankfurter Philosophen, und jetzt, nach diesem
Riss in der New Yorker Bürgergesellschaft, ist er schon
gleich gefragt. Und er weiß er auch eine Lösung, Gott sei
Dank.
Der Philosoph und der Glaube: Von den allergeheimsten Drangsalen der Moral
Lange suchen müssen nach ihr hat er allerdings nicht.
Nicht, als ob das traditionsreiche Angebot, das
diesbezüglich unter der Parole ‚Auch du brauchst Jesus!‘
in der säkularen Gesellschaft zirkuliert, beim Großen
Aufklärer so unmittelbar verfangen hätte. Aber den
tieferen Sinn, der in Jesus steckt, hätte er doch gerne
mehr in der Welt verankert. Dem steht zwar nichts im
Wege, Religionsfreiheit
gibt es ja in der
säkularisierten Moderne zur Genüge. Aber die allein
reicht für das, worauf es einem Habermas ankommt, nicht
aus – weil sie nämlich den Gläubigen bei ihrem
natürlichen Drang zur Missionierung des Restes der Welt
eine einzige Zumutung beschert: Sie sind es, die ihre
religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache
übersetzen müssen, bevor ihre Argumente (!!) Aussicht
haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden.
Für
ihn, den Fachmann für diskursive Konsensbildung, ist
sonnenklar, dass Gott, der Allmächtige, zumindest in
seiner Eigenschaft als Steinbruch sinnstiftender
Wortspiele Schaden nimmt, wenn er bloß als Argument in
einem Wahlkampf für geistige Orientierung firmieren soll
und um mehrheitliche Zustimmung für sich werben muss.
Diese Benachteiligung hat er nicht verdient, weil er
nämlich als Antwort bei unserer Suche nach dem
einen Sinn, den Alles macht, einfach
unschlagbar ist: Die Suche nach Gründen, die auf
allgemeine Akzeptabilität
– Vorsicht, Jürgen: wenn ER
das hört! – abzielen, würde nur dann nicht aus einem
unfairen Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit
führen und die säkulare Gesellschaft nur dann nicht von
wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden, wenn
sich auch die säkulare Seite ein Gespür für
– nein,
nicht für Gott und auch nicht für die Religion, sondern:
für – die Artikulationskraft religiöser Sprachen
bewahrte.
Das muss sie wohl sein, die Dialektik der
Aufklärung: ‚Ohne Gott ist alles sinnlos!‘, heißt die
Botschaft in der kirchlichen Originalversion. Doch für
einen, der sich nicht unbedingt zu Gott, durchaus aber
zum Sinn bekennt, den der Glaube an einen Gott irgendwie
auch für ihn macht; für einen so versierten
instrumentellen Denker, der die Religion für eine Methode
hält, ihre Botschaft rüberzubringen, und zu ihr dann
‚Sprache‘ sagt, weil er auch die Sprache für eine Methode
hält: Für den wird aus dem Allerhöchsten eben eine
Ressource
für das, was er aus ihm abzapft, und das
Beten ist für ihn ein Code
mit ganz besonderen
Reizen. ‚Gott spricht auch zu dir!‘ – auch das hat unser
Philosoph also vernommen, hält aber als aufgeklärter
Fachmann für Kommunikation die innere Zwiesprache der
religiösen Idiotie für eine Zauberwirkung, die von der
religiösen Bilderwelt von ganz alleine ausgeht.
Daher ist ihm auch klar, dass der postsäkularen
Gesellschaft nur die rechte postsäkulare Diskurstheorie
fehlt, die sich um die rettende Dekonstruktion von
Glaubenswahrheiten
verdient macht, und die hat er im
Angebot. Wenn die ungläubigen Sohne und Töchter der
Moderne
schon darunter leiden, dass ihnen die
bewährte Selbstbezichtigung, als nichtsnutzige
Erdenwürmer auf den Pfaden zu wandeln, die Gottes
unergründlicher Ratschluss ihnen vorgezeichnet hat, nicht
mehr so geläufig ist wie zu früheren Zeiten; wenn sie von
ihrer moralischen Menschennatur her von dem Stoff, aus
dem Christen sich ihr Seelenheil stricken, mehr nötig
zu haben (scheinen), als ihnen von der religiösen
Tradition in Übersetzung zugänglich ist
: Dann weiß
ein Habermas, wie den Mühseligen und Beladenen geholfen
werden kann. Allen, die sich etwas schwer tun, zum
rechten Glauben zu finden, rät er zu der vernünftigen
Einstellung
, von der Religion Abstand zu halten,
ohne sich deren Perspektive zu verschließen
– also
erstens dazu, eine Einstellung
, den Verzicht auf
Vernunft um des Erfolges einer Berechnung willen, für
vernünftig
zu halten. Und zweitens dazu, es zur
abschließenden Klärung aller offenen Sinn-Fragen doch
einmal mit einem Modell aus dem Hauptseminar für
soziologische Brillenkunde zu versuchen. Die Welt aus
einer Perspektive
zu betrachten, indem man sich
ihr verschließt; oder andersherum; an Gott zu
glauben, ohne an Gott zu glauben; den
Katechismus zu predigen, ohne fromm zu sein; oder fromm
zu sein, ohne zu predigen. Das alles ist machbar, wenn
nur die Hl. Schrift von wissenschaftlich aufgeklärten und
dazu noch rhetorisch begnadeten Hermeneuten richtig
transkribiert wird: Moralische Empfindungen, die
bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend
differenzierten Ausdruck
– Großer Gott, wir loben
dich!, beispielsweise – besitzen, können
– weil
sie das ja unbedingt sollen – allgemeine Resonanz
finden, sobald sich für ein fast schon Vergessenes,
–
wen wollten wir da noch mal preisen? – aber implizit
Vermisstes
– was eigentlich fehlt uns? – eine
rettende Formulierung
– Meerstern, ich dich grüße! –
einstellt.
So, mit gekonnter Paraphrase, vermag man sich den tiefen
Sinn, der in der Religion steckt, anzuverwandeln, ohne
unbedingt religiös zu sein oder zu werden, und für alle,
denen womöglich entgangen ist, wie man sich Gott auch
modern funktionell aufbereiten kann, ohne allzu bigott zu
wirken, macht sich der Philosoph daran, sein Ideal einer
„nicht vernichtenden Säkularisierung zum Schluss an
einem Beispiel (zu) erläutern“. Natürlich
betrifft dieses – der Redner holt nun endlich seinen
Anfang wieder ein – den Umgang mit menschlichen
Embryonen
, und da läuft sein sittliches Empfinden
bekanntlich darauf hinaus, ausgerechnet bei Eingriffen in
die Zufallskombination von elterlichen
Chromosomensätzen
einen unglaublichen Angriff auf
ausgerechnet die freie Selbstbestimmung des
Menschen
zu entdecken. Das ist sein moralischer Tick.
Andere Moralisten berufen sich zur moralischen Ächtung
derselben Sache, von der sie genau so wenig einen Begriff
haben wie er, auf Moses 1, 27, wo von Gott die Rede ist,
der den Menschen nach seinem Ebenbild schuf – und genau
das fällt einem wie Habermas, dem sich der Zauber der
religiösen Sprache
erschlossen hat, dann als
Gratisgabe zusätzlich in den Schoß. Er muss nur einfach
auch noch die Freiheit des Menschen, die ihm über alles
geht, im Bild von dessen Geschöpflichkeit
gut
unterbringen – dann vergehen sich alle, die mit humanen
Genen spielen, nicht nur an den moralischen Maßstäben
eines Habermas, sondern auch noch an der göttlichen
Schöpfung überhaupt: Gott bleibt nur solange ein ‚Gott
freier Menschen‘, wie wir die absolute Differenz zwischen
Schöpfer und Geschöpf nicht einebnen. Nur solange
bedeutet nämlich die göttliche Formgebung keine
Determinierung, die der Selbstbestimmung des Menschen in
den Arm fällt.
Seit dem 11. September kämpft also nicht nur Bush in Afghanistan, sondern auch unser großer deutscher Philosoph mit dem Allmächtigen an seiner Seite. Zwar nur an der Front des moralischen Interpretierens, gleichwohl: Viel Beifall im aufgeklärten Publikum, und großes Aufatmen unter den menschlichen Chromosomensätzen.
PS: Nach der grandiosen
Veranstaltung konnte es nicht ausbleiben, dass dem
größten deutschen Philosophen
widersprochen wurde.
Von einem anderen Philosophen nämlich, der sich für den
Größten hält. Sloterdijk heißt er, und der hat Habermas
endlich vom Kopf auf die Füße gestellt:
Terroranschläge und Gentechnologie sind aktuelle
Erscheinungsweisen der ewigen Menschheitsthemen
Fortpflanzung und Immunsystem.
Wow!
[1] Alle Zitate im Folgenden aus der Dankrede von Habermas, abgedruckt in SZ, 15.10.01