Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Reform der Obdachlosenbetreuung:
Frankreich macht endgültig Schluss mit der „sozialen Schande“ der Obdachlosigkeit
Alle Jahre wieder, wenn es in Frankreich Winter wird, „können 300 000 ihre Heizkosten nicht zahlen und bitten die Sozialdienste um Hilfe“. (Le Monde, 12.11.) Andere haben gleich gar keine Probleme mehr mit den Heizkosten. Bei ihnen „entstehen neue Dramen, bei denen Obdachlose an der Kälte sterben“. (Le Monde, 11.11.09)
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Reform der Obdachlosenbetreuung: Frankreich macht endgültig Schluss mit der „sozialen Schande“ der Obdachlosigkeit
Alle Jahre wieder, wenn es in Frankreich Winter wird,
können 300 000 ihre Heizkosten nicht zahlen und bitten
die Sozialdienste um Hilfe
. (Le Monde, 12.11.)
Andere haben gleich gar keine Probleme mehr mit den
Heizkosten. Bei ihnen entstehen neue Dramen, bei denen
Obdachlose an der Kälte sterben
. (Le Monde, 11.11.09,
daraus auch die folgenden Zitate)
Die gute französische Tradition von geschätzten
100 000 Obdachlosen, 3 200 000 schlecht untergebrachten
Menschen in 300 000 bis 400 000 als unwürdig
eingeschätzten Unterkünften
geht auf die gelungene
Einrichtung in dieser kapitalistischen
Erwerbsgesellschaft zurück, bei der die Armut der
Lohnabhängigen mit ihren beschränkten Mitteln, sich ein
Dach über dem Kopf leisten zu können, auf einen
reichhaltigen Wohnungsmarkt trifft, bei dem alle
Qualitäts-, also Preisklassen bis hinunter zu den
unwürdigen Unterkünften
im Angebot sind. Da kann
eine Schicht von Leuten gar nicht ausbleiben, die mit
ihrem null Einkommen das bisschen Miete, auf das
Grundbesitzer noch für das letzte Loch einen
Rechtsanspruch haben, nicht aufbringen. So sind sie und
heißen auch im Französischen SDF (sans domicile fixe =
ohne festen Wohnsitz), sind im Winter auf die großzügige
nächtliche Öffnung von Metrostationen und in allen
Jahreszeiten auf den Teller warmer Suppe privater
Mildtätigkeit angewiesen.
Genau so gute Tradition wie diese feste Einrichtung der
französischen Klassengesellschaft hat auch der Kampf der
Grande Nation gegen die soziale Schande in einem
wohlhabenden Frankreich
, der von Jospins Programm
zéro SDF
2002 bis zu dem Vorhaben des damaligen
Präsidentschaftskandidaten Sarkozy 2006 reicht, dass
in zwei Jahren niemand gezwungen sein soll, auf der
Straße zu schlafen und dort vor Kälte zu sterben
.
Seitdem sind die Obdachlosen weder weniger noch ihre
winterlichen Malaisen geringer geworden. Da will sich
die Regierung nicht damit begnügen, einen Notfallplan
zu machen und die Schaffung neuer Obdachlosenplätze
anzukündigen. Es gibt einen wirklichen Versuch das
Unterkunftsangebot zu reorganisieren
. Als erstes will
der zuständige Staatssekretär Apparu das Problem
frühzeitig in den Griff kriegen. Nicht erst im
bitterkalten Januar, sondern schon Mitte November hat
er angekündigt, dass er nicht die großen Kälteeinbrüche
abwartet, um sich um die Obdachlosen zu kümmern
.
Statt der Meteorologie politisch hinterherzulaufen, hat
diese Reform die Ambition aus der jahreszeitlichen
Logik herauszukommen, indem die aktuelle
Unterbringungspolitik neu aufgerollt wird
. Die hat
nämlich einen grundsätzlichen Webfehler und der besteht
darin, dass das aktuelle System sich verzettelt bei
mehr als 2000 zuständigen Stellen und ohne tatsächliche
Steuerung durch den Staat am Ende ist.
Dieses
Durcheinander von karitativen Organisationen und
staatlicher Sozialbürokratie hat zwar die französische
Regierung genau so eingerichtet und bislang für das
einzig Senkrechte befunden, aber jetzt hat sie
eingesehen, dass keine Hilfe herauskommen kann, wenn zu
viele helfen und keiner weiß, ob der andere schon
geholfen hat! Und warme Decken und Thermoskannen bringen
nichts gegen die Kälte, wenn nicht der Staat ihre
Verteilung steuert! Was ansteht, ist die prinzipielle
Neuerung der Schaffung eines Amtes eines einzigen
Zuständigen. Er wird die Gesamtheit der Tagesheime, der
Servicestationen, der mobilen Einsatzgruppen, der
Notunterkünfte, der Notrufnummer 115 koordinieren
. Zu
wenig kompetente Führung, das ist es, woran die
Obdachlosigkeit krankt. Wo kein zuständiger Chef ist, da
ist das Leben auf der Straße ein ungeregeltes Treiben,
das nach zuständiger und „steuernder“ Aufsicht ruft! Im
Prinzip ist die eingerichtete Bewältigung dieser Sorte
Elend, die eben noch an den jahreszeitlich anfallenden
Opfern schuld war, schon ganz in Ordnung, wenn nur ein
Zuständiger Ordnung in den Laden hineinbringt. Das macht
er, indem er lauter kleine Kontrolleure schafft, die
ihrerseits für geregelte Zustände sorgen. „Ein andere
Leuchtturm Maßnahme ist die Einrichtung eines
persönlichen Referenten
, mit dem es der SDF
ausschließlich im Lauf seines Lebens zu tun hat“. Da
schaut die Welt unter den Brücken doch gleich nicht mehr
ganz so grau aus, wenn statt vieler anonymer Ämter
künftig jedem Obdachlosen ein ganz persönlicher
Lebensführer zur Seite steht, der ihm klar macht, was der
Sozialstaat für ihn alles (nicht) übrig hat. Und außerdem
werden auf Psychiatrie und Drogenabhängigkeit
spezialisierte Teams geschaffen
, damit der
drogensüchtige Obdachlose, der angesichts seiner Lage zu
schwermütigen Anwandlungen neigt, es mit der Verzweiflung
nicht zu weit treibt, weil er doch fachmännisches
Verständnis erhält. Zuguterletzt wird dem Parlament
eine Maßnahme zur Besteuerung der ‚Händler des Schlafes‘
mit ihrer unwürdigen Unterkünften vorgeschlagen
. Wenn
die bösen Mithaie ihr Geschäft künftig mit Steuerzuschlag
kalkulieren, dann nimmt das den Schlafquartieren gleich
etwas von ihrer „Unwürdigkeit“.
So führt der französische Sozialstaat vor, dass die
soziale Schande
der Obdachlosigkeit, unter der er
so leidet, sich für ihn letztendlich in eine Frage von
Ordnung, Kontrolle und angemessene Besteuerung auflöst.
Da muss es einem SDF vor dem nächsten Winter nicht bange
sein.