Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Fall Kurnaz:
Ein Folteropfer beschädigt die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik
Nach seiner Befragung im BND-Untersuchungsausschuss im Januar 2007 lösen „die Leiden des Murat Kurnaz“ auf einmal einen „politisch-publizistischen Orkan“ aus. Parlamentarier aller Fraktionen zeigen sich von seinen Aussagen „tief beeindruckt“, als ob sie noch nie etwas von den Methoden der Amis, verdächtige Muslime etwas härter anzufassen, gehört hätten. Presse und TV befördern den Umschwung der öffentlichen Meinung durch bohrende Fragen: „Was bleibt, sind viele Fragen.“
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Länder & Abkommen
Der Fall Kurnaz:
Ein Folteropfer
beschädigt die Glaubwürdigkeit der deutschen
Politik
Rund viereinhalb Jahre schmort Murat Kurnaz in Guantanamo
im Militärgefängnis der USA unter den dort üblichen,
bekannt rauen Haftbedingungen (über die „Käfighaltung“
der gefangenen Muslime wie auch das Foltern als
Verhörmethode durfte man sich Anfang 2002 heftig
erregen). Doch das Schicksal des jungen Islamisten
hatte zwischen 2002 und 2005 nur mäßige Aufmerksamkeit
gefunden
, berichtet die Öffentlichkeit, die die
Aufmerksamkeit ihrer Leser und Hörer ja stets auf die
Affären lenkt, die echte Aufmerksamkeit verdienen. Nach
seiner Befragung im BND-Untersuchungsausschuss im Januar
2007 lösen die Leiden des Murat Kurnaz
auf einmal
einen politisch-publizistischen Orkan
aus.
Parlamentarier aller Fraktionen zeigen sich von seinen
Aussagen „tief beeindruckt“, als ob sie noch nie etwas
von den Methoden der Amis, verdächtige Muslime etwas
härter anzufassen, gehört hätten. Presse und TV befördern
den Umschwung der öffentlichen Meinung durch bohrende
Fragen: Was bleibt, sind viele Fragen.
Vor allem die folgende: Musste der Bremer Kurnaz
länger als nötig im US-Lager Guantanamo ausharren?
Dieser Kritiker hat jedenfalls nichts dagegen, dass
verdächtige Muslime ins Foltercamp verfrachtet werden,
bis zweifelsfrei feststeht, dass von ihnen keine
Gefahr ausgeht
. Solange ein Verdacht besteht, trifft
die Sonderbehandlung auch nach Auffassung
journalistischer Menschenrechtsfreunde schon die
Richtigen. Und an Verdachtsmomenten gegen den „Bremer
Taliban“ hat es ja nicht gefehlt: ein junger Türke,
der einen Monat nach den Anschlägen vom 11. September
2001 nach Pakistan reist, um angeblich mehr über seinen
islamischen Glauben zu lernen
.
Dass zu einem späteren Zeitpunkt „schon früh alles
für seine Unschuld sprach“ und dass auch die Amis
mit ihrem Fang nicht mehr viel anzufangen wussten,
änderte die Lage. Die Menschenrechtler in den
Redaktionsstuben geizen nun nicht mit kraftvollen Worten,
die das furchtbare Schicksal des unschuldigen Opfers
in Guantanamo
vor Augen stellen, um, wie es sich
gehört, nach den Verantwortlichen für die unnötige
Quälerei zu suchen: Hat das Verhalten der damaligen
rot-grünen Bundesregierung dazu geführt, dass Kurnaz
nicht freikam, auch nachdem seine Unschuld feststand?
Nach Sichtung der aus dem BND-Untersuchungsausschuss
zugespielten Indiskretionen ist man sich einig: Im
Prinzip ja. Ein Opfer des Staates
titelt die SZ
vom 23.1. ihren Kommentar zur Affäre:
„Die ehemalige Regierung in Berlin, die öffentlich immer ihre Sorge über das US-Lager Guantanamo bekundete, hat Kurnaz der amerikanischen Willkür für viele Jahre ausgeliefert und mit bürokratischem Eifer sichergestellt, dass er nicht nach Deutschland zurückkehren konnte.“
So ist es gewesen – und das wäre eine schöne Gelegenheit,
sich die Ziele und Kalkulationen der glorreichen
menschenrechts-orientierten Außenpolitik
von
Schröder und Fischer vorzunehmen, denen ein übereifriger
Koranschüler wie Kurnaz schon mal zum Opfer fällt; eine
Gelegenheit, den imperialistischen Hochseilakt zu
beurteilen, bei dem der Kanzler zwischen der ersten,
demonstrativen Kündigung deutscher Gefolgschaft bei einem
amerikanischen Weltordnungskrieg und dem Bestreben
balanciert, das Bündnis mit der Supermacht darüber nicht
ganz zu ruinieren; bei dem er das Nein zum
„völkerrechtswidrigen“ Überfall auf den Irak mit einem
entschlossenen Ja zum Krieg gegen den Terror verbindet,
dort, wo wie in Afghanistan deutsche Stellen selbst ihn
lokalisieren; ein Balanceakt, bei dem die intensive
geheimdienstliche Zusammenarbeit mit US-Stellen in der
vorbeugenden Bekämpfung antiwestlicher Glaubenskrieger
der öffentlichen Distanzierung von menschenrechtlich und
rechtsstaatlich inakzeptablen Überwachungs- und
Folterpraktiken gegenübersteht, die sich die Supermacht
im Zug ihrer weltweiten Selbstverteidigung herausnimmt.
Eine schöne Gelegenheit wäre der Fall schließlich, um die
Rolle der Menschenrechte in der Außenpolitik zu
studieren, zu deren Hütern sich die deutsche wie andere
europäische Regierungen gegenüber anderen Staaten
aufblasen: Wo sie die Ziele nicht billigen, bemerken sie
an der staatlichen Stiftung von innerer und äußerer
Sicherheit die Gewalttätigkeit, klagen also
Unterdrückung, Verstöße gegen den Rechtsstaat und Willkür
an; wo sie die Ziele billigen, legitimieren sie
Unterdrückung als notwendige Antwort auf illegitime
Gewalt von unten oder außen; als Notwehr der Obrigkeit
sozusagen – verzeihliche Notwehrexzesse inbegriffen. So
dringen die Hüter der Menschenrechte gegen andere
souveräne Staaten auf ein Aufsichtsrecht über deren
Gewaltgebrauch und bestehen sogar gegenüber dem großen
Partner darauf, dass auch er und auch im Krieg nicht über
dem Völkerrecht, also nicht über ihren
Einspruchsansprüchen stehen darf. So passen die laute
„Sorge über Guantanamo“ und die leise
Einreiseverweigerung für Kurnaz zusammen.
Tatsächlich geht es den journalistischen Anklägern um nichts von dem. Sie werfen einen Widerspruch zwischen außenpolitischem Reden und Handeln unter Schröder auf, den es gar nicht gibt, und das nur, um Konsistenz auf diesem Feld einzuklagen: Sie kritisieren eine Disharmonie zwischen der imperialistischen Handhabung der Menschenrechtswaffe und dem zynischen Umgang der Regierung mit einem vermeintlichen Sicherheitsrisiko aus teilnehmender Sorge um das Erscheinungsbild, das die deutsche Politik nach innen und außen abgibt. Ihr ganzes Thema ist die Glaubwürdigkeit des deutschen Auftritts
Die Verarbeitung des Skandals nimmt den entsprechenden
Verlauf: Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Politik
werden deren Machern zur Last gelegt und zu Zweifeln an
ihrer persönlichen Integrität und moralischen
Qualifikation. Saß mit dem damaligen
Geheimdienstkoordinator und heutigen Außenminister ein
Heuchler im Kanzleramt
? Wird aus dem Fall
Kurnaz ein Fall Steinmeier?
Kurzfristig wird sogar
der Punkt erreicht, an dem sich das politische
Schicksal von Außenminister Frank-Walter Steinmeier
entscheiden könnte.
(SZ,
22.1.) Im Interesse der Feststellung von
zurechenbarer Schuld wird sie allerdings auch verkleinert
– was wusste Steinmeier
wann? Hat er aus seinen
damaligen Erkenntnissen die damals möglichen und
gebotenen Schlüsse gezogen oder die Lage falsch
beurteilt? Außerdem verästelt sich der Skandal; neben den
Akteuren Steinmeier und Schily gerät das deutsche
Ausländerrecht als Verursacher ins Visier, das es den
Bremer Behörden allzu leicht macht, dem hier geborenen
Türken die Rückkehr zu verweigern.
So holt man den Skandal in den parlamentarischen Alltag
zurück und kocht ihn wieder herunter; andererseits kommt
man genau so auf den Hauptpunkt, um den es bei solchem
Stoff immer geht, die ewig interessante
Intrigenwirtschaft der demokratischen Parteien. Die auf
den Oppositionsbänken sind bestrebt, den Inhabern der
Macht eine Verletzung ihrer Verantwortung ans Bein zu
binden in der Gewissheit, dass immer irgend etwas hängen
bleibt. Die Angegriffenen kehren ihre
Gesinnungsfestigkeit heraus und bestehen darauf, dass sie
sich in sehr schwierigen Zeiten der Verantwortung für
die Sicherheit unseres Landes stellen.
(Steinmeier)
Die Presse verschiebt ihre Aufmerksamkeit endgültig auf das Geschick der Akteure bei Angriff und Verteidigung in Sachen persönlicher Glaubwürdigkeit, vergibt Haltungsnoten und bleibt mit all dem ganz beim Gegenstand ihrer Sorge: dem überzeugenden, unangreifbaren Auftritt deutscher Weltpolitik in Gestalt ihrer höchsten Repräsentanten. Wenn sie denen Heuchelei vorrechnet und mehr moralische Konsequenz bei der Wahrnehmung ihrer hohen Aufgaben anmahnt, tut sie so, als wüsste sie schon, wie die deutsche Sache konsequenter und eben glaubwürdiger zu vertreten wäre. Dabei erspart sich ihre billige Forderung nach der Übereinstimmung von Reden und Handeln voll und ganz zu entscheiden, wohin sie den aufgeblasenen Widerspruch aufgelöst sehen will. Hätte sich Schröder nie so weit vom großen Verbündeten entfernen, hätte er nie konkurrierende außenpolitische Werte in Umlauf bringen sollen, so dass er nun nicht an ihrer Nichtbefolgung blamiert werden kann? Wollen die journalistischen Tugendwächter, dass Deutschland wie die USA, wenn es um nationale Sicherheit geht, offensiv auf die Menschenrechte pfeift – und dann auch redet wie es handelt? Oder soll sich das Land im Namen der Menschenrechte wirklich mit den USA entzweien und weltpolitisch in Isolation und Ohnmacht begeben?
Weder, noch! Die Öffentlichkeitsarbeiter sind so bescheiden, schlicht die Deckungsgleichheit beider Alternativen zu fordern. Sie bestehen auf der ideellen Überhöhung der Außenpolitik zur Menschheitsmission ebenso wie auf einem realistischen Machtkalkül, das das zweifellos wohltätige Gewicht Deutschlands in der Welt wahrt und mehrt. Die Politiker machen sie verantwortlich für die überzeugende Glaubwürdigkeit dieser Heuchelei.