Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
EU-Konferenz in Sevilla
Europa bekämpft Fluchtursachen
Die europäischen Länder verhängen ein Grenzregime, das allenfalls durch illegal organisierte und daher gefährliche und teure Schlepper- & Schleusergeschäfte zu überwinden ist. Die EU-Staaten streiten sich darum, wie sie die 3.-Welt-Staaten dazu verpflichten können, ihre Hungerleider effektiver in ihren Grenzen zu halten und Geflohene umstandsloser „rück zu übernehmen“.
Aus der Zeitschrift
Teilen
Systematischer Katalog
EU-Konferenz in Sevilla
Europa bekämpft
Fluchtursachen
Manchen Streit gibt es ja in Europa – in einem aber sind
sich alle EU-Staaten auf ihrem Gipfeltreffen in Sevilla
im Juni einig: Europa ist Opfer einer Flut von Migranten
und Asylsuchenden. Diesem Zustand gehört Einhalt geboten.
Und zwar mit schärferen und besser koordinierten
Grenzkontrollen, härterem Vorgehen gegen Menschenhändler,
mit dem Projekt eines Frühwarnsystems
, besonderen
Schutzmaßnahmen auf Flughäfen, besserer Kooperation bei
der Erteilung von Visa und demnächst einmal mit einem
europäischen Grenzwachkorps
. Die Millionen von
Elendsgestalten, die in ihrer Heimat, den armen
Ländern
rund ums Mittelmeer und tiefer im Osten und
Süden, keine Existenzgrundlage haben und sich auf den Weg
in die reichen Ecken der Welt
machen, haben bei
uns einfach nichts verloren. Also müssen wir sie uns vom
Hals halten, soviel steht fest.
Untätigkeit beim Fernhalten unerwünschter Menschenmassen
ist den europäischen Hütern der Menschenrechte allerdings
schon bisher nicht nachzusagen. Das Bild von der
Festung
, zu der sie ihre Union ausgebaut haben,
kommt ja nicht von ungefähr. Es fasst nur zusammen, wie
wirksam diese Staaten ihr Grenzregime nach außen längst
organisieren, mit welchen peniblen Gesetzen, mit welchem
Aufwand zu deren Kontrolle und gewaltsamer Durchsetzung
sie sich vor Flüchtlingen abschotten, mit welcher
unerbittlichen Härte sie unerwünschtes Pack hier wieder
aufspüren und in seine Heimatländer zurück verfrachten.
Umgekehrt definiert dieser schöne Rechtszustand, der
Europa von fremden Zuzüglern sauber hält, jeden, den es
dennoch hierher treibt, zum Illegalen, und alle, die ihm
beim versuchten Grenzübertritt behilflich sind, gleich
mit zu einem einzigen organisierten Verbrechertum. Die
Dienstleister aus den Bereichen krimineller
Schleuserbanden
, einer Transportmafia
oder
eines organisierten Menschenschmuggels
haben ihre
Geschäftsgrundlage zwar genau in dem Aufwand, mit dem die
europäischen Staaten allein schon das unerlaubte Betreten
ihres Hoheitsgebietes zu einem Ding der Unmöglichkeit,
für alle also, die es in ihrer Not dennoch versuchen, zu
einer Frage der Organisation und Bereitstellung
entsprechender Transport- und Hilfsmittel machen. Aber
wenn dann wieder ein paar tote Flüchtlinge an Spaniens
Küste geschwemmt werden, kann man das ja auch genau
andersherum, nämlich so sehen, dass da schon wieder arme
Schlucker zum Opfer von menschenverachtenden
Kriminellen
geworden sind: Den Weg über den
Atlantik weist ihnen die zuständige Mafia, und er ist
teuer geworden, (…) die Kosten arbeiten manche Schuldner
anschließend mit Prostitution oder Diebstahl ab. Sofern
sie noch leben… Allein aus der Straße von Gibraltar
wurden in fünf Jahren 3286 Leichen gefischt, viele wurden
an Ferienstrände geschwemmt, vermutlich sind Tausende nie
gefunden worden.
(SZ,
21.6.) Zwar erinnert man sich noch dunkel daran,
dass auch das schon Konsequenzen des
europäischen Grenzregimes sind – auch diese Tragödie
begann erst, als Spanien vier Jahre nach seinem
EU-Eintritt 1990 für Marokkaner die Visapflicht
eingeführt hatte
(ebd.)
–, aber nur, um umso zielstrebiger den Blick vom Grund
weg und auf die Schuldigen hin zu lenken, auf deren Konto
die Toten ja fraglos gehen müssen: Europa muss seine
Grenzen dicht machen – und wer macht da mit Flüchtlingen
und dem Versprechen, ihnen dennoch Zutritt nach Euroland
zu verschaffen, sein schmutziges Geschäft
?! Eben,
und wenn sie sich schon von Nachtsichtgeräten,
Schnellboten und Maschinengewehren nicht abschrecken
lassen, dann muss Europa im Kampf gegen diese
Mafia
eben noch mehr aufrüsten, um seiner sicheren
Grenzen willen, aber selbstverständlich auch der vielen
Flüchtlinge dieser Welt wegen: Wenn niemand sie ins Boot
verfrachtet, können sie auf dem Atlantik auch nicht mehr
Schaden nehmen. So ist die Bekämpfung von
Schleusern
ein erster, echt humanitärer Auftrag,
und der nächste kündigt sich nach derselben Logik so an:
Weil Migranten, die es trotz aller Hindernisse doch
hierher schaffen und aufgegriffen werden, gewöhnlich
nichts weiter als ein Ausweisungsbefehl (erwartet),
dessen Inhalt sich allerdings selten umsetzen lässt, weil
mit den wenigsten Ländern ein Rückführungsabkommen wie
mit Marokko geschlossen wurde
(ebd.), sind sie genau betrachtet auch
noch Opfer ihrer Herkunftsländer. Denn wenn ihr Schicksal
nur darin besteht, dass man sie hier nicht haben will,
aber auch nicht an ihren Ursprungsort zurückschicken
kann, dann ist an ihren und ihrem bedauernswerten Los
letztlich der Staat schuld, der sie über seine
Grenzen hinweg hat migrieren lassen. Und an die
Bekämpfung auch dieser Fluchtursache macht Europa sich
dann.
Als Grund für die einfach nicht abebben wollende
Flut unerwünschter Menschen geraten die Staaten in die
Schusslinie, die sich durch unterlassene Hilfeleistung
zur Sicherung unserer Grenzen hervortun. Ihr Vergehen
besteht in der Weigerung, abgelehnte Asylbewerber und
illegal in die EU eingewanderte Landsleute umstandslos
zurück zu nehmen, darin, Untertanen benachbarter Staaten
die Durchreise zu gewähren, Menschenschmugglern
ihr Geschäft nicht zu vermasseln, Schiffe mit
Flüchtlingen nicht am Auslaufen zu hindern, kurz: sich
nicht als Völkergefängnis ihres
Menschenmaterials zu bewähren. Fluchtursachen bekämpft
man, indem man die potentielle Klientel dort einsperrt,
von wo sie weg will, das ist der Regierungsauftrag für
Drittweltstaaten, die an Europa angrenzen. Staaten zu
einer Konsolidierung wenigstens dahingehend verhelfen zu
wollen, dass sie ihrer eigenen Bevölkerung ein Minimum an
‚Lebensperspektive‘ zu bieten imstande sind, worüber dann
für viele der Grund einfach wegfiele, sich woanders ums
Überleben kümmern zu müssen: Dieses Ideal der
alten Entwicklungshilfe hat seinen Dienst getan. Es
weicht dem realistischen Blick auf die inzwischen
erreichte Verfassung der politischen Geschöpfe, die man
sich herangezogen hat, und besteht denen gegenüber so,
wie sie sind, auf einer Funktion: Um Europa sollen sie
einen Cordon sanitaire von Ländern bilden, aus denen kein
Hungerleider mehr ausbüchst.
Entsprechend verläuft in Sevilla die EU-Kompromissfindung
in Bezug auf die Vorgehensweise bei der Übermittlung der
politischen Botschaft an Maghreb- und andere Staaten.
Spanien, England und vor allem Herr Schily favorisieren
eine härtere Gangart
gegenüber nicht
kooperationsbereiten Ländern
, die EU müsse dann
ihre ökonomische Macht ausspielen
(SZ, 24.6.) bis hin zur Stornierung der
Entwicklungshilfe: Der britische Premier Tony Blair
war es, der die Alternative ‚Zuckerbrot oder Peitsche‘
zum Gipfelthema gemacht hatte
(ebd.), während Schily eben lieber von
Fall zu Fall
über den Einsatz von
Wirtschaftssanktionen
Beschluss fassen möchte.
Dass der politische Dialog mit diesen Staaten so recht
keiner ist, man sie ohnehin nur zu dem zu erpressen hat,
was man von ihnen will, steht fest; wie man sie
erpresst, womit man am besten Druck auf sie
macht, damit sie in gewünschtem Sinn funktionieren, ist
die heiße Frage, und die Antwort entsprechend umwerfend:
Selbstverständlich mit allen Mitteln, die man dazu hat.
Entzug von Hilfe? Das ist nicht immer und überall
zielführend – weil sie entweder ohnehin gar nicht mehr
oder nur noch in so geringem Umfang gewährt wird, dass
ihr Wegfall kaum bemerkt bliebe: Viele Flüchtlinge
kämen aus Regionen wie Somalia, wo staatliche Strukturen
längst zusammen gebrochen seien. Bei den Staaten
wiederum, die reguläre Entwicklungshilfe beziehen, könne
man nicht von einem wirksamen Druckmittel sprechen, weil
der Umfang der Hilfe relativ gering sei.
(SZ, 14.6.) Wird man den
Herrschaftscliquen in Somalia eben mit anderen Mitteln
die aktuelle Räson von ‚good governance‘ nahe bringen,
und Armenhäusern anderswo gleichfalls: So soll der Rat
künftig einstimmig feststellen können, ob ein Drittland
bei der gemeinsamen Kontrolle der Migrationsströme nicht
mitspielt, obwohl es sich vertraglich dazu verpflichtet
hat. In diesem Fall kann der Rat Maßnahmen oder
Standpunkte annehmen, ohne dabei die Ziele der
Entwicklungszusammenarbeit zu beeinträchtigen.
(SZ, 24.6.) Ihnen irgendwie
zu dem zu verhelfen, was man von ihnen will, hat man
jedenfalls nicht vor, und wenn sie sich wirklich bei der
Bekämpfung der für uns so lästigen Folge
Begleiterscheinung der globalisierten Weltwirtschaft,
beim Umdirigieren der wandernden Völkerschaften, weg von
Europa und einfach woandershin, nützlich machen wollen,
bekommen sie monetäre Hilfe – ausschließlich für den
Zweck, sich dafür auch nützlich machen zu
können: Den kooperationsbereiten Ländern will die EU
Finanzhilfen zur Sicherung der Grenzen, zur Ausbildung
der Beamten und zur Korruptionsbekämpfung geben.
(ebd.) So sieht es aus, das
Zusammenrücken der Völker und Nationen: Europa den
Europäern, und damit das so bleibt, jedem anderen Volk in
der europäischen Nachbarschaft sein eigenes staatliches
Großraumgefängnis. Und da heißt es, die Brüsseler Behörde
wäre irgendwie nicht bürgernah
. Kanaken, die sich
am rechten Ort gleich selbst wegsperren: Da werden in den
Reihen der guten europäischen Völker haufenweise Träume
wahr.