Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Chinas KP verbietet die Falun Gong Sekte:
„Nicht dem Aberglauben huldigen, sondern an Kommunismus und Atheismus glauben!“ (Li Peng)

… Der Aufschwung des religiösen Blödsinns in China ist eine Antwort auf die offizielle Absage an das sozialistische Projekt, ein Nebeneffekt des kapitalistischen Weges, den die Partei geht. … Ausgerechnet von diesem Quatsch sieht die KPCh ihre Macht und die Stabilität des Landes gefährdet… Auf den Standpunkt der repressiven Toleranz versteht sich die Partei nämlich noch nicht…

Aus der Zeitschrift

Chinas KP verbietet die Falun Gong Sekte:
Nicht dem Aberglauben huldigen, sondern an Kommunismus und Atheismus glauben! (Li Peng)

Für den deutschen Zeitungsleser ist natürlich alles klar: Die chinesischen Kommunisten lassen die Menschen nicht glauben, was sie wollen, und gehen mit Gewalt gegen religiöse Überzeugungen vor. Die Darstellung der chinesischen Seite wird selbstverständlich als lächerliche Schutzbehauptung gegenüber dem in Menschenrechtsfragen wachsamen Ausland durchschaut. Dabei klingt die offizielle Version vertraut. Da sei eine Massenorganisation mit straffer Hierarchie entstanden, die naive Gläubige finanziell und psychisch ausnützt, abtrünnige Mitglieder mit Terror verfolgt etc. In Deutschland sind solche Anschuldigungen gut genug gewesen, um die Scientology-Sekte zu verfolgen und fertig zu machen; in China beschönigen die Kommunisten nur ihren Gesinnungsterror. Das Verbot geht auf das Konto des Kommunismus, und daß sich Organisationen um alle möglichen Heilslehren herum bilden, wundert Leute sowieso nicht, die sich von den Sektenexperten der großen Kirchen über die Differenz von richtigem und falschem Zauber unterrichten lassen.

Der Schwachsinn ist in der freien Welt Menschenrecht. Kommunisten halten nichts vom lieben Gott und anderen höheren Mächten und wollten den Glauben daran durch die vernünftige Regelung des Diesseits abschaffen. Zu so viel praktischer Vernunft, daß die Religion aus Mangel an Bedürfnis nach dem Lohn im Jenseits abgestorben wäre, haben sie es freilich in keinem der Länder gebracht, in denen sie die politische Macht errungen haben. Über das wohlmeinende Dekret, daß die Religion im Sozialismus keinen Platz hat, sind sie kaum hinaus gekommen. Immerhin haben sie mit ihrem Projekt des Aufbaus einer neuen Gesellschaft für ein bißchen Bildung gesorgt und Begeisterung erweckt, so daß Millionen Chinesen sich dem sozialistischen Aufbau widmeten und ihre Ahnengräber und Buddhas nicht mehr so wichtig nahmen.

Der Aufschwung des religiösen Blödsinns in China ist eine Antwort auf die offizielle Absage an dieses Projekt, ein Nebeneffekt des kapitalistischen Weges, den die Partei geht. Die nach wie vor beschworene Einheit von Volk und Führung, wird zur hohlen Phrase, wenn das Prinzip „Bereichert Euch!“ gilt und der wachsende Wohlstand einer Elite, die dabei ist, sich zur Eigentümerklasse zu mausern, auf wachsender Armut der großen Masse beruht. Vor den Reformen war das Leben eines Chinesen von der Partei bestimmt. Seine Aufgabe war tätiger Gehorsam und Einsatz für das Gelingen der Gemeinschaftskampagnen, die die Partei inszenierte und anleitete; der Lohn war die Teilhabe an den kollektiven Fortschritten, soweit die zustande kamen und reichten; seine Existenzsorgen unterschieden sich nicht prinzipiell von denen aller anderen, genauso wie sein Lebensniveau dem aller anderen entsprach; weil es die großen Unterschiede von ‚arm‘ und ‚reich‘, an denen sich der Gerechtigkeitssinn reiben konnte, nicht gab, sondern allen die – bescheidenen – Errungenschaften des chinesischen Sozialismus gleichermaßen zugute kamen, war das Kommando der Partei als Organisation einer gemeinsamen Sache anerkannt.

Mit Einführung der kapitalistischen Wirtschaft mutiert der sozialistische Volksgenosse von ehedem zum Privatsubjekt, das selbst sehen muß, ob es einen Käufer für das findet, was es anzubieten hat, und wieviel Geld es für seine Dienste erzielt. Er ist zur abhängigen Variable des Geschäfts geworden, das es nicht bestimmen kann. Die Fürsorge des Staats geht mit der Privatisierung der großen Unternehmen endgültig zu Ende, auf dem Lande existiert sie schon lange nicht mehr. Die Familie ist der unzureichende und hilflose Ersatz. Nach dem geltenden marktwirtschaftlichen Regelwerk stellen Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter den einzelnen vor unüberwindliche Hindernisse, sein Dasein zu fristen. Zu der Einsicht, daß eine nützliche Arbeiterklasse auf Dauer ohne staatliche Verwaltung ihrer unvermeidlichen Notlagen nicht zuhaben ist, hat sich die chinesische Führung zwar schon vorgearbeitet, sie weiß aber auch, daß die erforderlichen Sozialkassen für ein kapitalistisches Land, das sich auf dem fertigen Weltmarkt erst noch etablieren will, einfach zu teuer sind.

Mit ihrer Reformpolitik hat die KP die Menschen in eine Lage gebracht, in der sie nicht nur neue Formen des Elends auszuhalten haben – eben die kapitalistischen –, sondern in der ihnen auch alle Mittel fehlen, solche Notlagen auszuhalten. Aber ebensowenig wie die demokratischen Untertanen des Westens lehnen sich die Chinesen dagegen auf, vielmehr machen sie denselben Fehler wie jene und suchen Trost. Nicht mehr bei der KP und ihren Versprechungen einer lichten Zukunft; die hat sich ja programmatisch unzuständig erklärt für die Daseinsvorsorge ihrer braven Chinesen. Sie halten sich deshalb an Religionen, Gruppen und Sekten, die ihnen versprechen, sie bei ihrer privaten Lebensbewältigung moralisch zu unterstützen. Die einschlägigen Angebote sind nicht neu, in China ließ man sich schon immer gern aus Tiergedärm weissagen, von unsichtbaren Mächten führen und magische Kräfte verleihen. Aber in den letzten 50 Jahren wurden daraus keine Organisationen wie die erst 1992 gegründete Falun Gong Sekte, die allein zwischen 60 und 70 Millionen Mitglieder haben soll, darunter Millionen von Parteimitgliedern.

Die Sekte propagiert keinen antikommunistischen Umsturz. Sie bezieht sich sogar positiv auf den Nationalismus, auf den der chinesische Sozialismus heruntergekommen ist, indem sie sich der Pflege uralter, also zutiefst chinesischer Traditionen verschreibt. Ihr Führer Li, ursprünglich Gymnastiklehrer einer Qigong-Organisation, ist dadurch zum Guru aufgestiegen, daß er den überlieferten Atem- und Bewegungsübungen magische Wirkungen nachsagt. Mit seiner Hilfe richtig betrieben, mit ein bißchen Buddhismus und Taoismus angereichert, würden sie Kraft spenden und Gesundheit bringen. In Jünger, die an ihn glauben, werde er das Glücksrad Falun versenken, das unglaubliche Energie verleihe. Seine Weisheiten hat der in Amerika residierende Herr Li auch niedergeschrieben, das Buch ist in China weit verbreitet und inzwischen verboten.

Ausgerechnet von diesem Quatsch sieht die KPCh ihre Macht und die Stabilität des Landes gefährdet. Sie hat den materiellen Unterbau der „unverbrüchlichen Einheit von Volk und Führung“ gekündigt, im ideologischen Überbau jedoch hält sie an ihr fest. Sie will nach wie vor die Autorität sein, die nicht nur mit politischer Macht die Lebensverhältnisse diktiert, sondern mit ihrer besseren Einsicht und guten Absicht die Massen geistig führt. Von ihnen verlangt die Partei, daß sie die kapitalistischen Fortschritte des Landes als abkürzenden Umweg ins kommunistische Paradies anerkennen und ihren Glauben an das alte Gemeinschaftswerk umso mehr hochhalten, je weniger davon zu merken ist. Sie beansprucht das Monopol auf Sinnstiftung als Garantie dafür, daß die Massen ihrer Führung folgen. Dieses Monopol ist durch den Aufschwung der Sekten und Religionsgemeinschaften angegriffen; an ihm merkt die Partei, daß sie die Massen geistig nicht unter Kontrolle hat. Es ist die Ironie der Geschichte der Falun-Gong-Sekte, daß sie der Partei den Beweis ihrer Gefährlichkeit durch die Organisation einer Demonstration geliefert hat, die den Mächtigen nichts als ihre Friedfertigkeit und Harmlosigkeit vor Augen führen sollte. Ihre Führung hatte Ende April nämlich Zehntausende von Anhängern zu einer symbolischen Belagerung des Pekinger Regierungsviertels mobilisiert, ohne daß die Staatssicherheit im Vorfeld davon etwas bemerkt hätte. Daß der abergläubische Verein über ein Kommunikationswesen verfügt, das die staatlichen Aufpasser ausschließt, daß er es vermag, klammheimlich große Menschenmassen zu kommandieren, ist sein Staatsverbrechen. Er beherrscht den Willen seiner Anhänger, ist also gefährlich. Auch wenn diese Truppe nicht als politische Partei auftritt, erkennt die KP in ihr die geistige, also auch politische Konkurrenz und bekämpft sie entsprechend. Nicht nur, daß sie die Vereinigung verbietet, ihr Schrifttum demonstrativ vernichten läßt und ein massenhaftes öffentliches Abschwören organisiert, die Partei macht sich auch noch daran, ihr in Vergessenheit geratenes marxistisch-leninistisch-maoistisches Volksbildungsprogramm wieder aufzufrischen: Die Massen sollen den Aberglauben ablegen und dem einzig wahren, dem atheistischen Glauben huldigen.

Auf den Standpunkt der repressiven Toleranz versteht sich die Partei nämlich noch nicht. Meinungsfreiheit als Herrschaftstechnik, das ist den chinesischen Betonköpfen einfach zu hoch: Sie kleben an ihrem Dogma, nach dem die Regierten entweder so denken wie die Partei, ihre Projekte billigen und also loyal sind; oder eben anderes für richtig halten und damit politisch unzuverlässig sind. Die KP mag dem Liberalismus der Demokratie nicht vertrauen, die den Regierten ihren Glauben und Aberglauben läßt und auf dem Standpunkt steht, daß es ganz gleichgültig ist, was die Leute denken – solange sie sich nur damit befassen, nach welcher Façon sie selig werden wollen. Daß dieses „solange“ zugleich ein „damit“ ist, und mit dem Zweck der gewährten Glaubens- und Meinungsfreiheit sich auch immer ihre Grenze ankündigt, hat sich bei den chinesischen Kommunisten noch nicht herumgesprochen. Die großartige Freiheit wird nämlich nur gewährt, damit sich die Bürger einen eigenen Reim auf ihr Schicksal, ihre Pflichten und Enttäuschungen machen, damit sie all dem einen Sinn geben, an den sie selbst glauben und über den sie sich mit ihrem Leben und der Welt versöhnen. Sobald das erlaubte Selber-Denken nicht zur Bildung einer versöhnenden Weltanschauung benutzt, sondern mißbraucht wird, um die Welt zu beurteilen und darauf einen abweichenden politischen Willen zu gründen, antwortet die liberalste Demokratie mit dem Verbot. Wo diese Grenze verläuft, ist theoretisch nicht festzulegen, sondern wird von demokratischen Regierungen immer neu und gar nicht schematisch entschieden: Kommunistische Kritik und ihre Praxis, der Klassenkampf, fallen überall darunter; in Deutschland auch die „church of scientology“, eine Sekte, die den psychologischen Konkurrenzerfolg verherrlicht; in den USA ist diese Sekte hochgeachtet und ein Treffpunkt der Elite aus Show- und anderem Business; in manchen der amerikanischen Bundesstaaten trifft das Verbot dafür die Evolutionslehre von Darwin, wieder anderswo die Freimaurer usf. Wo schon demokratische Verantwortungsträger das Gewährenlassen des Meinens für eine heikle Sache halten, deren Fortgang jederzeit überwacht werden muß, damit die Führung nicht erst zu spät merkt, was sie sich herangezogen hat; wo schon Demokraten lieber zu früh als zu spät gegen „radikale Ideologien“ einschreiten, da braucht man sich nicht zu wundern, daß die mit der Dialektik der Freiheit nicht vertrauten chinesischen Politiker noch mehr zur Vorsicht neigen. Aber sie lernen dazu: Inzwischen unterscheiden sie zwischen wahrer Religion und Sektenunwesen. Kurz vor dem Verbot von Falun-Gong wurde mit Zustimmung der Staatsorgane der erste katholische Priester seit 1949 vom Papst zum Bischof berufen. Die Katholiken haben in China freilich keine 70 Millionen Mitglieder.