Der Fall Wirecard
Über die vielfältigen Möglichkeiten, am Geldverdienen Geld zu verdienen

Der tiefe Fall des deutschen IT-Finanzdienstleisters Wirecard war im vergangenen Jahr Gegenstand vielfältiger öffentlicher Ermittlungstätigkeit und Ursachenforschung. Im Zuge dieser wurde so manches Detail über die Geschäftspraktiken der Firma und überhaupt über die Gepflogenheiten der Abteilung Wirtschaft, in der Wirecard in den letzten Jahren zu den Champions aufgestiegen war, ans Licht gebracht und auch für den Laien liebevoll erläutert. Leider hat der dabei vorherrschende Tonfall der Skandalisierung und Kriminalisierung die gebührende Würdigung der Hauptsache verhindert, obwohl die bei alledem eigentlich nicht zu übersehen war und ist. Auch der ‚Fall Wirecard‘ hat nämlich wieder einmal bewiesen, wie unschlagbar effektiv der Kapitalismus für viele und immer mehr Gelegenheiten sorgt, den Zweck zu verfolgen, nach dem er benannt ist, und wie vorbildlich und erfolgreich Wirecard und alle anderen an seinem Aufstieg, Abstieg und Ruin Beteiligten in diesem Sinne am Werk waren.

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Der Fall Wirecard
Über die vielfältigen Möglichkeiten, am Geldverdienen Geld zu verdienen

Der tiefe Fall des deutschen IT-Finanzdienstleisters Wirecard war im vergangenen Jahr Gegenstand vielfältiger öffentlicher Ermittlungstätigkeit und Ursachenforschung. Im Zuge dieser wurde so manches Detail über die Geschäftspraktiken der Firma und überhaupt über die Gepflogenheiten der Abteilung Wirtschaft, in der Wirecard in den letzten Jahren zu den Champions aufgestiegen war, ans Licht gebracht und auch für den Laien liebevoll erläutert. Leider hat der dabei vorherrschende Tonfall der Skandalisierung und Kriminalisierung die gebührende Würdigung der Hauptsache verhindert, obwohl die bei alledem eigentlich nicht zu übersehen war und ist. Auch der ‚Fall Wirecard‘ hat nämlich wieder einmal bewiesen, wie unschlagbar effektiv der Kapitalismus für viele und immer mehr Gelegenheiten sorgt, den Zweck zu verfolgen, nach dem er benannt ist, und wie vorbildlich und erfolgreich Wirecard und alle anderen an seinem Aufstieg, Abstieg und Ruin Beteiligten in diesem Sinne am Werk waren.

1. Das Geschäftsmodell von Wirecard: Internet-Finanzdienstleistungen

Die Enttäuschung über das jähe und unschöne Ende von Wirecard war den Erwartungen proportional, die vorher in die Firma gesetzt worden waren und in die sich von deutscher Seite aus eine gehörige Portion Stolz darauf gemischt hatte, dass wir jetzt endlich auch einen Champion haben, der dabei kräftig mit- und die Konkurrenz gehörig aufmischt – bei einem Geschäft nämlich, das sich mit so gestrigen Angelegenheiten wie der Herstellung oder dem Transport von Gütern welcher Art auch immer gar nicht erst abgibt, sondern im – in einschlägigen Expertenblättern wahlweise als Trend oder Mega-Trend gefeierten – technischen und eigentumsrechtlichen Vermitteln von Zahlungsströmen per Internet besteht, dem ja bekanntlich seit geraumer Zeit die Zukunft gehört. Denn zwar sollen einem verbreiteten Gerücht zufolge besagte Ströme unabdingbare Voraussetzung und unvergleichlich effizientes Mittel dafür sein, dass Güter und sachliche Ressourcen ihrer Herstellung im Gegenzug dorthin gelangen, wo sie zu gebrauchen sind, aber zum Glück für Wirecard, seine Partner und Konkurrenten hat das noch nie gestimmt. Was Wirecard seinen atemberaubenden Aufstieg bescherte, war erstens und ganz grundsätzlich die Tatsache, dass der ‚Geldstrom‘ vom Kunden zum Anbieter der ganze Zweck ist, für den letzterer in der Marktwirtschaft seine Angebote überhaupt macht, was den näheren Erfolgsmaßstab eines um einen Gewinn vermehrten Rückflusses selbstverständlich einschließt. Zweitens ist das Strömen von Geld nicht nur Zweck aller Produktionen und Dienste, sondern selbst ein gigantischer Aufwand und Problemfall – was nach Logik der Marktwirtschaft auch ganz erfreulich ist, weil in dieser Ökonomie Aufwand vor allem eines ist: die Gelegenheit, damit Geld zu verdienen. Und das hat Wirecard getan.

Zum einen betrieb Wirecard in seiner Eigenschaft als Payment Service Provider den Aufwand, der nötig ist, um Online-Anbietern von Pornofilmen, Flugreisen und anderen Lebensmitteln des täglichen wie nicht so alltäglichen Bedarfs die nötige technische Infrastruktur für die technisch-datenmäßige Verknüpfung zwischen Endkunden, Händlern und Kreditkartenfirmen bereitzustellen. Damit verkürzte Wirecard für diese im Internet tätigen Anbieter die Zeit, die vom Angebot und der Lieferung der Ware oder Dienstleistung bis zum gewinnträchtigen Rückfluss des Geldes – wie gesagt: dem eigentlichen und einzigen und daher nie abschließend, also nie schnell genug zu erledigenden Zweck ihrer Aktivitäten – vergeht. Außerdem machte Wirecard sich damit nützlich, dass es, wie man erfährt, durch superfortschrittliche Algorithmen in kurzer Zeit analysierte, ob der Kunde vertrauenswürdig ist – eine notwendige, also geldwerte Leistung innerhalb einer Ökonomie, in der wegen des herrschenden Zwecks der Bereicherung das wechselseitige Misstrauen in die Erfüllungs- bzw. Zahlungsfähigkeit und -willigkeit des Vertragspartners systematisch zu allen wirtschaftlichen ‚Beziehungen‘ und ‚Strömen‘ gehört und als allgegenwärtiges Risiko in die Geschäftskalkulationen eingeht. Zum anderen war Wirecard als Acquirer tätig. Im Rahmen dieses Geschäfts schob es sich innerhalb der virtuellen Geldflüsse auch eigentumsrechtlich zwischen Kreditkartenfirmen und Händler; d.h. Mastercard et al. überwiesen die von den Endkunden per Kreditkarte bezahlten Beträge an Wirecard, das diese nach Abzug einer Gebühr und eines zeitweiligen Sicherheitseinbehalts an die Händler weiterleitete. Damit nahm es den Kreditkartenfirmen das Risiko ab, das aus Rückforderungen oder Händlerpleiten erwächst, und fungierte damit, wie ein Experte es ausdrückt, als eine Art Pflichtversicherung für die Händler, ohne die es letzteren gar nicht möglich ist, ihren Kunden das Bezahlen mit Kreditkarten großer internationaler Kreditkonzerne anzubieten. Drittens schließlich erschloss sich Wirecard dann auch noch den Status eines Issuers: Als solcher durfte es mit Lizenz von Mastercard und Visa und im Namen dieser Firmen deren Karten ausgeben und ersparte denen den damit verbundenen Aufwand, insbesondere den der Prüfung, wie es um die Bonität der mit ihren Karten beglückten Kunden bestellt war. Zeit, Risiko, Aufwand – das sind die Tücken, die sich mit dem Geld und seinem Strömen ergeben, nicht nur, aber erst recht, wenn alles internet- und kreditbasiert fließt. Und Wirecard hat exemplarisch vorgeführt, dass Geld zugleich das universelle Mittel zur geschäftsdienlichen Handhabung all der Probleme ist, die es für diejenigen stiftet, die es nicht nur brauchen, sondern zwecks Vermehrung gebrauchen.

Mit ihren Angeboten zur Lösung dieser Probleme des Geldtransfers konzentrierte sich die süddeutsche Firma zunächst auf den Bereich von Pornografie- und Glücksspielanbietern, wo sie einen Teil ihrer frühen Erfolge erzielen konnte. Pecunia non olet: Auch in moralisch eher zwielichtigen Sphären ist marktwirtschaftlich definitiv alles in Ordnung, vermeintliche oder wirkliche Besonderheiten wie z.B. das spezielle Überschuldungsrisiko der Kunden beim Glücksspielen und gewisse, der bürgerlichen Moral geschuldete Bedürfnisse nach Anonymität im Bereich sexueller Ersatzbefriedigung sind eine Frage des Preises, den die eine Seite zahlen muss und den die andere Seite in Form einer rentabilitätsverbessernden Extra-Marge einstreichen kann. Den arrivierten Kreditkartenunternehmen Mastercard und Visa erschloss Wirecard auf diese Weise eine neue Klientel. Dass ihr aufstrebender Geschäftspartner auf beiden Seiten der imaginären Trennlinie tätig war, die Kenner zwischen normalen ‚High Risk‘-Transaktionen (etwa im Airline- und Tourismusbereich) und umstrittenem Graugeschäft (z.B. Online-Gambling oder CFD-Wertpapierhandel) zu ziehen belieben und von der sie gleich noch selbst sagen, dass diese fließend sei, war den seriösen Kreditkartenunternehmen durchaus bewusst. Was für sie bedeutete, ganz geschäftsmäßig und ebenfalls ohne moralische Vorurteile zwischen dem Ärger und dem Gewinn abzuwägen, den ihr innovativer und damit [sic!] potenziell lukrativer Geschäftspartner versprach. In dieser Branche innovativ zu sein, geht nun einmal mit dem Austesten von Trennlinien und Grauzonen einher. Dass im Geschäftsverhältnis zwischen Wirecard und den Kreditkarten-Konzernen die Spannungen den Insidern zufolge mit den Jahren so etwas wie strukturellen Charakter bekommen haben, war ausweislich der ganzen Geschichte jedenfalls der Preis, den die superseriösen Konzerne zu zahlen bereit waren.

Nun ist es ja nicht so, als hätten Finanzdienstleister wie Wirecard das Geldverdienen mit dem Transferieren von Geld erfunden. Dieses Business zählt zu den Basisdienstleistungen von honorigen Banken und Sparkassen, die sich die Führung eines Girokontos – des unbedingt notwendigen Gelddurchlaufknotens für die Teilhabe am gesellschaftlichen Reproduktionsprozess des marktwirtschaftlichen Gemeinwesens – von ihrer Kundschaft bezahlen lassen. Auf ebendiese Errungenschaft bauen die modernen Zahlungsabwickler auf, weshalb sie in ihrer Geschäftstätigkeit von der Kooperation mit einer Bank und damit auch von deren geschäftlichen Kalkulationen erstens überhaupt abhängig sind und zweitens insbesondere, wenn es um das lukrative Kreditkarten-Issuing geht, das nach deutschem Recht nur Finanzdienstleister betreiben dürfen, die über eine Banklizenz verfügen. Am besten ist man daher seine eigene Bank – und das zu werden, ist wieder nur eine Frage von genügend Geld: Wirecard ergriff die sich seinerzeit bietende Gelegenheit und kaufte sich eine. Mit diesem hauseigenen Geldhaus verschaffte sich die Aschheimer Firma, nicht zuletzt mit Verweis auf ihr margenstarkes Erotik- und Glücksspielgeschäft, dann auch noch den Status einer Principal Membership von Visa und Mastercard, mit der es nicht bloß Kreditkartenzahlungen abwickeln, sondern auch eigene, mit einem Online-Konto verknüpfte virtuelle Prepaid-Karten herausgeben durfte. All das verschaffte Wirecard ein ziemliches Alleinstellungsmerkmal gegenüber seinen Mitkonkurrenten und stand bei denen, auf die es ankam, stellvertretend für die Verlässlichkeit und die Realitätstüchtigkeit der Wachstumsambitionen, die der IT-gestützte Zahlungsdienstleiter selbstredend auf alle Branchen und über nationale Grenzen hinweg richtete.

2. Geschäftsmodell „Kapitalanlage“: Spekulatives Geldverdienen am Geldverdienen von Wirecard

a) Finanzinvestoren und Wirecard: Zukunft schafft Kapital – ganz ohne Betrug

Mit besagten Wachstumsambitionen war Wirecard von Beginn an nicht auf sich allein gestellt: Risikokapitalgeber traten auf den Plan. Zu deren Profession gehört es nämlich, nach vielversprechenden Branchen, nach Start-Ups, die diese Branchen kreieren, überhaupt nach neuen Unternehmen Ausschau zu halten, von denen sie glauben, dass ihnen die Zukunft gehört. Diese Zukunftsforschung betreiben sie, um sich geeignete Objekte herauszusuchen, die mittels Beteiligung an deren Geschäft auch für das von ihnen investierte Vermögen die Visionen aufgehen lassen, die sie den durch sie ausgewählten Unternehmen attestieren. Ihr Geldverdienen ist also eines von höherer Art, macht nämlich die Gewinnproduktionen im Prinzip aller möglichen anderen Unternehmungen zur Quelle ganz eigener Gewinne. Als ein diesbezüglich äußerst interessantes Feld galt, wie bereits eingangs erwähnt, Anfang des Jahrtausends das sich entwickelnde Online-Geschäft im Allgemeinen und die Abwicklung der im Netz anfallenden Zahlvorgänge im Besonderen – und damit kam ein noch junges Unternehmen, das spätere Wirecard, als ein lohnendes finanzielles Investment ins Visier der Investoren.

Dessen Gründer und Aktivisten waren ihrerseits sehr empfänglich für ein paar zusätzliche Millionen. Denn bei ihrem Vorhaben, die wunderschöne Geschäftsidee zu einem veritablen Geschäft fortzuentwickeln und darauf ein auf Dauer gestelltes Wachstum zu gründen, stießen sie – wie alle anderen unternehmungslustigen Subjekte im System privater Geldvermehrung – natürlich sofort auf die einzige, aber entscheidende Schranke: zirkulärer-, aber konsequenterweise die Masse des schon verdienten Geldes. Externe Kapitalgeber waren also gerne gesehen und durften mit ihrer Spendierlaune die Quelle mit stiften, an der sie zu profitieren gedachten.

Diese Partizipation der Finanzinvestoren am Erfolg der von ihnen unterstützten Firma Wirecard war elegant zu verwirklichen durch eine Rechtsform, die in Sachen Eigentum und Eigentumsvermehrung eine erstaunliche Leistung erbringt: In einer Aktiengesellschaft führt die finanzielle Beteiligung ein bemerkenswertes Doppelleben. Denn zum einen ist das Geld unwiderruflich ans Unternehmen weggegeben und wirkt dort als dessen Eigenkapital im operativen Geschäft. Zum anderen existiert sie fort als Eigentum des Kapitalgebers, und zwar in Gestalt eines Aktienpakets, dessen Bestandteile, die einzelnen Aktien, als handelbare Eigentumstitel z.B. an einen anderen Investor oder ein anderes Unternehmen veräußerbar sind und ihren Kapitalcharakter und -wert darin haben, dass sie bestimmte Rechtsansprüche an die Firma wie deren Gewinne repräsentieren. So wird in den Händen der Investoren ein zweites Kapital kreiert, das auf nichts anderem beruht als der Erwartung von Gewinnen, die ihm entspringen mögen.

b) Der Börsengang: Verallgemeinerung und Vollendung einer wundervollen Partnerschaft

Diese aus der Identität des Zwecks von Wirecard und Finanzinvestoren in Bezug aufs identische Objekt herrührende Verdopplung von Kapital fand ihre erfolgreiche Fortsetzung im Börsengang der Wirecard AG, deren Aktien fortan im sogenannten Prime Standard notiert und frei handelbar waren. Ein solcher Schritt ist gemeinhin mit allerlei Zulassungspflichten verbunden, damit börsenrechtlich alles seine Ordnung hat und idealiter dann seinen gewinnträchtigen Gang geht. Freilich gibt es auch hier einen völlig legalen und seriösen Weg, Umständlichkeiten abzukürzen, den Wirecard prompt beschritt: Auch der Rechtsstatus einer börsennotierten AG ist – wie sollte es auch anders sein in der Welt des rechtlich durchregulierten spekulativen Kreierens von Kapital aus erwarteten Gewinnen – in Form eines Börsenmantels käuflich zu erwerben. Die genaueren Umstände der Übernahme des ‚Börsenmantels‘ einer zuvor insolvent gewordenen Firma mögen bei Wirecard dem Zufall alter Geschäftsfreundschaften geschuldet gewesen sein, im Prinzip ist das aber ein gar nicht mehr außergewöhnliches Vorgehen, das sich inzwischen sogar als dauerhaftes Geschäftsmodell für eigens auf die Vermittlung und den Handel dieser finanzrechtlichen Textilie spezialisierte Firmen bewährt.

Der Börsengang kam denn auch erfolgreich zustande, die Altaktionäre von Wirecard durften sich nebenbei über eine nicht unerhebliche Wertsteigerung ihrer Anteile freuen, die sich mit der erfolgreichen Erstnotiz an der Börse einstellte. Und das nun börsennotierte Unternehmen hatte Zugang zur großen weiten Welt der Kapitalanleger und Börsenspekulanten. Deren Fürsprache für Wirecards Anteilsscheine als Mittel ihrer Bereicherung, die in der Hauptsache durch deren gut getimten Kauf und Verkauf herbeigeführt wird, sollte für Wirecard von da an das nötige und nützliche Vehikel sein, um seine Marktstellung auszubauen und seine ambitionierten Wachstumsziele zu verwirklichen.

Mit dieser Einschätzung des Verhältnisses von Aktienspekulation und Firmennutzen lagen die Verantwortlichen fürs operative Geschäft nicht daneben: Ein reger Börsenhandel zeugte, solange die Gesamtrichtung stimmte, vom spekulativen Vertrauen in die Wirecard-Aktie als im Wert steigendes Anlageobjekt und damit eben auch in den geschäftlichen Erfolg des Zahlungsdienstleisters. Was das Unternehmen dadurch gewinnen und steigern konnte, war ein Vertrauen sehr materieller, weil existenziell bedeutender Natur – seine Kreditwürdigkeit. Die in Form des Aktienkaufs praktizierte Spekulation auf zukünftige Gewinne schaffte nämlich eine Börsenlage, die es dem Internet-Finanzkonzern leicht machte, sich das entscheidende Mittel für sein Wachstum zu besorgen und so diese Spekulation auch aufgehen zu lassen: eben ausreichend Geld, das er sich im Zuge von Kapitalerhöhungen mit der Ausgabe neuer Aktien gleich als Eigenkapital einsackte; und sich ansonsten als Leihkapital auf Zeit verfügbar machte, was – wenn es sich nicht um einen Kredit aus dem eigenen Hause handelte – der übrigen Bankenwelt zusätzliches Material zum Geldverdienen lieferte. Und mit diesem Pfund konnte Wirecard auch wirklich eine ganze Zeit lang wuchern. Die an den Börsen tätige Finanzwelt glaubte an und beglaubigte mit ihrer Spekulation dessen Wachstumsstory.

c) Der Aufstieg der Wirecard-Aktie: Über die Vernunft spekulativen Geldverdienens

Der nachmalige Absturz von Wirecard hat die Frage aufkommen lassen, ob der vorherige Aufstieg sich womöglich der Verletzung von Regeln ihrer professionellen Kunst seitens der fürs erfolgreiche Spekulieren Verantwortlichen verdankte.

Doch im Falle Wirecards wurde genauso wenig grund- und bodenlos einfach aufs Geratewohl los- und herumspekuliert wie sonst auch, sondern gemäß allen zur Verfügung stehenden Daten. Letztere fürs spekulative Geldverdienen aufzubereiten ist ein eigener Beruf, also eine weitere Methode, in und an dieser Sphäre sehr einträglich zu verdienen, und wird von Analysten ausgeübt. Die bedienen einen Wissensdurst eigener Art, der sich bei denen automatisch einstellt, die ihr Geld zwecks Vermehrung für Papiere ausgeben, deren ganzer Charakter als Kapital auf der Erwartung zukünftiger Gewinne gründet. Die Neugier läuft allemal auf die Frage hinaus, ob nun Kaufen!, Verkaufen! oder Halten! das jeweils passende Gebot ist, dem die spekulative Geldgier zu folgen hat. Das gibt den mit der Antwort befassten Analysten viel zu tun.

Denn damit liegt – erstens – die in der jeweiligen Gegenwart ziemlich kniffelige Frage auf dem Tisch, wie diese Gewinne in der Zukunft wohl aussehen werden. Eine wirklich objektive Antwort gibt es da natürlich nicht, aber Anhaltspunkte und Indizien dafür umso mehr. Zu diesen Fundamentaldaten zählen zuallererst die vergangenen und gegenwärtigen Gewinne selbst, daneben aber im Prinzip alle betriebswirtschaftlich entscheidenden Kennziffern wie Cashflow, Umsatz usw. Welche das im Einzelnen sind, ist wie bei jeder guten Parawissenschaft eine Frage der betriebswirtschaftlichen Moden. Und nicht zuletzt der Absturz Wirecards war Anlass für diesbezüglich kritische Überlegungen und konstruktive Reformvorschläge wie z.B. ein Frühwarnsystem, das bei exponentiellen Wachstumskurven die Alarmglocken schrillen lassen soll. Solcherlei Expertise ist bestimmt gut gemeint; sie rückt jedenfalls die Sache ins Blickfeld, auf die es letztendlich bei allem Analysieren ankommt: Wachstum. Für verlässliche Informationen über dessen Befinden wie Perspektiven wird nach der Firmenstruktur ebenso gefragt wie nach den Wachstumsstrategien der Firmenleitung. Mit ihrem Auskunftsbegehr stoßen die Spekulanten und ihre Analysten auf eine im Prinzip auskunftsfreudige Firmenleitung – das war bei Wirecard nicht anders. Denn einmal den Schritt an die Börse gemacht, war Wirecard wie jede andere AG nicht nur in der Lage, mit fremdem Kapital als eigenem zu wirtschaften – das Unternehmen brauchte damit auch den beständig erneuerten Zuspruch der Spekulantengemeinde und kümmerte sich also eigens um diesen bzw. bezahlte darauf spezialisierte Fachleute: Auf PR-Veranstaltungen wie Bilanz- und anderen Pressekonferenzen präsentierten die Wirecard-Manager die Zahlen und deren passende Interpretation gleich mit. Nachfragen zu ungewöhnlichen Verhältnissen zwischen gewissen Kennziffern beantworteten sie – lange zur Zufriedenheit aller Beteiligten – mit ihrem ungewöhnlich erfolgreichen Geschäft und solche nach der extrem komplexen Struktur ihres weitverzweigten Firmennetzes mit der extremen Komplexität ihres Geschäftsmodells. Herrlich offenherzig äußerte sich seinerzeit dazu ein Analyst, der Wirecard gerade als Kaufempfehlung eingestuft hatte, auf die kritische Nachfrage eines Fachjournalisten zu einer nicht so leicht erklärbaren Lücke von schlappen 250 Millionen Euro in der Wirecard-Bilanz: Ich fürchte leider, dass das viel zu tiefgründig ist. Die Rechnungslegung bei Wirecard ist unglaublich komplex und schwer zu verstehen. Dass der analytische Sachverstand sich in diesem Fall von einer Ungereimtheit in Höhe von einer lumpigen Viertelmilliarde nicht weiter irritieren ließ, lag wiederum ganz in seiner Logik.

Schließlich liegt – zweitens – der tiefere Sinn der Vokabel Fundamentaldaten darin, dass diese bloß das Fundament aller spekulativen Kalkulationen und Winkelzüge sind. Die eigentliche Verwertung des investierten Geldkapitals findet ja nicht als Gewinnbeteiligung per Dividende statt, sondern als Steigerung des Aktienwerts. Und dieser wird bestimmt von der Spekulation auf die Aktie, also vom praktischen Urteil der Spekulantengemeinde. Was finanzkapitalistische Spekulanten also eigentlich zu beantworten haben, ist die Frage danach, was die anderen Spekulanten aus den Fundamentaldaten der Firma und den Zustandsberichten und -vorhersagen über die ganze Branche und letztlich über die Gesamtheit aller möglichen Anlagen für praktische Kauf- oder Verkaufsentscheidungen folgen lassen. Und wenn genügend Spekulanten auf steigende Kurse setzen, dann sorgen sie mit ihren Käufen dafür, dass der Kurs steigt und sie mit ihrer Ahnung vorher auch hinterher richtig liegen. Auch bei Wirecard war darum der spekulative Trend das eigentliche Fundamentaldatum, der Kontext, in den die Spekulanten und ihre hochdotierten Schlaumeier alles andere einzusortieren wussten. Die Überzeugungskraft der vom Wirecard-Management verrichteten Überzeugungsarbeit lag also letztlich ganz auf der Seite derjenigen, die das Unternehmen bei ihrer zirkulären Logik gepackt hat. Das klingt nach Irrenhaus, hat aber seine Ordnung, weil das System des Finanzkapitalismus den Finanzkapitalisten tatsächlich die Macht verleiht, ihre Spekulation auf Gewinne zu echtem Gewinn zu machen, also jede Phantasie – die sie üblicherweise selbst so nennen – in reale Geldvermehrung zu verwandeln, solange sie im Resultat als Spekulantengemeinde in ihrem praktizierten Urteil so weit einig sind, dass sich ein profitabler Trend ergibt. Und so waren lange Zeit sehr viele bedient und hochzufrieden: Wirecard sowieso; die Aktionäre, deren Kapital quasi von selbst wuchs; die Banken, die mit Blick auf den Kursanstieg ihre Kredite vergaben und als Berater an der Emission von Anleihen verdienten, ... – letztlich also alle, die an dem Trend profitierten, den sie auf ebendiese Weise erzeugten und aufrechterhielten.

Exakt so bewerkstelligte Wirecard dann noch die letzte in Deutschland zu erreichende Umdrehung innerhalb dieser Spirale des spekulativen Geldverdienens am unternehmerischen Geldverdienen: die Aufnahme in den DAX. Im Zuge des Skandals haben zwar alle möglichen Journalisten und Anlegerschützer davon geredet und sich darüber gewundert, dass bei Wirecard trotz aller Hinweise auf Unsauberkeiten und Ungereimtheiten nicht gründlich genug geprüft und nachgehakt wurde, obwohl das Unternehmen sich aufmachte, in den elitären Club der 30 größten deutschen börsennotierten Unternehmen aufgenommen zu werden, und dann tatsächlich aufgenommen wurde. Aber damit lamentieren sie – aus der Perspektive des eingetretenen Schadens – an der in dieser Sphäre wirklich waltenden Vernunft komplett vorbei, denn das obwohl ist in Wahrheit ein weil: Das eine hatte mit dem anderen nämlich genau so viel zu tun, dass der Aufstieg Wirecards in diese oberste Liga deutscher Konzerne nach allen Maßstäben und Regeln des finanzkapitalistischen Geschäftssinns den ultimativen Beweis dafür darstellte, dass mit Wirecard nicht eine mehr oder weniger windige Erfolgsspekulation, sondern eine vollendete Erfolgsgeschichte vorlag – ein Unternehmen, das die Spekulation auf seinen Erfolg durch die schiere Masse seines damit herbeispekulierten Börsenkapitals in ein nationales Aushängeschild für die Reputation Deutschlands als internationaler Finanzplatz verwandelt hat. Wenn also angesichts dessen überhaupt noch eine Frage offen sein sollte, dann ganz bestimmt nicht die, wie es hatte angehen können, dass so ein windiger Parvenü in einem Club Mitglied wird, zu dem die stolze Lufthansa oder das solide HeidelbergCement gehören. Sondern eher doch die, worin finanzkapitalistisch gesehen eigentlich die über alle Zweifel erhabene Honorigkeit und Nützlichkeit aller anderen DAX-Vorzeigekonzerne besteht.

d) Skepsis – die Kehrseite spekulativer Selffulfilling Prophecy und ihre produktive Verarbeitung

Wirecards rasanter Aufstieg war sehr früh schon und bis zum Schluss begleitet von immer wieder zirkulierenden Meldungen über fingierte Geschäftszahlen und manipulierte Bilanzen; Leerverkäufer machten von sich reden, die in großem Stil gegen den Trend auf den zukünftigen Wertverfall der Aktien von Wirecard setzten. Insbesondere Letzteres gilt im Nachhinein als eigentlich untrügliches Zeichen dafür, dass man schon immer hätte wissen können bzw. eigentlich müssen, dass mit Wirecard von Anfang an etwas nicht stimmte und es das nie hätte geben dürfen, was nunmehr despektierlich Hype heißt.

Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der Auftritt dieser auch Shortseller genannten Spezies zum finanzkapitalistischen Alltag gehört und die notwendige Kehrseite jedes Aufwärtstrends darstellt. Denn der zirkuläre Charakter ihres Treibens und der von ihnen geschaffenen Trends ist allen Spekulanten sehr wohl bewusst – und zwar in der ihrem Geschäftssinn immanenten Form des Zweifels an der Haltbarkeit der jeweiligen Kursbewegungen. Jeder Aufwärtstrend – je heftiger und anhaltender, desto mehr – bestätigt daher nicht nur die gleichgerichtete Spekulation, sondern ruft unweigerlich auch die Frage hervor, ob er noch oder schon oder überhaupt gerechtfertigt sei. Das Kalkulieren mit dem Abbruch wunderschöner Aufwärtsbewegungen gehört daher zum Handwerkszeug jedes Finanzheinis, auch wenn es darauf spezialisierte – und im Fall Wirecard ausnahmsweise sogar zu einiger, kurzzeitiger Berühmtheit gelangte – Kollegen gibt. Schließlich fußt eine Portfolio-Bewirtschaftung auf der Plus und Minus abwägenden Einschätzung über die kurz- oder auch längerfristige Wertentwicklung einer Aktie, weshalb auch eine Abwärtsbewegung für die Performance eines Aktiendepots professionell verarbeitet sein will. Richtig gehandhabt ist daher auch eine Kursbewegung nach unten kein Drama, nur hinterherlaufen darf man ihr nicht. So bringt der bewusst- und planlose Anarchismus finanzkapitalistischer Spekulation, die ihre Trends nährt und sich an ihnen, zugleich das dringende Bedürfnis nach Autonomie gegenüber jedem Trend hervor; und die unschlagbare Effizienz des Kapitalismus beweist sich auf diesem Feld in Gestalt einer ohne jede Ironie so geheißenen „Finanzindustrie“. Die ist pausenlos damit beschäftigt, immer neue „Finanzprodukte“ für alle möglichen Finanzmarktakteure und Szenarien ihres spekulativen Treibens maßzuschneidern und zu vermarkten, womit wohl endgültig klar ist, dass während aufsteigender Kurse getätigte Gegenwetten auf ein Fallen – und umgekehrt – keineswegs bloß der Absicherung dienen, sondern eine eigenständige und gleichberechtigt ehrenwerte Form der finanzkapitalistischen Profitmacherei sind.

Die Spekulation auf die negative Kursdifferenz zwischen heute und morgen will gemacht sein. Die Zeit rückwärtslaufen zu lassen, die Aktien morgen billig zu kaufen, um sie heute teurer zu verkaufen, lässt sich, ganz ohne Science-Fiction, im Kosmos des Finanzgewerbes bewerkstelligen: Leerverkäufer, die ja so heißen, weil sie keine Aktien haben, leihen sich bei Besitzern großer Aktienportfolios wie Banken, Versicherungen und sonstigen Investmenthäusern diejenigen Anteilsscheine aus, auf deren Kursverfall sie setzen. Sie verkaufen sie, kaufen sie später zu dem Zeitpunkt wieder ein, an dem ihrer Spekulation nach der Kurs so niedrig ist, dass er ihre Renditeerwartungen erfüllt, und reichen sie an ihren Kreditgeber zurück. Letztere streichen auf jeden Fall eine Leihgebühr ein, lassen also ihr geldwertes Vermögen ein zweites Mal arbeiten – und die Leerverkäufer dürfen sich im Erfolgsfall ihrer Spekulation über das finanzkapitalistische Kunststück freuen, per Nichtbesitz von fingiertem Kapital eine Menge Geld damit verdient zu haben, dass Kurse – wegen misslingender Geschäfte oder weswegen auch immer – fallen und andere kein Geld verdienen, sondern selbiges verlieren. Von daher ist es zwar einigermaßen lächerlich, wenn diese Leute sich im Zuge der journalistischen Aufarbeitung des Wirecard-Skandals auf Nachfrage hin als die eigentliche Kontroll- und Bereinigungsinstanz der Börse und quasi als Robin Hoods stilisieren, die ahnungs- und wehrlose Kleinaktionäre vor einem ungerechtfertigten spekulativen Hype um die Wirecard-Aktie haben bewahren wollen. Denn dass der Verlust des Wirecard-Anlegers bis hin zum Ruin des – in diesem Zuge gern als Kronzeugen vor die Kameras und Mikrofone gezerrten – um seine gesamten Altersersparnisse gebrachten Kleinsparers nicht in dem ‚mangelhaft begründeten‘ Kurszuwachs, sondern im durch die Shortseller mit erzeugten Kursverlust und -verfall bestand, muss man dabei einfach ganz kurz genauso vergessen wie die Gewinne, die sie – dies freilich zu Recht – besten Gewissens aus den Verlusten der Halter der Aktie zogen. Aber auf der anderen Seite ist es natürlich schön zu sehen, dass in einem modernen Finanzkapitalismus auch zweifelsfrei aufgeflogener, ganz ordinärer Beschiss der einen noch sein gutes Werk für die absolut ehrenwerten und juristisch nicht zu beanstandenden Gewinnrechnungen anderer tut.

Apropos Beschiss:

e) Vom illegalen Fingieren von Gewinnen fürs fortgesetzt legale Fingieren von Kapital und anderen Fußnoten eines ehrenwerten Geschäfts

Noch nicht einmal die milliardenschweren, am Ende nicht mehr zu verheimlichenden Betrügereien waren in dem Sinne eine Besonderheit Wirecards – vom Umfang einmal abgesehen, zumindest bis zum nächstgrößeren Betrugsskandal. Insofern nämlich, als sich auch alle bei Wirecard früher oder später ruchbar gewordenen Übergänge ins rechtlich Graue bis Tiefschwarze ganz der Logik finanzkapitalistischer Bereicherung verdankten und sich solcher Mittel und Methoden bedienten, die ihrerseits nicht vom Himmel gefallen, sondern allesamt den Gegensätzen und Widersprüchen des Wirtschaftens für und mit Geld und vor allem dem Geld von Dritten entsprungen sind. Wovon im Übrigen allein der Umstand zeugt, dass es für jede einzelne der den Wirecard-Chefs vorgeworfenen Missetaten schon längst einen eigenen Strafrechtsparagrafen gab.

Wo die anfallenden Gewinne, das Geschäftsvolumen und alle anderen Kennziffern und Gegebenheiten einer laufenden Geschäftstätigkeit in den Status von Indizien für deren Kreditwürdigkeit erhoben – oder wenn man will: degradiert – werden, die das unbedingt nötige Lebens- und Wachstumsmittel eines börsennotierten Unternehmens ist, da stellt sich – jedenfalls fürs Management, das dem Geschäftserfolg und den Arbeitsplätzen verpflichtet ist – der Übergang von der Präsentation und gefälligen Interpretation zur Schönrednerei und zur puren Falschangabe als ziemlich fließend dar. Und er drängt sich dann geradezu auf, wenn zu befürchten steht, dass die Spekulation sich vom Unternehmen abwendet und damit durch Kapitalvernichtung endgültig jede Möglichkeit unterbindet, ausgebliebene Gewinne von gestern und heute durch umso mehr Gewinne von morgen und übermorgen zu kompensieren und damit jede gerade noch oder nicht mehr legale Trickserei ex post ungeschehen zu machen. Auch den anderen Beteiligten machen es die Tücken des Geschäfts einerseits und die Aussichten auf Gewinne oder fette Honorare andererseits nicht leicht, auch noch die für sie einschlägigen, hochkomplexen Paragrafenwerke immer peinlich zu befolgen: Analysten zum Beispiel, die schließlich dafür bezahlt werden, dass sie mit ihren Empfehlungen nicht nur richtig liegen, sondern möglichst auch die Ersten sind, haben ein eigenes Interesse daran, dass der Trend, den sie geweissagt haben, auch eintritt und hält. Entsprechende Informationen vor allen anderen zu haben geht da ganz schnell über ins Erschleichen; aber bei Bedarf sehen sie über gewisse Details auch hinweg, wenn es ihre Anlageempfehlungen und eventuelle Gefälligkeiten seitens des betroffenen Unternehmens nahelegen. Shortsellern wiederum ist an jeder schlechten Nachricht des von ihnen auf Verkaufen! gesetzten Unternehmens gelegen. Der Grat zwischen investigativer Neugier und übler Nachrede ist daher ein schmaler, und im Zuge des spekulativen Gezerres um Wirecard haben es zwei Funktionäre einer ziemlich großen Anlegerschutzgemeinschaft immerhin, ohne über Los zu gehen, ins Gefängnis geschafft. Sie wollten nämlich an ihrer gemeinnützigen Tätigkeit auch noch ein bisschen verdienen, was ihnen den Vorwurf von Insidergeschäften einbrachte, die der Staat aus höherer Warte nicht mehr als raffiniert, sondern als unfair einstuft und verboten hat. Wirecard wehrte die spekulativen Angriffe unter anderem damit ab, seinerseits die Quellen der Vorwürfe mit Rufmordkampagnen zu überziehen und auch mit ruppigeren Maßnahmen zu drohen etc. pp.

Sodass die Zeitungsfritzen und Buchautoren es auch noch Monate nach dem Platzen der Bombe Wirecard leicht haben, sich ihre Zeilen-Honorare damit zu verdienen, dem Publikum zur Erbauung die unendlich langweiligen kriminellen Fußnoten eines Geschäfts auszubreiten, von dem sie alle zusammen nichts weiter wissen wollen, als dass es gefälligst wie geschmiert zu laufen habe. Weshalb ihnen jeder Fall von Vortäuschung zehnmal interessanter vorkommt als alle real existierenden Gemeinheiten und Absurditäten des Finanzkapitalismus zusammen.

3. Staatliche Aufsicht, Lobbyismus und die nationale Bedeutung von Wirecard: noch ein paar Umdrehungen mehr

Immer wenn bei diesem schönen Treiben ein Unternehmen abschmiert, vor allem wenn es sich um einen nationalen Hoffnungsträger handelt, steht felsenfest, dass mindestens die Hälfte der Antwort auf die Frage, wie das! hatte passieren können, in der Weisheit besteht, dass der Staat nicht verhindert hat, was geschehen ist. Prompt ist also auch beim Wirecard-Skandal von multiplem Staatsversagen die Rede, vor allem vom Versagen aller staatlichen bzw. vom Staat vorgeschriebenen Kontrollgremien und -mechanismen. Und wieder ist dieses Aufdecken und Anklagen nichts als rückwirkende Besserwisserei. Denn – auch dies belegt die Causa Wirecard – diese für den nationalen Standort so bedeutende Sphäre der finanzkapitalistischen Bereicherung ist seit jeher Objekt umsichtigster Aufsicht, konstruktiver Begleitung und zukunftsorientierter Förderung.

Viel hergemacht wird in diesem Zusammenhang seitens derer, die am Standort Deutschland das Platzen von finanzkapitalistischer Spekulation gern verboten sähen, von den angeblich so mangelhaften staatlichen Vorschriften für die Erstellung und Prüfung von Bilanzen. Dabei folgt der Standpunkt, von dem aus die entsprechenden, ziemlich umfangreichen Regelwerke erstellt worden sind, haargenau der Logik der Beschwerdeführer: Auch der Staat als Oberaufseher will, dass das gegensätzliche Verhältnis zwischen den diversen Beteiligten am Geldverdienen aufsteigender spekulativer Stufenleiter wegen seiner überragenden Notwendigkeit und Nützlichkeit für den nationalen Standort gefälligst und garantiert solide ist. Darum gibt es überhaupt das umfangreiche Vorschriftenwesen für die Bilanzen, mit denen die einen um den spekulativen Zuspruch werben, auf den sie bei ihrem Wachstum angewiesen sind, und in denen die anderen eine solide Grundlage für die Beantwortung der Frage finden können sollen, ob erstere diesen Zuspruch tatsächlich verdienen. Und wenn die rechtlich fixierten Bewertungsgrundsätze so einiges an Auslegung innerhalb gewisser Bewertungsspielräume zulassen, dann liegt das nicht an zu laschen Regeln und etwaiger Naivität des Staates bezüglich des Willens und der Fähigkeit hochbezahlter Advokaten zur geschäftsdienlichen Interpretation seiner Paragrafen, sondern wieder einmal ganz an der Sache, die da im Sinne ihres Gelingens geregelt wird: In einer Ökonomie des Wachstums mittels Kredit und für dessen Verwertung hat schlichtweg alles – jedes Unternehmen, jeder Unternehmensbestandteil, jeder Posten innerhalb der unternehmerischen Geschäftstätigkeit – so viel (Kapital-)Wert, wie die Spekulation ihm Tauglichkeit zuspricht, zukünftiges Wachstum zu produzieren. Daraus ergeben sich alle ‚Unschärfen‘, bei denen der Staat wild entschlossen ist, den ökonomisch vertretbaren Goodwill von bloßer Hochstapelei zu trennen. Darum ist weder das Ausnutzen und Austesten dieser Spielräume per se anrüchig noch die Praxis der Unternehmen, sich vonseiten darauf spezialisierter und staatlich lizenzierter Unternehmensberater bei der Erstellung einer Bilanz assistieren zu lassen, die den Vorschriften genügt, ohne die Investoren zu verprellen. Und nebenbei sorgt so diese in Paragrafen gegossene konstruktive Sorge des Staates um allseitig nützliche Bereicherung noch für eine weitere Möglichkeit des Geldverdienens: hier an den Bilanzen des Geldverdienens der auskunftspflichtigen Kundschaft. Auch das Misstrauen der Gegenseite in die solcherart zustande gekommenen Bilanzen vollzieht der Staat einfühlsam nach, dringt also darauf, dass die Bilanzmachwerke von dritter Seite geprüft werden, was er wiederum einer Sparte von darauf spezialisierten Unternehmen als Betätigungsfeld überlässt; auch damit schafft er ein Geschäftsfeld, das überaus lukrativ ist – wie lukrativ, darüber bekam das Publikum im Zuge des Wirecard-Skandals allein schon anhand der öffentlich diskutierten Haftungsgrenzen einen soliden Eindruck vermittelt. Seit dem Absturz Wirecards wissen es natürlich auf einmal alle: Das deutsche System des zweistufigen Bilanzkontrollverfahrens entspricht nicht den international üblichen Standards und funktioniert insbesondere anders als etwa in den USA (Handelsblatt, 30.9.20), auf deren vorbildlich reguliertem Finanzmarkt es bekanntlich noch nie einen einzigen Bilanzbetrug oder Finanzskandal, geschweige denn Pleiten von börsennotierten Unternehmen oder Bankrotte gegeben hat. Aber wie gesagt: Alle nachher ins Gerede gekommenen, aber vorher von keiner Seite groß beanstandeten deutschen Regelungen waren noch nie von etwas anderem als genau dem Geist geprägt, in welchem alle Kritiken und alle Reformvorschläge ergehen: nämlich dem Imperativ, dass das Ensemble von Regelungen, mit dem diese feine Abteilung kapitalistischer Geschäftemacherei umzingelt wird, diese zu immerwährendem Erfolg entfesselt.

Und weil dies der nationale Standpunkt zu dieser Sphäre und Anspruch an sie ist, hat es auch der deutsche Staat dann doch noch nie dabei belassen, die Ganoven, für deren Erfolg als elitemäßige Garanten des nationalen Standorterfolgs er ganz entschieden parteilich ist, sich einfach nur selbst um die Solidität ihres Geschäfts kümmern zu lassen. Die Finanzmarktaufsichtsbehörde BaFin, die für die Bilanzen börsennotierter Unternehmen zuständige Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung DPR und andere staatliche bzw. quasistaatliche Instanzen sollen ihrerseits die privaten Prüfer prüfen und kontrollieren und dafür sorgen, dass sich diese so gegensätzliche Symbiose nicht nur für die Beteiligten, sondern fürs nationale Wachstum als fortwährend produktiv erweist. Die Geschäfte von Wirecard und Konsorten sollen stattfinden und den Standort überhaupt voranbringen in der immerwährenden und immer härter werdenden Konkurrenz der Standorte darum, wo die internationale Gemeinde der Finanzinvestoren die besten Bereicherungsgelegenheiten entdeckt und von wo aus die Champions der Sphäre die Welt erobern. Daher ist auch die Strenge, die der Staat seinen Prüfinstanzen per Gesetz verordnet, von Beginn an nur die eine Seite der Medaille, deren andere die prinzipielle Parteilichkeit für den Erfolg des zu prüfenden Geschäfts darstellt. Insofern war gerade auch den staatlichen Prüfern in Bezug auf den Prüffall Wirecard der Standpunkt überhaupt nicht fremd, dass dessen Erfolg dabei, die Spekulation auf sich zu ziehen, schon ein gewichtiges Argument dafür ist, dass diejenigen, die mit viel geldwertem Erfolg darauf eingestiegen sind, so ganz falsch nicht liegen können – ein Erfolg, den eine allzu strenge Auslegung der Prüfkriterien womöglich gefährdet oder gar zunichtemacht. Das jedenfalls haben alle staatlichen Prüfer und Überprüfer abzuwägen, und das taten sie, nach allem, was hinterher kolportiert worden ist, bei Wirecard so redlich wie möglich. Die Frage ist nun einmal nicht objektiv zu entscheiden, was schwerer wiegt: der mögliche Schaden durch ein paar lässliche, durch den ökonomischen Erfolg und spekulativen Zuspruch jedoch einstweilen bedeutungslos gemachte Unsauberkeiten für den Fall, dass doch noch eine größere Sache daraus werden sollte; oder aber der garantierte Schaden, den man als Prüfungsinstanz anrichtet, wenn man in aller Strenge das Unternehmen auf diese Fehltritte festnagelt und damit die Spekulanten mit der Nase darauf stößt, dass sie sich wohl vertan haben.

Hinzu kam bei Wirecard dann noch zweierlei: Erstens waren die Quellen der ersten Warnungen vor allem ausländischen Ursprungs, und das musste die hohen und höchsten staatlichen Überwachungs- und Prüfinstanzen im Sinne ihres überwölbenden nationalen Auftrages betreffs der Motivlage dieser Anschwärzer misstrauisch stimmen. Zweitens, und dies war noch viel wichtiger, bediente der Aufstieg der süddeutschen Internet-Klitsche unter Leitung zweier obskurer Wiener Herren einen überragenden deutschen Nachholbedarf: Schon lange litt nämlich die deutsche Weltwirtschafts- und unbestrittene europäische Wirtschaftsführungsmacht darunter, dass sie auf dem Feld keine eigenen nationalen Konzerne zu bieten hat, das von aller Geschäfts- und Staatenwelt zur auch strategisch entscheidenden technologisch-ökonomischen Abteilung des Kampfes um globale Führerschaft oder Irrelevanz erklärt worden ist. Wirecard versprach der erste deutsche Konzern zu werden, der in die bis dahin konkurrenzlos von amerikanischen Finanz- und Tech-Giganten dominierte Sphäre vordringen und damit dem deutschen Finanz- und Technologiestandort eine wichtige Rolle in dieser Konkurrenz verschaffen konnte. Der Erfolg von Wirecard stellte nationalen Nutzen überragender Art in Aussicht; ihn zu erobern und gegebenenfalls auch mit unkonventionellen Methoden zu sichern war damit quasi patriotische Pflicht, umgekehrt also interessiertes Stochern in und Aufblasen irgendwelcher, für die standortparteiliche Expertise gar nicht eindeutig bewiesener Verfehlungen nationale Nestbeschmutzung und Standortschädigung. In diesem Sinn agierte dann die BaFin und verhängte zwecks Sicherstellung der Marktintegrität ein zeitlich befristetes Leerverkaufsverbot – was ihr nachträglich sehr übel genommen wird und ihren Chef seinen Job gekostet hat.

In diesem Zusammenhang ins Gerede gekommen ist zu guter Letzt auch noch die angeblich zu große Nähe zwischen Politik und Wirecard-Management und insbesondere die Lobby-Tätigkeit des Ex-Politikers von und zu Guttenberg, der sich von Wirecard viel Geld dafür zahlen ließ, sogar bei der Kanzlerin selbst zwecks Förderung des Aschheimer Aufsteigers zu antichambrieren. Auch dieses Gemurmel geht an der nationalen ökonomischen Sache vorbei: Denn erstens ist der Reibach solcher Lobby-Arbeit zunächst ein weiterer schöner Beitrag zum zwar nur einer Minderheit vorbehaltenen Geldverdienen und Geldverdienen-Lassen, das die Marktwirtschaft aber doch insgesamt so liebenswert und überhaupt menschengemäß macht, ist also dem Freiherrn nicht weiter zu neiden. Zweitens hätte der mit dem Anliegen, für das er bezahlt wurde, in den Vor- und Hinterzimmern der hohen Politik komplett auf Granit gebissen, wenn er nicht bei deren VertreterInnen mit der Werbung um staatliche Promotion für seinen Kunden einen Nerv getroffen hätte. Eben den, dass Deutschland endlich und ganz, ganz dringend einen eigenen Global Player in der Branche der Internet-Finanzökonomie braucht. Und wenn das erst einmal die nationale Grundstimmung und vom Staat vertretene Linie ist, dann erfordert die gut dotierte Lobby-Arbeit für einen bestimmten Kandidaten tatsächlich nur noch ein paar gute Kontakte ins Bundeskanzleramt und kann auch von einem fränkischen Adeligen erledigt werden, der standesgemäß sogar zu blöd dafür ist, eine Doktorarbeit zusammenzustümpern, ohne sich beim Plagiieren erwischen zu lassen. Von daher konnte die Nähe seinerzeit überhaupt nicht groß genug sein; sie wurde nicht nur gesucht und gewährt, sondern nicht zuletzt im Rahmen eines Staatsbesuchs in China als Fall deutscher Weltmarktführerschaft regelrecht und ausgiebig zelebriert, denn das Anliegen des deutschen Fintechs, in den chinesischen Markt einzusteigen, habe nach damaligem Wissen hundertprozentig in das Programm der Bundesregierung gepasst, sagte der wirtschaftspolitische Berater Lars-Hendrik Röller ... im Untersuchungsausschuss des Bundestags (Handelsblatt, 12.1.21). So wie Wirecard dabei auf Merkels wirtschaftsdiplomatische Macht setzte, ihm den chinesischen Markt zu öffnen, vertraute die Kanzlerin ihrerseits darauf, dass der spekulative Herdentrieb der am Standort D agierenden Finanzinvestoren dasselbe war wie standortdienliche Schwarmintelligenz. Die sollte und musste Garantie genug dafür sein, mit Wirecard über ein Pfund zu verfügen, mit dem sich gegenüber den Chinesen und sonst wo in der Welt wuchern ließ – was, wie es hinterher auch ganz offiziell hieß, durchaus üblich sei: Für ihre wirtschaftsdiplomatischen Erpressungsmanöver geht die Bundesregierung schlicht davon aus, dass DAX-Unternehmen geprüft sind und keine kriminellen Aktivitäten entwickeln – und nur das nunmehr bekannte Ende der Geschichte macht die seinerzeitigen pomp and circumstance der Kumpanei zwischen den staatlichen Verwaltern und privaten Nutznießern des deutschen Finanzkapitalismus im Nachhinein so oberpeinlich für alle Fans von ‚Made in Germany‘.

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PS: Eine große Lücke haben die Verhaftung des einen österreichischen Großbetrügers, das Abtauchen des anderen und das Verschwinden von Wirecard vom deutschen Börsenplatz nicht gerissen, ein würdiger Nachfolger war jedenfalls schnell gefunden: der Internet- und Corona-Gewinnler Delivery Hero, der keine einzige Pizza irgendwohin kutschiert bzw. von seinen schlechtbezahlten Mitarbeitern kutschieren lässt, sondern dies seine Tochterunternehmen erledigen lässt und selbst nur dafür sorgt, dass die Vermittlung und Bezahlung online ... und so weiter und so fort, man kennt das ja jetzt. Was diesen nunmehr wohl endlich echten vom bloß vermeintlichen Erfolgsfall Wirecard unterscheidet? Die Chefs von Delivery Hero wissen immerhin, dass man zum Zwecke der Eigenwerbung gegenüber den Finanzinvestoren heutzutage noch nicht einmal so tun muss, als ob man jemals schon Gewinne gemacht hätte.