Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Zu den Protestbewegungen „Die Empörten!“, „15-M“ und „Echte Demokratie jetzt!“:
Eure Empörung ist verkehrt – sie lebt von Illusionen über Krise, Demokratie und Marktwirtschaft
Europa spart – am Lebensunterhalt seiner Bürger. Die demokratischen europäischen Regierungen machen das Leben ihrer Völker dafür haftbar, dass ihre Wirtschaft zu wenig wächst und die Kreditwürdigkeit ihrer Nation im Eimer ist. Deswegen haben die verantwortlichen Staatsführer ihren Bürgern ein gewaltiges soziales Abbruchprogramm verordnet.
Betroffene melden sich zu Wort und protestieren. Dass sie das tun, ist überfällig: Nur wie!
Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- Diese Politiker vertreten uns nicht!
- Ziel und Absicht des derzeitigen Systems sind die Anhäufung von Geld, ohne dabei auf den Wohlstand der Gesellschaft zu achten,
- Wir brauchen eine ethische Revolution. Anstatt das Geld über den Menschen zu stellen, sollten wir es wieder in unsere Dienste stellen. Wir sind Menschen, keine Waren.
- Wir sind keine Systemfeinde – das System ist uns gegenüber feindlich.
- ... normale Menschen. Wir sind Menschen, die jeden Morgen aufstehen, um studieren zu gehen, zur Arbeit zu gehen oder einen Job zu finden, Menschen mit Familien und Freunden, Menschen, die jeden Tag hart arbeiten, um denjenigen, die uns umgeben, eine bessere Zukunft zu geben.
Zu den Protestbewegungen „Die
Empörten!“, „15-M“ und „Echte Demokratie jetzt!“:
Eure
Empörung ist verkehrt – sie lebt von Illusionen über
Krise, Demokratie und Marktwirtschaft
Europa spart – am Lebensunterhalt seiner Bürger. Die demokratischen europäischen Regierungen machen das Leben ihrer Völker dafür haftbar, dass ihre Wirtschaft zu wenig wächst und die Kreditwürdigkeit ihrer Nation im Eimer ist. Deswegen haben die verantwortlichen Staatsführer ihren Bürgern ein gewaltiges soziales Abbruchprogramm verordnet.
Betroffene melden sich zu Wort und protestieren. Dass sie das tun, ist überfällig: Nur wie!
*
Unter den Parolen Empört euch!
und Echte
Demokratie jetzt!
habt ihr euch für europaweite
Proteste zusammengetan. Ihr wollt etwas dagegen
unternehmen: gegen ein Wirtschaftssystem, das, wie ihr
sagt, die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer
macht; gegen Politiker, Manager und Banker, die die
Krisenprogramme machtvoll durchsetzen und damit zahllose
Lebensperspektiven zerstören.
Diese Politiker vertreten uns nicht!
,
lautet euer Vorwurf an die Adresse der Regierenden, und
da denkt ihr daran, dass eure materiellen
Lebensinteressen bei der politischen Klasse ausgesprochen
schlecht aufgehoben sind. Das ist kein Wunder, doch wenn
man als Betroffener die Politiker, die Akteure
des Krisenprogramms, ins Visier nimmt, steht man schon
vor einer Entscheidung: Entweder man geht der
Frage nach, welche Interessen diese Volksvertreter
wirklich vertreten; dann stößt man unweigerlich darauf,
dass demokratische Politik durch Krise und Boom hindurch
eine Räson verficht, die den Notwendigkeiten der
Nation und des kapitalistisch wirtschaftenden Eigentums
verpflichtet ist und definitiv nicht den Lebensinteressen
der Leute, die dafür arbeiten müssen; dann wäre immerhin
der Grund im Visier, dem man die eigene beschissene Lage
zu verdanken hat, und im Übrigen auch die Frontstellung
klar. Oder man ist von Zapatero, Papandreu und
den anderen Figuren enttäuscht, weil sie das
Geschäft der politischen Vertretung so schlecht
betreiben, wo man doch von demokratischen Führern
Besseres erwarten könnte – und ihr habt euch offenbar
dafür entschieden: Politiker, Wirtschaftsführer und
Bankenmanager – sie alle sind für euch korrupt,
wie ihr in eurem Manifest Echte Demokratie jetzt!
beklagt. Ihr beschwert euch über flächendeckenden
Amtsmissbrauch, wie er eigentlich nicht sein
müsste. Diese Absage an eine verkommene
politische und wirtschaftliche Elite ist äußerst
unkritisch, auch wenn ihr denen frech haut alle
ab!
entgegen ruft. Sie gilt nämlich nur diesen
Figuren, eben Zapatero, Papandreu und Co., lebt also
von der Vorstellung, es könnte und sollte doch auch viel
bessere, ehrlichere Politiker geben. Eure Absage gilt
überhaupt nicht den demokratischen Ämtern, kraft derer
die Politiker ihre Krisenpakete schnüren, sondern
allenfalls dem Geld, das sie damit verdienen. Habt ihr
euch schon einmal überlegt, wie läppisch das – die
persönliche Bereicherung im Amt – im Vergleich zu den
legitimen Machtbefugnissen ist, die sich die Politiker
damit erwerben?
Vermutlich nicht, sonst würdet ihr nicht Echte
Demokratie jetzt!
fordern. Ausgerechnet Demokratie:
Das Volk darf unter mehreren Machtfiguren auswählen, und
die gewählte Regierung ist dann streng demokratisch
ermächtigt , in aller Freiheit, ohne
Rücksichtnahme auf die Wähler, den Erfolg des nationalen
Standorts zu betreiben – so buchstabieren sich „demos“
und „kratein“ in der echtesten Demokratie, die es gibt!
Und ihr? Ihr wollt echte demokratische Wahlen, also
Politiker in Ämter hieven, die ihnen überhaupt erst die
Macht über euch und eure Lebensumstände geben. Und dann
fällt euch ein, dass man die Bande der Mächtigen aber
ganz genau kontrollieren muss! Eine Schnapsidee,
mal ganz abgesehen von den Forderungen, mit denen ihr
ganz konkret
sein wollt: Ihr verlangt
Anwesenheitspflicht
im Parlament und mehr
Arbeit
für die Politiker: Parlamentarische Arbeit,
mit der gerade eben die Rente wieder gesetzlich
einwandfrei gekürzt wird – ihr könnt euch doch nicht im
Ernst mehr davon wünschen!?
Ziel und Absicht des derzeitigen Systems sind die
Anhäufung von Geld, ohne dabei auf den Wohlstand der
Gesellschaft zu achten
,
ist einer eurer kritischen Kernsätze über den Kapitalismus, der euch empört. Dass sich alles um Schulden und Geld dreht, dass alle eure Berechnungen auf eine auskömmliche Existenz einem stabilen Euro und einer soliden staatlichen Schuldenwirtschaft geopfert werden, ist nicht zu übersehen. Die europäischen Politiker sagen auch ganz offen dazu, dass es dazu, den Leuten ihren Wohlstand zu kürzen, damit Spanien usw. wieder auf die Beine kommt, einfach keine Alternative gibt. Da könnte man sie doch einmal beim Wort nehmen: Ja, Spanien, Griechenland und alle anderen Nationen, das sind nichts als Kapitalstandorte, die ihren Erfolg auf die nützliche Armut der Masse ihrer Bevölkerung gründen; einen Erfolg, der sich in wachsenden Schulden und Geldvermögen und einer stabilen Währung bilanziert. Kapitalvermehrung und Wachstum des staatlich bilanzierten Geldreichtums, das ist der nationale Wohlstand, auf den es ankommt, dessen Mehrung zu fördern, ist Ziel und Aufgabe der politischen Verwalter des Systems, etwas anderes hat man von diesen Gesellschaften also nicht zu erwarten. Ihr aber haltet die derzeitigen Verhältnisse offenbar bloß für eine Übertreibung, eine Entgleisung sozusagen, die eigentlich gar nicht sein müsste in diesem System. Ihr schreibt nämlich:
Wir brauchen eine ethische Revolution. Anstatt das
Geld über den Menschen zu stellen, sollten wir es wieder
in unsere Dienste stellen. Wir sind Menschen, keine
Waren.
Wie kommt ihr denn auf wieder
? Könnt ihr uns
verraten, in welcher Sekunde der Geschichte des
Kapitalismus das Geld je im Dienste des Wohlergehens der
Menschen und ihrer materiellen Wohlfahrt gestanden hätte?
Wie sollte so ein Dienst
auch aussehen? Etwa so,
dass das Geld einen Boom auf dem spanischen Wohnungs- und
Arbeitsmarkt veranstaltet, wo ihr euch krummgelegt habt
für eine Wohnung und den zu bedienenden Kredit, euch
abgestrampelt habt für irgendeinen meist schlecht
bezahlten Job? Trauert ihr etwa diesen
beschissenen ‚besseren Zeiten‘ nach, weil jetzt die
Wohnung zwangsversteigert wird oder der Job weg ist? Dann
liegt ihr verkehrt, denn gestern waren haargenau
dieselben Systemzutaten mit haargenau den
gleichen Rechnungsweisen in Kraft, wie sie
heute, in Krisenzeiten, massenhaft Leute, die von ihrer
Arbeit leben müssen, in den Ruin treiben. Ihr erlebt
nichts als die unausweichliche Konsequenz von gestern, wo
eure Perspektiven mit Wohnung und Job auch nichts anderes
waren als Instrumente privater Eigentümer, mit euren
Schulden oder eurer Arbeit ihr Geldvermögen zu vermehren.
Arbeiten für Geld, Wohnen nur, wenn man einen Bankkredit
bedient oder Miete bezahlt, ein Bankwesen überhaupt, usw.
usf. – das gehört zum bleibenden Inventar einer
kapitalistischen Wachstumsmaschine und stiftet die
alltäglichen Notlagen für die, die in diesen
Verhältnissen ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen,
der von der Bedienung all dieser Geschäftsrechnungen
abhängt. Deswegen steigen im Krisenfall, wenn die ganzen
Wachstumsansprüche der Wirtschaft nicht zur Zufriedenheit
aufgehen, auch die Unkosten für all diejenigen, die vom
Dienst an diesen Ansprüchen leben.
Eure Not von heute beweist also etwas ganz anderes als
eine ethische Verantwortungslosigkeit
. Sie
beweist, welche armseligen und prekären Rechnungen ihr
gestern mit dem kapitalistischen System
eingegangen seid. Und sie beweist überhaupt nicht, dass
in der Krise jetzt der Missbrauch
des Geldes
eingerissen wäre und die Macher des Systems ihrer
Verantwortung
nicht gerecht würden, wie ihr in
eurem Manifest behauptet: Nicht einmal jetzt wollt ihr
die Einrichtungen, die euch das Leben jetzt so schwer
machen, angreifen; ihr bildet euch statt dessen ein, mit
einer anderen, wie ihr meint ,verantwortungsvolleren
Einstellung‘ seiner Agenten wäre der kapitalistische
Laden für eure Lebensinteressen dienstbar zu machen – da
könnt ihr lange warten, die Angesprochenen weisen euch
doch unmissverständlich auf ihre nationale Verantwortung
hin, die ihnen keine Alternative zu ihrem
Verarmungsprogramm lässt.
In eurem Manifest fordert ihr öffentliches Eigentum anstelle von Privatisierung – das soll es bringen, wo euch gerade die öffentliche Gewalt als Arbeitgeber, Rentenverwalter oder Steuereintreiber das Leben schwer macht? Ist es euch nicht zu bescheiden, als Konsequenz von Zwangsräumungen und -versteigerungen empört Mietbeihilfen zu fordern – und gegen das Recht der Immobilieneigentümer, an den Wohnbedürfnissen ordentlich zu verdienen, kein böses Wort zu verlieren? Ist es nicht jämmerlich, die Verstaatlichung von Banken zu fordern – also ihre staatlich betreute Sanierung, damit dann nach der Krise ihre Kredit- und Spekulationsgeschäfte wieder erfolgreich losgehen? Habt ihr denn nicht mehr zu fordern als Arbeitsplatzsicherheit? Die ganze Hoheit über die Arbeit soll bei den Herren Arbeitgebern bleiben – sie sollen euch nur ganz bestimmt in den bezahlten Dienst an ihrem Eigentum nehmen! Ein sehr bescheidener Antrag, der überhaupt nur im Vergleich einen Vorteil bietet – zur einzigen Alternative nämlich, die das marktwirtschaftliche System für Arbeitnehmer bereithält: dem Elend der Arbeitslosigkeit.
Eine eurer prominentesten Parolen lautet:
Wir sind keine Systemfeinde – das System ist uns
gegenüber feindlich.
Die zweite Hälfte verstehen wir als eine Zusammenfassung eurer Beschwerden über Entlassungen, Lohnsenkungen, Rentenstreichung, Steuererhöhung, Zwangsversteigerungen usw.: Darüber also, dass euch die politischen Verwalter des Systems mit ihrer öffentlichen Gewalt rücksichtslos eure Lebensverhältnisse kündigen, damit private Geldvermögen gerettet werden und die Nation kreditwürdig bleibt. Umso weniger verstehen wir die erste Hälfte: Wieso besteht ihr darauf, keine Gegner dieses euch so feindlich gesinnten Systems zu sein, sondern
normale Menschen. Wir sind Menschen, die jeden Morgen
aufstehen, um studieren zu gehen, zur Arbeit zu gehen
oder einen Job zu finden, Menschen mit Familien und
Freunden, Menschen, die jeden Tag hart arbeiten, um
denjenigen, die uns umgeben, eine bessere Zukunft zu
geben.
Ausgerechnet so eröffnet ihr eurer Manifest! Mit der
demonstrativ zur Schau getragenen Bereitschaft,
in diesem System als nützliches Rädchen mitzuarbeiten.
Die Kommandeure pfeifen auf eure Dienste und lassen euch
für die Systemschulden zahlen, und ihr kommt ihnen damit,
dass ihr die Mitarbeit am System deswegen noch
lange nicht kündigen wollt! Ausdrücklich wollt ihr keine
Gegner dieser Verhältnisse sein, pocht stattdessen mit
eurer Normalität
darauf, dass ihr als anständige
Menschen es eigentlich nicht verdient hättet,
von euren Herren so schäbig behandelt zu werden, seid am
Ende enttäuscht und empört über diejenigen, die euch
kaltlächelnd euer Auskommen zusammenstreichen.
Mit dieser Empörung und Enttäuschung haltet ihr
unerschütterlich an der Illusion fest, das System von
Demokratie und Marktwirtschaft hielte letztlich doch
irgendwie eine Lebensperspektive für Leute wie dich
und mich
bereit. Damit verschafft ihr euch allenfalls
das schöne Gefühl, als gute Menschen moralisch Recht zu
behalten gegenüber den schlechten Repräsentanten des
verkommenen Systems.
*
Dieser Protest hat eine Bibel, das 2010 erschienene,
millionenfach verkaufte 14-seitige Pamphlet Empört
euch!
; ihr Evangelist und Prediger ist der
französische Résistance-Veteran Stéphane Hessel.
Zahlreichen Protestierenden muss diese Schrift dermaßen
gefallen haben, dass sie sich gleich die Empörten
nennen: Sie meinen tatsächlich, dass die öffentlich
vorgetragene moralische Entrüstung, die zur Schau
getragene Betroffenheit eine Trumpfkarte ihres
Protests wäre, weil sie sich mit ihren bescheidenen
Forderungen nach Wohnen und Arbeiten, ihrer unbedarften
staatsbürgerlichen Haltung absolut im Recht
wähnen: Eigentlich wäre ihnen das in den
Grundrechten des herrschenden Systems versprochen,
beteuern sie und deuten die schönen Ideale guten
Regierens als eine einzulösende Pflicht einer Herrschaft,
die ihnen zwar praktisch das Gegenteil beweist, bei der
sie aber trotzdem Gehör zu finden hoffen.
Von der Kanzel der moralischen Empörung herab predigt
auch St. Stéphane. Seine Liste der Missstände
liest sich in etwa genau so wie die der jungen Empörten,
die in Madrid oder Athen auf die Straße gehen: die
Streichung der sozialen Errungenschaften
, die
unwürdige Behandlung der Immigranten, die private
Geldbereicherung, der Vorrang des Geldes
über die
gerechte Verteilung des Reichtums
, der Abstand
zwischen den Ärmsten und den Reichsten, der noch nie so
groß war wie heute
, die aktuelle Diktatur der
Finanzmärkte, die den Frieden und die Demokratie
bedrohen
und dergleichen mehr. Nur: Wo sich die
Demonstranten wegen ihrer materiellen Belange aufstellen,
da stellt Hessel die Sache auf den Kopf: Er fordert die
Jugend zur Empörung auf, weil er die materiellen Nöte der
Leute wie vieles andere als Beweis für einen Notstand und
einen Geschädigten anderer, höherer Art begreift. Die
Protestnoten, welche die Empörten auf den Straßen
ihrer geschädigten Interessen wegen vortragen,
sind bei Hessel Symptome eines empörenden
Gesamtzustandes, in dem sich seine République
befindet. Die macht er als eine bedrohte sittliche
Gemeinschaft vorstellig, die es zu retten gilt. Hier
meldet sich ein Mahner, der von tiefer Sorge um das gute
Erbe seiner Grande Nation, das er an
verantwortlicher Stelle mit gestiftet hat, getragen ist,
und das stilisiert er sich so zurecht:
„Erinnern wir uns, dass die soziale Sicherheit im Sinne des Widerstands begründet wurde, mit dem Ziel, allen Menschen das Grundbedürfnis nach materieller Sicherheit zu gewährleisten. Ganz besonders zu Zeiten, in denen sie nicht oder nur unzureichend aus eigener Kraft für ihr existenzielles Überleben sorgen können. Eine Rente, die allen Arbeitnehmern einen würdevollen Lebensabend sichert. Die Energiequellen Strom und Gas, die Kohlebergwerke, die großen Banken sind nationalisiert. Das Programm (des damaligen Rates des französischen Widerstands von 1944; d.V.) empfiehlt die ‚Rückkehr zur Nation der großen monopolistischen Produktionsmöglichkeiten, Frucht der gemeinsamen Arbeit, der Energiequellen, der Bodenschätze, der Versicherungen und großen Banken, die Einrichtung einer wirklich wirtschaftlichen und sozialen Demokratie.‘“
Die Restaurierung der vom Krieg zerstörten Nation, ihre
Herrichtung zum erfolgreichen Kapitalstandort mit allen
sozialen Einrichtungen, die eine auch auf Dauer rentable
Benutzung der arbeitenden Klasse braucht, verklärt Hessel
zum Vorhaben, alle Franzosen von materiellen Sorgen zu
befreien, sie so in einer Republik zu vereinen, die ein
einziger Hort praktizierten französischen
Gemeinsinns ist und die sie daher mit Recht als
ihre wahre Heimat auffassen können. Dieser große
Patriot hat selbst hingebungsvoll mitformuliert an der
Überhöhung des postfaschistischen Staatsprogramms und an
den Idealen demokratischer Herrschaft in der
UNO-Menschenrechtskonvention von 1948. Jahrelang hat er
seinen Landsleuten den Sieg über den deutschen Faschismus
und die nachfolgende Etablierung der neuen französischen
Herrschaft als nationale Verpflichtung gegenüber hehren
Idealen und Werten der Menschheit verkauft hat
und von Frankreich auf seinem Weg zum demokratischen
Staat in seiner Vollendung
– und jetzt, wo er in
Gestalt von Arbeitslosigkeit, Rentenkürzung, Verelendung
der Jugend, Privatisierung der erfolgreichen
französischen Konzerne mit den Ergebnissen des
65-jährigen Wirkens dieser schönen Demokratie
konfrontiert ist, ordnet er die in sein patriotisches
Weltbild ein und ist radikal enttäuscht: Diese großartige
Nation hat sich von sich selbst entfremdet, so, wie sie
aktuell verfasst ist, können Franzosen sich in ihr
unmöglich gut beheimatet finden! So werden die Vielen,
die sich über die Durchkreuzung ihrer Lebenschancen
empören, in ihrem Fehler bestätigt. Von genau
denen, denen sie ihr Elend zu verdanken haben, wünschen
sie sich Verhältnisse, mit denen sie sich ihre
Besserstellung ausrechnen: Für ein auskömmliches Leben in
der Klassengesellschaft zu sorgen, fällt in ihrem
unverwüstlichen Glauben ja genuin in den
Zuständigkeitsbereich demokratischer Herrscher, also
sollen die auch endlich ihrem Auftrag nachkommen. Für den
französischen Großmoralisten ist dieser Auftrag dem neuen
Frankreich gleich bei seiner Geburt mit auf den Weg
gegeben worden, so dass für ihn Franzosen nicht in ihren
beschädigten Interessen einen Grund zur Empörung haben.
Der Umstand, dass ihr Vaterland es so weit hat
kommen lassen, dass ein Humanist, der nichts begreifen
will, an ihm verzweifelt, ist für ihn der
Generalgrund für Empörung. Seinen jungen
Landsleuten ruft er daher Empört Euch!
zu und
versichert ihnen, dass sie dann, wenn sie nur suchen, die
Gründe ihrer Empörung ganz bestimmt finden werden – und
auch, welche Konsequenz daraus folgt:
„Den jungen Leuten sage ich: schaut Euch um, ihr findet genug Themen, Euch zu empören – wie man mit den Immigranten umgeht, mit Menschen ohne ‚juristische Legitimation‘, mit den Roma und Sinti. Ihr werdet konkrete Situationen finden, die Euch zu kraftvollem Handeln als Bürger veranlassen werden. Sucht und ihr werdet finden!“
Die Empörung, die Hessel einfordert, zielt also ausdrücklich nicht auf eine Absage, sondern auf eine verantwortungsvolle Haltung, die anständige französische Bürger angesichts des Zustands ihres Landes einzunehmen hätten, auf ein „kraftvolles“ staatsbürgerliches Engagement, das sich der Nation als sittlichem Kollektiv verpflichtet weiß. Werdet radikal – aus Sorge um euer Vaterland!
*
Zwei haben sich jedenfalls schon mal gefunden: Auf der
einen Seite viele junge Menschen, die sich weigern, der
beschissenen Lage, an der sie Anstoß nehmen, auf den
Grund zu gehen und daher Kritik durch
Alternativvorschläge ersetzen, wie Demokratie und
Kapitalismus doch auch gut zu ihrem Vorteil regiert
werden könnten. Und ein Fundamentalkritiker auf der
anderen Seite, der von vorneherein jeden materiellen
Grund zur Kritik zum bloßen Anlass degradiert, sich in
der Empörung Luft zu verschaffen, auf die er als
Patriot sich versteht, und darin die Perspektive für eine
Generation sieht, die für ihr Auskommen keine mehr hat.
Als gute Bürger sollen die Jungen den nationalen
Gemeinsinn repräsentieren, der den Regierenden abgeht,
und können sich – und sollen sich vor allem auch – bei
allem, worüber sie sich empören, in einem sicher sein:
Insofern sie sich nur nach Maßgabe all der idealen
Prinzipien, denen nach Auffassung guter Menschen das
Gemeinwesen verpflichtet ist, um dessen
sittliche Vervollkommnung bemühen, ist ihre Empörung
absolut gerechtfertigt. Nicht zufällig spricht
der Mann damit vielen aus dem Herzen, die Grund haben,
aufzubegehren, das aber so verkehrt tun. Zwar ist das
Gefühl, unbedingt im Recht zu sein, der
einzige Ertrag, den eine symbolträchtige
Versammlung von ihrer Regierung enttäuschter Bürger vor
Parlamenten oder auf großen Plätzen abwirft. Aber
insofern die derart Empörten das gar nicht als Mangel
ihres Protestes, vielmehr umgekehrt ihr massenhaftes
Versammeln schon als dessen Erfolg begreifen, haben sie
in den Herzensergießungen eines missionierenden
Vaterlandsliebhabers ihre goldrichtige Bibel
gefunden: Sie deuten auf ihre elende Lage und landen mit
ihrer Kritik bei der Beschwörung eines Idealbilds von
Demokratie, der so ein Elend doch fremd zu sein habe –
und bekommen von einem Missionar des Sich-Empörens
gesagt, dass ihr alberner Idealismus die einzig
senkrechte Antwort auf ihre Lage ist, weil nämlich die
Demokratie grundsätzlich als Verfahren zur Fürsorge für
die eingerichtet wurde, um deren Lebensglück es notorisch
schlecht bestellt ist.