Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Wochenende mit der SZ
Drogenkrieg in Mexiko und WM-Zuschlag für Katar
Zweimal fünf Minuten Kurzzeitpflege für das etwas anspruchsvollere Gewissen
Samstags liefert die Süddeutsche Zeitung auf den Seiten „Buch Zwei“ regelmäßig umfangreich recherchierte Reportagen aus dem In- und Ausland in Wort und Bild...
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Wochenende mit der SZ
Drogenkrieg in Mexiko und WM-Zuschlag für Katar
Zweimal fünf Minuten Kurzzeitpflege
für das etwas anspruchsvollere Gewissen
Samstags liefert die Süddeutsche Zeitung auf den Seiten
„Buch Zwei“ regelmäßig umfangreich recherchierte
Reportagen aus dem In- und Ausland in Wort und Bild. Am
letzten Samstag im Februar widmet sich die Rubrik unter
dem Titel Stoff ohne Grenzen
dem
Drogenkrieg
in Mexiko. Der Verfasser liefert
Fakten und Zusammenhänge und beschönigt nicht die
Berechnungen und Konsequenzen dieser Abteilung von
Geschäft und Gewalt in der kapitalistischen Welt. Man
erfährt in aller Ausführlichkeit, zu wie viel Gegensatz
und Gewalttätigkeit über alles gewohnte Maß hinaus es der
ehrenwerte Zweck des Geldverdienens in dieser Weltgegend
bringt, wenn er sich auf eine verbotene Ware wie
Rauschgift richtet: Endlos aufgezählte Leichen mit
Folterspuren
bebildern die Grausamkeit, die in Mexiko
beim Streit der Kartelle um Geschäftsanteile fällig ist
und zugleich durch die Anti-Drogen-Offensive
der
Staatsgewalt befeuert
wird. Der in Gestalt von
Privatarmeen
betriebene Gewaltaufwand zur
Absicherung des Geschäfts gegen Konkurrenten und
staatliche Aufsichtsbehörden lohnt sich dort eben für die
an dieser besonderen Branche interessierten und
hinreichend skrupellosen Geschäftsleute – und zwar gerade
wegen der Illegalität der Ware in besonderem Ausmaß, weil
das Verbot die erzielbaren Gewinnspannen enorm erhöht
angesichts der zahlungskräftigen Nachfrage nach dem
Stoff in den USA und Europa
mit einem Marktvolumen
von pro Jahr geschätzten 600 Milliarden US-Dollar
.
Die Gewaltmittel für den laufenden Geschäftsbetrieb
werden auf dem ‚Markt‘ gleich nebenan in den Vereinigten
Staaten feilgeboten, in die praktischerweise sowieso
der größte Teil des Rauschgifts geschmuggelt wird
,
so dass auch das dort ansässige, ganz legale Geschäft der
Waffenproduktion als Zulieferindustrie des mexikanischen
Drogenkriegs
prosperiert: Zurück kommen
großkalibrige Kriegswaffen, die in US-Städten wie El Paso
oder San Diego verkauft werden wie Spielzeug.
Personalmangel herrscht wiederum am Standort Mexiko
selbst nicht; dort kriegt das auf dem mexikanischen
Standort überflüssige, aber aufs Geldverdienen als
Lebensgrundlage angewiesene mexikanische Volk eben
leichter eine Pistole als ein Stipendium, schneller
einen Job bei einem Drogenkartell als bei einer Firma
– und bildet eine perfekte Rekrutierungsbasis für
kriminelle Erfolgstypen, die ihren in der legalen
Konkurrenz tätigen Pendants in ihrem Einsatz für ihren
Geschäftserfolg und dessen gebührende Repräsentation in
nichts nachstehen: Die Narcos werden verehrt und
gefürchtet, geben sich als Wohltäter, prägen selbst
Architektur, Kleidung, Musik, Religion… Schneller
Reichtum, Hummer-Jeeps, vergoldete Revolver, Kitschvillen
und Stiefel aus Schlangenleder.
Das Finanzkapital
will auch nicht ganz abseits stehen, wo so viel Geld
fließt; es bleibt seinen Geschäftsprinzipien der
Geldvermehrung treu und wägt Chancen und Risiken
illegalen Geldes, das durch seine Hände laufen
könnte, gegeneinander ab. Von 2004 bis 2007 hatte eine
von den Behörden untersuchte Bank mehr als 373
Milliarden Dollar ohne Prüfung auf Geldwäsche von Mexiko
in die USA transferiert.
Und mit systemgemäßer
Aufgeschlossenheit gegenüber jedem Mittel, das der
Bereicherung dient, wenn nur die Rendite stimmt, wird
Geld aus dem Drogengeschäft auch in legale
Geschäftsmodelle investiert, sodass Kartelle wie
globale Multis agieren, Buchhalter beschäftigen,
internationale Filialen haben und weltweit in seriöse
Unternehmen investieren
. Schließlich wird keineswegs
verschwiegen, wie die Aufseher über diese schöne Freiheit
des Eigentums, die Staatsgewalten selbst, ihresgleichen
für die eigenen Zwecke machtvoll funktionalisieren – und
kaltlächelnd gut mit den Konsequenzen ihrer Politik
leben, die anderswo entstehen:
„Nixon rief den ‚war on drugs‘ aus… Ist der Kampf gegen die Narco-Kartelle gar tödlicher als die Droge? Immer mehr Juristen, Wissenschaftler und Politiker in Lateinamerika debattieren die Freigabe, doch die meisten Staatschefs Lateinamerikas trauen sich nicht, eigene Wege zu gehen. Denn die USA als Hauptabnehmerland verweigern jede Diskussion, denn der Krieg tobt nur im Süden. Außerdem nährt der Konflikt eine längst gewaltige Sicherheitsindustrie. Auch dieses Geschäft stünde auf dem Spiel.“
Insgesamt wird von dem demokratisch-kapitalistischen
„Schwellenland“ Mexiko und seiner benachbarten
Gringo-Weltmacht ein Bild von eindrucksvoller politischer
und sittlicher Verkommenheit geboten: ein Abgrund an
Verbrechen und eine Welt voll gewalttätiger Grausamkeit.
Aber zum Schlimmsten an seiner ganzen Geschichte ist der
Autor noch gar nicht gekommen: Das Schlimmste ist: Wir
haben uns daran gewöhnt
, so zitiert er zustimmend
einen örtlichen Gewährsmann. Es mag ja wüst zugehen dort
im Tortilla-Land, aber das ärgste Grausen überkommt eine
empfindsame Seele dann doch beim Blick auf die
verheerenden Auswirkungen der mexikanischen Verhältnisse
auf das Innenleben der Menschen! Das ist hart:
Schließlich wohnt der verantwortungsvolle Kosmopolit, an
den sich die Zeitung hierzulande wendet, dem Lauf der
Welt eben nicht einfach resignierend-gleichgültig bei,
sondern befasst sich mit ihr und findet ihn immer wieder
erschütternd – vor allem am Wochenende, wenn er auch ein
bisschen Muße dazu hat –, weil am Gang der Dinge
immer wieder die Vorstellungen von einer besseren Welt
zuschanden werden. Deshalb darf die Welt, so wie sie ist,
nicht sein – man muss sie dringend irgendwie verbessern,
damit sie ihrer schöneren ideellen Variante näherkommt.
Und das ist ja auch gar nicht aussichtslos: Ist nicht
genau die Welt, deren Funktionsweisen dem aufmerksamen
Leser mitsamt allen üblen Wirkungen gerade detailliert
vorgeführt wurden, zugleich auch die nützliche
Bedingung ihrer eigenen Verbesserung? Und sind nicht ihre
Regenten die richtigen, weil berufenen Adressaten, das
Gute in der Welt zu befördern:
„Beim Marihuana ist etwas in Bewegung geraten … Es soll in Uruguay unter staatlicher Aufsicht angebaut und verkauft werden, um der Mafia das Geschäft abzugraben.“
Man sieht: Wäre der Weltkapitalismus von den Vorstehern
der staatlichen Gewaltmonopole einfach nur besser
regiert, müssten seine apokalyptischen mexikanischen
Extremformen eigentlich gar nicht sein. Das Einzige, was
es wirklich braucht, ist: Einer muss beginnen.
Dass man dafür als SZ-Schreiber jeden Samstagmorgen aufs
Neue geistig die Mächtigen und Zuständigen der Welt
losschicken kann, das passt doch prima zu einem guten
Frühstück.
*
Das journalistische Bedürfnis, sich als ideeller Verbesserungsbeauftragter des imperialistischen Weltgeschehens aufzuführen, von dem man nichts zur Kenntnis nimmt, außer dass es schiefläuft, wo es doch besser ginge, wenn es nur gemacht würde, landet ein paar Seiten weiter bei der Begutachtung eines weiteren moralischen Brennpunktes, diesmal bei der Gemütslage des Autors selbst: bei der an sich selbst gestellten Frage, ob und wie man es hinkriegt, immer treu der besseren Welt in der schlechten verpflichtet zu bleiben. Damit auch der wochenendlich gestimmmte Leser an dieser sittlich hochwertigen Problematik teilhaben kann, wird Frau Carolin Emcke bezahlt, die mit ihrer Kolumne jeden Samstag kritisch in die Welt blickt, um stets aufs Neue die gebotene korrekte Haltung zu ihr herauszufinden, die das anspruchsvolle Publikum mit sich selbst wieder ins Reine bringt.
Diesmal lässt die Wochenendphilosophin die WM 2022 vor ihrem inneren Gerichtshof vollumfänglich scheitern. Bekanntlich hat das märchenhaft reiche Katar es ja geschafft, sich bei der geschäftstüchtigen FIFA in der Konkurrenz um die Ausrichtung der nationalen Angeberei auf dem Feld des sportlichen Massenvergnügens durchzusetzen und WM-Austragungsort für unsere fußballbegeisterte Staatenwelt zu werden. Wie immer braucht es für diesen nationalistischen Höhepunkt eine angemessene Gigantomanie, um vor dem Auge des eigenen Volks und der ganzen Welt zu glänzen. Das fordert gewisse Opfer, weil die paar ortsansässigen Scheichs ihre Stadien ja nicht selber bauen, wie Frau Emcke erinnert. Stattdessen haben sie von einschlägigen Märkten billige Arbeitskraft importiert und möglichst kostengünstig vor Ort am Rande der Baustellen verstaut, damit für die schönen, sündteuren Konstruktionen kein unnötiger Aufwand anfällt:
„Die Tieflohnarbeiter aus südasiatischen Ländern leben zusammengepfercht mit bis zu 25 Personen pro Zimmer in Behausungen vielfach ohne fließend Wasser. Sie arbeiten zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Manchmal erhalten sie einen schäbigen Lohn, oft nicht.“
Die Bereitschaft zur nötigen Arbeitsleistung für
klimatisierte WM-Stadien und Luxushotels in der Wüste
geht den Südasiaten dabei nicht verloren. Ihre Armut, die
sie auch von einem katarischen Tieflohn
abhängig
macht, und ihre sklavenähnliche Haltung mittels
Passentzug und Ausreiseverbot sorgen für ihre
Willfährigkeit, sodass sich die Katarer ganz auf das
Kommando über sie und die Werbung für das kommende schöne
Sportereignis konzentrieren können. Gewissen auswärtigen
Protesten kommt man natürlich auf morgenländisch-höfliche
Art entgegen, ohne dass sich aber die kritischen
Beobachter der Qualitätspresse davon täuschen ließen:
„Zwar wurden weit mehr als 2000 fragwürdige Unternehmen von der katarischen Regierung auf eine schwarze Liste gesetzt. Aber anscheinend ohne substanzielle Änderungen für das Leben der Migranten. Der ‚Guardian‘ kalkulierte im vergangenen Herbst, bei gleichbleibenden Arbeitsbedingungen könnten bis zur WM 2022 bis zu 4000 Tieflohnarbeiter auf den Baustellen sterben.“
Rücksichtnahmen auf das Arbeitsvieh stoßen da eben bei allem guten Willen auf geschäftsbedingte Kostenschranken.
Hinsichtlich einer sehr kleinen, aber sehr viel wertvolleren Personengruppe der Weltbevölkerung – das gebietet die fußballerische Gastfreundschaft – muss dafür aber umso rücksichtsvoller geplant werden. Die Hauptakteure der Veranstaltung, die Nationalspieler, und deren Leistungen sollen keinesfalls unter den Sommertemperaturen in der Wüste leiden und womöglich tot umfallen wie Bauarbeiter. Das wäre wirklich peinlich und der Veranstaltung und dem Ruf der Gastgeber abträglich, die wissen, was Nationen davon halten, wenn man ihren Mannschaften die Erfolge durch schlechte Bedingungen vermasselt. Deshalb hat mit der gebotenen Weisheit und Weitsicht
„eine Arbeitsgruppe der Fifa diese Woche beschlossen, die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar vom Sommer in den Winter zu verlegen… So müssen die Fußballkünstler nicht in sengender Hitze bei Temperaturen von 45 Grad spielen.“
Blöderweise stört diese Gewährleistung ungetrübten internationalen Fußballwahns jetzt den ungestörten Geschäftsgang der nationalen Fußballclubs, wie sogleich wiederum deren Wichtigmänner kritisieren:
„In den ersten Reaktionen auf die neue Terminplanung dominierte Kritik an den negativen Folgen für die nationalen Ligen, gepaart mit Spott über die Aussicht, nun bei Glühwein und Zimtsternen die Partien schauen zu müssen.“
Das alles ist für die begeisterte
Fußballanhängerin Carolin Emcke aber ehrlich gesagt
meine geringste Sorge
. Sie findet vielmehr, dass
dieser Ausschnitt aus der Welt des internationalen
Fußballs, von dem sie gerade berichtet hat, wer und was
da wichtig ist, wer auf seine Kosten kommt und wer unter
die Räder, eine eklatante Schamlosigkeit
erkennen
lässt. Die verdirbt ihr ganz persönlich den Appetit
auf die WM!
Ihr Problem bei alledem sind nämlich die
Gewissensbisse, die ihr empfindsames Gemüt plagen
angesichts einer Sache, zu der sie sich total bekennt,
die aber in der Wirklichkeit gegen all das verstößt, was
sie eigentlich für gut befindet. Deshalb kann sie sich
kurzfristig selbst nicht mehr richtig leiden:
„Was Sport angeht … überragt Fußball [für mich] doch alles. ‚Love Football – Fuck FIFA‘ lautet ein Graffito … und das trifft meine eigene Widersprüchlichkeit ziemlich gut. Wie lange belüge ich mich noch? Wie lange verdränge ich weiter, dass zu meinem geliebten Fußball oder zumindest den Organisationen, die ihn weltweit ausrichten und als Ware vermarkten, massive Missachtung von Menschenrechten dazugehört? Wie lange will ich mich noch vorab echauffieren und dann am Ende doch alle Spiele begeistert schauen? Bei der Tour de France war es anders. Da hat mir das systematische Doping tatsächlich den Sport verleidet und ich boykottiere seit Langem jede Berichterstattung … den Fußball will ich nach wie vor sehen. Nur nicht aus Katar.“
Auch so ein stiller Protest kann der Welt zeigen, wie empört man über sie ist. Das geht dieser zwar am Arsch vorbei, aber sich hat man nicht korrumpieren lassen bzw. zumindest mal den eigenen Gewissenszwiespalt öffentlich gemacht und damit schon mal klargestellt, dass man keinesfalls zu den gedankenlosen und unkritischen Anhängern des Spektakels zählt. Und wer weiß: Wenn mehr Menschen so korrekt in ihrer Haltung wären, ließe sich am Ende vielleicht doch noch irgendwie einmal ein bisschen was Gutes herausquetschen aus einer Welt, die mitsamt ihren Insassen vom Geschäft im Griff gehalten und benutzt wird. Man darf bloß nicht vom Glauben abfallen, dass das auch geht – aber mehr ist dann auch wirklich nicht nötig:
„Vielleicht besteht ausgerechnet in der Warenförmigkeit des Fußballs die einzige (wie auch immer geringe) Chance, den Weltverband unter Druck zu setzen, die WM in Katar nicht einfach nur kosmetisch zu verharmlosen, sondern ganz abzusagen. Erst wenn der Fußball als kommerzielles Geschäft nicht funktioniert, weil der Imageschaden der Sponsoren schwerer wiegt als der erwartete Profit, dann wäre eine WM in Katar ein zu großes ökonomisches Risiko. Vielleicht eine utopische Vorstellung. Aber immerhin wäre ‚Love Human Rights – Fuck Quatar 2022‘ ein schöner Slogan.“
Ausweglos ist das fünfminütige erbauliche Dilemma der SZ-Autorin, arrangiert für das Wochenende, also Gott sei Dank nicht. Im Gegenteil – es wird geboten als interessantes Gedankenspiel, in dem sich das Schlechte in der Welt mit seinen eigenen Waffen einmal selbst schlagen könnte mit einem hippen, bekenntnisstarken Spruch oben drauf. So rundet die Hausphilosophin der SZ ihre kritische Besprechung arabischer Ausbeutungs- und internationaler Fußballverhältnisse ab, an denen an diesem Wochenende das Hauptproblem ihr persönlicher innerer Widerstreit zwischen Mitgefühl, Fußballbegeisterung und dem Ausblick auf die Machbarkeit des Guten in der Welt sein soll. Und wenn durch die Vorführung des eigenen verantwortungsvollen Zwiespalts der Genuss am Fußballgucken wiedergewonnen ist, dann hat sich der enorme geistige Aufwand doch schon gelohnt. Ach ja, und was schließlich die Südasiaten betrifft: Auch die sind dann wenigstens nicht ganz sinnlos gestorben!