Die deutsche Öffentlichkeit zur Gegenoffensive unserer Ukrainer

Erfolg gibt Recht – und fordert mehr davon

Was hat man eigentlich zu halten von dem „Überraschungsangriff, der Putins Armee kalt erwischt hat“? Von dem „atemberaubenden Tempo des Vormarschs und des überstürzten russischen Rückzugs“, der „militärisch hochbedeutsamen Befreiung von 454 Städten und Erbeutung Hunderter Panzer“ sowie von vielen Toten auf beiden Seiten und an zwei Fronten?

Offenbar sehr viel.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Die deutsche Öffentlichkeit zur Gegenoffensive unserer Ukrainer:
Erfolg gibt Recht – und fordert mehr davon

Was hat man eigentlich zu halten von dem „Überraschungsangriff, der Putins Armee kalt erwischt hat“ (Bild)? Von dem „atemberaubenden Tempo des Vormarschs und des überstürzten russischen Rückzugs“ (ZDF), der „militärisch hochbedeutsamen Befreiung von 454 Städten und Erbeutung Hunderter Panzer“ (SZ) sowie von vielen Toten auf beiden Seiten und an zwei Fronten?

Offenbar sehr viel.

„Strategische Meisterleistung! Denn die Ukrainer haben der als übermächtig geltenden russischen Armee eine der schwersten Niederlagen seit Jahrzehnten zugefügt. Der Thinktank Rusi spricht von ‚einer der besten Gegenoffensiven seit dem Zweiten Weltkrieg‘... Es wirkt fast unglaublich, aber wie es aussieht, hat die Ukraine mit einem Schlag die vermeintlich zweitstärkste Militärmacht der Welt im Nordosten großflächig zurückgedrängt und in die Flucht geschlagen.“ (Der Spiegel, 17.9.22)

Die Redakteure – längst nicht nur beim Spiegel – sind begeistert. Und wenn man dazu aufgelegt ist, auf den Krieg einmal so zu glotzen wie bei der Sportschau, wo der gelungene Konter eines Underdogs gegen den übermächtigen Favoriten genossen werden kann, ohne dass einem die Freude im Hals stecken bleiben muss, dann kann man den gelungenen Gegenschlag anscheinend wirklich genießen. Man kann sich dann auch umgekehrt an der „Blamage“ (Der Spiegel) der russischen Armee und ihrer Führung erfreuen: an „Masse statt Klasse“ (ZDF), „fatalen Taktik-Fehlern“ und „erbärmlichen Befehlsstrukturen“ (ARD), gerne auch an „purer Russenverzweiflung!“ (Bild). Schadenfreude gilt hier definitiv nicht als Laster. Dazu gehört natürlich die tief empfundene Gewissheit, dass hier den Guten ein empfindlicher Schlag gegen die Bösen gelungen ist: Wie sonst ließe sich da so sicher unterscheiden zwischen Feldzügen, die einfach nur furchtbar blutig sind, und denen, die begeistern, weil dabei die richtige Seite zum Zug gekommen ist? Keine Frage: Um diese solide moralische Grundlage des Genusses von überlegener Zerstörungskraft und Opferbereitschaft hat sich die deutsche Öffentlichkeit in diesem Krieg verdient gemacht. Wozu sie ihre Adressaten in diesem Fall einlädt, ist freilich etwas anderes: die Feier der überlegenen Stärke eines Siegers. Dessen Erfolg gibt ihm Recht; der verdient Anerkennung.

Das ist allemal ein zynischer Spaß. Aber auch ein sachgerechter. Immerhin: Ein anderes waltendes Prinzip, eine höhere Quelle des Rechts als den Sieg kennt der Krieg nun einmal nicht. Und das weiß auch jeder. Das wissen erst recht diejenigen, die sich von Berufs wegen um die Kriegsmoral des Volkes kümmern: Man mag sich noch so sicher sein, die eigene Seite hätte einen Sieg verdient, aber diese Gewissheit bleibt ein schwacher und außerdem wenig nachhaltiger Trost, sofern die Realität sich vom Schiedsspruch der „eigentlichen“, d.h. der zwar höheren, aber eben fiktiven Moralinstanz nicht beeindrucken lässt. Siege kennt eine verantwortliche Öffentlichkeit deshalb als Booster für die Kriegsmoral, offenbar als einen ziemlich notwendigen. Dabei ist es nicht einmal bloß so, dass der reelle Triumph die moralische Gewissheit, auf der Seite der Gerechten zu stehen, versüßt und bestärkt. Der Sieg ist auch umgekehrt ein Beweis für die Güte und Gerechtigkeit der überlegenen Macht: So wird definitiv „nicht umsonst“ getötet und gestorben, sondern wirksam – also wirklich für den Schutz der Freiheit und aller anderen guten Dinge, die an dem Sieg der Richtigen hängen sollen. Damit blamieren sich umgekehrt – und endgültig – die Unterlegenen auf dem Schlachtfeld: Russische Soldaten töten und sterben da zwar genauso wie die Ukrainer – aber wofür denn eigentlich? Jedenfalls nicht für einen absehbaren Sieg. Dann eher nur für Putin, der sie zwar genauso wie Selenskyj seine Soldaten kämpfen lässt – aber wofür eigentlich? Offensichtlich nur für jede Menge Tod und Zerstörung. Der aussichtslose – jedenfalls der für aussichtslos gehaltene – Krieg macht den Kriegsführer böse und seine Soldaten bedauernswert; die sind keine Helden, nicht einmal im Dienste einer schlechten Sache, sondern bloß noch „Kanonenfutter“ (ARD, ZDF, FAZ, SZ, Plasberg, Lanz ...).

Was man schließlich von denen zu halten hat, die an die Fähigkeit der Ukrainer zum Sieg nicht geglaubt haben, liegt damit auf der Hand:

„Gut, dass niemand auf sie gehört hat! DIE KRASSEN PEINLICH-PROGNOSEN DER ‚RUSSLAND-EXPERTEN‘. Zum Glück hat die Ukraine den Ratschlag von TV-Philosoph Richard David Precht nicht befolgt. Er sagte am 11.3.: ‚Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung, aber auch die Pflicht zur Klugheit einzusehen, wann man sich zu ergeben hat.‘“ (Bild, 11.9.22)

Gemäß demselben Prinzip, dass der Erfolg Recht gibt, hat da ein professioneller Denker den für zu schwach gehaltenen Ukrainern das Recht auf Sieg abgesprochen. So einer blamiert sich nun nicht nur als prognostische Nullnummer, sondern allemal auch moralisch: nicht einmal bloß als Pazifist, der kein sinnloses Blut sehen kann, sondern damit als „Defätist“, der nicht dem Frieden, sondern nur dem Bösen zum Durchbruch verhilft.

Nun ist glücklicherweise nicht auf Precht, sondern auf mächtigere Instanzen gehört worden. Und bei einem so stolzen Ergebnis kann nicht genug beteuert werden, dass das auch und gerade auf unser Konto geht, ohne übrigens auf das Narrativ von ukrainischen Underdogs, die einen übermächtigen russischen Goliath erschlagen haben, verzichten zu müssen: „Aufklärung, Strategie, Waffen: So viel NATO steckt im Ukraine-Erfolg!“ (Bild, 10.9.22)

Was jetzt daraus für Deutschland folgt, ist zumindest für das Gros der deutschen Öffentlichkeit eindeutig:

„Die Gegenoffensive der Ukraine im Süden könnte den Krieg fundamental verändern. Damit sie Erfolg hat, sollte Olaf Scholz endlich schwere Waffen liefern. Deutschland muss Kiew jetzt helfen, Putin in Cherson zu besiegen. Wo sonst, wenn nicht in der Ukraine, werden deutsche Waffen benötigt? Und wenn nicht jetzt, wann dann?“ (Der Spiegel-Leitartikel, Maximilian Popp, 2.9.22)
„Mit den militärischen Erfolgen der Ukraine wächst auch der Druck auf Deutschland, mehr und schneller Waffen zu liefern. Das wäre auch in deutschem Interesse... Wenn Deutschland will, dass dieser Freiheitskampf erfolgreich bleibt, dann muss es jetzt schneller schweres Gerät liefern. Und eben auch: Kampfpanzer.“ (Deutschlandfunk-Hauptstadtstudio, Kai Küstner, 12.9.22)

Denn nicht nur die ukrainischen Opfer, sondern auch die deutschen Beiträge dazu lohnen sich jetzt. Dass das aber überhaupt nicht so eindeutig ist; dass die Aussicht auf einen eskalierenden Waffengang – erst recht gegen einen atomar bewaffneten Gegner – nicht nur auf Begeisterung stößt, solange auch nur ein Funken Materialismus im geistig zu betreuenden Volk übrig bleibt: das wissen die Profis der Öffentlichkeit am allerbesten – so gut, dass sie die erwartbaren Sorgen gleich vorwegnehmen:

„Mit ‚Kriegstreiberei‘ haben die nun aus der Ampelkoalition selbst wieder unüberhörbar laut werdenden Waffenforderungen nichts zu tun: Verhandeln wird Russlands Präsident Putin erst dann und nur dann, wenn er militärisch keine Erfolgsaussichten mehr sieht. So absurd es für manche Ohren klingen mag: Wer Frieden will, muss jetzt Waffen liefern!“ (Deutschlandfunk-Hauptstadtstudio, Kai Küstner, 12.9.22)
„Die derzeitig verfolgte Strategie ist offenkundig die richtige, Putins Mobilmachung bestätigt das. In Deutschland wird es nun darauf ankommen, Kurs zu halten, trotz der Widerstände, die zu erwarten sind. Je härter der kommende Winter wird, desto lauter werden die Rufe sein, die Ukraine Ukraine sein zu lassen, und wieder mehr an das Wohl des eigenen Volkes zu denken. Aufgabe der Regierenden wird es dann sein, schlüssig zu erklären, warum das eine vom anderen in der aktuellen, giftigen Welt nicht zu trennen ist... Die dringlichste Frage des Augenblicks lautet: Wie verschwindet das Gift des Krieges wieder aus dem Kreislauf der Welt? Die Antwort ist überraschenderweise recht einfach. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, wie es geht. Wo die ukrainische Armee, ausgestattet mit westlichen Waffen, die russischen Invasoren vertreibt, zieht ein prekärer Friede ein. Der Wiederaufbau beginnt, die Ukrainerinnen und Ukrainer, offenkundig glücklich über die Befreiung machen sich auf, in ein normales Alltagsleben zurückzukehren.“ (Der Spiegel-Leitartikel, Ulrich Fichtner, 24.9.22)

Die Berufung auf die Unwidersprechlichkeit der hohen Werte, denen der Kriegsfortschritt der Ukraine dient; die Beschwörung des nationalen Interesses, das nur mit einem Sieg der Ukrainer vorankommt, also die Kosten des Kriegs grundsätzlich rechtfertigt – beides wird auch weiterhin zum Instrumentarium der Pflegekräfte der nationalen Kriegsmoral gehören. Darauf verlassen mögen sie sich aber auch nicht. Sie kehren zum nackten Prinzip von Krieg und Frieden zurück, welches besagt: Frieden ist eben nicht die Abwesenheit kriegerischer Gewalt, sondern ein für allemal die Folge ihrer erfolgreichen Durchsetzung. Ein Frieden ohne Sieg ist also keiner – und Frieden soll es schon sein, oder? Man sieht doch: Wo gesiegt wurde, wird wieder halbwegs friedlich gelebt.

Natürlich gibt es auch Bedenken, nämlich sehr kongeniale:

„Hört auf, über Waffen zu streiten! Der deutsche Streit über Waffenlieferungen ist ermüdend, irreführend, verengt den Blick. Denn es wird beides gebraucht: Waffen und mehr diplomatische Anstrengung... Wer die Debatte verfolgt, könnte in den letzten Tagen den Eindruck bekommen haben, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland längst gewonnen hätte, würde nicht die störrische, zögerliche Bundesregierung die Unterstützung des gepeinigten Landes verweigern. So ein Quatsch! ... So richtig begründen können die Befürworter ihre These, dass mehr Waffen automatisch zu schnellerem Frieden führen, nicht... Nach allem, was man über Putin weiß, ist es schwer vorzustellen, dass er seine Niederlage eingesteht und kapituliert... Je länger der Krieg läuft, desto mehr Menschen sterben, auf beiden Seiten. Die Todeszahlen: rund 5000 ukrainische Zivilisten, 9000 ukrainische Soldaten... Auf der russischen Seite sollen über 45 000 Soldaten ums Leben gekommen sein. Was für eine Verschwendung von Leben! Es muss doch alles getan werden, damit man sich nicht an den Krieg gewöhnt, damit er beendet wird. Und dieses ‚alles‘ können doch nicht nur Panzer sein.“ (Der Spiegel, Sabine Rennefanz, 15.9.22)

Bei ihrem Blick auf die Tatsachen vor Ort entdeckt die Frau im Unterschied zur Mehrheitsmeinung keinen Anlass zur Siegesgewissheit, erst recht nicht bei den Deutschen. Und darum lehnt sie auch die vorweggenommene Siegesmoral als unpassende moralische Selbstgerechtigkeit ab, die über die Opfer hinweggeht, die der Krieg immer weiter kostet, ohne dass ein Sieg über Russland absehbar ist. Das ist zeitgemäßer Humanismus: Die Sorge, der grauenvolle Krieg könnte zur gewohnten Realität geraten, verlangt einen ganzheitlichen Ansatz für ein erfolgreiches Ende. Sonst verliert man womöglich auch den Glauben an die friedensstiftende Kraft schwerer Waffen.