Deutschland 1991
Erfolge und Drangsale einer Nation Eine Gegendarstellung

Elemente der politischen Kultur, wie „Wiedervereinigung“, „Europa“, „Hilfe für Russland“ und die „Ausländerfrage“ und ihr nationalistischer Kern: sie liefern nur gute Gründe, sich mit den Zielen der Politik einverstanden zu erklären. Deutsche Einheit eine Frage des Geldes, das dort nicht verdient wird und die deshalb auf das Lohnniveau drückt. Europäische Einheit, durch die „das Gewicht Deutschlands steigt“, obwohl doch „die deutsche Einheit im Rahmen der europäischen Einigung stattfindet“, und die Lösung der Ausländerfrage durch deren Heimschaffung.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Deutschland 1991
Erfolge und Drangsale einer Nation Eine Gegendarstellung

Daß sich ganz viel und Entscheidendes geändert hat, das haben die guten Deutschen beim Einstieg ins letzte Jahrzehnt gleich gemerkt. Daran gewöhnt, den Zielsetzungen ihrer politischen Führung zu entnehmen, worauf es auch ihnen anzukommen hat, befassen sich mündige Bürger unter Anleitung ihrer Medien mit den „Herausforderungen“, denen sich die „Verantwortlichen“ der Nation gegenübersehen. Und da sich die Tagesordnung der inzwischen gesamtdeutschen Politik seit einem Jahr sehr gründlich gewandelt hat, haben sich auch die politisierten Deutschen beim Politisieren mit umgestellt.

Elemente der politischen Kultur..

Ob sie dabei auch gemerkt haben, was sich alles geändert hat – an der Weltlage, an den deutschen Rechten und Pflichten in ihr –, ist zu bezweifeln. Denn besagte Umstellung wurde und wird nach einem Muster vollzogen, das erst einmal ein grundsätzliches Verständnis für die Projekte der Nation verrät. In der öffentlichen Diskussion vom Leitartikel bis zum Leserbrief, von der Talk-Show bis zur Volksbefragung werden diese Projekte unter den Titeln verhandelt und gutgeheißen, die ihnen eine Bundesregierung einmal zu verleihen geruhte. Diese Titel taugen zwar nicht als solide Auskunft über die Interessen, welche die Bundesrepublik in der Staatenwelt anmeldet; dennoch pflegt ihnen die politisierende Öffentlichkeit immerzu eines zu entnehmen: daß sie die unwidersprechlichen, „historisch“ fälligen Missionen guter deutscher Politik bezeichnen. Wenn aus Bonn-Berlin etwas im Namen der Wiedervereinigung unternommen wird, dann geht das Bestreben allemal in Ordnung. Wenn der Ruf nach Europa ertönt, dann begeben sich die Regierungen vielleicht auf einen schwierigen, auf jeden Fall aber auf den richtigen Weg. Wenn anläßlich einer herbstlichen Haushaltsdebatte die etwas aus dem gewohnten Rahmen fallende Neuverschuldung damit begründet wird, daß die Bundesrepublik schließlich mit ihrem Kredit „die Verbreitung der Demokratie in ganz Europa“, namentlich in der östlichen Diaspora, finanziere, dann verfallen Linke wie Rechte im Lande in begeistertes Nicken. Wenn das Asylanten- und Ausländerproblem ausgerufen wird, dann empfinden faschistische wie multikulturelle Gemüter den immensen Handlungsbedarf der Regierung nach und eilen ihm mit lauter gut gemeinten Vorschlägen voraus. Und wenn Hilfe für die Sowjetunion bzw. deren Zerfallsprodukte angesagt ist – nicht mehr wg. Gorbi, sondern wegen der Risiken der aus Schulden und Atomwaffen bestehenden Konkursmasse –, so ist die Zustimmung überhaupt nicht mehr zu bremsen. Da tut es dem Schein von weltpolitischer Wohltätigkeit überhaupt keinen Abbruch, wenn bei „unseren“ Rechten gegenüber dem Osten mit Geld und Gewalt die beiden Grundwerte zur Sprache kommen, von denen in den Sprachregelungen der Nation ansonsten so wenig zu vernehmen ist. Ebenso wenig leidet der gute Ruf deutscher Politik, die so selbst- wie rückhaltlos den Kurs auf Marktwirtschaft und Demokratie im ehemaligen Ostblock unterstützt, darunter, daß dieser Kurs den lieben Menschen vor Ort gar nicht gut bekommt.

Das ist eben der Vorteil von solchen Titeln in einer funktionierenden Demokratie. Alles, was die politische Führung auf die Tagesordnung setzt, kommt in Gestalt einer unabweisbaren Aufgabe daher; diktiert von den Umständen, in Deutschland auch vornehm mit „Geschichte“ verdolmetscht, sind die Vorhaben der Nation gleichsam Dienste am anstehenden Fortschritt. Und die maßgeblichen Herrschaften, die sich dem Vollzug der an sie gestellten Forderungen widmen, vollbringen gute Werke, die den unter ihrer Herrschaft Versammelten zum Nutzen gereichen und nie schaden. Und wenn dann nach und nach und während heftiger Befürwortung der schönen Projekte, nach dem allgemeinen Zusammenschluß zum nationalen „Wir“ doch mancher Schaden eintritt; wenn dann doch der Verlauf des eigentlich gebilligten Programms gewisse häßliche Seiten offenbart und „Betroffenheit“ hervorruft, dann schlägt die Stunde demokratischer Kritik. Diese zeichnet sich durch konstruktive Nachsicht aus, indem sie das Hobeln ausdrücklich gutheißt, um das Recht zu erlangen, anläßlich der Späne enttäuscht sein zu dürfen. So daß mit der Auskunft, die Späne ließen sich nicht vermeiden, wären aber den Regierenden auch schon unangenehm aufgefallen, die Sache ihr Bewenden hat. Diese subtilen Leistungen des politischen Verstandes werden allen kleinen und großen Staatsaffären gerecht.

Die „Wiedervereinigung“ war und ist für groß und klein eine wunderbare Sache, aber ihre „Folgen“ geben Anlaß zu allerlei berechtigter Unzufriedenheit. Bei denen, die offensichtlich wenig bis nichts davon haben. Bei anderen, die deswegen unter dem eklatanten Verstoß gegen sämtliche Gleichheitsgrundsätze leiden. Bei wieder anderen, die zu viel und zu schnelle Gleichbehandlung der Zonis für eine Gefahr halten, weil Wirtschaft und so. Bei noch anderen, die das Wort „Wiedervereinigung“ gleich mit Eintracht verwechseln und eine Idylle des Zusammenlebens vermissen, in der die identische Sturzzufriedenheit alle schwarz-rot-gold umschlungenen Millionen ein für allemal ergreift. Mit der konsequenten Trennung der mißbilligten Folgen von der geheiligten Sache, die in ihrer geballten Schönheit einfach nicht der Grund dafür sein kann, daß sich nach den überkommenen Maßstäben der Gerechtigkeit eher betrübliche Dinge ereignen, bleiben die kritischen Geister ihrer Nation treu. Die rechnet allen aus dem Munde ihrer Führer die „Kosten der Einheit“ vor, organisiert als gesetzgebende Gewalt flugs alle nötigen Opfer für das Jahrhundertwerk und wirbt für eine optimistische Grundhaltung.

„Europa“ ist – schon wegen der unseligen Tradition, die mit kriegerischer Entzweiung zwischen Staaten und Völkern nicht gegeizt hat – ein nicht minder ehrenvolles Projekt. Niemand hat deswegen in seiner Eigenschaft als guter Deutscher der 90er Jahre etwas dagegen. Zumal er als Banker und Bauer, Dichter und Verbraucher außer von seiner Nation auch davon lebt, daß sie ihn in immer mehr Beziehungen mit dem Ausland verwickelt. Allerdings müssen die Befürworter des Gemeinschaftswerks, ganz gleich welchem Stand sie angehören, auch häufig feststellen, daß mit dem Streben ihres Staates nach Europa Nachteile verbunden sind. Dann hebt ein entschiedenes „So nicht!“ an, mit dem Bauern und Biertrinker ihre Vorstellung von einem wohnlichen Kontinent zum besten geben, auf dem nichts auf ihre Kosten geht. Die Regierung verspricht umgehend, daß sie sich um Schadensvermeidung bemühen werde – und schiebt die Schuld auf die anderen Nationen, die auch über Sitz und Stimme verfügen. So wissen europageschädigte Deutsche auf Anhieb, daß sie nicht wegen „Europa“ zu kurz kommen, sondern nur wegen der Rücksichtslosigkeit anderer Nationalisten; ihre eigene nationale Vertretung will immer nur das Beste für sie, wenn sie in Brüssel auf die Fertigstellung Europas dringt. Jeder Gedanke daran, daß es beim Zusammenschluß von nationalen Ökonomien, Währungen und politischen Mächten vielleicht um etwas anderes gehen könnte, ist verflogen. Und mit der Bild-Zeitung geben subalterne Nationalisten ihren Mandatsträgern die Bitte mit auf den Weg, „unsere schöne Mark“ nicht zu verschenken.

Daß sich das wiedervereinigte Deutschland im europäischen Rahmen heftig um die Verpflegung der Völkerschaften vor und hinter dem Ural kümmert, ist nicht nur der erklärte Wille der Bundesregierung. „Hilfe für Rußland“ hat als deutsche Initiative auch – nach einigen eindrucksvollen Kampagnen des nationalen Presse-, Funk- und Fernsehwesens – die Menschen draußen im Lande ergriffen. Die Untertanen des östlichen Unrechtsregimes, vor kurzem noch als ideale Manövriermasse und als leidensfähiges Kanonenfutter des Hauptfeindes geschmäht, sind zum Objekt westlicher Caritas aufgestiegen. Deutsche Bürger haben ihrem Feindbild, dem Iwan, das für tätiges Mitleid erforderliche Prädikat „würdig und bedürftig“ zuerkannt. Das Gutachten, das diese Wende erlaubt und gebietet, kommt täglich aus allen verfügbaren Volksempfängern – und seine durchschlagende Wirkung offenbart, daß die Glaubwürdigkeit von Titeln deutscher Politik in keiner Weise zu erschüttern ist. Schon gleich gar nicht durch regierungsamtliche Erläuterungen, die lauter Berechnungen darlegen, welche auf die Losung „Hilfe für Deutschland“ hinauslaufen. Die „Hilfe für Rußland“ war erst einmal angesagt, um den großen Reformer Gorbatschow zu unterstützen. Der hatte seine Machtbefugnisse dazu verwendet, eine „Zeit der Wirren“ herbeizuregieren, die er „Demokratie“ und „geregelte Marktwirtschaft“ zu nennen beliebte. Das hat ihm in der Politik wie von seiten des Volkes viel Gegnerschaft eingebracht. Während das Volk, zunächst beeindruckt von der Gelegenheit zum Anmelden von noch mehr Beschwerden, schnell in den Genuß von Not und Elend kam und die „Perestrojka“ zum Teufel wünschte, sahen die politischen Konkurrenten in der Staatspartei und den Provinzen die Sache anders. Nämlich als Gelegenheit, den eröffneten Streit um die beste Reform in einen ordentlichen Kampf um die Macht zu überführen. Und das hielten die Führungskräfte des neuen Deutschland für gefährlich. Weit davon entfernt, den Völkern der Sowjetunion das Recht zuzusprechen, einen „neuen Denker“ davonzujagen, der immer mehr Macht auf sich konzentrierte und damit die Lebensbedingungen des ohnehin nicht genußfreudig angelegten Sowjetsystems für Millionen ruinierte, dachten deutsche Politiker in aller Deutlichkeit an Deutschland, wenn sie an Rußland dachten. Sie hatten nämlich gute Erfahrungen mit Gorbatschow gemacht, denn die außenpolitische Abteilung seines Zersetzungswerks bestand in einem gigantischen Rückzug; in einem Vorgehen, das in Deutschland und anderswo nie als gute Politik gilt, weil es als Verzichtspolitik gegeißelt zu werden pflegt. Der Mann, der „das Ende der nach außen gerichteten sowjetischen Machtansprüche“ verkörpert, der „unsere Wiedervereinigung“ ermöglichte, erschien der Garant dafür, daß sein Staat, seine „Supermacht“ die deutschen Interessen in aller Welt, vornehmlich diejenigen am Ostblock nicht mehr behindert. So kamen die perestrojkageschädigten sowjetischen Massen in Deutschland zu dem zweifelhaften Ruf, mit ihrer Unzufriedenheit verführbar und brauchbar zu sein – für russische Politiker, die „das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen“. Und diese Gefahr sollte durch deutsche Care-Pakete laut offizieller Lesart abgewendet werden.

Später wurde auch dem Kanzler Kohl, der wie sein Freund Michail alles aus der Geschichte, also nichts lernt, klar, wofür die Völkerscharen dahinten tatsächlich brauchbar sind. Statt des Rückschritts zum Sozialismus befleißigen sie sich der politischen Kultur, die allenthalben auf dem Globus intakt geblieben ist. Sie vollenden die Zersetzung der Sowjetunion durch hemmungslosen Nationalismus. Was die politisch zivilisierten Deutschen schon wieder zu Berechnungen veranlaßt, in denen eine Neuauflage der „Hilfe für Rußland“ ihren Platz hat. Die Parteinahme für Gorbi weicht der Sorge um Stabilität. Der Mohr, weil Soll erfüllt und zu weiteren Diensten daheim und auswärts nicht in der Lage, kriegt zusätzlich zum Nobelpreis den Titel „Ehrendeutscher“; diese Kür eines Ausländers, der da die höchste Daseinsform menschlichen Lebens erreicht hat, ist sensationell in einer Saison, die in anderem Zusammenhang, nach der Meinung deutscher Politiker, dem Nationalismus – anderer – keine Chance mehr läßt. Die neuen Herren in der Sowjetunion werden durchgemustert; danach, was sie – natürlich – Deutschland zu bieten haben oder versagen. Der vorläufige Befund fällt erfreulich undogmatisch aus. Erst einmal spielt weder die Prüfung von Jelzin, Krawtschuk und anderen eine Rolle, die mit der Frage nach dem Einhalten des demokratischen Knigge ihren Vorgängern so schlechte Noten eingebracht hat; noch hält man es für angebracht, im Geiste der KSZE die Unverletzlichkeit der Grenzen daheim und anderswo zu betonen. Es werden schließlich neue abgesteckt, und außer dem Willen und der Fähigkeit, der deutschen Sache Genüge zu tun, weiß in Bonn niemand ein gescheites Kriterium für den Umgang mit den neuen Souveränen. Wenn sie da nicht spuren, sind sie nämlich wieder alte Machtpolitiker oder neue Zaren. Die, so hat eine blitzgescheite Analyse ergeben, sind eine einzige Herausforderung für deutsches Sicherheitsdenken. Erstens haben sie Schulden, vornehmlich bei „uns“; zweitens brauchen sie Kredit von „uns“. Drittens haben sie gewaltige Arsenale an Waffen, was „uns“ beunruhigt. Viertens haben sie ein Volk, das gerade mit ihnen einen neuen nationalen Aufbruch startet. Fünftens hat das Volk nichts zu beißen und könnte aus Enttäuschung einer Führung den Vorzug geben, die sich aufs Fordern statt aufs Betteln verlegt. Und das heißt folgerichtig „Hilfe für Rußland“, weil so etwas die Chance bietet, sich mit den Herren ins Benehmen zu setzen, auch wenn die Ernährung der aufgeregten Knechte durch ein paar Tonnen Pakete kaum zu gewährleisten ist. Die deutsche Zuständigkeit steht außer Frage, weil „Gorbatschows Initiativen die Welt sicherer für alle gemacht haben“ (Weizsäcker) und dafür jetzt ein „explosives Gemisch“ (Porzner vom Geheimdienst) der Entsorgung bedarf.

Auch in einem anderen Fall von Entsorgung mangelt es nicht an kleingedruckten Belehrungen, die Aufschluß geben über die Bedeutung der fetten Überschrift. Und auch in diesem Kapitel des politischen Fortschritts wollen sich die engagierten Deutschen nicht kundig machen, weil sie ihr Pro und Contra einfach und schlicht am Motto entlang austragen, das in Bonn ausgegeben wurde. Es heißt „Das Ausländerproblem“ und beflügelt geistige Führer und Geführte zu launigen Bekenntnissen. Als ginge es um eine Volksabstimmung darüber, ob Ausländer auch Menschen seien, legen gute Deutsche aus allen Einkommensklassen und Bildungsstufen Zeugnis ab. Einer Minderheit, die Hand anlegt und auf Fremde losgeht, schmettern sie ihre Entschlossenheit entgegen, auf unsere ausländischen Mitbürger zuzugehen. Bundespräsidenten, Pädagogen und notorische Leserbriefschreiber warnen vor Vorurteilen und suchen sie zu entkräften. Außer dem matten Hinweis, da seien doch immerhin Menschen unterwegs, hat die Geschichte von den geborenen Müllmännern und idealen Hilfsarbeitern Konjunktur. Der Nachweis der in der bundesrepublikanischen Wirtschaftsgeschichte offenkundigen Brauchbarkeit von Ausländern für die Nation scheint als herrliches Argument angesehen zu werden – dafür, daß die Flüchtlinge aus aller Welt Gnade finden in den Augen der Herren, die offenbar die ganze Nation bevölkern. Dieselben, die ihren Humanismus schamlos als nationalistische Berechnung enttarnen, gestehen dann auch gleich noch ihr Verständnis ein – für Leute, die es andersherum sehen; die als Inhaber eines deutschen Ausweises unbrauchbar sind für das marktwirtschaftliche Bruttosozialprodukt, also zu kurz kommen und meinen, das hätten sie den ausländischen Kostgängern des Bundeshaushalts zu verdanken. Damit sind sie dann auch schon wieder weg von ihrem rührenden Kampf gegen Vorurteile, der die ganze Angelegenheit in eine Frage der privaten Einstellung umlügt. Sie kommen zur Sache, die im Urteil des vorbildlichen Staates deutscher Nation liegt. Dem geben sie dann recht und verstehen den mit dem Titel „Ausländerfrage“ angemeldeten Handlungsbedarf ganz heftig. Die gar nicht seltenen Übergriffe auf Ausländer taugen schließlich als Vorkommnisse, auf die sich die Politik beruft, wenn sie zum zweckmäßigen Umgang mit dem menschlichen Abfall schreitet, der in der Weltwirtschaft so anfällt, wenn „Exportnationen“ den Reichtum importieren.

Auf der Strecke bleibt die einzig senkrechte Frage: Wer ist wann und wo – und vor allem wofür zu viel? Und die Nichtbefassung mit dieser Frage bedeutet wie bei den anderen Punkten, die von der Regierung auf die Tagesordnung gesetzt worden sind, nicht nur, daß konsequent an der zur Debatte stehenden Sache vorbeigeredet wird.

Und dennoch: Der Vorwurf, daß sich da eine ganze Nation täuscht, wenn sie sich an den Titeln zu schaffen macht, die an der Bonner Meinungsbörse ausgegeben werden, ist verfehlt. Denn eine Gemeinsamkeit ist an den landläufigen Argumenten zu den Projekten des neuen Deutschland nicht zu übersehen: Als Bemühung, sich und anderen die Ziele der Politik klarzumachen, die Gründe für die getroffenen Entscheidungen zu ermitteln, mögen sie wenig taugen – gute Gründe, sich mit den Zielen der Politik einverstanden zu erklären, liefern sie dagegen schon. Auch und gerade im kritisch wahrgenommenen Sorgerecht um das Gelingen, in den Zweifeln daran, ob denn auch wirklich alle Verantwortlichen unser Bestes getan haben, stehen sämtliche Parteien des nationalen Publikums unerschütterlich zu den Werken der Nation, denen die jeweilige Führung einvernehmlich mit der Opposition die alle verpflichtenden Namen gegeben hat. Aus den harten Berechnungen der Staatsgewalt werden so lauter Aufgaben, denen einfach niemand seinen Zuspruch versagt. Es sei denn, er denkt nicht „politisch“.

… und ihr nationalistischer Kern

Wie leistungsfähig das politische Denken, die Befassung mit dem Wohl und Wehe der Nation aus dem Geiste der Anteilnahme ist, zeigt sich immer dann, wenn es die betrübliche Entdeckung macht, daß die Politik scheitert. Diese Entdeckung findet häufig statt – auch ohne daß die Regierenden tatsächlich in Verlegenheit geraten sind. Der gefestigte Glaube an Dienste, die der Staatsführung einbeschrieben sein sollen, registriert eben uneingelöste Versprechen als Versagen der Amtsträger. Wer die Bereitschaft seines Staates, für den Frieden einzutreten, schätzt, erschrickt schon einmal über ein paar Waffenexporte. Wem das marktwirtschaftliche Wachstum als Unterpfand seines persönlichen Wohlstands oder des respektablen Lebensstandards aller einleuchtet, dem verhilft die gegenteilige Erfahrung oder die Arbeitslosenstatistik zu ähnlichen Zweifeln. Zu Zweifeln daran, ob die Führung ihre Sache gut gemacht hat, ob sie ihre Ziele verwirklichen konnte – denn in diesem Fall stünde es ja bestens um die eigenen Anliegen der Bürger.

Für den Fortgang des „politischen Lebens“, das in der demokratischen Öffentlichkeit stattfindet, für die weitere Ausübung der politischen Macht haben solche Illusionen dieselbe Bedeutung wie tatsächliche Mißerfolge, die dann – im Deutschland der 90er Jahre selten genug – die amtierende Elite selbst vermeldet. Ob es sich um ein vermeintliches oder wirkliches Versagen der Politik handelt, ist für die Konsequenzen, die daraus gezogen werden, völlig gleichgültig. Stets rechnen Persönlichkeiten aus den maßgeblichen Rängen der Nation dem Publikum vor, daß die Anträge auf gelungene Politik in Ordnung gehen. Daß sich ein erfolgreiches Regieren gehört und in dieser Meinung sämtliche Kritiker recht haben. Und nicht nur das – sie liegen mit ihrer Auffassung voll und ganz auf der Linie der Parteien und Persönlichkeiten, die die Macht ausüben: Denn die sind von Berufs wegen für einen effektiven Gebrauch ihrer Macht. Völlig zurecht entnehmen sie – auch und gerade wenn sie untereinander konkurrieren – allen Petitionen, Anträgen, Komplimenten und Einwänden haargenau dasselbe. Ob nun Unternehmer eine Außenhandelsbeschränkung loswerden wollen, ob Studenten mehr Stipendien und Studienplätze erbitten, ob Arbeiter Lohn, weniger Steuern, Beschäftigung und soziale Sicherheit fordern; ob Jungfilmer Subventionen verlangen oder Banken einen anderen Diskontsatz, ob Naturfreunde einen verschärften Krötenschutz oder Zonis eine gerechte Behandlung einklagen – als Adressat all dieser Eingaben wissen sich die Inhaber der Staatsgewalt in ihrer Zuständigkeit bestätigt. Und wenn sie auch immer eine ganze Reihe Anträge abschlägig bescheiden: Für unzulässig, weil außerhalb ihrer Zuständigkeit und gar nicht der staatlichen Tagesordnung entsprechend, erklären sie im Grunde nichts.

Vielmehr erläutern sie allen, die sie beschränken, die Schranken der Politik, denen sie bei ihren Entscheidungen unterliegen. Zur Verwirklichung ihrer Vorhaben und Versprechungen – so ihre Auskunft – seien sie aufgrund fehlender Mittel nicht in der Lage. Und mit der rührenden Schilderung ihrer Ohnmacht kommen demokratische Machthaber nicht nur bei ihren Parteigängern, sondern auch bei allen Beschwerdeführern und Oppositionellen gut an. Denn das ist es ja, was guten Deutschen vor allem mißfällt, wenn sie der Meinung sind, ihre Staatslenker hätten „nicht gehandelt“, seien „unfähig“, etwas zu tun und die „Probleme“ zu erkennen, die mit einem Begehren angesprochen sind; wenn behauptet wird, Politiker hätten etwas Wichtiges unterlassen und ließen die nötige Tatkraft vermissen: Der – objektiven oder selbst verschuldeten – Ohnmacht derer, die die Macht ausüben, muß schleunigst ein Ende bereitet werden. Eine gute Regierung läßt sich nicht beschränken – die fehlenden Mittel beschafft sie sich.

Diese Elementarform des politischen Raisonnierens wird in der besten aller Staatsformen als die hohe Kunst der Kritik angesehen. Dies wohl deshalb, weil sie nicht entzweit, sondern eint – denn im Bedürfnis, der Staat mit seinen hoheitlichen, durch demokratische Ermächtigung erworbenen Befugnissen möge sich bei seinen Werken durch nichts und niemanden behindern lassen, sind selbst Leute, die etwas dagegen haben, schwer dafür. Diejenigen, die zu kurz kommen, werden mit den im System von Demokratie und Marktwirtschaft prächtig Bedienten völlig handelseinig. Sie vergessen schließlich alle auf die unterschiedlichen und gegensätzlichen Interessen, die sie von ihrem Stand aus erfüllt haben wollen. Denn daß ihr Staat die Stärke besitzen muß, sie notfalls erst noch zu erwerben hat, die zur Erfüllung seiner – angeblichen oder tatsächlichen – Aufgaben erforderlich ist, wird da zum totalitären Konsens aller Demokraten. Auf dieses hemmungslose Bekenntnis zum Nationalismus verlegen sich oben und unten, arm und reich, anspruchsvoll Fordernde und enttäuscht Bittende. Denn daran hat sich nichts geändert: Die Deutschen sind bereit, ohne Rücksicht auf ihre gesellschaftliche Stellung – da unterscheiden sie sich ein bißchen – der Sache ihrer Nation zu dienen. Das neue Deutschland der 90er Jahre kann sich bei allen seinen Unternehmungen darauf verlassen!

*

Diese Nation pflegt einen ausgeprägten Personenkult. Diese Veranstaltung beruht darauf, daß die wuchtige Frage aufgeworfen wird, ob das Personal der Macht nicht mit seinen mehr oder minder entwickelten Fähigkeiten zur Behinderung der korrekten Ausübung von Macht wird. Böse Zungen der nationalistischen Szene gehen bisweilen soweit, den Chef der Regierung als behindert zu charakterisieren. Sie bringen ihren Wunsch nach einem Staat, der sich in seiner souveränen Durchführung seines Programms weder von der ausländischen Konkurrenz noch von einheimischen Hindernissen beeindrucken läßt, in dem Ruf nach echten Führerpersönlichkeiten zum Ausdruck. Sie verlangen sogar ausdrücklich nach Geist bei der Verwaltung der Staatsgewalt – und sie messen während des immerwährenden Wahlkampfes sämtliche Kandidaten an diesem Maßstab. Der hat natürlich nichts mit dem Faschismus zu tun, aber auch nichts mit der antiken Idee des Philosophenkönigtums. Er ist genuin demokratisch und läßt alle harten Urteile über den Kanzler sofort beiseite, wenn dessen Politik – ganz ohne irgendwelche Genesungserscheinungen am Geist des Mannes – in Sachen Machterwerb und Mittelbeschaffung erfolgreich ist.

In dieser Nation wird nicht darum gestritten, wer etwas braucht und kriegt. Wirtschafts- und soziale Interessen bewegen sie zwar dauernd, aber immer nur in der Form, die der Grundrechnungsart von Nationalisten entspringt: Was kann sich der Staat in seiner Lage leisten? Wieviel Förderung welcher Interessen verträgt er? Die Ansprüche, die mit dem Regierungsprogramm und dem dazu gehörigen Haushalt in die Welt gesetzt werden, gelten als Diktat, dem die Herren der Nation erstens sich und zweitens alle anderen unterwerfen müssen. Merkwürdigerweise kommen bei dieser am Allgemeinwohl orientierten Nutzenabwägung stets Entscheidungen heraus, die sich schlicht mit Kapitalismus verwechseln lassen. Aber solche Ähnlichkeiten sind rein zufällig und das Werk von Sachzwängen, die die Politik nicht in Kraft setzt, weil sie ihnen gehorcht.

Diese Nation bringt es auch fertig, dasselbe auf dem Gebiet des inneren und internationalen Rechts zu vollstrecken, was sie in ökonomischen Dingen zur Routine gemacht hat. Sie erteilt und vorenthält Rechte streng nach den Maßstäben, die sie ihren Befürwortern und Kritikern ablauscht. Was sie nicht will, kann sie sich nicht leisten, also verwehrt sie es unter der Beteuerung, ihr sei es verwehrt. Und was sie sich leistet, ist ihre heilige Pflicht – die meist darin besteht, nicht in Ohnmacht verharren zu dürfen. Zonis, Ausländer, der Steuerzahler und ganze Nationen kriegen das zu spüren.

Diese Nation erfüllt also durchaus die Wünsche aller Nationalisten. Sie betreibt höchst verantwortlich das Geschäft der Mittelbeschaffung. Und sie macht, in ihrem Inneren durch nichts behindert, weil dazu aufgefordert, aus jedem Zweifel an ihren Leistungen einen Anspruch: auf die Mittel, die sie hat und mehren will, von denen sie lebt; und die das einzige sind, worum es ihr zu tun ist: Geld und Gewalt. Ihre Erfolge dabei machen die Veränderung aus, von der alle Welt stolz Notiz nimmt oder in neidvollem Respekt beeindruckt ist.

Eine historische Großtat und ihre „Schattenseiten“: Deutsche Einheit

Nach der sagenhaften Öffnung des Brandenburger Tores war eine kurze Zeitlang heftiges Frohlocken angesagt. Die Freude – bei den einen über die neue Freiheit, bei anderen über die erfüllte Präambel des Grundgesetzes – wich dann aber schnell der Verhandlung ernster Dinge. Von Woche zu Woche wurde deutlicher, daß es weder um „wieder“ noch um „Vereinigung“ geht und schon gleich gar nicht ums „Zusammenwachsen“. Das hat die Deutschen jedoch nicht daran gehindert, so zu tun, als ginge es haargenau darum – und andauernd die aufgeregte Frage zu wälzen, ob es gut geht und die Regierung das Einigungswerk zu einem guten, für alle erfreulichen Ende bringt. Der Kanzler selbst hat bis heute diese Fragen nicht zurückgewiesen. Vielmehr darauf bestanden, daß er es schafft – vorausgesetzt, man läßt ihn machen. Er hat sogar eingestanden, daß er und seine Mannschaft dabei ziemlich schwierige Probleme zu lösen haben; aber auch versprochen, daß er energisch ans Werk gehen will. Diesem Optimismus setzte die Opposition einen scharfen Protest entgegen. Sie gab sich pessimistisch, behauptete, die Regierung täusche das Volk, insbesondere das neue, weil sie sich täusche über die enorme Leistung, welche das Gemeinwesen zu erbringen hat.

Damit war die nationale Legende fertig. Der Staat hatte den Part eines Dieners übernommen, der sich um das Gelingen der Wiedervereinigung kümmert; diese Pflicht war ihm ganz ohne seine Zutun – nämlich aufgrund eines heftigen Volksgemurmels in der DDR – zugefallen. Und nun mußte er sich bewähren und nach Mitteln und Wegen suchen, um die Vereinigung zu organisieren.

Mit dieser Legende war die politische Führung ermächtigt, alles zu tun, was sie für nötig hielt. Im Namen der Wiedervereinigung brachte sie alle Mittel zum Einsatz, über die sie verfügte. Und wo sie neue bzw. mehr davon für erforderlich hielt, hat sie sich ohne Zaudern versorgt. Die nationale Legende hat das nicht angekratzt, obwohl offenkundig wurde, worum es geht.

Mit einem Male war die Sache mit dem

Geld

akut. Im Wendejahr, im Zuge der Währungsunion, wurde es noch in der kindgemäßen Fassung – das ist die vom Dienst der Nation an ihren neuen Bürgern – zum absoluten Schlager. Politiker und Sparkassenpräsidenten betörten vor laufenden Fernsehkameras aufgeregte DDR-Bürger mit der Botschaft, sie würden ihnen ganz gutes und echtes Geld geben. Das hätten sie dann und könnten in den 5 neuen Zonen der BRD immer mehr davon erwerben. Doch wenig später las sich das Evangelium vom Geld, das in der Zone verdient werden darf, ein wenig anders. Jetzt lautete das Programm, daß an der Zone Geld verdient werden muß.

Dabei hat sich die Regierung zwar nicht zu der Absicht bekannt, sie wolle die Brüder und Schwestern dem Kapitalismus mit all seinen Notwendigkeiten unterwerfen. Getan hat sie es aber, und die Sprachregelung „Einführung der Marktwirtschaft“ ist ja auch ganz gut angekommen. Die Wende in der Frage, wozu die riesige Geldumtausch-Aktion gut sei, haben die politischen Herrschaften streng am Leitfaden der deutschen Legende begründet. Unter dem Titel Kosten der Einheit wurde dem Publikum klargemacht, daß der Dienst an der Einheit prekäre Ausmaße annimmt, so daß dieser Staat ab sofort auf seinen Haushalt zu achten habe. Unter Berufung auf diesen kleinen Notstand hat der schwarz-rot-goldene Souverän die Grundrechnungsarten seiner Staatsraison, Abteilung Wirtschaft, durchgezogen:

– Die Ausstattung der in 5 neuen Ländern übernommenen Staatsmacht, die Zurichtung der neuen Bürger zu Benutzern und Nachfragern von DM, ihre Verwandlung in steuerzahlende und sozialfällige Untertanen der nationalen Kasse – das alles mußte erst einmal finanziert werden. Die Nation in ihrer Eigenschaft als Hüter guten Geldes hat dafür tonnenweise Kreditzettel drucken und rüberschaffen lassen. Sie tat dies im Vertrauen darauf, daß in der bundesrepublikanischen DDR ein fröhliches Marktwirtschaften anhebt; daß dort echt verdientes Geld zur sprichwörtlichen Solidität ihres Haushaltes beiträgt, der im Dauerwachstum der Exportnation seine bleibende Grundlage hat.

Das ist nicht passiert. Die Treuhand-Stelle hat viel zu wenig passende Gelegenheiten für ihre unternehmungslustigen Bürger aufgerissen, die am neuen Bundesgebiet Geld verdienen können. Deshalb wird auch in ihm so wenig verdient.

– Der praktische Schluß, den die Regierung daraus zieht, ist alles andere als Resignation. Sie betätigt sich in ihrem vertrauten Amt als ideeller Gesamtkapitalist, als Garant des nationalen Geschäftserfolgs, dessen Maß und Ziel, die deutsche Mark, sie braucht und schützt: Wenn die guten Deutschen von der DM leben, so haben sie auch für dieses nationale Lebensmittel geradezustehen.

– Die einschlägigen Maßnahmen gehören einerseits in das vertraute Instrumentarium der Wirtschafts- und Sozialpolitik, das im Interesse des Staatshaushaltes und zur Förderung des Wachstums – das sind die privaten Kapitalgewinne, die der Bilanz der Nation nützen – immer zur Anwendung gelangt. Andererseits erhalten sie mit ihrem Anlaß – die deutsche Einheit! – nicht nur ihre aktuelle Legitimation, sondern auch ihre der deutschen Sache gemäße Ausprägung.

Auf den großzügigen Akt des DM-Exports in das neue Inland, der den Einbau des DDR-Personals nicht nur in den nationalen Markt, sondern auch in das westdeutsche Sozialwesen einschließt, folgte die schlichte Kalkulation, wie dieser Einbau sparsamer zu bewerkstelligen ist. Deshalb waren die Entscheidungen, die die Finanzierung von Einkommen durch die Staatskasse herbeiführten, gleich als zeitlich begrenzte Notlösungen getroffen worden. Zu festgelegten Terminen fallen Zonenbürger zigtausendfach aus den anfänglichen Rubriken der Ausbildungs- und Arbeitsförderung heraus; sie bereichern die Arbeitslosenstatistik, deren Finanzierung nicht so kostspielig für den Bonner Haushalt ist. In den Stand von freien Arbeitskräften im Wartestand versetzt, werden sie dafür haftbar gemacht, daß die Geschäftswelt mit ihnen derzeit nichts Rechtes anzustellen weiß. Aber nicht nur auf diese Weise lernen die „Menschen“ in der Statistik-Ost, die immer schön getrennt aufgeführt wird, ihre neue Bestimmung kennen.

Im Zeichen der Wiedervereinigung denkt der gesamtdeutsche Souverän nicht nur an seine Finanzen, die mehr den gesamtgesellschaftlichen Preis der Arbeit betreffen, wie er sich im Soll und Haben der Sozialkassen niederschlägt. Er würdigt auch die Kosten, die angewandte Arbeitskräfte für Unternehmer – natürlich auch für ihn selbst, wo er als Arbeitgeber auftritt – allemal darstellen. In dieser Hinsicht hat er, im nationalen Konsens mit den Gewerkschaften, beschlossen, daß die neuen Bundesbürger für den Einstieg in ihre marktwirtschaftliche Karriere selbst am meisten tun können. Sie müssen, wenn sie beschäftigt werden wollen, erst einmal billig sein. So wurde für Lohnarbeiter mit Sitz in der vormaligen DDR ein Lohnniveau eingeführt, das sich in Prozentzahlen ausdrückt, die einen Vergleich mit dem in der alten BRD üblichen Preis der Arbeit angeben.

Daß besagte Prozentzahl einen Bruchteil ausdrückt, der zwischen der Hälfte und zwei Drittel liegt, wird von Geschäftsleuten und Wirtschaftswissenschaftlern begründet und zwar auf die gleiche Weise wie von Ministern auch. Das vermittelt den in die freie Marktwirtschaft überstellten Leuten einen ersten Eindruck von Objektivität, wie sie in der Demokratie zu Hause ist. Denn von den drei Instanzen, die da die Notwendigkeiten senkrechten Wirtschaftens erläutern, behauptet ja keine, daß niedrige Löhne die Rentabilität des Kapitals steigern. Solche Volksverhetzung, die im Schulungskurs der SED anno 1959 vielleicht noch durchging, muß jetzt einer höheren Einsicht das Feld räumen. Die lautet: Die Löhne ergeben sich aus der Arbeitsproduktivität, und die ist in der Zone einfach zu niedrig. Sie bewegt sich so etwa um die 60% von der in den alten Bundesländern, auch wenn die „Arbeitgeber“ dieselben Produktionsverfahren und Maschinen an die Arbeitsplätze stellen, die sie anderswo auch für rentabel halten. Immerhin wissen aber die Beschäftigten in den neuen Ländern jetzt Bescheid, warum sie so wenig kriegen; und die drei Millionen Arbeitslosen, warum sie keiner beschäftigen will.

– Die im Namen der Einheit ergangenen Direktiven, den Umgang mit Geld betreffend, wollen die Verwalter der Nation zwar verantworten, aber nie als Verfolgung ihrer eigensüchtigen Interessen schlecht machen lassen. Wenn sie die Staatskasse vor unnötigen Belastungen bewahren wollen, weil die Finanzierung der Wiedervereinigung die für andere Aufgaben erforderliche stabile DM nicht beeinträchtigen soll; wenn sie deshalb alles tun, um die Rentabilität von Investitionen in der Zone herbeizuführen; wenn sie also gleich zwei Gründe geltend machen dafür, daß überflüssige wie beschäftigte Ostbürger ihren Lebensunterhalt nach den Bedürfnissen von Staat und Kapital einzuteilen haben, gehorchen sie nur den Sachzwängen der Marktwirtschaft. Sie erklären sich zum ausführenden Organ des – die Geschichte hat es bewiesen – überlegenen und einzig vernünftigen Systems. Gegen das darf man noch weniger sagen als gegen sie, seine leitende Bedienungsmannschaft.

Dennoch ist, unabhängig von den vorliegenden Randbemerkungen, manches gesagt worden. In den 5 neuen Provinzen, wo die „Menschen“ ziemlich begierig darauf waren, von derselben Sorte Staat auf die gleiche Weise behandelt zu werden wie die sprachverwandten Kameraden nebenan, mußten die Erfahrungen nach der Vereinigung Betroffenheit hervorrufen. So nahmen sie gar nicht erst wahr, daß sie tatsächlich den im Westen längst gültigen Maßstäben ausgesetzt werden; ihnen fiel lediglich das offenkundige Ergebnis auf, von dem her sie sich gar nicht gleichgestellt vorkommen. Denn Maß genommen hatten sie ja nicht an den im Westen längst bekannten Formen der Armut, die auch dort für Armut gehalten werden und in Ede Schnitzlers vergleichender Sozialkunde ihren festen Platz hatten; vielmehr an dem, was ihnen als eine prächtige Ausstattung für Lohnabhängige erschien. Insofern kamen sich nun fast alle Ex-DDR-Bürger ein bißchen diskriminiert vor.

Dieser Eindruck wurde verstärkt durch amtliche Techniken der Berichterstattung. Denn sämtliche Behörden der BRD zählen ja laut und vernehmlich den „Aufschwung-Ost“, die Staatsverschuldung wegen Ost und die Arbeitslosigkeit-Ost als eine besondere Abteilung des nationalen Wirtschaftens auf; sie haben nämlich tatsächlich Probleme mit den staatlichen Unkosten, die ihr Mitteldeutschland verursacht im Verhältnis zu seinem Beitrag zum Bruttosozialprodukt, der es nicht bringt. Ohne freilich diesem Mißverhältnis abhelfen zu können: Der nationale Haushalt verträgt keine Alimentierung der neuen Reservearmee, die das übliche Maß übersteigt; die Kalkulationen der Unternehmen erlauben es gar nicht, „Beschäftigung“ zum Betriebszweck zu erheben, weil sie sich an Produktionskosten und Marktkonjunktur orientieren.

– So galt es zumindest, dem Volksgemurmel neuen Typs entgegenzutreten, das sich in der Parole „Sind wir denn Deutsche zweiter Klasse?“ stilvoll Gehör verschafft. Das hat die schwarz-rot-goldene Elite vorbildlich erledigt. Weizsäcker, Kohl, Pfaffen und Sprecher von Kapitalistenverbänden, auch Sozialwissenschaftler sind tätig geworden. Sie haben versichert, daß sie bei allem, was die leitenden Organe der Marktwirtschaft in den neuen Zonen anrichten, die neuen Bürger menschlich schätzen. Diese seien wahrscheinlich genauso fleißig und anständig wie ihre westdeutschen Kollegen – und was die vermeintlich schlechte Behandlung angeht, so dürften sie die gerne der Erblast zurechnen; das alte System, dem sie allzulange brav gedient haben, sei einzig schuld daran, wenn man sie im neuen System nicht beschäftigen und gescheit verpflegen kann. Diese dauerhafte Kampagne zur Vertröstung beleidigter Volksteile wird abgerundet durch öffentlich geäußerte Befürchtungen, das nationale Unbehagen könne in Futterneid umschlagen und „Entfremdung“ hervorrufen, wo „Zusammenwachsen“ verordnet ist. Mit solchen Überlegungen steht dann fest, daß den praktisch erteilten Unbrauchbarkeitsbescheinigungen immer wieder die Beteuerung nachgereicht wird, Zonis seien genauso taugliche Deutsche wie die anderen auch.

– Der Zusammenhang, den die Rhetoriker der deutschen Einheit zwischen der Besänftigung gar nicht aufrecht gehender Ostdeutscher und der politischen Ökonomie-West herstellen, ist nicht gerade glaubwürdiger: Unter dem Motto „Einheit heißt Teilen“ wird so getan, als ob gewisse Maßnahmen der Wirtschafts- und Sozialpolitik in den geschäftsmäßig funktionierenden Bereichen der Nation davon zeugen, daß man mit dem Einziehen von Geld den Menschen im Osten einen Gefallen tut. Der Grund für den Umgang mit dem Preis der Arbeit – das ist der Lohn, den sich Unselbständige verdienen und einteilen müssen – ist, auch das muß einmal gesagt werden, ein anderer. Es handelt sich um die Beschaffung von Geldmitteln aus dem Einkommen des regierten Volkes, wenn über Steuern und andere Sozialleistungen der Geldbeutel von Lohnabhängigen strapaziert wird. Das ist ein Beitrag zur Stabilität des nationalen Geldwesens, das nun einmal unter den Kosten der Einheit nicht leiden darf. Das Ausmaß der Teuerung, die da – im übrigen auch bei denen, mit denen wir „teilen“ – für gewöhnliche Lohnabhängige veranstaltet wird, ist enorm. Deswegen rechnen sie die Wirtschaftsexperten auch in Prozentzahlen vor, die mit dem beliebten Verhältnis Geld/Preise nichts zu tun haben. Sie beschränken sich auf das auf dem Geldmarkt oder sonstwo ermittelte Verhältnis der DM zu anderen Geldern, so daß die Inflationsrate als anerkannter Leitfaden für Tarifrunden ziemlich (niedrig) ausfällt. Um die Veränderungen auszugleichen, die in zwei Jahren bei Benzin und anderen Genußmitteln, bei Beiträgen und Leistungen der Sozialkassen eingeführt worden sind, hätten die Gewerkschaften nicht 10% fordern, sondern 20% herausholen müssen.

Diese Art, den Preis der Arbeit gleich nach beiden Seiten hin für die Belange der Nation zu beschlagnahmen, ist übrigens gute Sitte in einer Nation, die sich der Marktwirtschaft verpflichtet weiß. Auch die parallele Verschonung der Unternehmen vor unnötigen Beiträgen zu den „Kosten der Einheit“ ist keine Aufregung wert – ihr Beitrag besteht darin, daß sie durch kostengünstige Produktion eine Hochkonjunktur ihrer Gewinne herbeiführen. Das stärkt den Haushalt und die DM der Exportnation und rechtfertigt umgekehrt die Senkung der Lohnkosten genauso wie die Verwandlung von Kaufkraft in Staatseinnahmen zwecks Stützung des Nationalkredits.

Noch nicht einmal mit dem Verweis auf die mit ihrer Einbürgerung so schlecht gefahrenen Werktätigen, der in der Rede vom „Teilen“ zur Einsicht in die Notwendigkeit auffordert, die keine Einsicht nötig hat, weil sie beschlossen wird, betritt die BRD-Führung Neuland. Mit dem Fingerzeig auf Arbeitslose – in den alten Ländern soll es ja auch 3 Millionen geben – wurde schon des öfteren aus einer Tarifrunde eine Lohnsenkung. Das hier wegen „Wiedervereinigung“ so ausgiebig eingeschlagene Verfahren geht auch insofern in Ordnung, als sich schon bei Marx die Behauptung findet, daß eine wachsende Reservearmee ein Sinken des Preises der Arbeit bewirkt. Unsere Führungskräfte in Politik und Wirtschaft haben sich bei ihrer heimlichen Lektüre von Marx, den zu befolgen sie der Jugend der Nation untersagen, schlicht gefragt: Was soll das schönste Gesetz des Kapitalismus, wenn es keiner durchsetzt? Und befugt dazu sind sie durch die

Gewalt,

zu deren Ausübung sie inzwischen auch von dem Volk, das die lieben Mitbürger aus der EX-DDR so gerne sind, angehalten werden. Natürlich nicht in dieser speziellen Angelegenheit – die mitteldeutschen Völker haben sich ihre Arbeitslosigkeit und Armut nicht bestellt. Bestellt haben sie, wie es in Akademikerkreisen heißt, ihre Herrschaft. Und was die anordnet, geht prinzipiell ohne Bestellung über die Bühne. Nichts ist da genehmigungspflichtig, weil es nämlich Recht ist, was der Staat tut.

Das Aussprechen solcher Banalitäten ist leider nicht überflüssig. In 45 Jahren Ost-West-Konfrontation haben sich demokratische Inhaber respektabler Staatsgewalten darin gefallen, ihre Entscheidungen und Maßnahmen als schwer gewaltfreies Treiben auszugeben. Das Gewaltmonopol, das sie nur ganz nebenbei beanspruchen, ist für sie und alle Sozialkundelehrer „nur“ ein von ihren noblen Zwecken geheiligtes Mittel. Bei ihren Gegnern im Osten haben sie das Gegenteil entdeckt: Dort ging es in der Politik ausschließlich um Gewalt, ihr Zweck war pure Unterdrückung. Das rechtfertigte den für den demokratischen Verstand nicht zu überbietenden Vorwurf, bei jenen Zynikern der Macht „heilige der Zweck die Mittel“…

Die Popularität solcher Dummheiten hat auch nicht unter dem Einsatz ökonomischer und militärischer Macht gelitten, den die Nationen des freien Westens überall in der Welt vornahmen. Und schon gleich gar nicht unter der Ausdehnung der bundesdeutschen Staatsgewalt auf Territorium und Volk der DDR. Umgekehrt bestehen die amtierenden Fanatiker der „Wiedervereinigung“ darauf, daß auf das Jahrhundert„ereignis“ kein Schatten eines Makels fällt. Die offenkundige Tatsache, daß da eine Gewaltfrage entschieden wurde, mögen sie nicht als den Witz an ihrem Projekt durchgehen lassen. In ihrem moralischen Rausch, mit dem sie die eigenen Landsleute und den Rest der Welt möglichst gründlich anstecken wollten, verfabeln sie die Veränderung der politischen Landkarte in ein brüderliches Volksfest größeren Ausmaßes.

Daß die Sache friedlich vonstatten ging, rechnet man sich in Bonn als deutsches Verdienst an, ganz als ob nicht die Sowjetunion ihre Macht über ihren Frontstaat aufgegeben hätte. Eine Macht, die nur kurz durch einen neuen Souverän abgelöst wurde, der ein ganzes Land an die BRD überstellen wollte. Und die mischt seitdem weniger mit ihren schönfärberischen Phrasen als mit ihrer Gewalt über Land und Leute sämtliche sozialen Verhältnisse auf. Das ist auch schon der ganze Inhalt der „Revolution“, in der „die Menschen“ den Bedürfnissen des Geldes entsprechend zugerichtet werden. Sie haben nämlich als gute Deutsche gar nicht daran gedacht, sich ihre Verhältnisse selbst einzurichten. Die neuen Machthaber danken es ihnen mit einem ausgiebigen Gebrauch der Freiheit, die ihre Art des Regierens auszeichnet. Sie haben nicht nur demonstriert, daß die Verfügung über die DM ihr ökonomisches Machtmittel darstellt. Auch den Beweis, daß demokratisches Regieren darauf zielt, mehr Kapital aus einem in Eigentum und Arbeit geschiedenen Volk zu schlagen, sind sie nicht schuldig geblieben. Daß sich die Verwandlung der DDR in eine zusätzliche Geldquelle so zögerlich bewerkstelligen läßt, wird zum einzigen Drangsal, das die Führung dieser Nation irritiert. Ausbaden darf diesen Widerspruch der friedlichen Eroberung das Volk.

Auf das wird gründlich aufgepaßt. Nicht etwa, weil es sich für die ihm auferlegten marktwirtschaftlichen Zumutungen revanchiert und sich weigert, der neuen Ordnung und ihren Regeln zu folgen. Die deutsche Einheit hat keine einzige Störung hinnehmen müssen, die auf kommunistische Umtriebe in den neuen Bundesländern zurückgeht. Die hinzugekommenen Bürger stellen sich – mit Ausnahme einiger übertrieben fanatischer Anhänger der schwarz-rot-goldenen Fahne – höchst anständig um; sie suchen, ehemalige Aktivisten des SED-Staates eingeschlossen, mit den neuen Geschäftsbedingungen zurechtzukommen. Und dennoch läßt die neue Obrigkeit in einer gigantischen Stasi-Kampagne keine Gelegenheit aus, den Opportunisten neuen Typs hinterherzusteigen.

Unter dem herrlichen Motto „Aufarbeitung der Vergangenheit“ und unter der geistigen Führung der „vierten Gewalt“ liefert die Demokratie den Beweis dafür, daß auch sie zu Säuberungen und Schauprozessen großen Stils imstande ist. Sie heißt eine ansehnliche Zahl von Überläufern mit dem Zweifel an ihrer Loyalität willkommen. Begründen tut sie diesen Zweifel mit dem Hinweis auf die Mitwirkung an und im alten Unrechtssystem. Dem verdankt die demokratische Fahndung auch die Indizien. In Gestalt von Stasi-Akten liegen ihr die Auskünfte darüber vor, daß nicht wenige DDR-Bürger auch an den Spezialitäten der inneren Sicherheit beteiligt waren – so viele, daß die demokratische Moral die erwünschte Unterscheidung zwischen Täter und Opfer nicht mehr herkriegt.

Die nationale Aufregung ist gewaltig. Die Medien, berufene Vertreter der öffentlichen Moral, wittern ihre Chance: Im Falle der Verfolgung der Stasi-Verfolgung wird schließlich aus jedem Fundstück ein Urteil, aus jeder Beschuldigung der Entzug einer Lizenz. Von Politikern über Lehrer, Ärzte und Soldaten bis zum Mitglied in einem realsozialistischen Sportkollektiv werden alle durchgemustert – und für demokratieuntauglich befunden. So kommt ganz nebenbei heraus, wieviel Staatstreue mit der Ausübung irgendwelcher beschränkten Berufe in der Demokratie gefordert ist. Aber das interessiert am wenigsten; die informellen Mitarbeiter der demokratischen Geheimdienste sind schon deswegen eine matte Sache, weil sie einer guten Sache dienen.

Wichtiger dagegen ist, daß sich der Rechtsstaat in seinem Verfolgungswahn nicht durch sein Recht beschränken läßt. Wo die Staatsgewalt beschlossen hat, die in die Freiheit heimgeholten DDR-Untertanen in aller Freiheit durchzusortieren, muß sie sich eben ihr Recht gemäß der politischen Moral zurechtschnitzen. Das geschieht derzeit im wiedervereinigten Deutschland, das nicht nur in Geldangelegenheiten, sondern auch beim Gebrauch seiner Gewalt über seine Untertanen nie genug kriegen kann. Die Definition des Verbrechens – „zu lange und treu den falschen Herren gedient“ – muß gutes deutsches Recht werden. Zumal man vorläufig für die Mannschaft sowieso keine Verwendung hat!

Um mehr Geld und Gewalt geht es auch in einer anderen deutschen Affäre. Sie heißt

Europäische Einheit

und ist wegen der Schwierigkeiten in die Schlagzeilen gekommen, die ihre Vollendung gestandenen Nationalisten bereitet. Die Überzeugungskraft deutschen Geldes und Kredits hat offensichtlich noch Schranken, die auch gewisse Erfolge bei der Öffnung der Grenzen nach Osten nicht vergessen machen. Deswegen war es auch selbstverständlich, daß der wohltuende Einfluß auf den Ostblock mit dem Anschluß der DDR nicht nur zu einem guten Ergebnis geführt hat. Mit der vollzogenen Einheit war den deutschen wie ausländischen Politikern urplötzlich klar, daß die BRD nun auch einen weltpolitischen Aufbruch hinlegt. Die Sprachregelungen gingen so: „Mit der Wiedergewinnung der Einheit ist auch das Gewicht Deutschlands in der Welt gestiegen“ – und, fast im Tone einer Beschwichtigung: „Die deutsche Einheit findet im Rahmen der europäischen Einigung statt.“

Dergleichen Behauptungen versteht einerseits jeder, andererseits verweigern gerade die Macher und Parteigänger solch anspruchsvoller Politik strikt jede Erklärung. Sie gehen nämlich davon aus, daß niemand nach der Logik der Politik fragt, die sie da in grundsätzlichen Sentenzen von sich geben. Sie rechnen damit, daß diese Logik rundum gebilligt wird. Damit bestehen sie auf folgenden Kleinigkeiten, deren ausführliche Darstellung in dieser Zeitschrift zu finden ist:

– Wenn sich eine Nation wie die unsere schlagartig vergrößert, dann erweitert sie die ihr eigentümlichen Fähigkeiten und Leistungen. Da die deutsche Nation sich durch ihren weltwirtschaftlichen Tatendrang auszeichnet und Waren wie Kapital so zu exportieren vermag, daß sie aus aller Welt Reichtum unter ihre Verfügung bringt, den sie in DM mißt, und da dieser Reichtum von anderen Nationen wie von der internationalen Geschäftswelt als Geschäftsobjekt begehrt wird, so haben die sich auch an den Bedingungen zu orientieren, die Deutschland stellt. Wenn andere Währungen und Kredite, Produktion und Handel im Ausland von den Beziehungen zum Standort Deutschland abhängig sind, dann ist es auch das Recht des „ökonomischen Riesen“, diese Beziehungen zu gestalten. Und zwar so, daß er einer bleibt. Dies umso mehr, als mit der Vergrößerung des Standorts der Umfang deutscher Geschäfte, auf die sich alle Welt verläßt, wächst.

– Da diese „Exportnation“, wie schon bisher, ihre Rolle auf dem Weltmarkt auf Kosten der Vorteilsrechnungen spielt, die auch anderen geläufig sind, beinhaltet ihr wohlverdientes Recht auch die Fähigkeit, ihre Position – z.B. ihre „Rohstoffbasis“ und ähnliches – zu sichern. Gegen den aus wirtschaftlichem Vermögen nicht zu begründenden Willen anderer Nationen. Diese Aufgabe der Sicherung des Weltmarkts gegen unerlaubte Angriffe auf seine guten Konditionen haben bislang ein Militärbündnis und in ihm weitgehend die USA übernommen. Das war gut und richtig, weil es im Ostblock einen Feind gab, zu dessen Abschreckung alles getan werden mußte. Fähig dazu waren nur die USA, die zur Effektivierung ihrer globalen Sicherheitspolitik auch die BRD auf die Unterstützung dieser weltpolitischen Hauptsache festlegten.

– Nun, da dieser allgegenwärtige und supermächtige Feind seinen Rückzug organisiert, bei dem sogar einer seiner Frontstaaten an die BRD gefallen ist, sieht die Sache anders aus. Zum Recht der BRD mit ihrer Einheit kommt ihre Freiheit, ihre Sicherheitsbedürfnisse gemäß den speziellen Interessen des deutschen Vaterlandes zu organisieren. Also kriegt sie ein „größeres Gewicht“. Soviel steht auf einmal fest.

– Fraglich ist allerdings, ob ernstzunehmende Konkurrenten des neuen Deutschland – die auch nicht anders rechnen – nun mit einem feindseligen Großmachtstreben konfrontiert sind. Da trifft es sich gut, daß Deutschland darauf verweisen kann, wie sehr es sich unter den widerwärtigen Bedingungen des Kalten Krieges eines bündnisbewußten Internationalismus befleißigt hat. Mit elf anderen europäischen Nationen wurde erst ein gemeinsamer Markt und aus dem ein gemeinsamer „Standort Europa“ gebildet. Der hat Deutschland manchen Nutzen gebracht – ebenso wie die Mitgliedschaft in der Nato: Und dieser Gemeinschaft will die BRD nicht kündigen, sondern zu weiteren Erfolgen verhelfen. Nein, aus der Wiedervereinigung folgen keine weiteren Alleingänge.

– Nur eben das Recht, in Europa zu sagen, wo’s lang geht; und in der Nato, in der UNO, in der KSZE das Recht, die deutschen Interessen jetzt gründlicher in das Programm der jeweiligen Vereine einzubringen. Um sie endlich zu einem der deutschen Macht angemessenen Instrument derselben zu machen.

Ob sich die übrige Staatenwelt dieser Entwarnung seitens der deutschen Weltpolitiker fügt, macht die neue „Weltordnung“ der postsowjetischen Ära für Nationalisten aller Länder so spannend. Zumindest in den Chefetagen mancher Bündnispartner und in deren Öffentlichkeit scheint man sich so langsam wieder ein bißchen vor Deutschland zu fürchten. Zumal diese kleine Nation in Europas Mitte einerseits alles im Rahmen ihrer Bündnisse tut, andererseits viel Eigenes unternimmt. Deshalb steht in diesem Heft auch eine Notiz über die Ostpolitik, die wegen der Umkehr gewisser Nationen zur Marktwirtschaft von ihren germanischen Zügen noch lange nicht Abstand nimmt. Deshalb auch ein Angebot, den auffälligen Bedarf der BRD nach einer Aufmischung Jugoslawiens zu würdigen; in dieser Affäre ist immerhin klargeworden, wie dieses bescheidene und geschichtsbewußte Deutschland den Kurs seiner Bündnisse bestimmt, wenn es „sich einbringt“. Und wie selbstbewußt es immerzu beklagt, daß in seiner weltpolitischen Handlungsfähigkeit eines noch nicht zur Zufriedenheit geregelt ist: Die Ausstattung mit Gewalt des höheren Kalibers entspricht nicht dem Recht, das dieser Nation aufgrund ihrer Ausstattung mit Geld gebührt. Diese deutsche Lehre aus dem Golfkrieg und dem nationalen Bewußtsein beschämender Ohnmacht im Fall Jugoslawien beflügelt die Politik, die ihres „Rahmens“ eingedenk und mit nagelneuen „Eingreiftruppen“ noch an manchem Friedensprozeß beteiligt sein wird. Diese Sprachregelung des Genscher, mit der er jede Schlächterei zu bezeichnen pflegt, an der die BRD aus berechtigtem Interesse Anteil hat und nimmt – das mindeste ist der Export von Hunger und Waffen –, ist ein würdiges Markenzeichen des deutschen Imperialismus geworden. Leider fragt sich in diesem Land kaum jemand, ob eigentlich mehr Leichen auf das Konto von Erich H. oder auf das von Genschers Außenpolitik gehen!

Das kommt daher, daß so viele Nationalisten in der

Lösung der Ausländerfrage

ihre Hauptaufgabe sehen. Diese Frage beruht auf einer klaren Antwort: Auf dem Territorium der Bundesrepublik laufen seit geraumer Zeit zuviel Leute herum. Das fordert zu der Entscheidung heraus, wer von ihnen überflüssig ist. Diese Entscheidung ist gefallen, aber nicht gegen Steffi Graf, die ohnehin nie da ist; auch nicht gegen Ulf Merbold, den Astronauten, oder die vielen Unterhaltungskünstler, die dem deutschen Menschen in seiner Freizeit die Geschmacksnerven ruinieren. Vorbei sind die Zeiten, da der Bannstrahl heimatliebender Deutscher auch einmal Angehörige des eigenen Volkes traf. „Geh doch nach drüben!“ ist out, „geh doch hin, wo der Pfeffer wächst!“ ist in.

Mit überwältigender Mehrheit haben die Deutschen den Beschluß der Regierung unterstützt, der die Ausländer für zuviel befindet. Sie haben sich durch frühere Entschließungen ihres Staats, die ganze Kontingente ausländischer Ware Arbeitskraft ins Land brachten, nicht irritieren lassen. Erstens konnten sie die auch nie leiden, zweitens geht es heute um einen Notstand. Was sollen wir mit so vielen Leuten, bei denen kein Nutzen abzusehen ist? Weder wirtschaftlich, politisch noch kulturell, wie es jeder Schulaufsatz zu prüfen gebietet? Womöglich noch ernähren? Wo gibt’s denn sowas. Sie haben nichts, sie können nichts, keiner braucht sie – also stören sie nur. Das ist sogar Bürgern in den neuen Ländern gleich zu Bewußtsein gekommen, daß die hier nichts verloren haben.

Also wetteifern tüchtige Bürger der Exportnation, die Handlungsbedarf angemeldet hat, mit der Staatsgewalt um die effektivste Lösung der Frage. Mord und Totschlag aus einem Motiv, das die Spitzen der Demokratie zur Verfügung gestellt haben. Das rüttelt die Politiker wach. So etwas beweist ihnen, wie recht sie haben; Ausländer stören nicht nur, sie führen auch unweigerlich zu rassistischen Ausschreitungen beim Volk. Sozialwissenschaftler sekundieren mit ihrem Wissen, daß das immer so sei, nicht nur im Staate Deutschland, sondern auch in den Ethnien des Naturreichs. Fremde sind nirgends beliebt. Wo die Nation keinen unbestreitbaren Verwendungszweck für ihre und die in ihr gültigen Anliegen angeben kann, müssen sie raus bzw. draußen bleiben. Der Asylartikel des Grundgesetzes wird zum Hindernis für die staatliche Handlungsfreiheit erklärt, weil das blöde Recht das beschlossene Fernhalten ungebetener Gäste nicht behindern soll. Andererseits sollen die Bedürfnisse der Nation auch immer durch das Recht in ein rosiges Licht getaucht werden. Die Opposition sieht das ein. Sie behauptet einfach, das Fernhalten ginge auch mit dem schönen Schein des gültigen Grundgesetzes. Internationale Lösungen tun not. Das sind die, welche die deutsche Regierung zur End- und Zwischenlagerung der Flüchtlinge bei denen daheim oder unterwegs erwirkt. Im Bundestag erläutern gestandene Parlamentarier den Eindruck, den sie von den Hungerleidern haben. Es handelt sich um „Wirtschaftsflüchtlinge“, und auf schnöden Gewinn bedachte Menschen haben in der Bundesrepublik keine Chance.

Einen traurigen Zwischenakt steuern die kritischen Geister deutscher Nation bei. Sie werfen der Regierung eine unverantwortliche Stimmungsmache vor, und verstehen im nächsten Augenblick die gelehrigen Adressaten der nationalen Hetze. Wer in Deutschland und von Deutschland schlecht bedient wird, bei dem sei durchaus einzusehen, sozialpsychologisch zumindest, daß er gelegentlich auf Ausländer losgeht. Der Rat an die betroffene Zielgruppe, sie sollten lieber auf Deutschland losgehen, ist nicht zu vernehmen.

Selbst das ist kein Geheimnis: Die da kommen, sind alle Produkte des Weltmarkts und der Weltpolitik, die Deutschland – immer stolz auf seine Verantwortung – in führender Position mitgestaltet. Der Hunger, die regionalen Metzeleien und die armutstiftende Beseitigung der östlichen Unrechtssysteme – eben die Umstände, die die Wanderlust so beflügeln, gehen eben auf das Konto der Genschers. Die haben jetzt auch alle Hände voll zu tun, um mit ihrem Gewaltapparat den Fortbewegungsdrang menschlichen Mülls zu stoppen. Auch in dieser Hinsicht gilt die deutsche Parole: Es lebe die neue Weltordnung.

Deutschland ist ein schönes Land. Es weiß seinen inneren Frieden zu bewahren, und drückt nach Kräften dem Rest der Welt den äußeren Frieden aufs Auge. Man muß es lieben.