Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Demokratiekritik heute
Demokraten bejammern ihr System als Reformhindernis
Eine „reife“ Demokratie wie die deutsche zeichnet sich durch eine besondere Art von Selbstkritik aus: Der systembedingte Streit der Parteien gilt als störend und überflüssig, wo es um den Fortschritt der Nation geht.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Demokratiekritik heute
Demokraten bejammern ihr System als
Reformhindernis
Was man mit Reformen so alles machen kann: Sie werden
einerseits an die Wand gefahren
, andererseits aber
vor allem aufgestaut
– bis sie vielleicht
irgendwann einmal eine Pegelhöhe erreicht haben, bei der
sie sich dann mit dem vom Bundespräsidenten
höchstpersönlich geforderten Ruck über Land und Leute
ergießen… In dieser anschaulichen Bildersprache
verständigt sich die kritische Öffentlichkeit seit
Monaten darüber, daß einiges im argen liegt im Lande.
Was konkret geändert werden sollte, spielt bei
dieser Sichtweise eine eher untergeordnete Rolle;
eingeklagt wird, daß gefälligst „etwas“ getan
werden soll – und zwar entschlossen und zackig. So
gesehen wimmelt es in Bonn nur so von Versagern: Statt
daß sich die Führungsmannschaft dort endlich mal den
überfälligen Ruck gibt und die Gesellschaft ohne Wenn und
Aber mit einer Reformflut irgendwie auf Vordermann
bringt, verzettelt sie sich in parteitaktischen
Manövern
!
Das Beispiel von Anfang August: Die Kommentatoren können
von einem weiteren Trauerspiel
in Sachen
verknöcherte parlamentarische Strukturen
berichten. Die Bundestagsabgeordneten werden aus den
Ferien nach Bonn geholt zu einer Sondersitzung, um zu
beschließen, daß von der großen Steuerreform
nicht
mehr und nicht weniger als die Abschaffung der
Gewerbekapitalsteuer verwirklicht wird. Alle
weitergehenden Pläne der Parlamentsmehrheit hat nämlich
die Bundesratsmehrheit abgelehnt – und umgekehrt. Damit
haben sich die führenden Parteien sehr unbeliebt gemacht.
Alle Welt hat durchschaut und wirft ihnen vor, sie hätten
nur aus schnöder wahltaktischer Berechnung
den
eigentlich fälligen Kompromiß in Sachen großer
Steuerreform
verhindert. Diese Empörung ist schon
deswegen interessant, weil sie die Möglichkeit, Regierung
und Opposition hätten womöglich in der Sache
Unvereinbares gewollt, überhaupt nicht ernsthaft in
Betracht zieht. Auch und gerade ohne Detailkenntnis in
Steuerrechtsfragen ist sich die Öffentlichkeit absolut
sicher, daß es in dieser wichtigen Frage, einfach weil
sie von allen Seiten als national so ungemein wichtig
anerkannt ist, unvereinbare Standpunkte gar nicht geben
kann. Daß der Pluralismus der demokratischen Parteien in
der Sache auf ein totales Einerlei hinausläuft, wird vom
demokratischen Bürgersinn, der das Leben in einem
Einparteiensystem für die Hölle hält, nicht bloß als
gewiß vorausgesetzt; es wird gefordert, und die Parteien
mitsamt ihrem urdemokratischen Gegensatz von Regierungs-
und Oppositionsrolle werden danach be- und verurteilt, ob
sie das national Notwendige, was immer das auch sei,
gemeinschaftlich durchsetzen oder parteiisch verbaseln.
Die Freunde des aktiven Wahlrechts finden nichts
verwerflicher, als wenn die passiv Wahlberechtigten
wichtige Fragen der Nation zum Wahlkampfargument machen.
Sogar die ehrenwerten Institutionen der demokratischen
Gewaltenteilung – nach verbindlicher sozialkundlicher
Lehrmeinung eine unerschütterliche Bastion der
demokratischen Freiheit – werden von gestandenen
Liberalen und anderem demokratischen Urgestein öffentlich
in Zweifel gezogen, wenn sie sich einmal wirklich als
institutionalisierte Aufteilung der gesetzgebenden Gewalt
bemerkbar machen und von den jeweiligen Mehrheitsparteien
im Interesse ihrer auf die Wahl berechneten Streitkultur
eingesetzt werden. Und bis hinauf zum Bundespräsidenten
wird man sogar noch viel grundsätzlicher: Wieder einmal
hat unter den Fanatikern des demokratischen Dialogs der
Zweifel Konjunktur, ob nicht das ewige Herumdiskutieren
und Kompromisse-Suchen die Nation lähmt und in ihrem
Konkurrenzkampf um den windschnittigsten Kapitalismus
zurückwirft. Wenn die demokratische Tugend der
parlamentarischen Auseinandersetzung und die
Selbstdarstellung der beteiligten Parteien als jeweils
einziger redlicher Sachwalter der eingesehenen nationalen
Notwendigkeiten dann auch noch Reisekosten für
Parlamentarier kostet, ist das Ärgernis perfekt.
Sie lebt also, die Kritik an der Demokratie: Kein
mündiger Demokrat macht sich etwas vor über sein
hochgelobtes System und seine Sachwalter. Alle wissen
darum, daß die führenden Politikerpersönlichkeiten
zynische Wahlkämpfer und intrigante Heuchler sind.
Aufschlußreich ist bloß der Standpunkt, von dem aus diese
Kritik geäußert wird: Gefordert wird eine Herrschaft, die
umstandslos das national Notwendige – was auch immer das
sein mag – durchsetzt. Am Schein der Freiheit und
bürgerlichen Mündigkeit, den die Demokratie aufbaut, wird
nicht der Schein von Freiheit kritisiert,
sondern eine Schranke der Staatsgewalt entdeckt und als
skandalös empfunden. Das demokratische Theater, das die
Parteien zum Zwecke ihrer Selbstdarstellung als um
Problemlösungen ringende Verantwortungsträger
inszenieren, wird durchschaut und zitiert, um nach der
starken Hand zu seufzen, die endlich durchgreift und
Schluß macht mit dem Parteiengezänk
. Der
rechtsradikale Standpunkt, nach dem die Demokratie zu
zaghaft, zu umständlich und deswegen letztlich national
schädlich ist, scheint sehr lebendig zu sein in unserer
über jeden Zweifel erhabenen demokratischen Landschaft.
Wie sehr diese Kritik an der Demokratie integraler
Bestandteil der Demokratie ist, demonstrieren die so in
Verruf geratenen Parteien selbst. Bevor nämlich noch eine
gegen alle Parteien kritische Öffentlichkeit ihre
einschlägigen faschistoiden Bedenken laut werden läßt,
klagen sich die demokratischen Parteien wechselseitig der
nationalen Pflichtvergessenheit an, indem sie einander
Blockadepolitik
vorwerfen. Reihum geben sie damit
zu Protokoll, daß sie jedenfalls die Steuerreform – oder
sonst eine Angelegenheit, die im derzeit flächendeckend
ausgemachten politischen Reformstau
steckt – für
national essentiell halten, woraus ja wohl glasklar
folgen muß, daß die Gegenposition der Konkurrenzpartei
nur das Resultat einer nationalvergessenen
Wahlkampftaktik sein kann, die noch dazu den Steuerzahler
belastet. Und damit eröffnen sie ihren Wahlkampf, in dem
sie sich dann auch noch das wechselseitig durchschaute
Wahlkampf-Manöver als eben dieses in wahlkämpferischer
Berechnung vorwerfen.
So übersichtlich gestaltet sich das politische Leben in einer wirklich reifen Demokratie.