Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Merkel bringt ein palästinensisches Flüchtlingskind zum Heulen
Aus der Methodenlehre der Demokratie, heute:
Der Bürgerdialog – Grundlagen, Verfahren, vermeidbare Fehler
Einige Tage lang sind zunächst die „Netzgemeinde“ und dann auch die herkömmlichen Abteilungen der Öffentlichkeit aufgeregt über einen Auftritt der Bundeskanzlerin. Die begibt sich bei einer Veranstaltung unter dem Titel „Gut leben in Deutschland“ ganz bürgernah unter ein paar handverlesene Vertreter der Spezies „Volk, normales“. Im Laufe der Veranstaltung passiert es dann: Ein palästinensisches Flüchtlingskind – gut integriert, gut beschult, gut erzogen – redet über seine Angst vor der Abschiebung, die ihm und seiner Familie droht. Merkel, ganz Staatsfrau, hört sich die Schilderung des individuellen Schicksals an und antwortet:
„Ich verstehe das und dennoch muss ich jetzt auch – das ist manchmal hart in der Politik – wenn du jetzt vor mir stehst, dann bist du ja ein unheimlich sympathischer Mensch, aber du weißt auch, in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon gibt es noch Tausende und Tausende und wenn wir jetzt sagen ‚Ihr könnt alle kommen und ihr könnt alle aus Afrika kommen und ihr könnt alle kommen‘, das können wir auch nicht schaffen. Da sind wir jetzt in diesem Zwiespalt und die einzige Antwort, die wir sagen ist: bloß nicht so lange, dass es so lange dauert, bis Sachen entschieden sind. Aber es werden auch manche wieder zurückgehen müssen.“
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Merkel bringt ein palästinensisches
Flüchtlingskind zum Heulen
Aus der Methodenlehre der Demokratie,
heute:
Der Bürgerdialog – Grundlagen, Verfahren, vermeidbare
Fehler
Einige Tage lang sind zunächst die „Netzgemeinde“ und dann auch die herkömmlichen Abteilungen der Öffentlichkeit aufgeregt über einen Auftritt der Bundeskanzlerin. Die begibt sich bei einer Veranstaltung unter dem Titel „Gut leben in Deutschland“ ganz bürgernah unter ein paar handverlesene Vertreter der Spezies „Volk, normales“. Im Laufe der Veranstaltung passiert es dann: Ein palästinensisches Flüchtlingskind – gut integriert, gut beschult, gut erzogen – redet über seine Angst vor der Abschiebung, die ihm und seiner Familie droht. Merkel, ganz Staatsfrau, hört sich die Schilderung des individuellen Schicksals an und antwortet:
„Ich verstehe das und dennoch muss ich jetzt auch – das ist manchmal hart in der Politik – wenn du jetzt vor mir stehst, dann bist du ja ein unheimlich sympathischer Mensch, aber du weißt auch, in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon gibt es noch Tausende und Tausende und wenn wir jetzt sagen ‚Ihr könnt alle kommen und ihr könnt alle aus Afrika kommen und ihr könnt alle kommen‘, das können wir auch nicht schaffen. Da sind wir jetzt in diesem Zwiespalt und die einzige Antwort, die wir sagen ist: bloß nicht so lange, dass es so lange dauert, bis Sachen entschieden sind. Aber es werden auch manche wieder zurückgehen müssen“,
woraufhin das gute Kind in Tränen ausbricht und sich
Merkel zu einer Geste hinreißen lässt, die so etwas wie
Streicheln – etwas unbeholfen und bemüht, nicht
übergriffig zu werden
(Der
Spiegel) – sein
sollte.
*
Das daraufhin losgetretene mediale Tamtam wird zunächst von denen beherrscht, die der Dame mangelndes Taktgefühl, fehlende Wärme, schlechten Instinkt oder alles zusammen vorwerfen. Es dauert nicht lange, bis sich auch die Seite zu Wort meldet, die nachfragt, was Merkel denn anderes hätte tun sollen: Die Nöte und Notwendigkeiten der staatlichen Flüchtlingspolitik verschweigen? Das Mädchen über seine Aussichten auf weiteres Hierbleiben belügen? Oder gar im Stile einer vorderorientalischen Despotin dem Mädchen in einem Anfall von Machtmissbrauch tatsächlich einen Daueraufenthalt zusichern entgegen allen einschlägigen Paragrafen und Prozeduren?
Ein waschechtes Dilemma also, so eindeutig, dass kein Schwein mehr wissen will, womit sich Merkel das tatsächlich eingehandelt hat.
*
Die Veranstaltung selber ist von der Art gewesen, wie sie
vor allem in Wahlkämpfen jeden Tag und auch ansonsten in
unserer Demokratie regelmäßig stattfindet: Bürger sind
eingeladen, Politiker mit ihren ganz individuellen
Sorgen
, ihren konkreten Problemen
und
Einzelschicksalen
zu konfrontieren. Womit sie bei
denen schließlich in einer Hinsicht an der richtigen
Adresse sind: Politiker besitzen – oder, falls sie dem
Beruf der Opposition nachgehen, mühen sich um – die
Macht, mit der sie tatsächlich die Lebensumstände ihrer
Bürger bestimmen, die denen ganz offensichtlich
massenweise zu viel Beschwerde Anlass geben. Die
Tatsache, dass es die von den Bürgern Angesprochenen
sind, die ihnen die Sorgen einbrocken, wird
durch solche öffentlichen Gegenüberstellungen allerdings
gezielt von jedem Verdacht befreit, im politischen Inhalt
der aktuell gültigen Linie, womöglich in den
übergreifenden Prinzipien des Regierens in Deutschland
könnte der Gegensatz zwischen Regierenden und Regierten
liegen, der letzteren regelmäßig in Form von
Alltagssorgen
auf die Füße fällt.
Konstruiert wird durch solche Dialoge dafür ein etwas
anderes Problem: das der Entfernung zwischen
Politikern und Bürgern. Schon das Format dieser
Veranstaltungen – Bürger und Politiker begegnen sich
von Angesicht zu Angesicht
, und zwar auf
Augenhöhe
; im Programm sind konkrete Antworten auf
konkrete Fragen
– transportiert die entscheidende
Botschaft: Die allenthalben negative Betroffenheit der
Bürger vom Wirken der Politiker kann sich nur dem Umstand
verdanken, dass letztere nicht mehr mitkriegen
,
was sie anrichten, dass sie in ihrer eigenen
abgehobenen
, abgekapselten
Sphäre leben und
auf ihrer eigenen Umlaufbahn
bzw. um sich
selbst kreisen
, ohne Bezug zum realen Leben
,
das sich draußen im Lande
abspielt … – über ein
ganzes Vokabular verfügt inzwischen diese theoretische
Verwandlung von Herrschaft in eine Entfernungsfrage, mit
der zugleich Unterordnung in den Anspruch an die Inhaber
des politischen Kommandos übersetzt wird, sie sollten
doch beim Kommandieren bitteschön wissen, wie es den
Kommandierten geht. Was angesichts dieser Problemlage zu
tun sei, steht mit deren Definition ebenfalls fest und
wird durch solche Veranstaltungen in Szene gesetzt: Wo
der verloren gegangene Bezug der Politik zur Wirklichkeit
beklagt wird, da kommt es darauf an, dass Politik auf
Wirklichkeit trifft
(so der
Untertitel der Polit-Show „hart aber fair“); wo
Entfernung und Entfremdung zwischen Politik und Bürgern
als Übel erkannt ist, da ist Bürgernähe
des
Politikers die gebotene Lösung. Und die besteht darin,
dass er sie demonstriert.
In den Dialogen, die er dann auf die Tagesordnung setzt,
präsentiert er den festen Willen, seine unbezweifelbare
Zuständigkeit nach Kräften dafür zu nutzen, sich um alle
kleinen und großen Sorgen zu kümmern. Zuhören
ist
da schon mal fast die halbe Miete – das bezeugt ja das
Interesse zu wissen, was so los ist bei den ganz
normalen Bürgern
. Dabei kommt es zunächst darauf an,
die richtige Mischung aus Erstaunen und Bedauern,
gerunzelter Stirn und offenem Mund zu finden, also sich
echt betroffen von den Betroffenheiten zu zeigen, für die
er mit seiner Politik sorgt. Auch die eine oder andere
Nachfrage – er will sich ja ein möglichst genaues Bild
verschaffen
– tut genauso ihre Dienste wie
wohlabgewogenes Räsonieren darüber, dass man sich solche
praktischen Probleme in diesem Ausmaß
noch nie
vor Augen gehalten
oder auch immer schon geahnt
bzw. von anderen Bürgern in ähnlichen Begegnungen
ähnliche Erfahrungen
mitgeteilt bekommen habe…
Alsdann gilt es, den mitfühlenden Menschen im Politiker
durch den Macher zu ergänzen: Einerseits sind Lösungen
gefragt, die – natürlich! – konkret
sein müssen,
andererseits praktikabel
– mit hohlen
Versprechungen
ist ja niemandem gedient. Für diesen
Zweck erweist sich der sagenhafte Mitarbeiter in
meinem Büro
als hilfreich, der zu kontaktieren sei,
ebenso wie die Ankündigung bei den entsprechenden
Verantwortlichen
selbst vorstellig zu werden zwecks
Nachfrage, was da eigentlich los sei
. Wenn es
passt, sind Verweise auf die nähere Zukunft von Nutzen,
in welcher die einschlägigen Gesetzesinitiativen
meiner Partei
oder kürzlich verabschiedete
Beschlüsse
ganz sicher wie geplant ihre gewünschte
Wirkung entfalten werden, wenn erst die neue Gesetzeslage
vor Ort umgesetzt
werde und so hoffentlich
zügig bei den Bürgern ankomme
. Realismus ist bei
alledem auch geboten. Den beweist man durch vorsichtig
dosierte Hinweise darauf, dass man jetzt nichts
Unrealistisches versprechen
könne, einem manchmal
auch die Hände gebunden
seien – eine
Rechtslage
, Fesseln des Budgets
und vor
allem die notorische Verweigerungshaltung
der
Opposition oder, je nachdem, der Regierung gibt es ja
dummerweise auch noch, will also eingepreist sein –,
aber man sich natürlich bemühe, auf die Sorgen eine
Antwort zu finden – natürlich unbürokratisch
und
der Dringlichkeit angemessen
…
Wenn der Auftritt gelingt, dann steht so ein Inhaber eines mehr oder minder großen Teils der politischen Macht als der nimmermüde Kümmerer da, der seine Zuständigkeit unentwegt dafür in Anschlag bringt, das gesellschaftliche Allgemeinwohl, die Sachzwänge der Politik und die individuellen Sorgen der Bürger miteinander zu vermitteln, so als ob sie nicht schon längst zusammengeschlossen sind – eben dadurch, dass die alltäglichen Sorgen die notwendigen Resultate des politisch definierten Allgemeinwohls sind, das die Politik in Form einer Ansammlung von Sachzwängen für sich und die Gesellschaft verbindlich macht. Schon in der interessierten Selbstbezichtigung des Politikers, seinen Bürgern tendenziell entfremdet zu sein, die den Ausgangspunkt dieses Theaters bildet, und dann mit der demonstrativen Wiederannäherung wird seine herrschaftliche Zuständigkeit für alle Lebenslagen und den politischen Gehalt, den er ihr gibt, beschworen und legitimiert – nicht dadurch, dass sie groß thematisiert wird, sondern dadurch, dass alle an dem eigenartigen „Dialog“ Beteiligten schlicht von dieser Zuständigkeit und davon ausgehen, dass ihr rechter Gebrauch jedenfalls nicht für die Formen und Ausmaße von Unbill zu sorgen braucht, die da jeweils angesprochen werden.
*
Dass so ein Auftritt auch jedes Mal gelingt, ist
bei aller Übersichtlichkeit der Aufgabenstellung
allerdings nicht gesagt; das hat Merkel bewiesen. Sie hat
den Fehler gemacht, das Einzelschicksal dieser
palästinensischen Familie knallhart der politischen Räson
zu subsumieren, nach der ihre Regierung
Flüchtlingspolitik macht und die Flüchtlinge vor allem
als Problem für sich definiert und entsprechend ekelhaft
behandelt. Der Gegensatz, dessen Verwandlung in ein
Verhältnis tätiger Sorge den ganzen Sinn und Zweck dieser
Sorte Veranstaltung darstellt, ist damit in aller
Offenheit zutage getreten und – ganz in der menschelnden
Logik der Aufführung – an ihr persönlich hängen
geblieben: als kaltherzige Rücksichtslosigkeit einer
Frau, in der der Politiker über den Menschen gesiegt hat.
Dass sie dann auch noch versucht hat, neben dem
Gegensatz in der Sache, in dem sie ausdrücklich gerade
angesichts der heulenden Betroffenheit des Mädchens nicht
nachgeben wollte, auf menschliches Mitleid zu machen, hat
sich folgerichtig als berechnender Reparaturversuch an
einer verunglückten Selbstdarstellung blamiert. Und ihr
Versuch, zu diesem Zweck das Mädchen auf der methodischen
Metaebene dieses absurden Theaters einzukaufen – Das
hast du doch prima gemacht
– konnte ihr nach Lage der
Dinge nur als weiterer Minuspunkt angerechnet werden: als
endgültiger Beweis dafür, wie wenig sie das dringende
Anliegen des Mädchens ernst nimmt und wie selbstbezüglich
sie stattdessen das Gelingen ihrer Show für die einzige
Sorge auch noch dieser Komparsin hält.
*
Das kurze öffentliche Johlen und Buh-Rufen, das die
Kanzlerin wegen ihrer Herzlosigkeit
dann geerntet
hat, beweist ebenso wie die verständnisvollen
Gegenkommentare, wie sehr die demokratische
Öffentlichkeit in diesem Theater heimisch ist und sein
will: So sehr schmiegt sie sich geistig in die Aufgabe
der Kanzlerin ein, das Politische und das Menschliche in
der eigenen Person gerade da glaubwürdig
zusammenzuführen, wo ihre Politik sich so brutal gegen
alle Kalkulationen der betroffenen Menschen richtet; so
geläufig ist es ihr, Politik als ge- oder
misslungene Selbstinszenierung ihrer Repräsentanten zu
nehmen und zu beurteilen, dass sie nichts dabei findet,
auch angesichts des von allen thematisierten Elends der
Flüchtlinge im Allgemeinen und dieser einen
Palästinen-serfamilie im Besonderen die Kanzlerin zum
eigentlichen – bedauernswerten oder selbstverschuldeten –
Opfer dieser Schmierenkomödie zu erklären.