„BSE greift auf Deutschland über“
Futtermittelversorgung im Kapitalismus – Von den Risiken des Profits und den Heilkräften des Marktes

Die gesundheitsschädliche Produktion von Lebensmitteln provoziert Kritik an den herrschenden marktwirtschaftlichen Bräuchen. An die Politiker ergeht der Ruf nach Reformen. Sie nutzen ihn zur Demo von Zuständigkeit und Verantwortung und überantworten die Reformen den heilenden Kräften des Marktes.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

„BSE greift auf Deutschland über“
Futtermittelversorgung im Kapitalismus – Von den Risiken des Profits und den Heilkräften des Marktes

Bis November letzten Jahres waren die Massen in Deutschland mit ihrer Futtermittelversorgung gut bedient. Fleisch, Wurst und Schinken gibt es nicht nur reichlich, sondern auch zu Preisen, die sich dank Tengelmann, Aldi, McDonald’s etc. selbst der proletarische Haushalt leisten kann. Nein, verzichten muss hierzulande niemand auf nichts. Sogar Rindfleisch, das andernorts verseucht ist, kann man bei uns „bedenkenlos“ verzehren, denn „Deutschland ist BSE-frei“. Gut bedient waren auch die Produzenten und Distributoren der preiswerten und qualitativ hochwertigen Waren. Sie haben gutes Geld verdient: Das Handelskapital mit seinen verbraucherfreundlichen Preiskämpfen um Marktanteile, die Agrarfabriken mit ihren effizienten Produktionsmethoden, die Tierfutterhersteller mit ihren kostensenkenden Energieriegeln und am Ende sogar die bäuerlichen Familienbetriebe, die mit ihrer artgerechten Tierhaltung zwar nicht reich werden, aber immerhin das Kunststück fertig bringen, als Zulieferer einer Landwirtschaftsindustrie zu überleben. Das alles dank einer EU-Agrarpolitik, die mit milliardenschweren Subventionen zum Erhalt einer nationalen Bauernschaft zwar den Geldbeutel und das Gemüt des Steuerzahlers strapaziert, ihn dafür aber als Verbraucher mit der Kapitalisierung der europäischen Landwirtschaft entschädigt, die mit weltmarkttauglicher Exportware einen Beitrag zu seinem hohen Lebens(mittel)standard liefert. Ein eindrucksvoller Beleg also, dass der Kapitalismus tatsächlich so gut ist wie sein Ruf. Eine anständige Ernährung der Bevölkerung – billig und gut – kriegt das System der ‚profitorientierten‘ Marktwirtschaft allemal hin.

Seit November letzten Jahres ist ein Lernprozess in Gang gekommen, der leider wie immer im Leben auf einer schmerzlichen Erfahrung beruht. Das deutsche Volk ist einer „Legende“ auf den Leim gegangen, die ihm Politiker, welche der Agrarlobby hörig sind, eingeflüstert haben: Deutschland sei „BSE-frei“, deutsches Rindfleisch „sicher“. Es stimmt nicht. Die Prionen haben die Grenze übersprungen, Rinder aus vorbildlichen heimischen Höfen heimgesucht und selbst vor dem bayerischen Hochsicherheitstrakt nicht haltgemacht. Seitdem werden Zweifel laut, ob die Menschen in diesem Land mit ihrer marktwirtschaftlichen Versorgung wirklich gut bedient sind. Von Agrarfabriken, die „Profit“ erwirtschaften, weiß der Kanzler des Kapitalstandorts Deutschland zu berichten. Von Unternehmen ist zu hören, denen „Kostensenkung“ über alles geht, koste es die „Gesundheit des Verbrauchers“, was es wolle. Und die Politik steht im Verdacht, das Geschäftsinteresse einer ganzen Abteilung „industrieller Massenproduktion“ systematisch zu fördern. Die ungeheuerlichen Vorwürfe werden von den autorisierten Wirtschaftsberatern des deutschen Volkes erhoben, und zwar ohne Rücksicht auf etwaige Konfusionen in der nationalen Klippschule, wo das Einmaleins der globalisierten Marktwirtschaft normalerweise anders lautet: Da können Mega-Merger gar nicht groß genug sein, um international zu bestehen; da müssen Lohn-Kostensenkungsmaßnahmen ein Dauerprogramm sein, das die Politik mit allen Mitteln zu fördern hat; und die Produkte bereiten uns nur dann echte Freude, wenn der Profit, den ihr Verkauf realisiert, mindestens die ‚Profitgier‘ des Kreditkapitals zufrieden stellt, die an der Börse den Erfolgsmaßstab für alles reale Produzieren vorgibt. Zu dieser wirtschaftlichen Vernunft gibt es keine Alternative, schon gar nicht für eine Industrienation wie die unsrige.

Das gilt nach wie vor und überall, mit einer Ausnahme. Der Industriezweig, der ins Gerede gekommen ist, weil er sich so kostenbewusst und gewinnsüchtig betätigt wie das Kapital eh und je, ist nämlich eine Agrarindustrie, deren Besonderheit bis neulich kollektiv verdrängt wurde, jetzt aber wieder mächtig ins Bewusstsein dringt. Angesichts der Kollateralschäden, die die Konsumtion der Produkte dieser Industrie anrichtet, erinnert sich die Nation an ihre Kenntnisse der politischen Ökonomie, die sie sich in jahrzehntelanger Erfahrung mit „Lebensmittelskandalen“ angeeignet hat. Der Skandal ist diesmal besonders brisant, weil er in Gestalt einer hirnzersetzenden Seuche daherkommt, was selbst dem Autokanzler zu denken gibt. „Weg von den Agrarfabriken!“, lautet seine Erkenntnis, die Ursache und Therapie der Krankheit beim Namen nennt. Die ganze Nation hat den Verdacht, dass es von Übel ist, wenn die kapitalistische Grundrechnungsart in der Landwirtschaft genauso uneingeschränkt und kompromisslos auf Rentabilität durch Kostensenkung besteht wie in allen anderen Produktionssphären. Denn während dort die unschlagbare Effizienz des Kapitalismus unweigerlich zur Qualitätssteigerung der Produkte führt – und allenfalls die Fabrikarbeiter ein bisschen ruiniert –, mündet das profitable Züchten und Mästen von lebenden Fleischwaren in ein volksgesundheitliches Desaster. So kann es also „nicht mehr weitergehen“.

Die Anwälte der gesunden Volksernährung können dafür ein starkes Argument ins Feld führen, das umso überzeugender ist, je länger die Affäre sich hinzieht: Die Lebensmittelpanscher werden ihre Waren nicht mehr los. Auch nach drei Monaten BSE-Erfahrung steht der Verbraucher in Deutschland derart „unter Schock“, dass er sich überhaupt nicht mehr beruhigen will. „Nackte Zahlen“ belegen, dass die „Ängste der Konsumenten“ im „besonders sicherheitsbewussten Deutschland“ die Märkte „viel stärker einbrechen lassen als anderswo“. Das hätte man sich nämlich durchaus vorstellen und wünschen können, dass der Konsument Marke deutsch sich auch mal wieder abregt und die Sache – Legende hin, Legende her – genauso gelassen sieht wie sein Artgenosse in England oder der Schweiz. Da diesbezüglich aber eine komplette Fehlanzeige zu vermelden ist und der Verbraucher sich so renitent als Käufer verweigert, kommen Nationalisten aller Couleur zu dem Schluss, dass nur ein „Kurswechsel in der Agrarpolitik“ Abhilfe schaffen, sprich: das „Vertrauen in die Märkte“ wiederherstellen kann. So basteln Politik, Verbände und Öffentlichkeit am großen Konzept, das unter dem Titel „Umbau der Landwirtschaft“ segelt und keine Planwirtschaft werden soll. Die neuen Freunde der new ecology sind sich vielmehr darin einig, dass der „Verbraucherschutz“ ab sofort „absolute Priorität“ hat. Immerhin lassen sie damit durchblicken, dass das Geschäftsinteresse des panschenden Gewerbes, vor dem die konsumierende Menschheit auch in Zukunft „geschützt“ werden muss, die Grundlage aller Umbaupläne bleibt. Umgekehrt ist deswegen auch klar, dass der schönste Verbraucherschutz nichts taugt, wenn er zum Hindernis fürs Geschäft ausartet; rechnen muss sich die Produktion von Esswaren schon. Man sieht: Vom kapitalistischen Gegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten lassen die Beteiligten des Skandals sich nicht entmutigen. Sie setzen ihn einfach fort und vertrauen im übrigen auf die Phantasie von Marketingprofis, die mit ihrer Produktperformance den verunsicherten Verbraucher davon überzeugen, dass die Figuren, die auf sein Geld scharf sind, in Wahrheit seine besten Freunde sind: „Sicherheit geht vor Profit“, versprochen!

Mit der Zurückstufung des Profits auf Platz zwei ist die Sache allerdings noch nicht erledigt. Die neue Nr.1 ist nicht zum Nulltarif zu haben. Fleisch kostet Geld, Verträglichkeit einen Euro extra. Die kritische Absicht dieser Auskunft bezieht sich nicht auf den Profit, will nicht bedeuten, dass die Unverträglichkeit der Nahrungsmittel eben doch keinen anderen Grund hat als den geltenden kapitalistischen Produktionszweck desselben Namens. Der inkriminierte „Profit“ ist nämlich nur ein Synonym für Billigproduktion und will als Beitrag zur Klärung der Schuldfrage verstanden sein. Nur noch 15% ihres Haushaltsgeldes müssen die Deutschen für ihre Ernährung ausgeben. Das kann ja nicht gutgehen! Wer im Supermarkt, statt auf die Qualität, immer nur auf die Preise schaut, der darf sich nicht wundern, wenn der Wahnsinn um sich greift. Und so müssen die Menschen in diesem Land noch die andere Illusion begraben: dass ihre schöne Marktwirtschaft dazu da wäre, sie mit anständigen Nahrungsmitteln zu versorgen, die sie sich auch noch leisten können. Stattdessen haben sie endlich zu kapieren, dass man „zu schlechten Preisen nicht allerbeste Lebensmittel bekommen kann“ (Andrea Fischer), sondern den unverträglichen Billigfraß kriegt, bei dem mit schlechten Preisen nur allerbeste Geschäfte zu machen sind.

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Auf der Grundlage dieser Botschaft versorgen die Bedenkenträger staatlicher BSE-Politik die Nation zentnerweise mit Enthüllungsstorys, und zeichnen dabei ein ebenso drastisches wie realistisches Bild dessen, wie es in der Sphäre des kapitalistischen Landbaus zugeht. Eine rufschädigende Absicht in Richtung System kann ausgeschlossen werden; und ebenso die Befürchtung oder – je nach Standpunkt – die Hoffnung, dass die Wirkung auch ohne die Absicht eintritt. Denn der Kunstgriff dieser Verbraucherinformation besteht ja gerade darin, alles, was an Machenschaften des produzierenden und verarbeitenden Lebensmittelgewerbes aufgedeckt wird, in besagter Botschaft zu ersäufen. Immerhin lässt sich den Berichten, die nichts verschweigen, vertuschen oder verharmlosen, entnehmen, dass derartige Machenschaften die Normalität und Regel dieses Geschäfts sind, welches ohne staatliche Gewalt gar nicht funktioniert; sie schildern die Normalität der Ernährungslage ganzer Nationen, deren Volkskörper ohne volksgesundheitlichen Begleitschutz glatt verrotten würden; kurz: sie bebildern die systemnotwendige Symbiose von Staatsgewalt und Geschäft, aus der sich die Nutzen- und Schadensbilanzen ergeben, die sich je nach Interesse und Funktion der Beteiligten fein säuberlich sortieren. Dass sie am Ende dann doch alle das Gefühl haben, „gemeinsam in einem Boot“ zu sitzen, kommt nicht von ungefähr und wirft ein Licht auf die nationale Konkurrenzgemeinschaft und ihren obersten Rechtshüter.

Der eröffnet das große Fressen mit einer Generallizenz an seine Geschäftswelt. Als Gewaltmonopolist, der die Privatmacht des Geldes ins Recht setzt, sorgt der Staat dafür, dass alles Produzieren und Konsumieren in der Gesellschaft unter der ökonomischen Kommandogewalt des Kapitals steht. Mit dem Schutz der Freiheit des Eigentums, an dessen heiligem Recht allem Rinderwahn zum Trotz kein Schwein in dieser Republik irgendetwas auszusetzen hat, überantwortet er die Versorgung der Menschheit mit Nahrungsmitteln kapitalistischen Eigentümern und ihren Geschäftsinteressen, von deren Bedienung jedes andere Interesse abhängt. Was die Menschheit zu essen kriegt, wie viel sie sich leisten kann und was nicht, das alles hängt von den Gewinnkalkulationen derer ab, für die Fleisch, Fisch oder Gemüse eine Ware ist, deren Produktion und Verkauf sich für sie lohnen muss. So setzt der Staat die Herrschaft des Tauschwerts über den Gebrauchswert durch und macht das Kapital im doppelten Wortsinn zum Lebensmittel der Gesellschaft.

Damit dieses nicht nur das eigene Volk effizient ernähren, sondern auch einen Beitrag zur weltweiten Hungerbekämpfung leisten kann, kümmern sich die Staaten Europas darum, dass das Gewerbe, das unser täglich Brot garantiert, eine Exportbranche wird, die weltmarkttaugliche Ware produziert. Denn das ist der Maßstab des Lohnens, den sie ihrem Nährstand beibringen. Der darf und soll Geld verdienen, aber so, dass sein Geldverdienen zum nationalen Wachstum und zur Schlagkraft des gesamteuropäischen Standorts beiträgt. Dafür haben die politischen Erfinder und Bewährungshelfer des gemeinsamen Agrarmarktes das einzig Richtige getan und gemeinschaftlich die Industrialisierung der Landwirtschaft in Europa vorangetrieben, wohl wissend, dass deren imperialistische Zwecksetzung gewisse Aufräumarbeiten nötig macht und einen ziemlichen Geldaufwand erfordert. Zielstrebig setzen sie die Planungs- und Lenkungsinstrumente freiheitlicher Staaten ein, schützen ihren Markt durch Zoll- und Handelsschranken gegen die außereuropäische Konkurrenz, kreieren in Europa ein gigantisches Subventionssystem, das mit seinen Prämien, Ausgleichszahlungen, Ausfuhrstützungen etc. noch den entlegensten Bergbauernhof zur kapitalistisch-artgerechten Tierhaltung stimuliert; in ihren turnusmäßigen Agrarrunden schachern sie um die aus nationaler Sicht zweckmäßige Kombination von Fördern und Zerschlagen und organisieren auf diese Weise eine Auslese unter den Produzenten, bei der die Rentabilität in der Produktion von Rindern, Hühnern, Schweinen den Ausschlag gibt – und nebenbei ganz zwangsläufig die besagten Geschöpfe als solche sowie ihren Gebrauchswert als menschliche Nahrungsmittel ziemlich in Mitleidenschaft zieht. So haben sie aus dem nationalen Nährstand international agierende Nahrungsmittelunternehmer gemacht, die sich gegen die Konkurrenz – daheim, in Europa und weltweit – behaupten können; und so bewirtschaften sie – ohne den Gesichtspunkt nationaler Konkurrenz zu vernachlässigen – eine europäische Agrarindustrie, die als Instrument einer „aggressiven Exportpolitik“ taugt. Dieses Programm ist natürlich von Anfang an von der Einsicht geleitet, dass kapitalistisches Produzieren in dieser Sphäre nur funktioniert, wenn das schwächste Glied in der Kette, die bäuerlichen Produzenten, sich von den Fährnissen und dem Zeitbedarf der Zellteilung emanzipiert. Damit die Produktion von Rindern & Kapaunen nicht weniger effizient abgewickelt wird als die Fertigung von Autos & Kühlschränken – Verbilligung der Produktionskosten bei gleichzeitiger Steigerung des Outputs –, fördern die Staaten auch die Wissenschaft mit gutem Geld, so dass die Erkenntnisse der Biochemie nutzbringend zur Beschleunigung des Kapitalumschlags einer notorisch zur Langsamkeit tendierenden Naturware eingesetzt werden. Der Erfolg, den eine auf höchstem technischen Niveau arbeitende Düngemittel- und Tierfutterindustrie garantiert, kann sich sehen lassen: Zahlreiche „Energiestoffe“ – Kraftfutter, Milchaustauscher und andere antibiotisch angereicherte Wachstumsbeschleuniger – reduzieren die Reifezeit von Hühnern, Schweinen und Rindern auf kapitalgemäße Rekordwerte; erzeugen ein Fleisch- und Milchvolumen, von dem Mutter Natur nicht zu träumen wagt; machen die Aufzucht von Weidevieh unabhängig von vorhandenen Weideflächen; halten die damit einhergehende Seuchengefahr in den Ställen der „industriellen Massentierhaltung“ einigermaßen in Grenzen; mit dem Effekt, dass der Fleischverzehr den Verbraucher auch medikamentös ausreichend versorgt und die Bakterien, die ihn hin und wieder attackieren, gegen die gängigen Antibiotika resistent macht; was wiederum den Forschungsdrang der Pharmaindustrie enorm anstachelt usw.

Welch großartige Leistungen die Symbiose von Staat und Kapital ermöglicht, zeigt sich besonders eindrucksvoll in der Tatsache, dass es mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik gelungen ist, den Unterschied zwischen Müllentsorgung und Nahrungsproduktion definitiv zu beseitigen. Denn nach dem Kriterium der Rentabilität ist jeder nicht verwertbare Abfall ein himmelschreiender Widerspruch zum Zweck der Veranstaltung, also eine einzige Kostensenkungsoption und ein dauernder Stachel, sie voll auszuschöpfen. Dass noch der letzte Abfall an Hufen, Nervensträngen, Augen, Hirnhäuten oder zentrifugal gewonnenem Separatorenfleisch – nicht selten noch veredelt mit „Kot, Urin, Verpackungsmaterial, schutzbehandelten Holzspänen, Klärschlamm“ und anderen, nicht verbotenen, Geschmacksverstärkern – Eingang in die „Nahrungskette“ von Mensch und Tier findet; dass Knochen, Blutbahnen, abgeschabte Tierfette, mit Medikamenten und krebserzeugenden Substanzen vollgepumpte Laborratten und Versuchsmäuse zu einer homogenen Masse zusammengekocht werden, die als Tierfutter ebenso taugt wie als Schmierstoff für Industriemaschinen, das gibt eine Anschauung davon, zu welch universeller Verwendung der Gebrauchswert fähig ist, wenn er unter der Obhut des Tauschwerts und seiner Agenten steht. Die veranstalten ein dauerndes Experiment mit dem Gebrauchswert der Nahrungsmittel, die solange „verträglich“ sind, wie sie einen Markt finden; unterwerfen den Verbraucher also einem permanenten Verträglichkeitstest und führen vor, wie es geht, dass eine landwirtschaftliche Produktion unter der Prämisse kapitalistischer Kosteneffizienz ein ganzes Volk von Konsumenten mit seinen Esswaren systematisch vergiftet.

Das Volk ist freilich keine Ansammlung von „Konsumenten“; seine soziale Rolle hat es darin, die Arbeitermassen zu stellen, auf die das Kapital Anspruch hat, und um deren Verfügbarkeit und Nützlichkeit sich der Staat permanent kümmert. Dass die physische Reproduktion der – aktiven wie inaktiven – Arbeiter (inkl. Familien) in der „kleinen Zirkulation“ des kapitalistischen Warenkreislaufs beheimatet ist, setzt natürlich eine „Billigproduktion“ voraus, schließlich müssen die von einem Lohn oder Lohnersatz leben. Dass sie trotz ihrer armseligen Revenuequelle geglaubt haben, sie könnten sich „alles“ leisten, wenn sie nur sorgfältig „auf die Preise achten“; dass sie sich hemmungslos an den Sonderangeboten der Marktwirtschaft bedient haben – und dafür die Quittung erhalten haben, ist ein gelungener Witz unserer postindustriellen Spaßgesellschaft. Denn die Billigproduktion der „industriellen Landwirtschaft“, deren GAU wir gerade miterleben dürfen, hat ihren Grund ja wahrhaftig nicht in der „Anspruchshaltung“ der armen Schlucker, die es so massenhaft gibt, sondern im Interesse der Privateigentümer, auch aus deren Armut ein Geschäft zu machen. Die Agenten des Profits konkurrieren dabei um den nationalen Arbeitslohn als Kaufkraft; um einen Arbeitslohn also, der als Lohnkost des Kapitals für eine rentable Produktion immer zu hoch ist, dessen Senkung der Staat deshalb zum Kernpunkt seiner Standortpolitik gemacht hat. Als Kaufkraft ist der Lohn für die Realisierung des Profits zuständig; und da macht sich die betrübliche Erkenntnis breit, dass er nicht reicht, um all die schönen Waren zu versilbern, die der Markt im Angebot hat. Er reicht einfach nicht, um das Grundeigentum zufriedenzustellen, die Fernseher- und Kühlschrankindustrie zu fördern und auch noch das Lebensmittelkapital am Leben zu erhalten. Wohnen und Essen kann sich der Arbeitsmann nicht leisten, ganz zu schweigen von den Haushaltslöchern des Staates, die er auch noch stopfen helfen darf. Wenn das Essen und Trinken aber ein Geschäft sein soll, und das soll es ja nach staatlichem Willen, dann muss die Ernährung der Nation eben so organisiert und bewirtschaftet werden, dass der Haushaltsposten für mangiare die Funktion einer „Inflationsbremse“ kriegt: das sind die berühmten 15 Prozent. Damit es dazu kommen konnte, mussten allerdings die Produktivkräfte nach der Rechnungsart des Kapitals entfesselt werden – eine Änderung der Produktionsverhältnisse war ja nicht vorgesehen –, so dass all die schönen Wirkungen herauskommen, die der Menschheit zu schaffen machen und keine Nebenwirkungen sind. Das macht sich unter anderem darin geltend, dass die „kriminelle Energie“, die durch das Programm so vielfach beflügelt wird, nur schwer und manchmal gar nicht von einer ganz legalen, staatlich sogar erwünschten Geschäftspraxis zu unterscheiden ist. Kein Wunder ist deshalb auch die Verbitterung ehrenwerter Geschäftsleute, die nicht verstehen, dass die gewinnbringende Produktion von Tiermehl geächtet wird, bloß weil ein staatliches Verbot eine rechtswidrige Handlung aus ihr macht. Und in England hat sich der Rechtshüter selbst zehn Jahre lang geweigert, in der Praxis, eine Scrapie-befallene nationale Schafsherde zum Rohstoff der nationalen Rinderproduktion zu machen, etwas anderes zu sehen als die sinnvolle Methode, die Produktionskosten durch vorbildliches Recycling von Abfall zu senken – und mit seiner Bedenkenlosigkeit alle anderen europäischen Rechtshüter sosehr beeindruckt, dass sie sich ein Beispiel daran genommen haben.

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Dass der Staat „aufpassen“ muss, weiß er nur allzu gut. Er macht sich nichts vor, zu welcher Sorte Freiheit er seine Wirtschaftssubjekte ermächtigt, die das Risiko der Konkurrenz für erstrebenswerter halten als die Sicherheit eines gemütlichen Lohnarbeiterdaseins. Er hat keinerlei Illusionen über die jeden Anstand zersetzende Form des Reichtums und die damit einhergehende skrupellose Praxis der Bereicherung, die unter seinem hoheitlichen Schutz stehen. Dass seine Unternehmer, wenn’s drauf ankommt, Hühnerscheiße zu Erdnussbutter verarbeiten, weil der Preisdruck der Märkte das nahelegt, davon geht er aus. Er selbst ist es ja schließlich, der seine Gesellschaft auf den Konkurrenzmaterialismus des Geldes verpflichtet und den Nutzen und Erfolg der Nation darauf gründet.

Die im Geld materialisierte Gleichgültigkeit gegen die Nützlichkeit der Gebrauchswerte hat vom Standpunkt kapitalistischer Produzenten nur einen einzigen relativierenden Aspekt: den Misserfolg des Verkaufs. Wenn die Futtermittel, die sie auf den Markt werfen, die Kundschaft nicht bloß ernähren, sondern auch ein bisschen vergiften, dann leidet, wenn sich das herumspricht, außer dem Kunden das Geschäft. Dieses Risiko hält die Lebensmittelversorger von nichts ab. Sie vertrauen auf ihre Erfahrung, dass der Mensch eine Menge aushält, bevor er auseinander fällt; sie bauen auf die Sicherheit, dass ihre Kunden ihnen nicht entkommen, was sie daran erkennen, dass die allen Skandalen zum Trotz zu „Vergesslichkeit“ neigen; und sie verlassen sich auf die Einsicht des Staates, dass ihr Nutzen auch der seine ist. Der Staat sieht die Sache ähnlich, allerdings mit einer anderen Perspektive. Er teilt nicht den bornierten Konkurrenzegoismus einzelner Produzenten oder Händler. Als ideeller Gesamtkapitalist achtet er auf das Funktionieren des nationalen Konkurrenzgeschäfts, kümmert sich als Rechtsstaat um die Kontinuität des Profitmachens, die er mit einem umfangreichen Paragraphenwerk sicherstellt, welches die Dosierung der Vergiftung mit Grenzwertdefinitionen und anderen originellen Zulassungsbeschränkungen regelt; und betätigt sich insofern als Sozialstaat, der das „Recht“ seiner Bürger „auf körperliche Unversehrtheit“ schützt.

Der rechtsstaatlichen Restriktion des Geschäfts zum Nutzen des nationalen Geschäftemachens verdankt der Mensch also den hoheitlichen Schutz seiner Gesundheit, oder besser gesagt: darin besteht der Schutz. Die Restriktionen sollen sicherstellen, dass die Privateigentümer es bei der Vermehrung ihres Eigentums nicht ‚zu weit‘ treiben. Wie weit sie es treiben können, und was die Sorge um die Volksgesundheit so alles einschließt – nicht nur an Risikomaterial, das derzeit die Runde macht, sondern auch an staatlicher Risikobereitschaft –, dafür liefert die BSE-Affäre glanzvolle Belege. Dass Scrapie den „Artensprung“ vom Schaf aufs Rind geschafft hat; dass ein zweiter Artensprung vom Rind auf den Menschen möglich ist, womöglich sogar schon stattgefunden hat; dass der eine oder andere Creutzfeldt-Jakob Fall eine „neue Variante“ darstellt und mit dem Wahnsinn der „Kuh 133“ zusammenhängt; das konnten und wollten verantwortungsbewusste englische Wissenschaftler schon vor fünfzehn Jahren nicht mehr ausschließen. Mit ihrer Sorge, dass die Fälle, mit denen sie es zu tun haben, nur die Spitze eines Eisbergs sein könnten, wenden sie sich an die Regierung. Sie geben zu Protokoll, dass sie nichts Gesichertes wissen, aber genügend Anhaltspunkte haben, die ihre Befürchtungen stützen; sie melden Forschungsbedarf an, verlangen die finanziellen und materiellen Mittel dafür, inklusive der kranken Kühe als Forschungsobjekte, und raten zu einem Stopp der Verfütterung von Kadavermehl an Rinder, bis gesicherte Erkenntnisse über Ursache und mögliche Übertragungswege der Krankheit vorliegen. Mit all diesen Anträgen beißen sie bei der Regierung auf Granit. Die stellt sich nicht einfach blind und taub zu den Warnungen ihrer wissenschaftlichen Experten – dass die forschen, sie beraten und nötigenfalls warnen, dafür werden sie schließlich bezahlt –; sie trifft vielmehr eine politische Abwägung. Die in Aussicht gestellte Schädigung ihrer Volksbasis – als mögliche Seuche mit tödlichem Ausgang nichts Geringes – setzt sie ins Verhältnis zum ökonomischen Schaden, mit dem sie sicher rechnen kann, wenn sie bloß „zugibt“, dass eine Seuchengefahr für Rinder und Menschen besteht. Und erst recht, wenn sie diese Gefahr mit allen Konsequenzen anerkennt. Dann nämlich greift, vom Einzelfall getrennt, das seuchenrechtliche Regelwerk des Rechtsstaates rücksichtslos gegen jedes bestimmte Rentabilitätskalkül, dann muss mit jedem „Einzelfall“ die ganze Herde vernichtet werden. Angesichts dieser Aussichten kommt die Regierung nach Abwägung aller Unwägbarkeiten zu dem Schluss, dass von einem Eisberg vorerst nichts zu sehen ist; sie sieht nicht ein, dass sie auf Basis „ungesicherter Prognosen“ eine ganze Abteilung der nationalen Landwirtschaft aufs Spiel setzen soll, nur weil ihre wissenschaftlichen Angsthasen ein „Risiko“ für die Bevölkerung nicht ausschließen wollen. Also gibt es dieses Risiko nicht. England hat kein BSE-Problem, es hat nur ein paar kranke Rinder, so dass sich das Problem durch Schlachtung erledigt. Sobald dieser Beschluss gefasst ist, steht auch fest, dass der Kampf nicht gegen eine Seuche geht; bekämpft werden muss vielmehr die üble Nachrede, die Nation hätte ein Seuchenproblem. Um jeden Zweifel an ihrer „Einschätzung“ im Keim zu ersticken, treibt sie dem staatlich organisierten Expertentum erst einmal gründlich die Flausen in Sachen Verantwortung der Wissenschaft aus: „im Dienste des Volkes“ heißt auch in der freiheitlichen Welt nicht, die Regierung mit volksgesundheitlichen Skrupeln zu nerven, und schon gar nicht, das Geschäft der Politik aus lauter nationaler Verantwortung mit subversiven Aufklärungsversuchen in der Öffentlichkeit zu stören. Mit dem Entzug staatlicher Gelder, der Schließung von Instituten und der Erledigung manch hoffnungsvoller Karriere zügelt die Regierung ihrer Majestät den Forschungsdrang der Wissenschaft. Ebenso gründlich kümmert sie sich um das Objekt der Erforschung, erklärt alle BSE-verdächtigen Rinder zu staatlichem Eigentum und entsorgt sie in eigener Regie. Und zwar Jahre lang völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass die Zahl der getöteten Kühe sich auf dem Niveau von 2000 und mehr pro Monat bewegt. Sie verfügt Massenschlachtungen, entschädigt ihre Bauern mit fünfzig Prozent des Marktwerts, was den Export nach Europa sprunghaft ansteigen lässt, und setzt ungerührt ihre demokratische Öffentlichkeitsarbeit fort: Sie hält das Datenmaterial, das ihr vorliegt, unter Verschluss; kassiert die Berichte der regierungseigenen Kommissionen, wenn sie die Lage nicht so beschönigen, wie es zur Beruhigung des Verbrauchers nötig ist; setzt bewusst Lügen in die Welt etc. Der Landwirtschaftsminister persönlich lässt es sich nicht nehmen, seinen Landsleuten zu zeigen, zu welchen Charakterdeformationen es politische Charaktermasken der Demokratie bringen, und „lässt vor laufenden TV-Kameras seine 4-jährige Tochter demonstrativ hirnhaltige Hamburger verzehren“, damit das englische Volk weiß, wie sicher british beef ist.

Der nationale Feldversuch stiftet immerhin eine gewisse Klarheit und zeigt, dass auch Staaten lernfähig sind. Nach einem Jahrzehnt kommt die britische Regierung nicht umhin, eine Zwischenbilanz ihrer Politik der „nationalen Legende“ zu ziehen. Mehrere hunderttausend Rinder sind in den Verbrennungsöfen gelandet, und die nvCFJ-Toten nehmen zu. Ihre wissenschaftlichen Berater können beim besten Willen nichts mehr beschönigen; die „Übertragbarkeit“ der Krankheit ist im wissenschaftlichen Experiment längst erwiesen, ebenso die „Veränderung“, die der Erreger bei seinem Artensprung erfährt. Zwar wissen die Berater sonst nicht sehr viel mehr, aber der Zusammenhang zwischen BSE und der neuen CFJ-Variante erscheint inzwischen „wahrscheinlich“. Aufgrund der Datenlage rechnen sie der Regierung vor, dass eine gute Million BSE-befallener Rinder an die heimische Bevölkerung verfüttert wurde, und raten ihr, sich im „worst case“ auf 150.000 bis 200.000 Tote einzustellen. Das macht Eindruck auf die Risikoabschätzung und den politischen Verantwortungsträgern klar, dass der staatliche Handlungsbedarf neu zu definieren ist. Worin der besteht, entnehmen sie den ökonomischen Konsequenzen, mit denen sie einerseits konfrontiert werden – vor allem durch das europäische Ausland –, und die sie andererseits mit jeder noch so vorsichtig dosierten volksgesundheitlichen Risikoeingrenzung selber herbeiführen.

Die Sorge des Staates, sich ein unkalkulierbares Risiko, den Volkskörper betreffend, eingehandelt zu haben, führt dazu, dass er die Praxis der Verharmlosung und des Ignorierens der „verschwindend geringen Gefahr“ ein Stück weit aufgibt und „eine Gefährdung der Bevölkerung nicht mehr ausschließt“. Damit gesteht die englische Regierung allerdings auch ein, was sie zehn Jahre lang geleugnet hat, und sorgt mit dem Eingeständnis endgültig dafür, dass der Rindermarkt in England den Einbruch erlebt, den sie vermeiden wollte. So erfährt sie, dass ihre Rechnung nach beiden Seiten nicht aufgegangen ist: Die „Unbedenklichkeit“ des Fleischverzehrs, die sie ihren Massen ideologisch und praktisch verordnet hat, wirft ein volksgesundheitliches Problem mit möglicherweise unkontrollierbaren Folgen auf; und die Bedenkenlosigkeit, mit der sie ihren Markt geschützt hat, endet in einem ökonomischen Desaster. Diese ungute Kombination lässt nicht nur England, sondern auch die anderen europäischen Nationen zu Anwälten der Gesundheit und des Verbraucherschutzes werden. Ob und inwieweit sie dabei von der „Angst“ beseelt sind, dass ihre Volksmassen systematisch und unwiederbringlich vergiftet werden, lässt sich mit letzter Sicherheit wohl nicht beurteilen; nach allem, was man an Problemdefinitionen und Lösungsmaßnahmen so mitbekommt, laufen die Berechnungen von England bis nach Spanien allerdings ziemlich eindeutig darauf hinaus, dass die „Marktbereinigung“ das eigentliche Gesundheitsproblem Europas ist. England hat es vorgemacht, wie eine kapitalistische Nation auf eine Seuche reagiert, die das unmittelbare Produkt des landwirtschaftlichen Geschäfts ist; und weil England, politökonomisch gesehen, eben doch keine Insel ist, haben die Menschen in Europa das historische Glück, auch noch mitansehen zu können, wie imperialistische Nationen, die wild entschlossen sind, die Konkurrenzfähigkeit ihres gemeinschaftlichen Standorts kontinuierlich zu verbessern, gemeinsam die Gesundheit in Europa retten.

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Die „europäischen Partner“ Englands treffen ebenfalls eine Risikoabwägung, und zwar für sich. Dass englische Rinder von einer BSE-Krankheit befallen sind, lässt sie jahrelang völlig kalt; sie halten die Tiermehlverfütterung für eine rundum sinnvolle Sache und ihre Massen daheim für mindestens genauso resistent wie die Inselbewohner im Nordatlantik, teilen also allesamt den gleichen volksgesundheitlichen Standpunkt und stehen sich im staatlichen Mut zum Risiko in nichts nach. Deswegen sehen sie auch keinen Anlass, die freie Zirkulation von Rinder-, Kälber- oder Wurstwaren quer durch Europa auszusetzen. Mit dem Ausmaß der englischen Betroffenheit wird ihnen dann allerdings die Brisanz dessen klar, dass sie es nicht mit irgendeinem Dioxin- oder Glykolzusatz, sondern mit einer „Übertragungskrankheit“ zu tun haben, die aus einem „englischen Problem“ eine europäische Betroffenheit macht. Als zivilisierte Nationen besinnen sie sich auf ihre Aufgabe, Schaden von ihren Völkern abzuwenden, dringen darauf, dass England sich zu seinem BSE-Problem bekennt, und melden so europäischen Handlungsbedarf an. Der orientiert sich, wie in England, an den ökonomischen Konsequenzen, die zu gewärtigen sind – jetzt aber für alle anderen nationalen Märkte und insofern für das gesamteuropäische Agrargeschäft. Die guten Europäer führen vor, was es heißt, wenn sie sich als Staaten dazu durchringen, die Krankheit doch tatsächlich als Seuche anzuerkennen: dann machen sie aus der ‚Seuchenbekämpfung‘ eine einzige imperialistische Konkurrenzveranstaltung, lokalisieren den Erreger nach nationalen Gesichtspunkten, machen also aus Gesundheitsfragen Standortfragen des höchsten Kalibers, und entdecken eine hervorragende Gelegenheit, ihre Konkurrenz auch mal wieder mit den Mitteln des Protektionismus auszutragen, dem sie für alle Zeiten abgeschworen haben. Die Hüter des freien Warenverkehrs, die einen Agrarmarkt bewirtschaften, auf dem kein Tiermehlfabrikant, kein Schlachthof, Metzger oder Bauer nur für eine nationale oder gar lokale Kundschaft produziert; auf dem die Geschäftswelt tagtäglich von Schottland bis Sizilien Massen von lebenden und toten Fleischwaren hin und her verschiebt und den gesamteuropäischen Umwelt- und Tierschutz ob der vielen LKWs auf den Straßen und der tierquälerischen Transportmethoden in Aufregung versetzen, diese Figuren haben den bestechenden Einfall, dass die Prionenkrankheit, recht besehen, nur in Großbritannien beheimatet ist, während die anderen Märkte Europas „BSE-frei“ sind. Und damit das so bleibt, dringen die Staaten der Gemeinschaft darauf, dass Großbritannien sein Problem daheim bewältigt. Sie beschließen, um Verbraucher und nationale Märkte sowie den guten Ruf des europäischen Rindfleischs zu schützen, ein Embargo: weltweites Exportverbot für englische Rinder, Rindfleischprodukte und englisches Tiermehl; Verpflichtung Großbritanniens, alle Rinder, die älter als 30 Monate sind, zu schlachten und zu verbrennen, insgesamt 4 Millionen. So bewältigen sie die geschäftsschädigenden Wirkungen ihrer volksgesundheitlichen Schutzmaßnahmen, indem sie den Schaden national vereinseitigen und dafür sorgen, dass der englische Rindermarkt – für eine Weile zumindest – tatsächlich „tot“ ist.

Den Vorwurf Englands, dass der gesamteuropäische Gesundheitsschutz für die anderen Staaten nur ein Vorwand sei, um sich nationale Konkurrenzvorteile zu verschaffen, also nicht den Verbraucher, sondern die heimische Geschäftswelt schützen soll, lassen deren Regierungen nicht zu. Das Embargo ist selbstverständlich zeitlich limitiert, es soll ja keine Absage an Europa sein oder den Ausschluss Englands einleiten. Wie lange es in Kraft bleibt, und unter welchen Konditionen es gelockert und schließlich aufgehoben wird, das allerdings ist wiederum Gegenstand innereuropäischer Konkurrenz, bei der sich die nationalen Subjekte dieser Konkurrenz ungeheuer kooperativ zeigen: England hat es selbst in der Hand, wie schnell die Sanktionen aufgehoben werden; es braucht nur die Sicherheitsauflagen der EU ernsthaft und nachprüfbar umzusetzen. Die Überprüfung obliegt – wg. Objektivität – EU-Gremien, die regelmäßig nachschauen, ob England seine Hausaufgaben erledigt; das bereichert die europäische Kultur der Einmischung, schafft viel Beratungsbedarf, um die Zerwürfnisse in der Gemeinschaft in konstruktive Politik umzusetzen, und bringt die Eindämmung der Seuche entschieden voran. Daneben verständigen sich die EU-Staaten darauf, wie das Geschäft auch neben und unter dem Embargo weitergehen soll. Sie definieren das „Risikomaterial“, das sie ihren Völkern ersparen wollen, ohne ihrer Geschäftswelt zu nahe zu treten; und da sie den Unterschied zwischen Mensch und Tier bei allem Respekt vor „dem Leben“ nicht verwischen wollen, bestimmen sie gleich mit, welchen Viechern der menschlichen Nahrungskette sie welches Risikomaterial zugestehen. Die Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer erscheint ihnen problematisch und wird verboten, an andere Gattungen & Familien bleibt sie erlaubt. Der Erfahrungstatsache, dass die Prionen inzwischen Hauskatzen, amerikanische Elche, afrikanische Löwen in englischen Zoos und Schweine im Laborversuch befallen haben, tragen sie dadurch Rechnung, dass sie die Produktion des Tiermehls mit Auflagen zu einem „sicheren“ Herstellungsverfahren versehen, das den Erreger, von dessen Funktionsweise die entscheidungsbefugten Knalltüten nicht die leiseste Ahnung haben, „abtötet“: 133 Grad Celsius bei drei Bar Druck und zwanzig Minuten lang – damit wahren sie die Einheit von Tierschutz und menschlicher Gesundheitsvorsorge.

Den Clou im Kampf gegen die Seuche landen die europäischen Nationen mit ihrer Erkenntnis, dass ein Qualitätssiegel „garantierter Herkunft“ immer noch der beste Verbraucherschutz ist. Wo die Prionen herkommen, ist klar, und woher nicht, auch. Also lassen die nationalen Rechtshüter als Reaktion auf die englische Krankheit überall in Europa „BSE-freie“ Zonen aus dem Boden sprießen und stellen sie unter ihren besonderen nationalen Schutz. Die Sicherheit, die sie damit stiften, ist enorm: Der Verbraucher hat eine echte Orientierungshilfe bei der Frage: was kann ich noch essen, wem kann ich vertrauen? Und die Produzenten haben die beruhigende Rechtssicherheit, dass ihnen keiner über die Schulter und in die Ställe schaut. Und das ist ja auch richtig, denn: „Wo nichts ist, braucht nicht getestet zu werden“, und wo kein Risiko herrscht, macht es „keinen Sinn, von Risikomaterial zu reden“, dessen Entfernung nur „die Bauern wirtschaftlich belastet“ (Stoiber). Die Tierfutterhersteller, die eine so wichtige und zentrale Rolle in der landwirtschaftlichen Kreislaufwirtschaft spielen, brauchen einen besonderen Vertrauensschutz, den sie mit dem Schutz ihres „geistigen Eigentums“ und „Geschäftsgeheimnisses“ auch bekommen: Befreiung von jeder Deklarationspflicht ihrer „Rezepturen“, die nur die Etikettenindustrie überfordern würde, weil die Rezepturen sich „sowieso fortlaufend ändern“. Manche (Landes-)Regierung zieht daraus den einzig vernünftigen Schluss und schafft gleich die entsprechenden Kontrollbehörden ab (Bayern), die unnötig Steuergelder verschlingen. Wie man sieht, lernen die Staaten Europas ihre Lektion aus dem britischen Desaster und kopieren die „englische Methode“ der Seuchenbekämpfung – in der praktischen und ideologischen Bekämpfung des Verdachts, sie hätten womöglich auch ein BSE-Problem: Von Prionenforschung halten sie genauso wenig wie die englische Regierung, halten folglich auch ihre Wissenschaft an der kurzen finanziellen Leine; das Verdikt gegen England untermauern sie mit ihren Boykottmaßnahmen, deren Glaubwürdigkeit sie mit der Verweigerung von Tests daheim belegen. So stiften sie „Vertrauen“ beim Verbraucher in die nationalspezifischen Wurst- und Fleischwaren, ein Vertrauen, das von der üblen Nachrede auf die auswärtigen Produkte und Produktionsmethoden lebt. Sie mobilisieren die „Gutgläubigkeit“ von Nationalisten, die in ihrer praktischen Abhängigkeit sowieso keine anderen „Auskünfte“ erhalten als die ihres Staates und sich daher bereitwillig die Illusion verpassen lassen, in der Bedienung der heimischen Geschäftswelt das Beste für ihre Gesundheit und Sicherheit zu tun.

Mit ihrer nationalen Seuchenbekämpfung richten die europäischen Nationen mit vollem Risikobewusstsein lauter hoheitlich geschützte Grauzonen ein. Sie schützen ihre Völker, indem sie sich wechselseitig – manchmal mit Vorbehalten – das europäische Zertifikat einer BSE-freien Zone ausstellen und so ihre nationalen Märkte schützen, so dass der landwirtschaftliche Import und Export in Europa munter weitergeht. Und zwar einerseits mit den Waren, deren „Unbedenklichkeit“ keinen medizinischen, sondern einen politischen Stempel trägt. Andererseits aber auch mit all den anderen Waren, die die Politik mit Sanktionen belegt. Die Verantwortungsträger machen sich überhaupt nichts vor, was „die bekannten Handelswege“ in Europa betrifft, geben zu, dass sie die gar nicht kontrollieren können – oft genug aber auch gar nicht wollen. Denn zum Kontrollieren haben die Staaten ein sehr pragmatisches Verhältnis. In der griffigen Formel, dass sie unmöglich hinter jeden Metzger, Bauer oder Tiermehlfabrikanten einen Kontrolleur stellen können, bekräftigen sie ein ums andere Mal, für wie kontraproduktiv sie das Nachschauen im Namen der Volksgesundheit halten, und signalisieren ihren Schlachthöfen und Futtermittelfabriken jenes Vertrauen, ohne das kein Marktteilnehmer auf den Märkten bestehen kann. „Verschleppung“ heißt dann das Verfahren, bei dem Futtermittelhersteller die „tolerierten“ 1 bis 2 Prozent (und manchmal ein paar Prozent mehr) Rindermehl „beimengen“, weil die Reinigung der Silos bei der Umstellung von Schweine- auf Rinderfutter einfach zu kostenaufwendig ist. Und die Bauern, wenn sie auch sonst nichts wissen, wissen anhand der Testvorschriften zumindest, „wann“ sie ihre Kühe in den Schlachthof bringen müssen. Mit ihrer kongenialen Nachahmung der englischen Seuchenbekämpfung haben die europäischen Nationen eine Sicherheit jedenfalls gestiftet: die Verallgemeinerung der Seuche in ganz Europa ist ihnen gelungen.

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Anders als England, das nicht die Existenz seiner BSE-Kühe geleugnet hat – das wäre ja auch schwerlich möglich gewesen –, sondern den für die Menschen gefährlichen Seuchencharakter der Krankheit, gründen die restlichen EU-Staaten ihre nationalen Legenden auf die Behauptung, bei ihnen gebe es die torkelnden Rinder nicht. Ihre für die Massen daheim gedachte Beschwichtigungsparole, mit der sie in Europa Standortpolitik betreiben, geht von der Anerkennung von BSE als Übertragungskrankheit aus, auf die sie selber in ihrer Frontstellung gegen England gedrungen haben, und die seither in Europa gilt. Deshalb steht und fällt ihre nationale Lüge mit der Verschleierungspraxis daheim. Aus dem gleichen Grund ist allerdings auch ihr Verfallsdatum vorprogrammiert. Angesichts eines florierenden EU-Agrarmarktes und der gemeinschaftlichen Praxis einer Grauzonenbewirtschaftung ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Staaten durch Erfahrung klüger werden und die Kühe, die sich mit auffälligem Verhalten zu Wort melden, als Indiz dafür nehmen, dass ihre geniale Praxis der volksgesundheitlichen Standortpflege den Prionen offenbar doch den Weg zu den heimischen Märkten gewiesen hat, also ein ernst zu nehmendes Problem aufwirft. Zynisch genug, es erst einmal drauf ankommen zu lassen und ihren Völkern den nationalen Großtest am lebenden Objekt als höchste Form der Verbrauchervorsorge zu verkaufen, sind sie andererseits nicht so naiv, ihre eigene Legende zu glauben. Dass die sachlich gesehen nichts wert ist, wissen sie selber am besten, kennen also auch den Weg, wie man sie aus dem Verkehr zieht: „Wer testet, der findet“! Sukzessive kommen die Standortbetreuer zu dem Schluss, dass sie ihren Verbrauchern diese Zumutung schuldig sind. Ihre Sorgen unterscheiden sich nämlich ein wenig von dem Problem, das Otto Normalverbraucher hat oder kriegt, wenn er seine liebgewonnenen Risikomaterialien verdrückt. Als Verantwortungsträger denken sie ans Ganze, können es nicht hinnehmen, dass sich in ihrem Hoheitsgebiet eine Krankheit ausbreitet, die eine so schädliche Wirkung auf den Wirtschaftssektor hat, der diese Krankheit hervorbringt. Folglich ist Testen angebracht, um die ökonomischen Folgen in den Griff zu bekommen; sprich: mit einigen geschäftsschädigenden Revisionen ihrer bisherigen Praxis neues Vertrauen zu schaffen – in die Märkte und in die Politik. Damit das funktioniert, bestehen die europäischen Imperialisten – in Erinnerung an die Startphase der BSE-Affäre – allerdings auf einer entscheidenden Änderung in der Praxis der Krisenbewältigung: Dass sie sich gegeneinander so aufführen wie anno 96 das gemeinschaftliche europäische Ausland gegen England, soll nicht wieder vorkommen; da jetzt alle betroffen sind, verstößt eine Nationalisierung des Schadens gegen die guten europäischen Sitten. So leiten sie aus der allgemeinen Betroffenheit den Grundsatz ab, dass aus ihrer jeweiligen nationalen Betroffenheit kein auswärtiger Souverän einen Vorteil schlägt; bzw. umgekehrt: dass alle nationalen Maßnahmen der Krisenbereinigung per Brüsseler Beschlüsse europaweit gelten sollen, die Bewältigung der politischen Unkosten eingeschlossen.

Von daher ist es kein Wunder, dass Deutschland in den Blickpunkt europäischer Unzufriedenheit gerät. Die ‚Mitte Europas‘ hält allen „Erfahrungen“ ihrer Nachbarn zum Trotz stur an ihrer BSE-freien Zone fest; ignoriert die Einschätzung des wissenschaftlichen Lenkungsausschusses der EU, der die Tabellenplätze in der BSE-Championsleague vergibt und das Land in die „dritte Risikokategorie“ (stark gefährdet) einstuft; verweigert sich notorisch jedem Testen und blockiert mit dem Hinweis auf „deutsche Sicherheitsstandards“, welche die „höchsten“ in Europa sind, sämtliche Initiativen der EU in Sachen Neudefinition von Risikomaterial u.ä. Dem stellt sich die rotgrüne Regierung. Sie hat schon lange vor dem schwarzen November die Gewissheit, dass die Politik der Verschleierung über kurz oder lang auffliegt, verordnet sich eine neue Ehrlichkeit und schwenkt auf die europäische Linie um: Alle sollen testen. Das Ergebnis ist bekannt.

Die erste original deutsche BSE-Kuh erzeugt in der Nation einen Schock. Nicht bei den Regierenden, die sich allenfalls ein bisschen „betroffen“ geben; auch nicht bei der Öffentlichkeit, die vom Tag der Entdeckung an „schon immer gewusst“ hat, dass die deutsche Losung – „wir sind BSE-frei“ – ein „deutscher Wahn“ war; echt „geschockt“ ist wieder einmal der angeschmierte Verbraucher. Der entnimmt den Auskünften, die ihm auf allen Kanälen erteilt werden, nicht, wie er in den wirklichen Berechnungen seiner Obrigkeit vorkommt, ist also durchaus vernünftig; leider entnimmt er ihnen aber auch nicht die gute Absicht der Regierung, mehr Sicherheit durch Aufklärung zu stiften. Er macht stattdessen das Verkehrteste, was er in dieser schwierigen Lage machen kann, und reagiert mit „Panik“ an den Ladentheken. Zu seiner Ehrenrettung sei angemerkt, dass er der Regierung nur das entzieht, was die so hemmungslos von ihm fordert: sein nationalistisches Vertrauen darauf, dass die eigene Obrigkeit schon für die gesunde Qualität der hierzulande erzeugten Nahrungsmittel bürgt. Die Penetranz, mit der deutsche Regierungen von Kohl bis Schröder ihren Massen eingeimpft haben, dass der europäische Agrarmarkt sich dank ihrer überragenden Kompetenz in nationale Erregerzonen parzellieren lässt, schlägt jetzt mit voller Wucht zurück. Weil die nationale Herkunftsdeklaration die Garantieerklärung für den Verbraucher war, zerstört das Eingeständnis, dass auch die deutsche Herkunft malade ist, mit einem Schlag die Glaubwürdigkeit der Regierung und damit das Vertrauen in den „deutschen“ Markt. Die Regierung – und mit ihr der heimische Rindermarkt – erhält die Quittung dafür, dass sie ihre Konsumenten als Nationalisten agitiert und deren „Verbrauchervertrauen“ ausdrücklich als Misstrauen gegen auswärtige Rinderwaren abgerufen hat. Deswegen nimmt der Verbraucher, der historischen Ironie keineswegs abhold, in dieser Affäre seiner Obrigkeit (fast) alles übel, was er ihr in sonstigen Skandalaffären verzeiht. Er entdeckt die Kunst der dialektischen Schlussfolgerung: bemerkt aus purer Borniertheit, dass staatliche Aufklärung Gefahren nicht beseitigt, sondern belegt – siehe die bundesweit verordneten Schnelltests, die einen „Familienbetrieb“ nach dem anderen zum Offenbarungseid zwingen und ihm zeigen, in welch fortgeschrittenem Stadium sich sein Verbraucherrisiko befindet; er registriert, dass staatliches Kontrollieren nichts verhindert, sondern lauter amtlich geduldete und ministeriell gedeckte „Schlampereien“ auffliegen lässt – und gleich wieder neue „kriminelle Energien“ der Marktteilnehmer freisetzt; er nimmt zur Kenntnis, dass die staatlichen Schutzvorschriften nur neue Risikomaterialien definieren und die Liste der bedenklichen Speisen laufend ergänzen. Der Verbraucher tauscht also sein abgrundtiefes nationalistisches Vertrauen von gestern gegen ein nicht minder heftiges nationalistisches Misstrauen ein – diesmal allerdings gegen die eigene Regierung, der er „nichts mehr glaubt“. Mit diesem völlig verkehrt gepolten Misstrauensverhalten, das wahrlich den Namen „Hysterie“ verdient, macht er die Berechnungen der Regierung zunichte, die mit ihren volksgesundheitlichen Korrekturmaßnahmen das aufgeregte Volk wieder beruhigen und dessen Verbrauchervertrauen wiedergewinnen will.

An der desaströsen Dimension des ökonomischen Einbruchs wird nicht nur der deutschen Regierung klar, welches Problem Europa auf den Nägeln brennt. Als wollten sie noch die letzten nicht vorhandenen Zweifler davon überzeugen, dass demokratische Politiker von Format sich am allerwenigsten vor einer Seuche fürchten, verkünden die Gestalter Europas ihre neue verbraucherorientierte Philosophie, die mehr „von der Ladentheke her“ denkt. Ohne jede Scham erläutern sie den Massen, wie die Wahrnehmung politischer Charaktermasken funktioniert, in welcher Hinsicht sich also verantwortungsbewusste Standortbetreuer für die gesundheitlichen Ängste ihrer nationalen Verbraucher interessieren: Die sollen gefälligst wieder die Lust am Kaufen entwickeln und ihr Geld dorthin tragen, wo es dringend gebraucht wird. Wegen der Dringlichkeit können die Standortbetreuer allerdings nicht warten, bis der Verbraucher ein Einsehen hat. Denn da gegen den Erreger medizinisch vorerst sowieso nichts auszurichten ist, muss der Markt mit den politischen Instrumenten bereinigt werden, die kapitalistische Nationen für die Ausgeburt von Vernunft halten: Mindestens 2 Millionen Rinder, so taxieren sie, sind in Europa „überflüssig“, weil sie unverkäuflich sind. Also muss man sie, ob BSE-befallen oder nicht, in national definierten Kontingenten aus der Warenzirkulation nehmen und vernichten, um den Markt zu „entlasten“. Das wirft zwei Probleme auf: Wer soll das bezahlen? Und darf man das? Die finanzielle Frage wird im üblichen Verfahren erledigt, also zwischenstaatlich im Geschachere, welchen Anteil die Brüsseler Geldtöpfe übernehmen, und innerstaatlich im Streit zwischen Bund und Ländern. Die ethische Frage ist komplizierter. Tiere dürfen nämlich nach dem Gesetz nur „aus vernünftigen Gründen“ getötet werden; weswegen der Tierschutz sich eine Klage vorbehält und mancher Marktphilosoph seine uralten Vorbehalte gegen die Brüsseler Subventionswut aus der Schublade holt. Letztlich sind sich dann aber doch alle einig, dass alle Ethik in der Vernunft des Marktes gründet.

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Die Tatsache, dass die Aufregung des Verbrauchers einfach kein Ende nimmt, der Skandal also in der üblichen Art nicht zu deckeln ist, bringt die Nation zu der Einsicht, dass nur ein „Umbau der Landwirtschaft“ weiterhelfen kann. Wie ernst es der Regierung damit ist, zeigt sie mit ihren Umbaumaßnahmen im Landwirtschaftsministerium, die den anfänglichen „Aktionismus“ vergessen machen und – bereits einen Tag nach der „Kanzlerkrise“ (Minister Nr. 7 und 8 verlassen das Kabinett) – ein „Konzept“ erkennen lassen: Das Ministerium hat erstens einen neuen Namen – Verbraucherschutzministerium – und zweitens einen neuen Chef: eine Grüne, eine Frau und ein „Stadtkind“, also die personifizierte Abkehr von der alten Politik des „Lobbyismus“, die allen bisherigen Amtsträgern so agrartypisch ins Gesicht geschrieben war. Mit diesem Kulturschock, den die „blondierte Juristin im Hosenanzug“ bei ihrer agroindustriellen Klientel auslöst, hat der Umbau der Landwirtschaft schon seine halbe Wegstrecke hinter sich. Ihre erste Bewährungsprobe auf der „grünen Messe“ meistert Frau Künast unter den Augen der kritischen Öffentlichkeit „mit Bravour“, nötigt bereits auf dem Weg dorthin, im ICE, eine „misstrauische Bauernschaft zu warmem Applaus“. Kaum eine Woche im Amt, hat sie gelernt, was eine kapitalistische „Überproduktion“ ist, und ihre ethischen Bedenken gegen das marktbereinigende Massenschlachtungsprogramm zurückgestellt. Und noch eine Woche später verkündet die „smarte Powerfrau“, worauf es jetzt ankommt: „Klasse statt Masse“.

Der Kampf gegen die Prionen tritt also in eine neue Etappe – mit neuen Zielen und neuen Testmethoden, die den alten nicht ganz unähnlich sind. Der wissenschaftliche Ansatz steht im Kontext des Erfahrungshorizonts der europäischen Zivilisation, beherzigt also konsequent den Lehrsatz: „Helfen kann nur der Markt“. Folglich weiß die grüne Verbraucherschützerin, dass Geld immer noch der beste Impfstoff gegen die Seuchen des Kapitalismus ist. Höhere Preise sind nämlich das Gütesiegel der „Klassewaren“, die dann nicht nur eine profitsüchtige Ökowirtschaft gerne herausrückt, sofern der Kunde zahlt. Und damit ist der zweite Teil der Wegstrecke vorgezeichnet: Der ganze Umbau nützt nichts, wenn der Verbraucher nicht „mitzieht“, also sein Geld nicht hergibt, was ab sofort mehr Geld heißt. Selbstverständlich ist das keine Absage an die „Billigproduktion“. Denn erstens bleibt der Weltmarkt der Maßstab, an dem sich die Rentabilität dieser Exportbranche orientiert; und zweitens sind die gesundheitsbewussten Standortbetreuer realistisch genug, um zu wissen, dass die Zahlungsfähigkeit des Normalverbrauchers auch in Zukunft „eine konventionelle Agrarwirtschaft“ erfordert; dass „Klasse und Masse“ sich ausschließen, versteht sich für sie von selbst. Eine kleine Modifikation muss der Kunde – im eigenen Interesse – allerdings hinnehmen. Dass weiterhin billig produziert wird, heißt nicht, dass die sozialismusverdächtigen Preise Bestand haben können. Im Namen der Gesundheit muss der letzte systemwidrige Virus in Europa ausgemerzt werden – der „Bratensozialismus“, an den sich deutsche Proletarierhaushalte gewöhnt haben. Für die ihnen auferlegte „Verantwortung“, die Kosten für die Reduzierung von Seuchen- und Krankheitsrisiken zu übernehmen, welche die Rentabilität des Geschäfts gefährden würden, werden die Verbraucher freilich gebührend entschädigt: Mit einem neuen deutschen Reinheitsgebot für die Rinderbrauerei und mit „gläsernen Ställen“, also der Versicherung des Staates, dass er in Sachen BSE zwar nichts garantieren, aber sehr viel „Transparenz“ herstellen kann. Und das ist ja die Sicherheit, die der Verbraucher braucht: Woher kommt das Zeugs? Wer kontrolliert die Produktions- und Distributionswege?

Für Leute, die ihre Sicherheitsstandards aufgrund ihrer Zahlungsfähigkeit ein wenig höher hängen, soll das „Marktsegment der Premiumklasse“ auf 10-20 Prozent ausgebaut werden. Mit ihrer Kaufkraft dürfen sie die Illusion der „Besserverdienenden“ verwirklichen, dass wenigstens diejenigen, deren Einkommen es erlaubt, von den Wirkungen der proletarischen Vielfraßproduktion ausgenommen und verschont bleiben. Dann finden sie sich zumindest in einer besseren Risikoklasse wieder. Also, passen Sie gut auf sich auf!