Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Bild und die TEUER-WELLE
Die Weltmarktpreise für Gas und andere Energieträger steigen. Die Bildzeitung wäre nicht die Bildzeitung, würde sie als Organ der deutschen Arbeiter- und Hausfrauenschaft nicht in unüberhörbar großen Lettern Alarm schlagen und die Frage ausrufen, was das für uns, die kleinen Leute, bedeutet.
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Bild und die TEUER-WELLE
„Der teuerste Winter aller Zeiten droht. Energiepreis-Lawine rollt auf Deutschland zu.“ (6.10.21)
Die Weltmarktpreise für Gas und andere Energieträger steigen. Die Bildzeitung wäre nicht die Bildzeitung, würde sie als Organ der deutschen Arbeiter- und Hausfrauenschaft nicht in unüberhörbar großen Lettern Alarm schlagen und die Frage ausrufen, was das für uns, die kleinen Leute, bedeutet:
„GASPREIS-SCHOCK. Für Familien bis zu 800 Euro mehr Kosten!“ „HEIZ-SCHOCK. Gaspreise bis zu 68 % rauf! ... Finanzexperten warnen, dass nun auch andere Waren teurer werden – weil Firmen die höheren Energiepreise an Kunden weitergeben.“ (11.10.21)
Die Antwort fällt denkbar eindeutig aus: nichts Gutes. Wie auch. Die Preisschwankungen wegzustecken, mit denen Familien, Arbeitnehmer und Rentner nichts weiter zu schaffen haben, außer dass sie von ihnen betroffen sind, dafür sind deren Einkommensquellen einfach nicht gemacht. Sie müssen die geschäftlich kalkulierten Energie- und Warenpreise zahlen und müssen sich jetzt vermehrt fragen, ob sie das noch können. Das weiß die Bild mit ihrem direkten Draht zu den Menschen an einem Einzelschicksal zu illustrieren, das besonders extrem sein mag, bei dem sie aber davon ausgeht, dass ihre Leserschaft sich darin durchaus wiederentdecken kann:
„Rentnerin Lilli Sehl kriegt Grundsicherung. ‚Ich weiß nicht, wie ich mir das Heizen noch leisten soll!‘ Rentner wie Lilli Sehl (63) aus Lauenburg (S-H) trifft der Preisschock diesen Winter besonders hart. Seit 2014 bezieht Lilli Sehl nun Erwerbsminderungsrente und Grundsicherung. Sie sagt: ‚Ich schäme mich, dass ich zur Tafel gehen muss. Nun wird auch noch das Heizen drastisch teurer! Ich weiß nicht, ob ich mir das noch leisten kann.‘“ (9.10.21)
So sieht’s aus, wenn Preissteigerungen auf das letzte Glied in der marktwirtschaftlichen Kette und dessen ortsübliche Armut treffen. Das Konstatieren und Illustrieren dieser ohnmächtigen Betroffenheit ist für Bild allerdings nicht das Ende der Durchsage. Im Gegenteil.
1.
Sie bildet den Auftakt zu einer ganzen Reihe von Tipps, wie die Betroffenen mit solchen Notlagen umgehen können:
„Noch 5 Jahre TEUER-WELLE. Wie Sie clever SPAREN; Wie sie VORSORGEN; Was Sie bei MINI-RENTE wissen müssen.“ „Was einfache Maßnahmen einem Durchschnitts-Haushalt jährlich einsparen: Kühlschranktür schnell schließen: 8 Euro. Kochen mit Deckel auf dem Topf: 20 Euro. Backen ohne Vorheizen: 20 Euro. Öko-Programm der Waschmaschine nutzen: 33 Euro. Auf Vorwäsche verzichten: 7 Euro. Vorhänge zuziehen: 5 bis 15 Euro. Geräte nicht im Standby betreiben: 65 bis 115 Euro. Wlan-Router nachts ausschalten (geht etwa per Zeitschaltuhr): 12 Euro. Fenster und Türen abdichten: 35 bis 65 Euro. Spar-Duschkopf installieren: bis 250 Euro.“ (16.10.21)
An einigen ungeahnten Stellen lässt sich an dem Ventil drehen, das die Betroffenen selbst in der Hand haben: Sie können ihren Verbrauch optimieren. Auch billiger einkaufen – Ich suche mir nur die billigsten Angebote für den Einkauf raus
– und entsprechende Rabattmarken sammeln hat einiges Sparpotenzial. Man spart sogar ein paar Euro, einfach, indem man unnötiges Gerümpel aus dem Kofferraum räumt und so den Spritverbrauch senkt. Und wenn das alles nicht ausreichen sollte, ist auch der Verzicht noch ein veritabler Trick:
„Der Heizungs-Trick. Musiker Benjamin Meier (34) aus Berlin: ‚Ich habe durch meine Umschulung zum E-Commerce-Kaufmann aktuell etwa 1300 Euro netto im Monat. Ich heize die Wohnung nur auf 19 Grad, ziehe dafür lieber einen Pullover an.‘ Drei Grad weniger sparen im Jahr etwa 180 Euro Heizkosten.“ (20.10.21)
Bild gibt sich ersichtlich Mühe, ihrer Leserschaft bei dem ihr unterstellten festen Willen, mit der TEUER-WELLE zurechtzukommen, als praktischer Ratgeber beizustehen. Ob sich unter ihren Tipps überhaupt welche finden, die das zum Sparen aufgelegte Publikum nicht ohnehin längst kennt und beherzigt, ist dabei nicht entscheidend; indem Bild sie für ihre Leserschaft zusammenträgt und regelmäßig abdruckt, verpasst sie den alltäglichsten Lebensweisheiten eine Verbindlichkeit als gute Lösungen – und präsentiert das sich darin betätigende Bemühen ums Zurechtkommen noch mit den widrigsten Umständen als eine Angelegenheit, die schwer in Ordnung geht. Armut ist damit einerseits als eine private Herausforderung, als eine Frage des persönlichen Umgangs mit ihr gewürdigt. Und zugleich sind persönliche Nöte und die privaten Strategien zu ihrer Bewältigung eine allgemeine Lebenslage. Das erzählt das Blatt seinen Lesern und leistet damit schon die erste entscheidende Lebenshilfe, ganz unabhängig von Sinn und Effekt seiner Vorschläge: Du bist nicht allein! Diese trostreiche Botschaft überbringt Bild, wenn sie Leute wie dich und mich zu Wort kommen lässt – neben dem Musiker z.B. noch den Bürokaufmann und Familienvater Sven Lucka (38, vier Kinder zwischen fünf Monaten und 10 Jahren)
oder die Sachbearbeiterin und Witwe Birgit Fentroß (57)
. Gemeinschaftsgeist als Antwort auf kollektive Betroffenheit – den stellt Bild her, wenn sie ihrem Publikum die Sitten seiner Armut so authentisch zurückspiegelt.
2.
Zur Vertiefung des Gemeinschaftsbewusstseins bekommt dieses Kollektiv der einfachen Leute von seinem Lobbyblatt auch noch einen fachkundigen Einblick hinter die feindlichen Linien geboten, in die perfiden Preistechniken der Energieversorger, die ihm das Leben aktuell so ausgesprochen schwer machen. Darüber informiert Bild nicht bloß, sie beweist Fürsorge- und Führungsqualität, wenn sie aufzeigt, was man wohl oder übel hinnehmen und was man sich dann aber doch nicht bieten lassen muss:
„Bild enthüllt 7 miese Abzock-Fallen. So TRICKSEN Energie-Lieferanten IM TEUER-WINTER... Trick 1: Der Anbieter kündigt fristgerecht, unterbreitet dem Kunden dann aber ein Teuer-Angebot. Der Trick: Wer nicht aufpasst, tappt in die Kostenfalle. Bild-Urteil: Nach einer ordentlichen Kündigung dürfen Anbieter auch Unverschämt-Angebote unterbreiten. Daher unbedingt Preise vergleichen.“ (5.11.21)
Unter den 7 miesen Maschen verschiedener Anbieter
, zwischen denen man dann seinen Preisvergleich anstellen kann, finden sich auch weniger legale Methoden. Mit denen fertigzuwerden, dazu leistet Bild Beihilfe zum organisierten Widerstand: Widersprechen Sie! ... Dazu gibt es Musterbriefe.
(Ebd.) Auch der kleine Mann hat Rechte; sogar gegen die Großen, die natürlicherweise leider besonders große Rechte haben, wenn sie ihre Kunden schröpfen. Mit dem scharfen Schwert des fristgerechten schriftlichen Einspruchs können die Geprellten sich gegen manche Exzesse zur Wehr setzen – Bild beflügelt ihre verschworene Gemeinschaft zu diesem Akt des Empowerment.
3.
Mit der Fiktion einer selbstbewussten handlungsfähigen Gemeinschaft der Betroffenen hat Bild eine feste Bastion aufgebaut, um fordernd und anklagend die wirklichen Instanzen anzugehen: die amtlichen, eigentlich für Volksfürsorge und Führung zuständigen, die es wieder einmal dem Massenblatt überlassen, Abhilfe zu organisieren, statt ihre Pflicht zu tun: Das ist der Vorwurf aller Vorwürfe, für den den intellektuellen Sprachkünstlern der Bild-Redaktion wieder ein netter Brüller einfällt:
„DIE IM-STICH-LASS-REGIERUNG. Die einen sind fast schon WEG, die anderen NOCH NICHT DA. Deutschlands Regierung ist faktisch eine Leerstelle, lässt die Bürger im Stich.“ (29.10.21) „Sprecht über Preise, bevor ihr über Posten redet! ... Es droht der teuerste Winter seit Jahrzehnten! UND WAS TUT DIE POLITIK? Weder Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch Finanzminister Olaf Scholz (SPD) äußern sich zu den Rekord-Preisen. SIE fühlt sich nicht mehr zuständig fürs Regieren. ER verhandelt mit Grünen und FDP lieber über die Verteilung der Ministerposten.“ (9.10.21)
Im Namen des Volkes, voll versammelt hinter den Volkstribunen von Bild, ergeht über die Regierung das kritischste aller Urteile, die eine Herrschaft sich von einem unbedingt gutwilligen, daher tief enttäuschten Volk gefallen lassen muss: Sie tut nicht bloß zu wenig – das auch –, sie tut nicht bloß das Falsche – das auch –, sie tut vor allem das Schlimmste, was eine berufene Führung überhaupt tun kann: nichts! Dementsprechend der Notruf, den Bild im Namen des Volkes absetzt:
„BILD fordert deshalb: einen NOT-PREIS-GIPFEL zum Schutz der Bürger! SOFORT! ... Um den drohenden Preis- und Produktions-GAU zu verhindern, müsste die Regierung JETZT handeln! Vorschläge dafür gab es VOR der Bundestagswahl reichlich... An Ideen mangelt es also nicht. Nun liegt es an der scheidenden Kanzlerin und ihrem (möglichen) Nachfolger, die Wähler und Verbraucher vor der Preislawine zu schützen!“ (Ebd.) „Klar ist, dass Energie nicht nur etwas für Reiche sein darf... Daher ist die nächste Regierung gefordert, gerade finanzschwache Familien zu unterstützen und die Heizkosten-Explosion abzumildern.“ (11.10.21)
Tut endlich was! Wozu haben wir euch schließlich! Andere Regierungen schaffen es doch auch, sogar in Frankreich, Spanien, Italien
, da haben sie Energie-Schecks oder Steuererleichterungen
oder Ähnliches versprochen, damit Geringverdiener ihre Rechnung weiterhin bezahlen können
(29.10.21). So, oder anders, oder wie auch immer – Ideen gibt es ja genug –: beherztes Handeln der Obrigkeit ist überfällig! Energie auch für Arme, durch hoheitliche Tatkraft! Dann klappt das mit dem Überwintern schon irgendwie.
4.
Das Schuldurteil über die nicht vorhandene Bundesregierung im Namen des guten Volkes und seines Rechts auf Führung steht fest, ist für Bild aber nicht das letzte Wort. Die Zeitung kennt und informiert ihr Publikum noch über den letzten Grund der ganzen Misere: Der liegt in einem gemeinsamen Feind, der von außen kommt und der uns – Regierung wie Verbraucher, überhaupt das ganze Land – mit seinem Gas erpresst. Putin! Über aller Kritik steht am Ende doch die strategische Allianz zwischen den Unteren und ihren Befehlshabern.