Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Berliner Politbüroprozess
Anklage und Verteidigung in einem Totschlagsprozess der anderen Art
Das Gerichtsverfahren gegen Krenz arbeitet den früheren Systemgegensatz auf: Das Unrecht des anderen Systems ist unterstellt und dessen Vertreter muss sich vor westlichen Maßstäben verantworten.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Berliner Politbüroprozeß
Anklage und Verteidigung in einem
Totschlagsprozeß der anderen Art
Am 24. August 1997, 8 Jahre nach dem Fall der Mauer
verurteilt das Berliner Landgericht den letzten
Staatsratsvorsitzenden der DDR zu sechseinhalb Jahren,
zwei weitere Politbüromitglieder zu 3 Jahren Haft. Es
entscheidet, daß die Angeklagten für die Todesschüsse
an der Mauer
strafrechtlich wegen Totschlags zu
belangen sind. Krenz wird noch im Gerichtssaal verhaftet.
Bei einem, der unermüdlich von Siegerjustiz
spricht, muß man nach Auffassung des Richters von
Fluchtgefahr ausgehen.
Krenz will bemerkt haben, daß gegen ihn ein
politischer Prozeß geführt wird. Er wirft dem
Gericht schon vor dem Urteil Siegerjustiz
vor, als
gäbe es zwischen Sieger und Justiz irgendeinen
Widerspruch. Einen politischen Prozeß stellt er sich im
Spiegel-Interview so vor, daß die Richter in ihrer
Urteilssprechung politischen Weisungen aus dem
Außenministerium nachkommen. Er verlangt ein
unpolitisches Verfahren von einer wirklich
unabhängigen Justiz – auch er will nicht wahrhaben, daß
es die Justiz ist, die hier Siegerrecht spricht, daß die
politische Abrechnung mit dem untergegangenen
Staatswesen, die an ihm als dessen letztem politischem
Verantwortungsträger vollstreckt wird, in der
juristischen Aufarbeitung des
DDR-Unrechts
besteht.
Die Sache, für die er und seine ehemaligen
Genossen aus dem Politbüro im wiedervereinigten
Deutschland nachträglich juristisch zur Verantwortung
gezogen werden, das Grenzregime der DDR und die Toten,
die ihm zum Opfer gefallen sind, hat mit dem Unterschied
von Recht und Unrecht herzlich wenig zu tun: Die DDR
wollte politisch etwas anderes sein als ein bürgerlicher
Rechtsstaat, sie war und definierte sich als Bestandteil
des sozialistischen Lagers, hatte als solcher ihre
Schutzmacht in der Sowjetunion – und sah sich deswegen
zusammen mit ihren Verbündeten zeit ihrer Existenz der
erbitterten Feindschaft des kapitalistischen Westens
ausgesetzt. Dieser hatte in der Bundesrepublik einen
vorgeschobenen Posten eigener Art: Der verband die
Feindschaft gegen das andere System von vornherein mit
seinem Anspruch auf ganz Deutschland, versagte der DDR
als Staat die Anerkennung und machte ihr das Recht auf
eigene Staatsbürger streitig. Aus diesem Systemgegensatz
erklärt sich die Weise, wie die DDR ihre Grenze
gesichert, also auf ihrer Hoheit bestanden hat. Die Mauer
war eben keine „normale“ Grenze zwischen Staaten, die
sich anerkennen (und ihre Grenzen bekanntlich mit
Luftballons gegen die eindringende Ausländerflut
sichern…) Sie war zum einen die militärische
Front zum Westen, der dem Ostblock seine
Systemfeindschaft angetragen hat. Zum anderen war sie die
innerdeutsche Grenze
, die deswegen in der
Bundesrepublik so hieß, weil die mit ihrem
Alleinvertretungsanspruch nicht locker lassen wollte.
Ihrer Staatsbürger hat sich die DDR dagegen als Staat
versichert – weniger mit sozialistischer
Überzeugungskraft.
Was die DDR gegen wen zu verteidigen hatte: die – guten oder schlechten – Gründe, die dieser sozialistische Staat auf seiner Seite hatte und mit denen er die Gewalt an der Mauer politisch gerechtfertigt hat, spielen juristisch betrachtet freilich keine Rolle. Rechtfertigungsfragen wirft der Rechtsstaat grundsätzlich nicht so auf, daß er nach den Gründen fragt, die Subjekte für ihr Handeln haben, und sich auf Diskussionen über deren Qualität einläßt. Auch gegenüber seinen gewöhnlichen Bürgern läßt er als Maßstab der Rechtfertigung nur die Rechtsgründe gelten, die er in Form allgemeinverbindlicher Gesetze in die Welt setzt. Er versetzt sie in den Status von Privatpersonen, die in ihrem Handeln seine Gesetze zu beachten und ihn als Gewaltmonopolisten zu respektieren haben. Indem er das Handeln seiner Untertanen an seinem Recht mißt, sie gewaltsam darauf festlegt, nur solche Interessen zu verfolgen, die er ins Recht setzt, diese aber auch anzuerkennen, wenn sie dem eigenen Interesse entgegenstehen, unterwirft er sie seiner politischen Vernunft: Die besteht darin, den ehemaligen Bürgern der DDR klar zu machen, daß sie als Privatpersonen seiner Rechtsordnung unterstellt sind.
Diese Abstraktion des Rechts bringt die Justiz gegen die Funktionsträger und Führungskräfte der DDR in Anschlag, die es nach dem Ende ihrer Souveränität unter die gesamtdeutsche Hoheit des Rechtsstaats verschlagen hat: Sie behandelt die Funktionäre und politischen Verantwortungsträger des DDR-Staats nachträglich, als wären sie Privatpersonen und die Souveränität, die sie ausgeübt haben, ein Bruch des rechtsstaatlichen Gewaltmonopols gewesen, und verfertigt so aus Staatshandlungen Tötungsdelikte, wie sie das bürgerliche Strafrecht kennt, bei denen für sie nur noch eine Frage von Interesse ist: wer sie zu verantworten hat und für sie strafrechtlich zu belangen ist.
Natürlich schlägt auch da nicht das Recht zu, sondern der
Rechtsstaat mit ihm. Aber so ist es nun einmal:
Mittel der Politik ist das Recht eben dadurch, daß es als
Produkt ihrer Bedürfnisse auf die Welt kommt, in Kraft
tritt und sich fortentwickelt, damit es dann in völliger
Unabhängigkeit sein Werk tut. Es ist eben ein politisches
Bedürfnis der Justiz, das DDR-Unrecht
juristisch
aufzuarbeiten, damit die in so einem politisch
brisanten
– den Einigungsvertrag und damit
internationale Abmachungen betreffenden – Fall loslegt.
Seitdem sich mit der Hoheit des Rechtsstaats auch ihr
Zuständigkeitsbereich auf ganz Deutschland ausgedehnt
hat, arbeitet sie zielstrebig an einer juristischen
Konstruktion, durch die das staatshoheitliche
Handeln
von immer höheren Funktionsträgern der DDR
nachträglich einer rechtlichen Beurteilung zugänglich
wird. In ihrer ganzen das DDR-Grenzregime betreffenden
Rechtsprechung wendet sie nicht einfach vorhandenes Recht
an. Mit ihren Entscheidungen schafft sie Recht,
um die politische Materie justiziabel zu machen.
Daß sie da einiges zu erledigen hat, zeigt erst einmal
eines: Daß die Sache, die Systemfrage, die nachträglich
als Rechtsfrage verhandelt werden soll, gar nicht
justiziabel ist. Eben dies nimmt sie konsequent
als juristisches Problem
wahr, als eine Reihe
juristischer Hindernisse
, die der fälligen
Unterwerfung der DDR-Staats-Repräsentanten a.D. unter das
Strafrecht entgegenstehen und die sie zu beseitigen hat,
kurz: als ihren Auftrag, das Recht für die Abrechnung mit
dem untergegangenen Staatswesen tauglich zu
machen. Angefangen bei den Urteilen in den
Mauerschützenprozessen
, über die Grundsatzurteile
des BGH, bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht, das das
DDR-Recht für die Beurteilung der Todesschüsse an der
Mauer
nachträglich für unmaßgeblich erklärt, sorgt
sie mit der entsprechenden Auslegung der ihr zur
Verfügung stehenden Rechtsgrundsätze Schritt für Schritt
für die Rechtsgrundlage, die es ihr schließlich erlaubt,
die höchsten Verantwortlichen der DDR selbst juristisch
zu belangen; und zwar für das Unrecht, das ihnen
der Rechtsstaat bis heute nicht verzeiht: die Ausübung
einer Souveränität, die mit ihrer andersgearteten Räson
einfach kein Existenzrecht hatte.
Worauf die demokratische Öffentlichkeit nach dem Urteil
so mächtig stolz ist und womit sie den Vorwurf der
Siegerjustiz als einfach lächerliche Demagogie abtut: daß
es die Pflicht der Justiz im Rechtsstaat ist, ganz ohne
politische Weisung, allein nach ihren Maßstäben das Recht
als politische Waffe zu schärfen und mit der einen Prozeß
zu führen, mit dem das polit-moralische Bedürfnis nach
einer Abrechnung mit dem Unrechtsstaat
voll auf
seine Kosten kommt (nur die Strafen könnten nach dem
Gerechtigkeitsempfinden des einen oder anderen Demokraten
noch höher sein). Diese Parteinahme für die
Herrschaftsfunktion der Justiz verrät mehr Ahnung von der
Sache als der Vorwurf von Krenz, das Gericht habe aus
politischen, dem Recht widersprechenden Gründen die
Beweisaufnahme nicht ordnungsgemäß durchgeführt. Krenz
mag sich durch den Fanatismus der Öffentlichkeit, der an
Rache gemahnt, in seiner Auffassung bestätigt sehen –
Opfer einer Rechtsbeugung ist er dennoch nicht
geworden, auch wenn sein Kasus manche pikante
völkerrechtliche Spezialität aufweist. Ganz davon
abgesehen steht es einem bis dato Führer der
Arbeiterklasse nicht gut zu Gesicht, auf der korrekten
Anwendung bürgerlichen Rechts zu bestehen, statt es zu
kritisieren. Klar: Vors Gericht gezerrt, stellt erst
einmal der Staatsanwalt die Fragen, und die Rechtsanwälte
erteilen die klugen Ratschläge, wie man sich auf die am
vorteilhaftesten einläßt; vielleicht ist da auch so ein
Vorwurf vom Standpunkt der juristischen Verteidigung aus
angebracht. Aber daß ihnen die sowieso nichts mehr nützt,
daß sie verraten und verkauft einer zu allem
entschlossenen Justiz ausgeliefert sind, die die Sache,
die sie maßgeblich vertreten haben, als Unrecht
unterstellt, und bloß noch die Frage zuläßt, wer für
dieses Unrecht persönlich wie sehr abzustrafen ist,
werden Krenz und Konsorten während des Prozesses schon
auch gemerkt haben. Also hätten sie sich auch nichts
vergeben, wenn sie einmal die Verteilung der Rollen
durchbrochen und angegriffen hätten, bei der der
Rechtsstaat sein Recht zum Maßstab der Anklage
gegen die früheren Realsozialisten macht und von denen
verlangt, sich vor diesem Recht zu
rechtfertigen. Aber das ist ihnen gar nicht eingefallen.
Selbst da, wo sich Krenz im Prozeß dazu herausgefordert
sieht, zur Aufklärung beizutragen
und die
politischen Gründe des DDR-Grenzregimes anzusprechen –
und er allein macht das überhaupt –, will er ums
Verrecken nicht über die politische Unverschämtheit
dieser Justiz aufklären, den Gegensatz der Systeme
nachträglich so aufzuarbeiten, daß sich die Vertreter des
einen vor den Prinzipien des anderen zu verteidigen
haben. Seine Hinweise auf den Systemgegensatz, auf die
intransigenten Versuche der BRD, der DDR das Volk
abspenstig zu machen, und auf die eingeschränkte
Souveränität der DDR, deren Grenze zum Westen und deren
innerdeutsche Angelegenheiten allemal die Sowjetunion
entscheidend mitangingen, bringt auch er ausschließlich
als juristische Entlastungsargumente vor –
dafür, daß ihn keine strafrechtlich relevante
Schuld
für das trifft, was ihm das Gericht zur Last
legt: Es kommt darauf an, was ich verändern konnte.
Und das war: Nichts.
Er konnte das Unrecht nicht
verhindern: In dieser Form bestätigt Krenz, daß der
Rechtsstaat mit seiner Anklage zwar nicht gegen ihn
persönlich, gegen den Unrechtsstaat
dafür aber
umso mehr Recht hat. Eine feine politische
Hinterlassenschaft eines ehemaligen Führers des deutschen
Arbeiter- und Bauernstaates, der sich bei anderer
Gelegenheit im Spiegel-Interview noch schwach daran
erinnern kann: Die DDR war meine Sache, der
sozialistische Versuch auf deutschem Boden war meine
Sache.
Seine Mitangeklagten bekennen derweil
öffentlich, daß die DDR Scheiße war
(Schabowski),
biedern sich damit an, daß sie zu deren Untergang
maßgeblich beigetragen haben, geben zu Protokoll, daß sie
als Zuständige für die sozialistische Wirtschaftsplanung
die Grenzsicherung ihres planwirtschaftlichen
Staatswesens gar nichts anging – und bieten sich
öffentlich der Justiz der siegreichen Demokratie als
Kronzeugen
(Schabowski) an, damit die bei der
Verfolgung einstiger Genossen vorankommt. Tja, das hat
nicht geklappt, die Justiz ist halt auch undankbar. Es
ist aber auch mehr als fraglich, ob sich solche
Einlassungen überhaupt der hoffnungslosen
Berechnung verdanken, die die Justiz den Angeklagten
übrigläßt: durch Abschwören und Schuldbekenntnisse
wenigstens etwas von der eigenen Haut zu retten. Viel zu
sehr offenbaren sie den Standpunkt von Leuten,
die nicht nur juristisch fertiggemacht werden, sondern
selbst das Recht längst auf der Siegerseite wissen. So
sehr, daß sie die Rechtsfindung, die der Rechtsstaat an
ihnen exekutiert, von Wahrheitsfindung überhaupt nicht
mehr unterscheiden können: Ich wollte wissen, was ich
getan habe.
, bedankt sich Kleiber für die
Verhandlung. Für Leute wie Krenz, die sich erinnern:
Ich war überzeugt: Nur mit der Sowjetunion zusammen
sind wir existenzfähig
, stand mit dem Zusammenbruch
der Sowjetunion nicht nur das Zugrundegehen des
Staates fest, dem sie vorgestanden haben. Ihre
Entmachtung haben sie als Widerlegung der
sozialistischen Anliegen genommen, für die ihr
Staat gestanden war. Sie waren viel mehr darauf aus,
Staat zu machen als Sozialismus, so daß sie nach dem
Niedergang ihres Staates auch ihren Sozialismus sang- und
klanglos abgelegt haben. Den ohne die Protektion einer
Weltmacht im Rücken weiterzuvertreten, das war für sie
einfach ausgeschlossen. Das Ärgerliche daran ist: Sie
haben nicht nur aufgegeben, sondern machen sich
nachträglich zum Beweismittel für die Gegenseite, die
nicht nur ihr Recht durchficht, sondern damit
den Beweis erbringen will, daß ihr Recht politisch das
absolute ist.