Der Balkan „nach der Ära Milosevic“
Von den Schönheiten des multiethnischen Zusammenlebens unter endlich unbehelligter westlicher Aufsicht

Slobodan Milosevic, nach westlicher Lesart der Schuldige an dem 10-jährigen Balkan-Bürgerkrieg, ist nicht mehr an der Macht. Dem Frieden auf dem Balkan ist das mitnichten förderlich: Die vom Westen erzwungenen „multiethnischen Zivilgesellschaften“ (Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro) werden von den Beteiligten abgelehnt. Die Verhaftung des ehemaligen demokratisch gewählten Staatsoberhaupts in Serbien ist eine Bringschuld der neuen, hinsichtlich ihrer Funktionalität bewerteten Regierung; eine Auslieferung an das Haager Kriegsverbrechertribunal wird vom Westen erwartet.

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Der Balkan „nach der Ära Milošević“
Von den Schönheiten des multiethnischen Zusammenlebens unter endlich unbehelligter westlicher Aufsicht

Seit mehr als einem halben Jahr ist der personifizierte Unruheherd Slobodan Milošević aus dem politischen Verkehr gezogen. Nach der hierzulande einhellig gültigen Auffassung war der Mann für alles Ungeheuerliche verantwortlich, das sich in den letzten zehn Jahren auf dem Boden seines geerbten Vielvölkerstaats abgespielt hat: Seine großserbischen Herrschaftsgelüste waren es, die auf dem Balkan die Völker so gründlich entzweiten, dass sie gegeneinander Krieg führten; seine ethnischen Säuberungskriege waren es, die Jugoslawien zerlegten. Die verlor er zwar, einen nach dem anderen. Seine Niederlagen vermochten ihn aber nur immer zur nächsten seiner verbrecherischen Taten zu bewegen. Völkermord, Massaker und KZ: Das waren und blieben die untrüglichen Merkmale seiner Regentschaft auch dann noch, als sich – dank des ersten tatkräftigen Engagements der westlichen Hüter des Menschenrechts – seine Diktatur nur noch auf ein kleines serbisches Restjugoslawien erstreckte. Doch da unterdrückte er die letzte Ethnie, die er noch unterdrücken konnte, nur umso mehr. Erst als ihm der westliche Werteverein auch im Kosovo in den Arm fiel und den letzten Rest einer serbischen Macht zerschlug, gab er nach, blieb aber freilich auch nach seinem letzten verlorenen Krieg in seinem Amt kleben. So waren die Albaner im Kosovo nur einstweilen vor ihm in Sicherheit. Denn solange dieser Gewaltherrscher, Kommunist und verbohrter Nationalist, sich in Belgrad verschanzt hielt, drohte die Region nach wie vor Opfer der stabilitätszersetzenden Machenschaften zu werden, die von diesem Mann einfach nicht wegzudenken sind und unter denen die Völker in Jugoslawien so furchtbar zu leiden hatten…

Nun also ist er abgeräumt, mit ihm auch das letzte große Hindernis für Frieden und Stabilität in den ehemaligen südslawischen Gebieten – und es stellt sich heraus, dass trotz der ruhmreich vollbrachten jugoslawischen Wende zur Demokratie von beiden dieser hohen politischen Güter weniger denn je in Sicht ist. Auch dort, wo die Region schon seit geraumer Zeit westlicher Aufsicht und Kontrolle untersteht, regt sich derselbe völkische Aufruhr, dessen Befriedung nur immer dieser Milošević im Wege gestanden haben soll. Der westlichen Moritat vom großserbischen Verbrecher, der praktisch im Alleingang den ganzen Balkan erst ethnisch aufgewühlt und dann zersägt hat, tut das allerdings keinen Abbruch – der hat, so will es die Legende, schließlich dieses Gift des Nationalismus überhaupt erst gesät, das nach Auffassung des deutschen Außenministers leider immer noch das friedliche Zusammenleben der Völker verhindert. Es ist nur so, dass auch dieses Bedauern zur demokratischen Legendenbildung gehört, mit der die Nachwehen einer zwar perfekt wahrgenommenen, dennoch einfach nicht gelingen wollenden politischen Ordnungsaufsicht über den Balkan schöngefärbt werden. Völker bloß mit Gewalt zum Zusammenleben zwingen: Genau das, was der Westen Titos Vielvölkergefängnis übelgenommen und tätig mit zerstört hat, das will er in zerstückelten Formen unter seiner Ägide restaurieren. Dieselben völkischen Selbstbestimmungsrechte, zu deren Anwalt er sich gemacht hat, will er mit seinem Kommando zusammenschweißen – und diesen Widerruf ihrer Rechte lassen sich die Völker nicht unbedingt als die Emanzipation einleuchten, die ihnen vorschwebt.

Bosnien-Herzegowina: Klein-Kroatien zieht aus

Seitdem die NATO aus Bosnien ein eigenständiges politisches Gebilde verfertigt und es einem Hohen Repräsentanten der Staatengemeinschaft, dem feschen Herrn Petritsch, zur Aufsicht überstellt hat, gibt es auf dem Balkan ein Staatswesen der ganz besonderen Art. Auf seinem Boden leben drei Volksgruppen neben- und gegeneinander, die von ihren staatsgründungsgeilen politischen Häuptlingen bis neulich noch in Bürgerkriege um möglichst viel ethnisch gesäubertes Gelände gehetzt worden sind und weiterhin dazu ermuntert werden, sich so großräumig wie machbar und dabei strikt nach Volkstum gegeneinander abzugrenzen – und die zugleich von den westlichen Aufsichtsmächten mit aller Gewalt daran gehindert werden, sich so voneinander zu scheiden, wie es für das alte Jugoslawien als ganzes allgemein für vernünftig und gerecht befunden und als zukunftsweisende Lösung für alle bis dahin bloß unterdrückten Volkstumskonflikte durchgesetzt worden ist. Die politischen Führer vor Ort werden unerbittlich mit dem großherzigen Angebot konfrontiert, ihre selbstdefinierten Staatsgründungsambitionen zu vergessen und sich statt dessen lieber für die Gründung und Konsolidierung eines anderen Staatswesens zu engagieren, das die serbische und die kroatische Seite überhaupt nicht und die bosnisch-muslimische zumindest so nicht haben will – so als dürfte es ausgerechnet bei der Ausgründung ethnisch definierter Kleinstaaten aus der Leiche des alten Tito-Staats heraus ausgerechnet für die Volkshelden, die diese Projekte betreiben, im Fall Bosnien-Herzegowina auf den völkischen und räumlichen Zuschnitt ihres kämpferisch angestrebten Herrschaftsgebiets nicht ankommen, und als bräuchte es das in dem Fall auch gar nicht. Und die Völker werden von ihren freiheitlich-demokratischen Oberaufsehern ebenso strikt dazu angehalten, ihren Untertanen-Standpunkt auf gar keinen Fall aufzugeben, die Bereitschaft zur Selbstaufgabe für ein neues Vaterland, die sie in den abgelaufenen Kriegen hinlänglich unter Beweis gestellt haben, durchaus und unbedingt beizubehalten; „nur“ auf ein anderes Vaterland als das dasjenige, für das sie sich geopfert haben und dem ihre patriotische Anhänglichkeit gilt, nämlich auf das vom Westen installierte Bosnien-Herzegowina soll ihre volkstümlich-unterwürfige Parteilichkeit sich bornieren – so als wäre es ausgerechnet bei den Hinterbliebenen eines Bürgerkriegs schon ganz egal, welchem Staat deren Loyalität gilt; als bräuchte deren Vaterlandsliebe und Volkstumsstolz nur ein bisschen Mäßigung, um das Hassobjekt von gestern als neue Heimat ins Herz zu schließen; als könnte man dem balkanischen Menschenschlag ganz gut zumuten, Politikern zu gehorchen, die gestern noch die Vertreibung, ersatzweise die Ausrottung der eigenen „Ethnie“ betrieben haben oder zumindest ein Volkstum repräsentieren, das sich dafür hergegeben hat.

Dabei leistet sich die den Atlantik überspannende Aufsichtsmacht sogar noch einen feinen Scherz: Der Unversöhnlichkeit der drei Staatswillen, die nach ihrem Dekret in einem einzigen gesamtbosnischen aufgehen sollen, dies aber nicht wollen, trägt sie Rechnung, indem sie ihr ein Stück weit nachgibt – allerdings nur bedingt und nur halb: Damit die politische Einheit, die er will, überhaupt ins Dasein tritt, spaltet der Westen sie in zwei Unter-Entitäten auf, setzt in Gestalt einer serbischen Republik Bosnien und einer muslimisch-kroatischen Föderation die von ihm gewaltsam sistierten völkischen Staatgründungswillen bedingt ins Recht, um sie ausgerechnet so zu befrieden – ein zynisches Entgegenkommen, das er mit der Konstruktion einer „Föderation“ zwischen Bosniern und Kroaten diesen beiden Völkerschaften und deren Häuptlingen – oder jedenfalls der auf Anschluss ans größere Haupt-Vaterland erpichten kroatischen Seite – verweigert, als wäre da das Zugeständnis einer halben Autonomie wieder der erste Schritt zur Abspaltung, die man nicht will, und doch kein Kitt fürs Zusammenbleiben! Es ist schon bemerkenswert, wie generös und unbefangen da regierende Nationalisten von außen mit dem Recht der stärkeren Gewalt daherkommen und den Staatsgründungswillen, den sie bei den Ex-Bürgerkriegsparteien antreffen, nicht einmal bloß stoppen, sondern gegen dessen eigene Stoßrichtung für ihr Projekt in Anspruch nehmen, ihn für sich zu funktionalisieren und zwangsweise quasi umzuprogrammieren versuchen: Gemäß den Bedingungen, unter die der Westen sie stellt, sollen die unversöhnlichen Nationalismen ihr Anliegen abschließend befriedigt sehen und sich zu konstruktivem Engagement für das gesamtbosnische Staatsprojekt bereit finden, das er ihnen überstülpt!

Bis dieses famose Projekt praktisch wahr wird, muss dessen Vorsteher freilich schon ziemlich diktatorisch seines Amtes walten. Vornehmlich besteht seine Tätigkeit darin, in dem vom Krieg verwüsteten Land auf möglichst schnörkellosem Verordnungsweg die nötigen Ukasse zu erlassen, damit auch gegen die Obstruktion der drei Volksgruppen so etwas wie der Schein eines gesamtbosnischen Staatslebens entsteht. Daneben bemüht der Regent Bosniens sich natürlich auch darum, für die demokratisch-zivilen politischen Verkehrsformen zu sorgen, die seine Diktatur überflüssig machen sollen, und das läuft zielstrebig darauf hinaus, den Widerspruch seines Staatsgebildes durch ein paar weitere zu moderieren. So ist die Leitung des Protektorats darauf verfallen, die verfeindeten Volksgruppen in einen gesamtbosnisch-demokratischen Willensbildungsprozess – mit Wahlen, einem Parlament und auch einer Regierung – einzubinden, um ihrem Oktroi auf diesem Wege den Zuspruch widerspenstiger Nationalisten zu verschaffen – als müsste denen das wunderbare Recht auf demokratische Selbstbestimmung allemal wichtiger sein als das Selbst selber, zu dem sie sich „bestimmen“ wollen. Und siehe da: Das Angebot, auf absolut legalem Wege – und mit dem Segen der internationalen Aufseher in Bosnien dazu – sich die Macht im Staat und darüber über die anderen zu erobern, haben die politischen Führer der Volksmannschaften glatt angenommen. Gerne sogar, denn jeder von ihnen begreift die Chance, sich einwandfrei wählen zu lassen, als ein Stück offizieller Zulassung der nationalen Sache, um die es ihm und seinem Haufen geht. Entsprechend haben sie ihre Mannschaften mobilisiert: für sich, gegen die jeweils anderen. Das war natürlich genau nicht im Sinne des Erfinders. Der Staatengemeinschaft und ihrem Hohen Vertreter schwebt schon ein ethnisch fein austariertes Zusammenwirken moderater Kräfte an der Regierungsspitze des bosnischen Staates vor – mit der weitergehenden Berechnung, dass sich darüber dann so allmählich auch die aufgeregten Völkerschaften insgesamt zu einer ähnlich moderaten Handhabung ihrer unbefriedigten Heimatliebe „zivilisieren“ lassen. In diesem Sinne haben die westlichen Aufseher bereits im Vorfeld der letzten Wahlveranstaltung im vergangenen November alles Nötige unternommen, damit das demokratische Procedere nicht nationalistisch miss-, sondern nur für den Zweck gebraucht würde, den sie dafür vorgesehen haben: Kriminalisierung des einen Wahlvereins, Absetzung des Häuptlings eines anderen, die Favorisierung der einen Partei und zweckmäßige Manipulationen am Wahlrecht zur Diskriminierung einer anderen… Sogar zu regelrechten Bestechungsversuchen haben die Freunde echt demokratischer Selbstbestimmung und geschworenen Feinde der politischen Korruption gegriffen, Geld zwar nicht verschenkt, für den Fall eines korrekten Wahlergebnisses, also praktisch bewiesener Mäßigung aber immerhin mit einer gewissen pekuniären Perspektive versehene Hilfsleistungen versprochen – ein interessantes Experiment: Zehn Jahre nach dem Untergang des realen Sozialismus kommt der ‚Hebel der materiellen Interessiertheit‘ erneut zum Einsatz, nur diesmal vom Westen aus und zur ‚Stimulierung‘ eines Interesses an der Erfüllung seines politischen Plans, Anführer wie Gefolgsleute eines verkehrten Nationalismus mit ‚materiellen Anreizen‘ zum Mitmachen bei einem Projekt zu bewegen, das sich gegen ihren politischen Willen richtet.

Die Versuchsanordnung hat das gewünschte Ergebnis dann doch nicht hergegeben. Und in Anbetracht des ziemlich ernüchternden Resultates bei der Ermittlung des bosnischen Volkswillens – es gibt ihn einfach nicht, denn alle Völkerschaften sehen ihre Sache mit überwältigender Mehrheit von denen am besten vertreten und repräsentiert, die von der Staatengemeinschaft zuvor als Nationalisten geächtet wurden – dauert es weitere drei Monate, bis dem Protektor die Inthronisierung einer dem Westen wenigstens halbwegs genehmen offiziellen Regierung in Bosnien gelingt. Die regiert nun, aber was heißt das schon für die ‚Entitäten‘, aus denen Bosnien besteht. Für die Föderation von Kroaten und Muslimen braucht es einen eigenen Kraftakt, bis sich auch für sie ein gemäßigter Präsident findet – letztlich verfängt die angedrohte Aufkündigung ohnehin zwar nur versprochener und keineswegs spruchreifer, immerhin aber vage in Aussicht gestellter Hilfsleistungen und Investitionen doch irgendwie. Dumm dabei nur, dass es die Föderation selbst inzwischen nicht mehr so recht gibt, weil die Kroaten sich selbst zu einer schöpferischen Anwendung des westlichen Prinzips ‚Einheit Bosniens durch Spaltung in Entitäten‘ entschließen: Jelavic, Mitglied der dreiköpfigen bosnischen Präsidentschaft und Anführer der kroatischen Nationalisten in Bosnien-Herzegowina, hat den Austritt der Kroaten aus der Bosnjakisch-Kroatischen Föderation bekanntgegeben (…): ‚Ab heute ist die Föderation eine bosnjakische nationale Entität, aber ohne Kroaten‘. (NZZ, 2.3.) Natürlich verfügt der internationale Bosnienbeauftragten unverzüglich die Absetzung dieses einen Repräsentanten aus dem ethnischen Tripel der bosnischen Präsidentschaft, nur dürfte dies den Führer der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft nicht besonders schmerzen. Er nämlich – und offensichtlich nicht wenige seiner Gefolgsleute mit ihm zusammen – hat sich dazu entschlossen, dem Versuch der bosnischen Zentralverwaltung, seine Machtbasis zu schwächen, dadurch wirksam entgegenzuwirken, dass er selbige gegen das offizielle Bosnien stärkt. Die Herauslösung der kroatischen Lokalbehörden aus der offiziellen Administration, die Ausgliederung einer kroatischen Armee aus dem Militär der Föderation und der weitere Ausbau paralleler Strukturen einer genuin kroatischen Machtausübung: Das sind die anvisierten Schritte, mit denen die kroatische Selbstregierung vorerst das Korsett der muslimisch-kroatischen Föderation sprengen und darüber zu einer dritten Entität im Staat Bosnien heranwachsen will. Die Zurückhaltung, mit der die im Mutterland aller Kroaten Regierenden diesen Auszug eines versprengten eigenen Volksteils aus der bosnischen Unter-‚Entität‘ aufnehmen, beeindruckt die kroatischen Nationalisten in Bosnien dabei nicht besonders. Der internationalen Aufsichtsgemeinde unterbreiten sie ihre Aufkündigung des Dayton-Konstrukts jedenfalls ziemlich unmissverständlich als Aufforderung, sich für die eine oder die andere Variante kroatischer Emanzipation, entweder in oder von Bosnien, zu entscheiden: Der Sprecher der nationalistischen Kroaten sagte, die Kroaten würden bei Bosnien bleiben, wenn das Land in drei Bundesländer – für jede Volksgruppe eines – oder Kantone aufgeteilt würde. (SZ, 5.3.)

Doch auch die dezidierte Weigerung der bosnischen Kroaten, sich die eigene nationale Sache noch länger durch die Mitwirkung in einem multiethnischen Staatsformalismus abkaufen zu lassen, kann dem kunstvollen Gebilde des bosnischen Gesamtstaats, das der Westen unterhält, nichts anhaben. Solange es von den Signatarmächten des Dayton-Vertrags nicht offiziell gekündigt wird, kann der Protektor sein Gebilde ungerührt weiter so regieren wie bisher. Die Meuterei in Bosnien (NZZ, 31.3./1.4), die die kroatischen Soldaten mit ihrem Auszug aus den Kasernen der bosnisch-föderierten Armee anzetteln, ignoriert er einfach; zur Schließung einer Bank, über die das Geld eines kroatischen Parallelstaates fließen soll, schickt er seine Truppen vorbei. Die werden bei gegebenem Anlass dann auch an anderen Stellen dafür sorgen, dass die Kroaten mit ihrer ‚Entität‘ die Fiktion von Staat nicht auffliegen lassen, die sie als ihre Heimat nun einmal zu akzeptieren haben. Entlassen aus ihr sind sie nämlich auch nach ihrem Auszug nicht.

Kosovo: Für albanische Kosovaren entschieden zu klein

Auch die Eskalation der Lage im Kosovo hat die dort ansässige albanische Volksmannschaft ganz prima allein und ohne ihren vormaligen serbischen Unterdrücker hingekriegt, und wie die Kroaten in Bosnien, so hat auch sie sich nur einmal mehr die Widersprüche zunutze gemacht, die die westliche Aufsicht in diesem Protektorat eingerichtet hat und am Leben erhält. Denn ohne dies selbst so je gewollt zu haben, ist der westlichen Kriegsallianz mit ihrer erfolgreichen Besetzung des Kosovo die Aufgabe zugefallen, ersatzweise für die von dort verjagte jugoslawische Herrschaft die politische Kontrolle über das Gebiet wahrzunehmen. Ein auch nur halbwegs funktionierendes Wirtschafts- und sonstiges Leben in einer vom Krieg zerstörten Gegend aufzuziehen und in Gang halten, hatten und haben die NATO-Mächte allerdings auch in diesem von Serbien befreiten Winkel nicht vor. Dies umgekehrt den Jugoslawen oder den Albanern selbst zu überlassen, verbietet sich jedoch erst recht: Letzteres würde dem Projekt „Großalbanien“ zuarbeiten, das man nicht will; die Rückerstattung der Provinz an Belgrad wäre – entgegen der offiziellen Befreiungslegende: auch ohne Milošević – gleichbedeutend mit der Wiederherstellung des Kriegszustandes und ist einstweilen noch nicht einmal als Belohnung für die größte anzunehmende Unterwürfigkeit der serbischen Seite denkbar. So wissen die Besatzer mit der Gegend, in der sie hocken, einfach nichts konstruktiv anzufangen. Sie haben aber auch mit deren bloßer Kontrolle – die sie, ihrer humanitären Mission gemäß, Befriedung nennen – schon mehr als genug zu tun: Sie halten die separierten feindlichen Volksgruppen auseinander, indem sie sich zwischen sie stellen, und bemühen sich ansonsten, für ein multiethnisches Zusammenleben zu sorgen, indem sie im Feindesland versprengte Einwohner beispielsweise im Panzerwagen sicher zur Schule oder zum Sonntagsgebet geleiten. Die materielle Grundlage dieses „Zusammenlebens“ besteht im Übrigen in den nicht eben reichlichen Geschenken, die im Rahmen des EU-Projekts Hilfe zur Selbsthilfe nach bosnischem Muster spendiert werden: ein Fensterrahmen hier, ein Stück Flurbereinigung dort, und ganz viel anberaumte Treffen, auf denen die Ethnien über die Fortschritte ihrer gemeinsamen Zukunft reden können.

Die betreffenden Volksgruppen haben für diese ihre Zukunft, vor allem friedlich und einvernehmlich, im übrigen aber von nichts, nebeneinander vor sich hin zu leben, nun allerdings überhaupt nichts übrig. Die Serben nicht, und vor allem steht die von der NATO befreite albanische Bevölkerungsmehrheit – nach wie vor und jetzt, nachdem sich ihre Militanz für sie ausgezahlt hat, natürlich erst recht – auf dem Standpunkt, von der Allianz zur Verwirklichung ihrer Vorstellung von einem autonomen Kosovo befreit worden zu sein. Für den praktischen Beweis, dass eine richtige albanische Unabhängigkeit so lange eine „offene Frage“ ist, wie noch nicht alle Albaner auch wirklich in einem Staat versammelt sind, sind deren Aktivisten dann gleich an zwei Fronten unterwegs: gegen die verhassten Serben, die noch immer auf dem prospektierten albanischen Staatsgebiet hausen – und damit zugleich immer auch ein bisschen gegen die KFOR-Truppen der westlichen Aufsichtsmacht, die diese vor ihren Widersachern schützen sollen.

Als vorläufig letzte Eskalation des albanischen Kleinkriegs gegen Serben und deren Beschützer macht sich nun aus dem Kosovo eine albanische Befreiungsarmee von Presevo, Medvedja und Bujanovac (UÇPMB) auf, aus Südserbien albanisch besiedelte Landstriche herauszubrechen und an den Kosovo anzugliedern. Mit ihrem Einfall in die so genannte entmilitarisierte Pufferzone zwischen Kosovo und Serbien – sie gilt inoffiziell schon seit längerem als albanisches Aufmarschgebiet – eskalieren die tapferen Unruhestifter nicht nur ihre Militanz gegen den serbischen Bevölkerungsteil. Sie stellen auch die berechnende Zurückhaltung auf eine harte Probe, die die westlichen Aufsichtsmächte im Bemühen, den albanischen Nationalismus für ihr multiethnisches Ordnungskonzept im Kosovo zu funktionalisieren, den Umtrieben der Aktivisten einer albanischen Unabhängigkeit gegenüber bislang praktisch an den Tag legen. Der Übergang dazu, ihr multiethnisches Toleranzedikt auch mit Gewalt gegen die aufsässigen Albaner durchzusetzen, käme nämlich endgültig dem Eingeständnis gleich, dass ein befriedetes Kosovo ohne ein komplettes militärisches Besatzungsregime, das sich die gesamte Bevölkerung unterwirft, nicht zu haben ist. Nicht, dass die NATO-Mächte dazu nicht imstande wären. Aber der erforderliche Aufwand macht für sie einfach keinen imperialistischen Sinn, und sie wollen sich auch jetzt, wo die albanischen Freischärler mit ihren Einfällen in Jugoslawien die Kriegsgefahr auf dem Balkan erhöhen (HB, 9./10.3.), nicht zu ihm entschließen. Statt dessen setzt die NATO auf eine schöpferische Fortentwicklung ihres Aufsichtsprinzips – und spannt diesmal in grenzüberschreitendem Zynismus den demokratisierten jugoslawischen Nationalismus als Instrument zur Realisierung ihrer Balkanordnung ein.

Weil das Sicherheitsproblem, das die albanischen Krieger für den rest-jugoslawischen Staat aufwerfen, auch die Stabilität tangiert, die sie in der Region implantieren wollen, schließen sich die Westmächte derselben Lagedefinition an, die sie dem Staatsterroristen Milošević nicht einmal zwei Jahre zuvor mit ihrem Krieg bestritten haben: Sie anerkennen den serbischen Standpunkt, der in den Angriffen der Albaner nicht hinnehmbare terroristische Aktionen (Staatspräsident Koštunica) sieht. Sie stellen sich – im Prinzip zumindest – also auch ein Stück weit hinter das Recht auf Verteidigung einer rest-jugoslawischen Souveränität, das die Führung in Belgrad schon seit längerem reklamiert, wenn sie fordert, selbst für den Schutz der eigenen Grenzen zu sorgen. Allerdings auch nur im Prinzip. Denn die Erlaubnis, die der serbischen Seite nach reichlichem Abwägen dann doch großzügigerweise gewährt worden ist: mit eigenen Streitkräften die eigene Staatsgrenze verteidigen zu dürfen, geht mit Bedingungen einher, die mit einer vorbehaltlosen Anerkennung eigener jugoslawischer Sicherheitsinteressen nicht zu verwechseln sind. Der ehemalige Kriegsgegner darf sich zwar eigenständig um seine Sicherheit kümmern, die ihm vom Boden des NATO-Protektorats aus zum Problem gemacht wird, aber beileibe nicht so, wie er dies für geboten hält: Für diesen Dienst will die Nato leicht bewaffnete Grenzschutzverbände und Polizisten zulassen. Der Einsatz von schwerem Kriegsgerät und von gepanzerten Fahrzeugen bleibt den Serben weiterhin verboten. Diese serbischen Patrouillen sollen in den ihnen zugewiesenen Abschnitten verdächtige Bewegungen kontrollieren und das Eindringen bewaffneter Freischärler verhindern. (NZZ, 9.3.) Dieselben Militärs, die ihre Soldaten im Kosovo auch noch in den Puff mit Panzerwagen vorfahren lassen, gestatten es den Serben doch glatt, im albanisch kontrollierten Niemandsland mit leichtem Gerät die Bewegungen einer schwer bewaffneten Guerilla zu kontrollieren: Was für ein vielversprechender Auftakt in Sachen Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Gegner!

Aber es ist immerhin ein Auftakt, so dass Djindjic, unser neuer Freund in Belgrad, zwar vernehmlich, aber nur kurz und folgenlos über die subalternen Hilfsdienste für die NATO mault, mit denen Rest-Jugoslawien seinen ersten, dem Westen wieder willkommenen Souveränitätsbeweis abliefert. Schließlich gewähren die NATO-Mächte Rest-Jugoslawien die Erlaubnis, sich selbst um das Sicherheitsproblem zu kümmern, das sie mit ihrem Regime im Kosovo erzeugen. Das ist schon ein großes Entgegenkommen; da muss es genügen, dass der Staat sich gegen albanische Feindseligkeiten kontrollierend zur Wehr setzt; seinerseits die UÇPMB-Kämpfer als Feinde zu bekämpfen, bleibt untersagt. So kommt es, dass sich als minderbemittelte Hilfstruppe und mit dem Polizeiaufgabengesetz im Tornister seit neuestem auch das jugoslawische Militär um die Sorte Stabilität verdient machen darf, die dem Westen für die Region vorschwebt. Für die politische Führung fällt auch eine schöne Aufgabe ab: Sie bekommt das Recht, mit dem UÇK-Ableger und der internationalen Gemeinschaft ein Waffenstillstandsabkommen auszuhandeln und sich demnächst im albanisch besiedelten Südzipfel Serbiens selbst mit um die Gestaltung der politischen Formen zu kümmern, in denen dort die Völker zusammenleben sollen. Denn die Albaner fordern eigene gesetzgeberische Körperschaften, dazu eine autonome Lokalregierung, Polizei und Rechtsprechung – und wer wollte ihnen das verwehren! Die Verhandlungen mit Belgrad sollten zudem an einem neutralen Ort außerhalb Jugoslawiens und unter Beteiligung internationaler Vermittler stattfinden. (FAZ, 7.3.) Noch ein kleines Dayton oder Rambouillet ist da also im Angebot, noch eine kleine Enklave eines international vermittelten multiethnischen Zusammenlebens auf dem Boden Ex-Jugoslawiens. Da kann der Westen sich demnächst entscheiden, ob er die Stabilisierung der Region nach dem in Bosnien und im Kosovo bewährten Muster auch noch in Rest-Jugoslawien für opportun hält, noch ein Stückchen aus dem Land herausbricht und dem serbischen Staatswillen – statt dass er weiterhin dem „Fetisch Souveränität“ nachjagt – das Ziel setzt, unter internationaler Aufsicht für die Einführung einer Zivilgesellschaft in Südslawien zu sorgen.

Mazedonien: „Stabilisierung“ einer Bürgerkriegslage durch „Anbindung an Europa“

Dass der Wille zum eigenen albanischen Staat auch vor der Grenze zu Mazedonien nicht Halt macht, ist logisch: Auch dort leben Albaner unter der falschen Herrschaft, auch dort sind sie von slawischer Dominanz zu befreien. Dass auch in Mazedonien der Kampf um Eigenstaatlichkeit über die Unterminierung der dortigen staatlichen Ordnung geführt wird, ist gleichfalls nur konsequent, und für eine UÇK schon gleich: Die kann diesbezüglich ja auf eine rundum positive Erfahrung zurückblicken – auch wenn der eigentliche Erfolg noch aussteht. So wird dank der vom Westen der Region oktroyierten „Stabilität“ endlich auch die einzige Nation in einen Staatsgründungskrieg involviert, die sich ohne Blutvergießen aus Titos Hinterlassenschaft ausgegliedert hat: UÇK-Aktivisten sickern im Land ein und zeigen der albanischstämmigen Minderheit mit Mörsern und Granaten, dass die Sache aller Skipetaren gut unterwegs ist.

Im Westen ist man bestürzt. Schon wieder droht ein neuer Balkan-Krieg, den man genau so wenig brauchen kann wie den im südserbischen Presevo-Tal. Und, was auch nicht schön ist: Auch da sind es die Schützlinge aus dem eigenen NATO-Protektorat, die sich ziemlich unbeeindruckt von den versammelten KFOR-Truppen geben und von denen bei der ersten Kostprobe einer eigenen militärischen Schlagkraft und Handlungsfreiheit auch gar nicht behelligt werden. Das geht dann für die NATO und EU doch ein wenig zu weit: Erstmals schließt man sich auch hierzulande offiziell dem jugoslawischen Sprachgebrauch zur Bezeichnung der UCK an, und der außen- und sicherheitspolitische EU-Koordinator lässt die mazedonische Regierung wissen, dass man in Europa nicht nur das Mittel sehr gut kennt, mit dem solche Angriffe auf die Integrität eines Staates abzuwehren sind, sondern auch für dessen bedingungslosen Einsatz ist: Im konkreten Fall wäre es ein Fehler, mit den Terroristen zu verhandeln; sie müssen isoliert werden. (Solana lt. SZ, 22.3.) Letzteres hat die Regierung in Skopje um der Selbsterhaltung ihres Staates willen auch vor, und es gelingt ihr mit ihren bescheidenen militärischen Mitteln dann doch erstaunlich rasch, weil es die Kämpfer der UÇK offensichtlich nicht gleich auf eine entscheidende Machtprobe mit dem mazedonischen Staat anlegen. Doch kaum wird vermeldet, dass Mazedoniens Fahne wieder über der Burg des albanisch besiedelten Tetovo weht, wird auch dieser staatliche Behauptungswille an die Grenzen erinnert, die man ihm in Brüssel zieht. Solana lässt wissen, dass die EU selbstverständlich die territoriale Integrität und Souveränität Mazedoniens unterstütze – keinesfalls aber Gewalt, wo politische Mittel zum Ziel führten. (NZZ, 27.3.) Zwar ist die in Fällen, in denen Macht und Geltung eines staatlichen Gewaltmonopols gewaltsam bestritten werden, das einzige zielführende Mittel der Politik. Aber insofern man in Europa die Rolle in Anspruch nimmt, als einzige maßgebliche Kontrollinstanz über den Gewalthaushalt aller auf dem Balkan sich tummelnden Staaten zu wachen, hat man sich auch bei Staaten, die gerade um ihre Selbsterhaltung kämpfen, in dieser Rolle in Erinnerung zu bringen. So bekommt auch der mazedonische Nationalismus die nötigen Hinweise, wie er sich bei seiner Selbstbehauptung als funktionell für die Methode zu erweisen hat, mit der Europa für Stabilität auf dem Balkan sorgen will.

Bekannt ist dabei den westlichen Krisenmanagern durchaus, dass dieser Staat mit seiner albanischen Minderheit seit seiner Gründung ein recht fragiles Gebilde ist. Sie haben auch mitbekommen, dass schon der Auftritt einer Handvoll UÇK-Kämpfer in diesem Land ausreicht, um dort die ethnischen Spannungen zuzuspitzen: Die Albaner reagieren mit Sympathiebekundungen, die mazedonischen Slawen mit dem Wunsch, die Regierung möchte doch gleich gescheit mit den albanischen Unruhestiftern aufräumen. Und zwar mit allen. Aber die Mächte der NATO und Europas lassen sich selbstverständlich auch durch die Herausbildung von Bürgerkriegsfronten nicht von dem Projekt abbringen, wie man der Region zu ihrer Stabilisierung verhilft: Multiethnische Zivilgesellschaft, das politische Ordnungsmodell mithin, mit dessen gewaltsamer Durchsetzung sie in Bosnien wie im Kosovo so glanzvolle Erfolge feiern, hat nach ihrem Dafürhalten auch in Mazedonien das Befriedungsrezept der Wahl zu sein, und die entsprechenden Direktiven werden der Regierung in Skopje dann mitgeteilt. Der deutsche Außenminister gibt bekannt, dass die Staatengemeinschaft eine gewaltsame Änderung der Grenzen nicht zulassen wird, er im übrigen aber zusammen mit den Albanern, die sie aufwerfen, auch der Auffassung ist, dass die albanische Frage virulent und offen (FAZ, 22.3.) ist. Auf diese Weise gibt er zu verstehen, dass diese heiße Frage über die Standpunkte und Interessen der beiden Parteien hinweg, die gerade im Begriff sind, sie gegeneinander auszufechten, exklusiv europäischer Regelungskompetenz unterliegt, wenn also überhaupt, dann nicht von ihnen selbst, sondern allein im Rahmen einer europäischen Perspektive zu regeln ist. Diese Perspektive nimmt dann in dem Antrag an die mazedonische Regierung erste Gestalt an, den berechtigten Beschwerden der Albaner in Mazedonien und ihrer legitimen Forderung nach einem Ende der Diskriminierung (ebd.) Rechnung zu tragen, zusammen mit dem deutschen Außenminister also die Rechtsposition im Prinzip anzuerkennen, die der albanische Separatismus für sich geltend macht. Freilich auch nur im Prinzip. Denn dass der Wunsch der mazedonischen Albaner, im Wege einer Verfassungsänderung offiziell den Status eines eigenen staatenbildenden Völkchens im Staat Mazedonien – mit Albanisch als eigener Staatssprache und einem eigenem albanischen Fernsehsender – zuerkannt zu bekommen, unmittelbar auf die Zweiteilung des Landes hinausläuft, weiß der kluge Außenminister selbstverständlich auch. Daher erhält die albanische Rechtsauffassung auch nicht die Anerkennung, die sie will. Nach einhelligem westlichen Willen soll der Staat Mazedonien darüber beisammen bleiben, dass sich die beiden dort unversöhnlich gegeneinander stehenden Staats-Standpunkte weit genug auseinander sortieren, um doch wieder miteinander auszukommen – als bräuchten der Wille, das Land in seinem Bestand zu erhalten, und das Bedürfnis, ihn zu zerlegen, bloß ein wenig Distanz und Abkühlung, um von ihren Gegensätzen und von ihrer Militanz gegeneinander abzulassen und sich durch das, was die EU den beteiligten Völkerschaften an politischer Ordnung ihres Zusammenlebens vorschreibt, perfekt bedient zu finden. Die Kämpfer aus dem Kosovo genau so wie die albanische Minderheit im Land sollen Ruhe geben und sich mit einer Autonomie begnügen, die das Land wenigstens nicht förmlich zerteilt – eine Belohnung für ihre Militanz, die sie von weiterer Militanz abhalten soll. Und die mazedonisch-slawische Staatsführung soll ihren Albanern diesen Rechtsstatus einer nicht ganz verselbständigten Selbständigkeit gewähren – also ihren Separatisten halb Recht geben, um zur anderen Hälfte rechtsförmlich weiter über sie herrschen zu können.

So sichert Europa die Stabilität auf dem Balkan, indem es in diesem Land einen Bürgerkrieg einfach für überflüssig erklärt. Es sucht die zwei feindlichen Parteien auf eine politische Lösung zu verpflichten, die bei einem Kompromiss angesiedelt ist, zu dem sie sich in etwa nach einem Waffengang mit unentschiedenem Ausgang ohnehin zusammenraufen müssten; das soll sie davon überzeugen, dass sie sich ihre Machtprobe auch gleich schenken können, was sie im übrigen auch schon allein deswegen tun sollen, weil man es in Europa von ihnen so will – Ende der Durchsage. Über die Tragfähigkeit und Haltbarkeit dieser Befriedungsmethode von Bürgerkriegslagen, die man nach Bosnien und dem Kosovo nun auch Mazedonien oktroyiert, macht man sich in den Reihen der EU und der NATO allerdings selbst nicht viel vor. Erstens hat man da so seine leidigen Erfahrungen, und diese zweitens insbesondere mit den Albanern. Lamers, außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag immerhin, mag sich in Anbetracht der allseitigen Intransigenz der Idee nicht mehr ganz verschließen, der Westen könnte alternativ auch für so etwas wie einen kontrollierten Zerfall dieses Staates sorgen. Gewaltlose Grenzänderungen mit Zustimmung der Beteiligten (FAZ, 29.3.) – das wäre beispielsweise so ein Königsweg zur Beilegung dieser leidigen ethnischen Konflikte. Der wäre auch humanitär astrein, denn wenn Europa, diese Wiege des Menschenrechts, Grenzpfähle verschiebt und die Völker in neue Territorien umsortiert, so ist das selbstverständlich keine ethnische Säuberung. Gewalt ist da auch kein Thema, denn selbstverständlich findet es die Zustimmung aller Mazedonier, wenn dasselbe Europa, das ihnen ihren Staat geschenkt hat, den einfach mal um ein Drittel verkleinert. Doch vorläufig ist man in Brüssel noch bewährten Idealen treu und hält eine multiethnische Ausgestaltung Mazedoniens für wünschenswert (ebd.). Da man dieses Land zwar schon länger als Aufmarschgebiet benutzt, es in ihm aber schon noch so etwas gibt und weiterhin geben soll wie eine souveräne Regierung – schon damit man sich nicht schon wieder selber mit den ortsansässigen Volksgruppen herumschlagen muss –, lässt man diese wissen, dass sie keineswegs nur Befehlsempfänger ist, sondern ein vollständig gleichberechtigter Partner, für den sich ein Tanz nach der Brüsseler Pfeife durchaus auszahlen könne und eine friedliche Konfliktlösung lohne. Mehrfach wurde an die für den 9. April geplante Unterzeichnung eines Stabilisierungs- und Assoziationsabkommens zwischen der EU und Mazedonien erinnert, und die EU-Kommission gab einen Überblick über die für dieses Jahr geplante Hilfe, die (…) ein Schwergewicht auf die Verbesserung der interethnischen Beziehungen legt und beschleunigt ausbezahlt werden soll. (NZZ, 20.3.)

Assoziation als staatliches Lebensmittel also: Eines der offiziell anerkannten Armenhäuser Europas soll seine politisch-ökonomische Grundlage und seine ganze nationale Zukunft darin sehen, sich als irgendwie geartetes Anhängsel der EU zurechnen zu können. Was die Gestaltung der Zukunft Mazedoniens betrifft, so besteht die vor allem darin, im Umgang mit den aufsässigen Albanern den Respekt vor fremdvölkischen Minderheiten an den Tag zu legen, den die Demokratien Europas in diesem Land für unbedingt angebracht halten. Das sichert dem Staat dann auch schon ein Stück weit sein ökonomisches Überleben. Denn Gelder für konkrete Projekte interethnischer Aufbauarbeit, zum Beispiel im Bildungsbereich oder in der Infrastruktur (Hombach, EU-Balkan-Koordinator) werden ihm beileibe nicht mehr nur versprochen: Sie werden auch ausbezahlt, und zwar sogar beschleunigt! Wenn das keine Perspektive für Mazedonien ist: Während schon die nächsten UÇK-Kämpfer ins Land einfallen, die Regierung wieder ihr Militär losschickt und sich im Volk eine anti-albanische Pogromstimmung breit macht, will die EU mit dem Versprechen wirklicher Geldzahlungen bei Slawen wie bei Albanern mäßigend auf die radikalen Kräfte in Volk und politischer Führung einwirken. Und mit den Summen, die womöglich wirklich irgendwann einmal von Brüssel nach Mazedonien überwiesen werden, kann dann endlich der Lehrbetrieb in einer südosteuropäischen Universität mitten in der Albaner-Hochburg Tetovo (NZZ, 20.3.) aufgenommen werden. Noch so eine einfach umwerfende friedenssichernde Maßnahme: Mitten im Frontgebiet eines heranziehenden Bürgerkriegs bietet die EU den Völkern auch noch Proseminare am Lehrstuhl für multiethnisches Zusammenleben an! Das wird sie vielleicht verbinden!

Montenegro: Keine Einsicht in die Grenzen der eigenen Eigenstaatlichkeit

Nicht viel Freude hat der Westen auch mit einem anderen seiner Geschöpfe auf dem Balkan. Freund Djukanovic, der die rest-jugoslawische Provinz Montenegro regiert, ist mittlerweile zu einem kleinen Problemfall geworden. Zwar macht er nur dasselbe wie bisher und betreibt weiter seine Sezession von der Belgrader Zentralregierung. Es ist auch so, dass er – dank großzügig gewährter monetärer Hilfe und politischer Unterstützung durch den Westen – mit der schon ziemlich weit vorangekommen ist: Auch wenn sonst ökonomisch nicht eben viel unterwegs ist, so zirkuliert in seinem Sprengel immerhin die DM und nicht der Dinar als Währung; und wenn auch sonst über nicht viel, so gebietet er doch über eigene Truppen und ein eigenes Grenzregime. Aber er will einfach nicht einsehen, dass es all diese untrüglichen Indizien einer montenegrinischen Eigenstaatlichkeit überhaupt nur wegen der Funktion gibt, die sie für den Westen und dessen Kampf gegen das Rest-Jugoslawien Milošević’ hatte. Als hilfreicher Beitrag zur Schwächung der in Belgrad residierenden Macht des Bösen war Djukanović der Gute mit seinen staatsmännischen Ambitionen gefragt. Dazu sollte und durfte er seine Provinz aus Jugoslawien ausgliedern und auch mit allen förmlichen Attributen ausstatten, die zu einem eigenständigen Staatswesen gehören – das aber dann auch selbst auszurufen, wurde ihm nicht gestattet. Noch ein Bürgerkrieg auf dem Balkan, nur damit ein von ihm auserkorener nützlicher Idiot nicht nur pro forma Staatsmann spielen, sondern wie ein echter einen richtigen Staat regieren kann: Das war und ist dem Westen einfach zu viel – was sich nicht gut mit dem Umstand verträgt, dass Djukanović die Regentschaft über einen bloßen Quasi-Staat einfach zu wenig ist. So hat der Westen noch einen Nationalismus vor sich, dem er wegen seiner erwünschten, weil Jugoslawien destabilisierenden Funktion überhaupt erst eine Perspektive gewiesen hat, den er jetzt aber, weil er seine Balkan-Ordnung zu destabilisieren droht, wieder in seine Schranken zu weisen hat.

Geld, das man zur Verwaltung dieser Entität Montenegro bezahlt, ist naturgemäß das beste Mittel, einen sich allzu selbständig machen wollenden Satrapen zur Räson zu rufen. Also teilt man Djukanović mit, dass er demnächst womöglich keines mehr bekommen wird, und der lässt fürs erste von seinem Vorhaben ab, sich über ein Referendum beim Volk das imperative Mandat zur Staatsgründung zu bestellen und abzuholen. Weil aber die Drohung, den Geldhahn zuzudrehen (SZ, 24.4.), umgekehrt auch nur den Willen verrät, bei erwiesenem Wohlverhalten weiter zu zahlen, weiß Djukanović auch, wie er sein Weiterleben am Tropf seiner westlichen Geldgeber mit dem Weiterbetreiben des von denen nicht gewollten Unabhängigkeitsprojekts zu verknüpfen hat: Er vertagt sein Referendum und verlegt sich statt dessen auf das – in seiner allerhöchste Legitimität verschaffenden Potenz wohl von niemandem im Westen anzufechtende – demokratische Wahlverfahren als Mittel, sein Volk für sich und darüber für ein Ja zur Sezession von Rest-Jugoslawien zu mobilisieren.

Demokratisch gut kalkuliert, kommt es dennoch anders, als Djukanović es sich ausgerechnet hat: Seine 600000 Montenegriner liefern die in Form einer überzeugenden Mehrheit für ihn verlangte demokratische Legitimation seines Projekts nicht ab. Die gewisse Erleichterung, die sich darüber im Westen ausbreitet, hält sich gleichwohl in Grenzen. Erstens ist aufgeschoben eben nicht aufgehoben, und zweitens hat man sich in Montenegro ohnehin einen Zustand geschaffen, der weder so noch so haltbar ist: Auch wenn das Wahlergebnis eine baldige Abspaltung Montenegros unwahrscheinlich macht, ist die Situation in Podgorica für den Westen nicht beruhigend. Das Votum bestätigte die Gespaltenheit der Bevölkerung. Und es dürfte eine unbefriedigende serbisch-montenegrinische Verbindung verlängern, die bis auf die Präsenz der jugoslawischen Armee schon aufgelöst war. Das jugoslawische Parallelsystem mit einer serbischen Teilstaats-Regierung und den praktisch funktionslosen Bundesbehörden bleibt erhalten. (SZ, 24.4.) Die Quadratur des Zirkels – das wäre wohl eine den Westen befriedigende Lösung: Keine Abspaltung Montenegros von Serbien, aber doch das Kappen aller serbisch-montenegrinischen Verbindungen; kein eigener Staat Montenegro, aber doch Schluss mit den Resten einer jugoslawischen Bundesregierung im Land; und möglichst keine gespaltene Bevölkerung, obwohl die doch gerade für die Verhinderung der Abspaltung Montenegros gesorgt hat. Einstweilen schickt der Westen Djukanović zu politischen Verhandlungen nach Belgrad, und wie aus dem ersten Geheimtreffen zu Montenegros Zukunft (SZ, 28./29.4.) durchsickert, verstehen sich die Protagonisten vor Ort tatsächlich darauf, die Vertagung ihres Gegensatzes zum politischen Gesprächs- und Verhandlungsstoff zu machen. Der serbische Premier Djindjić empfiehlt seinem montenegrinischen Kollegen, den zukünftigen Status seines Landes in einem Dialog zwischen den Parteien daheim zu ermitteln, also gefälligst das Kräfteverhältnis zu respektieren, das den Status Quo garantiert. Und Djukanović macht mit einer Union seine Aufwartung, die ein ‚unabhängiges und international anerkanntes‘ Montenegro mit Serbien eingehen könnte. (ebd.) Da wird also schon die Geburt der nächsten, völkerrechtlich ziemlich eigentümlichen, der Region dafür umso besser auf den Leib geschneiderten staatlichen Entität angepeilt: Ein Staat, der unbedingt eigenständig sein will, und sich zu diesem Zweck in einer Union mit einem anderen gründet, weil der ihn gar nicht in seine Eigenständigkeit entlassen will – das wird der wackeligen politischen Stabilität auf dem Balkan ganz bestimmt gut tun!

Und noch ein letztes Mal: Das Stabilitätshindernis Milošević wird beseitigt

An sich lässt die Lage im serbischen Rest-Jugoslawien wenig westliche Wünsche offen, sie ist in jeder erdenklichen Hinsicht stabil: In Belgrad regiert ein den Westmächten höriger, dem jugoslawischen Staat präsidiert ein ihnen gegenüber zumindest aufgeschlossener Demokrat, und, was genau so wichtig ist: Milošević zusammen mit seiner alten Staatspartei ist und bleibt erfolgreich marginalisiert. Doch offenbar reicht das alles dem Westen nicht. So richtig fertig mit dem Störfall Rest-Jugoslawien ist man hier erst dann, wenn sich nach seiner militärischen Niederringung und nach seiner erfolgreichen Wende zum Westen dieser Staat auch noch in sittlich-moralischer Hinsicht den eigenen Rechtsmaßstäben unterwirft. Dem Verbrecher Milošević hat man das Handwerk gelegt, seine Verbrechen aber, mit denen man den Krieg gegen ihn moralisch begründete, bleiben solange ungesühnt, wie man ihn nicht auch noch persönlich für sie haftbar gemacht hat. Und dafür, dass man dies endlich kann, haben seine Nachfolger in Belgrad gefälligst zu sorgen: Sie werden von der Schuld, mit und unter Milošević irgendwie doch bei jeder seiner Schandtaten mitgemacht zu haben, nur dann entlastet und vom Westen freigesprochen, wenn sie sich zu ihr bekennen, tätige Reue zeigen und Milošević dorthin überstellen, wo ihm nach allen Regeln des Völker- und Menschenstrafrechts der Prozess gemacht werden kann.

Das ist ziemlich dreist. Derselben Staatsregierung, die man für ihre Dienste an der Entmachtung von Milošević mit der Wiederaufnahme ins Lager der anerkannten und anerkennenswerten Souveräne belohnt hat, teil man mit, was ihre Souveränität zählt: Wenn überhaupt demnächst irgendetwas, dann nur, wenn sie sich selbst erst einmal zum Vollzugsorgan eines im Westen ausgestellten Strafbefehls degradiert. Das mutet einer Regierung, die sich immerhin mit dem Programm eines neuen Aufbruchs der jugoslawischen Nation ins Amt hat wählen lassen, nicht nur einiges an Selbstverleugnung zu. Auch das Volk, das die Geschicke der Nation mehrheitlich einem Koštunica oder Djincjić zur besseren Verantwortung übertragen hat, dürfte in seinem diesbezüglichen Vertrauen nicht gerade befördert werden, wenn deren erste Amtshandlungen darin bestehen, westlichen Weisungen nachzukommen. Zumal ja auch nicht irgendjemand verhaftet werden soll. Der Strafbefehl gilt immerhin einem Staatsmann, der bis vor kurzem noch nicht wenige seiner Landsleute hinter sich und seine Sache zu versammeln verstand, so dass der Westen mit seinem Ansinnen, die neuen Amtsinhaber in Belgrad möchten ihn doch bitte nach Den Haag überstellen, nicht nur eine leichte Entzweiung von Volk und Führung riskiert. Er droht auch diejenige im Volk selbst und im staatlichen Machtapparat wieder wachzurufen, die vor dem Machtwechsel für einen Bürgerkrieg hätte gut sein können.

Aber auch in diesem Fall setzt der Westen den Balkan, wie er ihn haben will, über alles – und sich einmal mehr über alle Gefährdungen hinweg, die er dadurch für sein hohes Gut Stabilität heraufbeschwört. Ein Nationalismus, der es nicht zuallererst ihm recht macht, hat dort einfach kein Lebensrecht; und dieser Grundsatz verliert auch dort nichts von seiner ernstgemeinten Grundsätzlichkeit, will vielmehr gerade dort als kategorischer Imperativ bedingungslos anerkannt sein, wo es um eine zwischenstaatliche Abrechnung im strafrechtlichen Sinn geht und der Sieger auf sein Recht pocht, den unterlegenen Kriegsgegner, und zwar keineswegs bloß symbolisch und zum Zwecke moralischer Rechthaberei, sondern ganz regelgerecht als Rechtsbrecher zu verfolgen. Das haben die neuen Machthaber in Belgrad letztlich dann auch so verstanden. Mit oder ohne Erpressung durch die Handvoll Dollar an Hilfsleistungen, die sie andernfalls vermutlich nicht erhalten hätten, holen sie Milošević fristgerecht aus seiner Villa heraus und werden für ihren Mut zum Risiko gleich dreifach belohnt: Die Staatsorgane legen sich nicht quer und bleiben ihren neuen Dienstherren gegenüber auch bei der Verhaftung ihres alten loyal; dem Volk ist es, von einigen Unverbesserlichen abgesehen, recht bis gleichgültig, dass sein alter Herr nun einsitzt, und im Westen ist man darüber sogar befriedigt. Ein erster Schritt in die richtige Richtung, heißt es aus der Zentrale für Weltgerechtigkeit in Washington, und die europäische Filiale lässt sich mit der Großzügigkeit vernehmen, dass man auf den zweiten und abschließenden Schritt durchaus ein wenig zu warten bereit sei. Nicht auch noch direkt ins Gesicht schlagen (nett, der NATO-Generalsekretär) wolle man denen in Belgrad, sie nicht gleich beim ersten Entgegenkommen vollständig zu bloßen Handlangern degradieren, was umgekehrt freilich nicht heißt, dass sie keine wären: An einer Auslieferung von Milošević führt für sie selbstverständlich kein Weg vorbei.

Seitdem ist die Belgrader Staatsführung darum bemüht, rechtliche Gesichtspunkte zu finden, unter denen sie Milošević den Prozess machen kann: Souverän möchte man schon gerne bleiben, wenn man dem westlichen Rechtsanspruch Genüge tut. Insofern der aber einfach nur dadurch zu erfüllen ist, dass sich Jugoslawien mit seinem Recht dem höheren Recht des Westens unterwirft, ist das Erscheinen von Milošević vor dem Tribunal in Den Haag eine Frage der Zeit, die der Westen Jugoslawien zur Wahrung des Gesichts gewährt.