Aufstand der Gelbwesten
Der Populist im Élysée und ‚le peuple‘ tief entzweit

Seit November letzten Jahres fordern überall in Frankreich Bürger in gelben Warnwesten beharrlich, nämlich Samstag für Samstag, und ziemlich militant die öffentliche Ordnung heraus. Sie blockieren Verkehrskreisel, zerstören massenhaft Radarfallen, legen halb Paris lahm, und einige von ihnen demolieren das Nationalheiligtum Arc de Triomphe. Aktiv nehmen an der „größten Bewegung seit der Studentenrevolte vom Mai 1968“ bis zu einer Viertelmillion Franzosen teil; die große passive Mehrheit zeigt Sympathie und Verständnis für den Protest.

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Aufstand der Gelbwesten
Der Populist im Élysée und ‚le peuple‘ tief entzweit

Seit November letzten Jahres fordern überall in Frankreich Bürger in gelben Warnwesten beharrlich, nämlich Samstag für Samstag, und ziemlich militant die öffentliche Ordnung heraus. Sie blockieren Verkehrskreisel, zerstören massenhaft Radarfallen, legen halb Paris lahm, und einige von ihnen demolieren das Nationalheiligtum Arc de Triomphe. Aktiv nehmen an der größten Bewegung seit der Studentenrevolte vom Mai 1968 bis zu einer Viertelmillion Franzosen teil; die große passive Mehrheit zeigt Sympathie und Verständnis für den Protest.

Der nimmt seinen Ausgangspunkt an der Einführung einer CO2-Steuer, die Benzin, Diesel und Heizöl verteuert, verallgemeinert sich aber schnell auf alles und jedes, was den Franzosen stinkt: Auf dem Land, wo der Mensch das Auto braucht, gibt es keine Jobs, und wenn, dann nur zu miserablen Löhnen; auch schon ohne die CO2-Steuer können sich die Leute ihr Leben nicht mehr leisten. Dass der um Haushaltssanierung bemühte Staat die resultierende Landflucht mit der Demontage öffentlicher Dienstleistungen beantwortet, Zugverbindungen streicht, Schulen und Krankenhäuser schließt, macht das Wegziehen erst recht nötig. In der Stadt wird auch nicht genug verdient, in den Banlieues geht nichts voran, hier sollte der Staat sein Geld reinstecken. Die Renten sind zu niedrig, jetzt sollen sie zugunsten der knappen Staatskasse noch mit steigenden Sozialabgaben belastet werden, und so weiter. Sehr großzügig nimmt die Bewegung alle Unzufriedenheiten, die sich melden, in die lange Liste ihrer Forderungen auf, unbekümmert darum, dass sie untereinander konkurrieren; auch Wichtiges und Unwichtiges wird gleichgewichtig nebeneinandergestellt; sogar dem Mangel an Parkplätzen wird der Rang eines Mit-Grundes für den Machtkampf der empörten Bürger mit der Obrigkeit beigemessen; eines Kampfes, der sich als Anfang einer neuen Revolution versteht und entsprechend großspurig auftritt: Wir wollen keine Brotkrumen, wir wollen das ganze Baguette!

Worin das ganze Baguette bestehen soll, ist in der Bewegung keine Frage. Jeder, der eine gelbe Weste anzieht, scheint an irgendeiner negativen Betroffenheit und seiner Empörung darüber, dass man ihm das zumutet, genug Grund für seinen Aufstand und in einem „so kann es nicht weitergehen“ genug Zielbestimmung für ihn zu finden. Die Bewegung hat kein Programm und will auch keines; jede bestimmte Richtung der Veränderung, die ihr von Gewerkschaften, rechten und linken Oppositionsparteien konkurrierend angetragen wird, gilt ihr als Beschädigung nicht nur ihrer Breite, sondern des unbedingten Rechts „unpolitischer“ Empörung, mit der sie antritt. Dergleichen weist sie als Versuch der Vereinnahmung und Instrumentalisierung ihrer authentischen Wut zurück: Weder links noch rechts will sie sein, wie der französische Präsident, gegen den – dies der einzige Punkt der Einigkeit – sich das unbestimmte Sammelsurium staatsbürgerlicher Empörung richtet: Was immer den Einzelnen bewegt, alle zusammen machen sie Macron verantwortlich für all das aufaddierte Schlechte im Land. Den Präsidenten, der eine kapitalistische Staatsräson in europäischer und globaler Konkurrenz der Nationen zu verwalten hat, erheben sie zum allein bestimmenden Subjekt ihrer miesen Verhältnisse. Seine Ignoranz gegenüber ihren Nöten, seine Arroganz gegen den gemeinen Mann sind an allem schuld. In Macron – démission! kulminiert für manche die ganze Bewegung.

So erteilt das französische Volk dem Populisten an der Macht eine saubere Quittung sowohl für seine Selbstinszenierung im Wahlkampf, die es für den Machtwechsel mobilisiert hat, wie für sein Regieren danach.

Macron – ein enttäuschender Populist

Schließlich war er es, der sich als Volkstribun aufgebaut und damit geworben hat, nur er könne Frankreich vor den Rechten, den ganz Rechten, den Linken und dem Niedergang retten. Er wollte die Republik in Marsch setzen und zur Front gegen die gesamte classe dirigeante zusammenschließen, von der sich die Franzosen nicht nur schlecht regiert, sondern regelrecht um ein erfolgreiches Frankreich betrogen sehen sollten. Deren korrupte Ämterwirtschaft, ihre Selbstbereicherung, die Kumpanei mit allen Besitzstandswahrern und Beharrungskräften im Land sowie – umgekehrt – ihre mangelnde Durchsetzungsfähigkeit gegen den Egoismus der organisierten Interessen sollten schuld daran sein, dass Frankreich hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt und als europäische Führungsmacht ausfällt. Dem Wahlvolk hat Macron das Angebot gemacht, seine materiellen Nöte und alle daraus resultierende Unzufriedenheit auf den blamablen Zustand des Vaterlands zurückzuführen, seine unbefriedigende Lage mit der der Nation zu identifizieren und unter Anleitung des neuen Führers die alten politischen Seilschaften zu entmachten und einem Neustart Frankreichs den Weg zu ebnen.

Das hat vor kaum zwei Jahren wunderbar funktioniert: Der Retter der Nation gewann die Wahl und wurde dank der von ihm erst geschaffenen, ihm völlig ergebenen Präsidentenpartei und der überwältigenden Parlamentsmehrheit, die sie nur Wochen nach seinem Wahlsieg errang, mit einer außerordentlichen Machtfülle zum Durchregieren ausgestattet. Jetzt ist Macron der personifizierte Volkswille, alles Staatshandeln ein Ausführen seiner Dekrete, er selbst verantwortlich für alle Resultate.

Die aktive Rolle des Volkes, das vereint mit der neuen Lichtgestalt alles Hemmende, Frankreich Schwächende zu bekämpfen und wegzuräumen aufgefordert war, war schnell ausgespielt. Der Marsch, zu dem Macron die Republik mobilisierte, war einer in die Wahllokale: Gerade mal zwei Wahlgänge hat es gebraucht, um die alten Staatsparteien zu entmachten und zu marginalisieren und ihre Art, Staat zu machen, abzuschaffen. Ab dann liegt die patriotische Aufgabe der für die nationale Wiedergeburt mobilisierten Massen darin, die Wirkungen präsidialer Beschlüsse zu ertragen und mitzutragen. Das große Projekt, für das alles Nötige zu befehlen sie Macron ermächtigt haben, braucht ihren aktiven Einsatz für das Vaterland nicht mehr; denn was der Präsident dafür anpackt und unternimmt, ist etwas furchtbar Normales: Macron, der Frankreich stärken und damit die Machtverhältnisse in der europäischen Union aufmischen und zurechtrücken will, betreibt die Gesundung seines Unionsstaates nach den Regeln dieses kapitalistischen Staatenbunds. Machtgewinn in der Eurozone ist gebunden an fiskalische Erfolgsmaßstäbe, die andere gesetzt haben und denen seine zu neuer Größe entschlossene Nation erst einmal gerecht werden muss. Der großartige Aufbruch mündet in die üblichen Techniken kapitalistischer Standortkonkurrenz: Die Staatsführung ringt um die Leistungsfähigkeit ihrer Volkswirtschaft, um ein günstiges Verhältnis von Wachstum und dem Stand der Staatsschulden und darüber um ihren Beitrag zur Stabilität der Gemeinschaftswährung und um ihre Freiheit zur Finanzierung ihres Haushalts. Die verfügbaren Mittel, das nationale Wachstum zu fördern, sind niedrige Löhne, flexible Arbeitszeiten, die Entlastung der Unternehmen von sozialen Rücksichten und Steuern; hohes Steueraufkommen aus allen anderen als Kapitaleinkommen sowie die Begrenzung staatlicher Ausgaben für andere als investive Zwecke müssen den Staatshaushalt im Gleichgewicht halten und die Schuldenaufnahme begrenzen.

Die Bereitschaft seiner Wählerbasis, ihre schlechte Lage mit der der Nation zu identifizieren und sich für eine nationale Erneuerung ohne Rücksichten einzusetzen, beantwortet der Präsident mit der Trennung beider. Er identifiziert die Ansprüche seiner Wähler an Arbeitseinkommen und staatliche Leistungen als die eigentlichen Bremsklötze des französischen Erfolgs, und an den ewig knappen Geldbeuteln der Normalbürger bedient er sich als der für seine Euro-konforme Haushaltssanierung verfügbaren Finanzmasse. So haben sich die national erregten Massen den französischen Aufbruch nicht vorgestellt, den sie gewählt haben. Sie haben sich en marche setzen lassen für wahre Volkssouveränität gegen ein verrottetes „Establishment“; doch den fortgesetzten Kampf gegen einen vorgestellten Feind, der an allen Missständen schuld ist, die einen Patrioten ärgern können, einen Feind, der den unzerstörbaren Schulterschluss zwischen Volk und Führer verbürgt – und wie alle erfolgreichen Populisten ihn ihren Anhängern zu bieten haben –, bleibt Macron ihnen schuldig. Er leistet sich den Widerspruch, den patriotischen Furor, den er erzeugt hat, nicht in Richtung treuer Militanz zu lenken, sondern aufs pur konstruktive Aus- und Stillhalten festzulegen. Erste Einsprüche fertigt er ebenso nationalmoralisch ausgrenzend ab wie im Wahlkampf die politischen Gegner aus den alten Parteien: Er polemisiert gegen fainéants (Faulenzer) und uneinsichtige Gallier und verordnet Arbeitslosen unternehmerische Initiative. Nicht wenige seiner Wähler, die sich natürlich für wohlanständig und arbeitsam halten, können nicht umhin einzusehen, dass auch sie damit gemeint sind – und sind beleidigt. Jetzt trennen sie ihrerseits Macron von der nationalen Kraftanstrengung, zu der sie sich haben agitieren lassen, und erkennen in ihm nur noch den Repräsentanten übergriffiger Privatinteressen, den „Präsidenten der Reichen“, der bloß, noch dazu in verschärfter Form, das alte „System“ fortsetzt.

Macron kämpft um seine Handlungsfreiheit, indem er seinen Populismus als Wahlkampfmasche demaskiert

Der anhaltende, von breiter Sympathie getragene Protest zeigt Wirkung: Macron sieht ein, dass das Vertrauen des Volkes in seinen Führer, damit auch seine unbedingte Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den übergangenen demokratischen Institutionen kaputt sind – und irgendetwas davon erst wiedergewonnen werden muss.

Er spricht zum Volk, verkündet mit einer gewissen Selbstkritik, dass er dessen Ruf „verstanden“ habe – und stellt klar, wie: als Antrag nämlich, ihm sein Reformprogramm, an dessen Notwendigkeit im Prinzip nicht zu rütteln ist, besser einsichtig zu machen. Militante Formen des Protests, denen er jede Legitimität abspricht, trennt er von berechtigten Sorgen anständiger Leute, für die er Verständnis und ein gewisses Entgegenkommen zeigt. Er räumt ein paar der Positionen, an denen sich die Empörung entzündet hat: Die Einführung der Dieselsteuer wird auf unbestimmt vertagt, der Mindestlohn auf Staatskosten um monatlich 100 Euro erhöht, und auf die gesteigerte Sozialabgabe auf Renten wird zur Besänftigung der Gemüter erst einmal verzichtet.

Dann geht der Präsident in die Offensive und zettelt eine große nationale Debatte mit dem Volk über dessen Unzufriedenheit an. Formell noch immer der gewählte König, der sich an (fast) allen Institutionen vorbei mit seinen Untertanen austauscht, beauftragt er die allerunterste, bürgernäheste Staatsebene, die Bürgermeister der Städte und Kommunen, ihm Zusammenkünfte mit ausgesuchten „einfachen“ Bürgern zu organisieren. Denen leiht er geduldig das präsidiale Ohr, damit sie ihm sagen, wo der Schuh drückt, was die Franzosen von ihrem Staat erwarten, und mit ihm beratschlagen, wie das Gewünschte eventuell zu realisieren wäre. Vorerst ist also Schluss mit dem Beschwören der Volkseinheit, das den Erfolg der Nation ohne nähere Angaben als das selbstverständliche und verpflichtende Gemeinschaftsinteresse aller Franzosen abruft und in seinem Namen gegen die Erfolg- und Nutzlosen hetzt. Wenn Macron Respekt vor den einfachen Menschen und ihren Sorgen äußert, kehrt er zurück zur demokratisch üblichen politischen Betreuung der Konkurrenzgesellschaft, in der jedes Privatinteresse sein Recht hat und sich artikulieren und einbringen darf – eben damit es sich an den ebenso berechtigten, entgegenstehenden Konkurrenzinteressen anderer abarbeitet und selbst zur Einsicht in den Vorrang des kapitalistischen Nationalerfolgs als Bedingung der Entstehung aller Einkommen und der Finanzierbarkeit aller Ansprüche findet.

Macrons Rückkehr zur demokratischen Technik der Politisierung und Unterordnung der Bürgerinteressen unter die Ansprüche der Nation denunziert sein forsches, populistisches Auftreten im Wahlkampf und danach als Attitüde. Das straft auch seine Krisendiagnose Lügen, dass das Land am Scheideweg zwischen dem endgültigen Niedergang und einer glänzenden Zukunft in einem französischeren Europa stehe und nur ein radikaler Bruch mit der mediokren Vergangenheit es retten könne. Und auch der Aufbruch, den er dem Land verspricht und betreibt, fällt dadurch um ein paar Größenordnungen kleiner aus.

Diese Normalität zersetzt die gegen ihn gerichtete Volkseinheit seiner enttäuschten Anhänger: Viele geben sich mit den Konzessionen und dem ihnen erwiesenen Respekt zufrieden und nehmen ihren Alltag wieder auf; andere bereichern die Demokratie des Landes um eine neue Wahlpartei, die sie gründen, wieder andere treten in existierende Parteien ein. Einige von denen, die weiterhin wöchentlich auf die Straße gehen, halten ihre Identität als aufbruchswillige Patrioten hoch, finden Geschmack an der Parole „Wir sind das Volk!“ oder „Frankreich gehört uns!“ und suchen sich selbst den inneren Feind, den der matte Populist an der Staatsspitze seiner marschierenden Republik immer verweigert hat: Sie gehen auf Juden los. Die übrigen Aktivisten sind damit konfrontiert, dass der Präsident die Entgleisung zum Anlass nimmt, die ganze Bewegung zu diskreditieren, und sehen sich genötigt, ihren Forderungskatalog zu erweitern: Sie haben um ihre Wohlanständigkeit und Respektabilität zu kämpfen und demonstrieren jetzt nicht mehr nur gegen den Präsidenten und seine Politik, sondern auch noch gegen Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und Antisemitismus.