Armutsdebatte 2018

Im Gefolge der Debatte um die Essener Tafel kommen in der Republik leise Bedenken auf, die Lage an den Tafeln der Republik würde Versäumnisse des deutschen Sozialstaats ans Licht bringen. Kaum wird der Vorwurf geäußert, der Staat würde seiner Fürsorgepflicht nicht nachkommen, durch Hartz IV sogar selbst die Armen in Armut halten, sieht der neue Gesundheitsminister Jens Spahn sich herausgefordert, diese Errungenschaft des deutschen Sozialstaats vorwärts zu verteidigen.

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Armutsdebatte 2018

Im Gefolge der Debatte um die Essener Tafel kommen in der Republik – vornehmlich in einer süddeutschen Redaktionsstube – leise Bedenken auf, die Lage an den Tafeln der Republik würde Versäumnisse des deutschen Sozialstaats ans Licht bringen. Und kaum wird der Vorwurf geäußert, der Staat würde seiner Fürsorgepflicht nicht nachkommen, durch Hartz IV sogar selbst die Armen in Armut halten, sieht der neue Gesundheitsminister Jens Spahn sich herausgefordert, diese Errungenschaft des deutschen Sozialstaats vorwärts zu verteidigen:

Spahns Kritik: Mehr Respekt vor dem deutschen Sozialstaat

„‚Niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe … Wir haben eines der besten Sozialsysteme der Welt.‘ Die gesetzliche Grundsicherung werde mit großem Aufwand genau bemessen und regelmäßig angepasst, betonte das CDU-Präsidiumsmitglied. Hartz IV bedeute nicht Armut, sondern sei die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut. ‚Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht‘, sagte Spahn.“ (WAZ, 10.3.18) „Ich finde es trotzdem wichtig … zu sehen, dass unser Sozialsystem tatsächlich für jeden ein Dach über dem Kopf vorsieht und für jeden das Nötige, wenn es ums Essen geht. Das deckt die Grundbedürfnisse ab, nicht mehr ...“ (Spahn bei „Klamroths Konter“, n‑tv, 13.3.18)

Elend kennt Spahn zwar auch, nämlich in anderen Ländern. Dort mögen Arbeitslose in der Gosse verhungern, aber das drittreichste Land der Welt lässt es glatt nicht so weit kommen – womit offenbar eben nicht bloß der Hungertod abgewehrt, sondern auch schon alle Bedenken über Armut hierzulande erledigt wären. Bedenklich an der Armut ist, soweit ist Spahn vollkommen einig mit seinen Kritikern, einzig die Frage, ob sich der Staat den Vorwurf gefallen lassen muss, berechtigte Ansprüche der Armen nicht zu befriedigen. Dafür, dass er das nicht muss, hat Spahn ein starkes Argument: Bei der Ermittlung des Hartz-IV-Betrags gibt er sich größte Mühe und scheut keine Kosten, das auch noch jährlich, um das Maß der Grundbedürfnisse objektiv zu ermitteln, sodass klar ist, was die Bedürftigen wirklich brauchen, nämlich vor allem: keinen Cent zu viel. Es ist also wirklich keine gemütliche Sache, wenn der Sozialstaat sich um die konkreten Bedürfnisse seiner Bürger kümmert, denn dann ist wirklich nicht mehr drin als die pure Existenzerhaltung. Und weil Spahn die Messlatte für die Beseitigung von Armut eben so niedrig hängt, ist schon mit Hartz IV jedem Kritiker – auch dem hungrigen – das Maul gestopft.

Doch statt Bedenken zu zerstreuen, handelt sich Spahn mit seiner Klarstellung neue ein. Die betreffen – seine Person und reichen von ganz links bis hin zu seinen Parteifreunden.

Kritik an Spahn: Wo bleibt der Respekt für die Armen?

Für Sahra Wagenknecht ist sozialstaatliche Betreuung keine Wohltat, deren Güte schon damit bewiesen ist, dass es sie gibt. Da muss der soziale Staat schon mehr tun für den guten Ruf, den Spahn für ihn reklamiert:

„‚Hartz IV mutet Eltern zu, ihre Kinder für 2,70 Euro am Tag zu ernähren. Wenn gutverdienende Politiker wie Herr Spahn meinen, das sei keine Armut, sollten sie sich vielleicht mal mit einer Mutter unterhalten, die unter solchen Bedingungen ihr Kind großziehen muss.‘ Das wäre nach den Worten von Wagenknecht jedenfalls besser, ‚als die Betroffenen noch mit arroganten Belehrungen zu verhöhnen, es ginge ihnen doch eigentlich gut‘“. (Neue Osnabrücker Zeitung, 12.3.18)

Bei ihrer Kritik mag die linke Frontfrau offenbar nicht auskommen ohne die moralische Wuchtbrumme namens ‚Mutter, alleinerziehende‘ – inzwischen die Inkarnation des unwidersprechlich Guten, nämlich der selbstlosen Opferbereitschaft. Dass die ehrenvolle Aufgabe namens Kindererziehung, die keinen Anstandsbolzen mit Amtsautorität kalt lassen kann, wegen eines spärlichen Hartz-IV-Betrags zur Zumutung gerät – davor, wenn schon nicht vor dem materiellen Mangel der Hartzer, müsste selbst der smarte Spahn in die Knie gehen. Dass er vor der sozialstaatlichen Klientel, durch die aufopferungsvolle Mutterfigur so vorbildlich vertreten und veredelt, nicht einmal den Hut zieht, sagt über ihn jedenfalls alles: Er hält nicht bloß 2,70 € am Tag zum Kinderernähren für politisch korrekt, sondern verweigert ihnen auch noch Respekt – dieses denkbar billige, daher von Politikern gerne und reichlich verschenkte Gut, von dem die Armen zwar auch nicht reicher werden, worauf sie aber auf jeden Fall ein Recht haben.

Auf derselben Ebene steigt die christdemokratische Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer in die Debatte ein und gibt dem Kollegen Spahn einen hilfreichen Ratschlag:

„Ich warne immer etwas davor, wenn Menschen, die – so wie er oder wie ich – gut verdienen, versuchen zu erklären, wie man sich mit Hartz IV fühlen sollte… Die Menschen, die ich kenne, die im Hartz-IV-Bezug sind, sind da nicht freiwillig, die wollen auch wieder raus“… Im Koalitionsvertrag „haben wir auch viele Milliardenbeträge festgelegt, die wir umsetzen wollen. Das ist der richtige Ansatzpunkt, nämlich darüber zu reden: Wie können wir Menschen davon abhalten, überhaupt in Hartz-IV-Bezug zu kommen?“ (Kramp-Karrenbauer im ZDF-Morgenmagazin, 12.3.18)

Sie empfiehlt ihm erstens die Heuchelei, hier würde nicht ein Machthaber über die Ansprüche der Regierten urteilen, sondern ein Gutverdiener über die Gefühlslage seiner minderbemittelten Mitbürger sprechen. Man kann Hartz IV als Politiker zwar verordnen, aber Zufriedenheit damit vorzuschreiben, das geht gar nicht. Die Definitionshoheit darüber, wie Hartz-IV-Empfänger sich mit der staatlich definierten materiellen Lage fühlen, steht ihnen unbedingt selbst zu.

Zweitens bricht sie eine Lanze für die Hartzer, indem sie den Verdacht, sie hingen faul in der sozialen Hängematte, zurückweist – womit sie den Verdacht überhaupt erst ins Spiel bringt, um dem Lob für die Bezieher sozialstaatlicher Leistungen drittens das Selbstlob anzuschließen, dass die Politik die Armen weder hängen noch rumhängen lässt.

Spahns Schlusswort: Respekt? Könnt ihr haben!

Spahn zeigt sich offen für solche Kritik. Der alleinerziehenden Hartz-IV-Bezieherin Sandra S., Initiatorin der Initiative „Herr Spahn, leben Sie für einen Monat vom Hartz-IV-Grundregelsatz!“, sagt er ein Treffen zu, das dann auch stattfindet:

„Spahn nannte es ‚hilfreich, mit Frau Schlensog die konkreten Probleme ihres Alltags zu besprechen‘. Und er räumte ein: ‚Mit Hartz IV zu leben, ist ohne Zweifel schwierig, denn es deckt als soziale Grundsicherung nur das Nötigste ab.‘ Zugleich lobte er Schlensogs Bemühungen, Arbeit zu finden und daneben eine so beeindruckende Kampagne auf die Füße zu stellen. ‚Das zeigt aus meiner Sicht, dass die Grundsicherung funktioniert und eine Teilnahme am sozialen und politischen Leben ohne existenzielle Not möglich ist.‘“ (Spiegel Online, 28.4.18)

Mit seinem Besuch und der öffentlichkeitswirksamen Nachbesprechung stellt Spahn unter Beweis, dass nichts leichter zu haben ist als der Respekt und das Einfühlungsvermögen, deren Fehlen ihm angekreidet worden ist, und schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe:

Schließlich erweist er dieser Exponentin des gesellschaftlichen Bodensatzes schon durch die Tatsache seines Auftauchens und durch eine Stunde ungeteilte Aufmerksamkeit höchste Ehre. Außerdem gesteht er Frau S. und damit allen Hartz-IV-Empfängern bei seinem Besuch noch einmal explizit zu, dass es wirklich echt nicht leicht ist, mit dem Hartz-IV-Satz klarzukommen. So entzieht er sich erstens den Vorwürfen der Abgehobenheit, der Unkenntnis und des fehlenden Respekts.

Letzteren verdient sich Frau S. in seinen Augen noch einmal besonders durch ihr politisches Bemühen, sodass sie zweitens als Kronzeugin dafür herhalten darf, dass Hartz IV nicht Armut, sondern … die Antwort darauf ist, weil es ja offensichtlich nicht nur das Mindeste abdeckt, sondern seine Bezieher auch noch dazu befähigt, sich öffentlichkeitswirksam über das eigene Elend zu beschweren. Ganz nach der Logik: Wer sich beschweren kann, ist der beste Beweis dafür, dass es den Grund der Beschwerde nicht gibt. Von Armut also keine Spur!

Die alberne Aufforderung, sich auch praktisch in das Leben mit Hartz IV einzufühlen, damit er qualifiziert mitreden könne, lehnt Spahn im Übrigen ab mit dem offenherzigen Bekenntnis, dass er etwas Besseres ist:

„Allerdings denke ich, dass es viele Bürger eher als Farce empfänden, wenn ich als Bundesminister versuchte, für einen Monat von Hartz IV zu leben. Denn zu offenkundig käme mein beruflicher Alltag auch dann der realen Lage eines Hartz-IV-Empfängers nicht nahe.“ (Ebd.)