Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Ein außerordentlicher Tarifkonflikt
Arbeitgeber und Gewerkschaften kümmern sich um ‚Arbeitszeiten, die zum Leben passen‘

Die organisierten deutschen Arbeitgeber halten Ende 2017 die Zeit für reif, ihre schon seit Jahren erhobenen Forderungen nach einer Reform des Arbeitszeitgesetzes wieder einmal nachdrücklich ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Die tägliche Arbeitszeit soll zukünftig rechtlich weder durch eine Normal- noch durch eine Maximalgrenze beschränkt sein und sich in beliebiger Kombination bis zu einer wöchentlichen Maximaldauer von 48 Stunden addieren. Flankierend dazu soll die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen von elf auf neun oder vielleicht doch lieber gleich auf sieben Stunden gesenkt werden.

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Ein außerordentlicher Tarifkonflikt
Arbeitgeber und Gewerkschaften kümmern sich um ‚Arbeitszeiten, die zum Leben passen‘

I. Ein unternehmerischer ‚Vorstoß zum Ende des Acht-Stunden-Tags‘

Die organisierten deutschen Arbeitgeber halten Ende 2017 die Zeit für reif, ihre schon seit Jahren erhobenen Forderungen nach einer Reform des Arbeitszeitgesetzes wieder einmal nachdrücklich ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Die tägliche Arbeitszeit soll zukünftig rechtlich weder durch eine Normal- noch durch eine Maximalgrenze beschränkt sein und sich in beliebiger Kombination bis zu einer wöchentlichen Maximaldauer von 48 Stunden addieren. Flankierend dazu soll die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen von elf auf neun oder vielleicht doch lieber gleich auf sieben Stunden gesenkt werden.

Für solche Forderungen haben die Unternehmer wie stets ihre guten Gründe. Zum freieren Umgang mit der Lebenszeit ihrer Belegschaften, den sie fordern, werden sie zuallererst herausgefordert: von der Konkurrenz, die sie dazu zwingt, stets ein waches Auge auf die ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ zu haben; die bezeichnet zwar nichts als die Fähigkeit der Unternehmen, ihren Gewinn zu machen, muss aber bekanntlich auch und gerade denjenigen ein Anliegen sein, die demnächst dafür mehr arbeiten sollen. Doch bei der Berufung auf die Sachzwänge, die ihnen ihresgleichen beim Geschäftemachen aufnötigen, belassen es die Unternehmer nicht: Nicht weniger als die Zeitläufte selbst verlangen nach der Reform, die die Unternehmer pflichtschuldigst an den Gesetzgeber zur Bearbeitung weiterreichen:

„Unser Arbeitszeitgesetz ist noch immer in der analogen Welt gefangen. Von einer neuen Bundesregierung erwarte ich einen Aufbruch für ein modernes Arbeitszeitrecht 4.0. Es muss unseren Unternehmen und Beschäftigten die Freiheit geben, innerhalb eines Wochenrahmens partnerschaftlich zu vereinbaren, wann und wo gearbeitet wird – ohne die Arbeitszeit insgesamt auszudehnen.“ (Ingo Kramer, Präsident des BDA, auf dem Arbeitgebertag, 29.11.17)

Regeln dafür, wer wann wie lange am Tag arbeiten lassen darf, sind in ihrem beschränkenden Charakter bloß ein Relikt längst vergangener Zeiten, das der Gegenwart und erst recht der Zukunft des digitalen Zeitalters in all seiner interesselosen Modernität eindeutig widerspricht – was man gerne mit der Formel der starre Acht-Stunden-Tag unterstreicht, auch wenn der weder im Gesetz noch in der Realität wirklich existiert. Das ist schon bemerkenswert. Immerhin ist der damit angesprochene – auch als vierte industrielle Revolution firmierende – Fortschritt einer der Produktivkräfte und bewirkt eine epochemachende Verringerung der zur Herstellung gesellschaftlich benötigter Güter und Dienstleistungen nötigen Arbeitszeit. Und ausgerechnet der soll, ganz analog zu den letzten beiden Jahrhunderten, also offenbar kapitalistisch-zeitlos sachgerecht, mehr Beanspruchung der Arbeitskräfte erfordern. In seiner neuesten Fassung trägt sich dieses Ansinnen in Form der frechen Opposition vor, es gehe den Arbeitgebern gar nicht um eine absolute Verlängerung der Arbeitszeit, sondern nur um mehr Freiheit bei ihrer Indienstnahme, auch Flexibilität genannt – Unterarbeit ist also glatt genauso im Programm, wenn mit Überarbeit gerade einmal alle Aufträge zeitnah abgearbeitet sind:

„Firmen, die in der neuen digitalisierten Welt bestehen wollen, müssen agil sein und schnell ihre Teams zusammenrufen können. Die Vorstellung, dass man morgens im Büro den Arbeitstag beginnt und mit dem Verlassen der Firma beendet, ist veraltet.“ (Christoph Schmidt, Vorsitzender des Beratergremiums der Bundesregierung, Welt am Sonntag, 12.11.17)

Das moderne Zeitalter – das ist also die Arbeitswelt, die die Unternehmen längst geschaffen haben. Ein geregelter Arbeitstag, an dessen Ende das analoge oder digitale Werkzeug fallen gelassen wird, gerät dem ökonomischen Sachverstand gar nicht als zu reformierende Praxis in die Schusslinie, sondern nur noch als wirklichkeitsfremde Vorstellung, der eigentlich nur der Gesetzgeber irgendwie immer noch aufsitzt: Dabei ist die deutsche Geschäftswelt doch längst 24 Stunden am Tag in Echtzeit online unterwegs. Die Herrschaft der Unternehmer über die Arbeits- und Lebenszeit der Gesellschaft ist nämlich so umfassend, dass sie ihren Anspruch auf die entsprechend umfassend gesetzlich garantierte Gültigkeit ihrer Arbeitszeitforderungen als pure Anpassung an die Arbeitsgewohnheiten ihrer Belegschaften ausdrücken können: Heute wird eben flexibel am Frühstückstisch und nach Feierabend gearbeitet, weswegen das Arbeitszeitgesetz nicht mehr der Lebenswirklichkeit der Menschen entspricht. Also fordern die Arbeitgeber bestimmt nichts Ungebührliches, sondern schlicht und einfach Arbeitszeiten, die zum Leben passen.

Dass Deutschlands Unternehmen ihre Belegschaften längst flexibel portionsweise rund um die Uhr einsetzen und sich dabei von den arbeitszeitlichen Schutzrechten der Arbeitnehmer ohnehin nicht einschränken lassen, ist natürlich ein schlagendes Argument für mehr Schutz und Sicherheit – für die Unternehmen:

„Der Arbeitnehmerschutz in Deutschland hat sich bewährt, aber er ist teilweise nicht mehr für unsere digitalisierte Arbeitswelt geeignet. So brauchen Unternehmen beispielsweise Sicherheit, dass sie nicht gesetzwidrig handeln, wenn ein Angestellter abends noch an einer Telefonkonferenz teilnimmt und dann morgens beim Frühstück seine Mails liest. Dies würde nicht nur den Firmen helfen, sondern auch den Mitarbeitern, die mit der digitalen Technik flexibler arbeiten können.“ (Ebd.)

In der digitalisierten Welt hat sich also der Arbeitnehmerschutz in Sachen Arbeitszeit nicht am Schutzbedarf, sondern daran zu bewähren, dass er zur geschäftlichen Benutzung seiner Schutzobjekte passt, mit der die Unternehmer den Acht-Stunden-Tag längst zu einer bloßen Rechts-Fiktion gemacht haben. Die Freiheiten, die sie sich zu nehmen gewohnt sind, soll die Politik gleich als ihr unwidersprechliches Recht festschreiben. Ihre Praxis blamiert sich also nicht etwa – was man ja auch unter der Herstellung von Rechtssicherheit verstehen könnte – an der Differenz zum geltenden Recht, sondern setzt umgekehrt dieses ins Unrecht – als einen Zustand der Rechtsunsicherheit, der Kosten für allfällige Sonderregelungen mit Gewerkschaften, Betriebsräten oder den einzelnen Beschäftigten verursacht.

Die gewerkschaftliche Antwort

Einen solch dreisten Angriff auf den einst gewerkschaftlich erkämpften Normalarbeitstag lässt sich der DGB natürlich nicht bieten und fährt seine schärfsten rhetorischen Geschütze auf. DGB-Chef Reiner Hoffmann nennt Schmidt einen Realitätsverweigerer und erklärt: Arbeitsgesetz und Tarifverträge bieten schon lange eine Fülle an flexiblen Möglichkeiten.

Die Argumentationsfigur, das eigene Interesse im Streit mit der Gegenseite als Ausweis von ‚Modernität‘ und ‚Realitätstauglichkeit‘, also einzig vernünftige Konsequenz aus allgemein anerkannten Gegebenheiten zu präsentieren, beherrscht auch der Vertreter der Beschäftigten. Bemerkenswert ist nur, was der Gewerkschaftsvertreter in Sachen flexible Arbeitszeiten als Realität anführt und für in Ordnung hält: die gewerkschaftliche Praxis nämlich, unter Beibehaltung des hehren Schutzrechts ganz sozialverträglich mit passenden Tarifverträgen dafür zu sorgen, dass es keinerlei relevante Schranken für die Bedürfnisse der Gegenseite gibt, frei über ihre Arbeitskräfte zu verfügen. Dass das in der Vergangenheit so gut geklappt hat, soll das Argument dafür abgeben, dass die gesetzlichen Regelungen beibehalten werden können, die den DGB in seiner bewährten Rolle als konstruktive Schutzmacht der Beschäftigten irgendwie im Spiel halten. Dann kann er sich auch weiterhin um die Ausgestaltung der Fülle an flexiblen Möglichkeiten verdient machen.

II. Die Tarifrunde in der Metallindustrie

Die Forderung der IG Metall: Ein Wahlrecht für „Arbeitszeiten, die zum Leben passen“

Was die Nutzung dieser vielen Möglichkeiten angeht, zieht der Vorsitzende der größten Einzelgewerkschaft schonungslos Bilanz:

„Flexible Arbeitszeit mit kurzfristigen Änderungen, ständigem längerem Arbeiten, permanenter Erreichbarkeit – der Zugriff des Arbeitgebers auf die Arbeits- und Lebenszeit wird umfassend.“ (Jörg Hofmann in „Mein Leben – meine Zeit. Arbeit neu denken. Die Arbeitszeitkampagne der IG Metall“)

Ross und Reiter sind dem Mann wahrlich kein Geheimnis: Den umfassenden Zugriff der Unternehmer auf die Arbeitskräfte benennt er als Grund für das verheerende Resultat, dass die Beschäftigten ihrer Zeit zum Leben beraubt sind. Diese unerträglichen Zustände klagt die IG Metall an und macht das Megathema Arbeitszeit zum bestimmenden Gegenstand der diesjährigen Tarifauseinandersetzung. Den Bedarf erklärt sie folgendermaßen:

„Beschäftigte strecken sich nach der Decke, jonglieren mit Öffnungszeiten, Verkehrschaos und Terminen am Arbeitsplatz. Sie sind flexibel und müssen es auch sein. Denn Arbeitszeiten werden immer flexibler – bisher allerdings vor allem im Interesse der Arbeitgeber. 57,3 Prozent der Beschäftigten machen Überstunden, 1,8 Milliarden allein im vergangenen Jahr, davon die Hälfte unbezahlt. Fast jeder Zweite arbeitet auch samstags, ein Viertel sogar sonntags. Gut ein Drittel arbeitet Schicht. Ganz nach der Logik der Arbeitgeber: Zuerst kommt der Kunde, der Markt, dann die Beschäftigten.“ („Mehr Geld und mehr Zeit“, igmetall.de)

Bei der IG Metall weiß man natürlich, dass es die Arbeitgeber sind, die die Lebenszeit der Beschäftigten als Arbeitszeit okkupieren. Nur: Von deren Zwecken will man bei der Gewerkschaft offenbar partout nichts wissen. Es kommt einfach nicht vor, für welches Interesse die Belegschaften so umfassend in Dienst genommen werden. Stattdessen beklagt die IG Metall – ganz nach ihrer eigenen Logik – die Art, wie die Unternehmen mit lauter unabweislichen Anforderungen umgehen, mit denen sie zu kämpfen haben: Sie müssen Kunden, Markt und Beschäftigten gleichermaßen gerecht werden, verlieren in deren Berücksichtigung aber notorisch die richtige Reihenfolge aus dem Blick. Damit steht fest, worum sich die Gewerkschaft zu kümmern hat: Es braucht mehr Berücksichtigung der Belange der Arbeitnehmer, und das heißt: einen besseren Ausgleich der Interessen bei ihrer flexiblen Inanspruchnahme. Sie weiß auch, wie der auszusehen hat:

„Wir stellen eine Lohnforderung von sechs Prozent. Darüber hinaus wollen wir mehr Arbeitszeitsouveränität für die Beschäftigten erreichen. Denn die Digitalisierung verändert die Beschäftigungsverhältnisse. Die Kolleginnen und Kollegen müssen schon heute ein hohes Maß an Flexibilität zeigen. Das lehnen sie auch gar nicht ab, aber sie wollen auch mehr über ihre Arbeit verfügen können.“ (Oliver Höbel, IG Metall)

‚Beschäftigte first‘ ist also nicht die fällige Konsequenz. Vielmehr steigt die IG Metall mit einer Reihenfolge ganz eigener Art ins Fordern ein: Das tätige Interesse, das die Gewerkschaft mit ihrem Korrekturbedarf überhaupt auf den Plan ruft, wird in Gestalt der Digitalisierung zur ebenso unpersönlichen wie unabänderlichen Prämisse allen Forderns, deren Ansprüchen in Sachen Veränderung die Kolleginnen und Kollegen flexibel nachkommen müssen, aber auch wollen. Wenn sich die Gewerkschaft als machtvolle organisierte Vertretung der Interessen der Arbeiterschaft für dieses ausdrückliche Bekenntnis zu marktwirtschaftlichen Sachzwängen auf die tätige Einsicht der Kolleginnen und Kollegen beruft, dann gibt sie auf diese Weise Auskunft darüber, wofür sie sich starkmachen will: nicht für eine Gegenwehr gegen die von ihr selber für unerträglich erklärten Arbeitsgegebenheiten, sondern dafür, mit eben diesen Gegebenheiten irgendwie besser zurechtkommen zu können. Wegen der ungemütlichen Anforderungen der von der Digitalisierung verordneten Beschäftigungsverhältnisse sollen die Beschäftigten ihre privaten Lebensbedürfnisse mit diesen Anforderungen in Einklang bringen können. Das Jonglieren mit den Notwendigkeiten des Arbeitsplatzes muss auch gehen; auf die Unplanbarkeit des Lebens muss man sich einstellen können! Dieser Gehalt der Arbeitszeitsouveränität, die die IG Metall mit der Kampagne Mein Leben, meine Zeit – Arbeit neu denken in Gestalt von Arbeitszeiten, die Rücksicht auf den Menschen nehmen und zum Leben passen erkämpfen will, ist den Forderungen dann auch anzusehen:

„Die Forderung der IG Metall zur Arbeitszeit sieht vor, dass die Beschäftigten ihre regelmäßige Arbeitszeit künftig für bis zu zwei Jahren auf bis zu 28 Stunden in der Woche reduzieren können. Danach besteht der Anspruch, auf die ursprüngliche Arbeitszeit zurückzukehren... Beschäftigte, die ihre Arbeitszeit reduzieren, um Kinder unter 14 Jahren im Haushalt zu betreuen oder Familienangehörige zu pflegen, sollen einen fixen Zuschuss von 200 Euro pro Monat von ihrem Arbeitgeber erhalten. Beschäftigte in Schichtarbeit oder anderen gesundheitlich belastenden Arbeitszeitmodellen, die ihre Wahloption nutzen und ihre Arbeitszeit verkürzen, sollen ebenfalls einen Entgeltzuschuss erhalten. Er soll bei 750 Euro im Jahr liegen.“ (igmetall.de)

Wie der Irrsinn genau gehen soll, private Notwendigkeiten in so einem modernen Berufsleben unterzubringen, ohne die freie Verfügung der Unternehmer anzutasten, will die IG Metall gar nicht für die Betroffenen entscheiden, sondern ihnen zu diesem Zweck ein individuelles Wahlrecht an die Hand geben. Der schrankenlosen Verfügung über ihre Lebenszeit, die die Arbeitgeber sich mit einem nominalen wöchentlichen Stundenkontingent von 35 erwirtschaftet haben, sollen sie mit der Erlaubnis zu dessen zeitweiliger Reduktion auf 28 Stunden begegnen können – um den Preis entsprechender Lohneinbußen. Wie inadäquat diese quantitative Antwort auf die qualitativen Fortschritte des Kommandos über die Arbeit ist, gibt die IG Metall selbst zu Protokoll, wenn sie den Umgang der Arbeitgeber mit kürzerer Wochenarbeitszeit weise antizipiert:

„Die Reduzierung der Arbeitszeit darf nicht zu mehr Leistungsdruck führen. Daher wird empfohlen, mit den Arbeitgebern auch über Regelungen zum Personalausgleich zu reden.“ (Pressemitteilung der IG Metall, 26.10.17)

Und dass das Recht auf freies Abwägen dieser großartigen Alternativen mit Souveränität der Beschäftigten rein gar nichts zu tun hat; dass sie sich das bisschen gewonnene Lebenszeit um den Preis, den sie beim Lohn dafür zahlen müssen, eigentlich gar nicht leisten können, das beweist die IG Metall ebenfalls selbst: Kaum hat sie das Anrecht auf eine zeitweilige Entlastung ins Spiel gebracht, befürchtet sie im nächsten Atemzug, dass die Betroffenen mit seiner Wahrnehmung in die Teilzeitfalle von Unterverdienst und Karriereabseits tappen. Also braucht es nach der gewerkschaftlichen Logik der Kompensation der als unvermeidlich akzeptierten Schädigungen auch noch kompensatorische Maßnahmen für die Schäden, die mit dem gewerkschaftlich geforderten Recht auf zeitweilige Minderarbeit unvermeidlich verbunden sind. Der ‚Teilzeitfalle‘ müssen die mit mehr Zeitsouveränität Beglückten durch ein ergänzendes Rückkehrrecht in die strapaziöse Vollzeit entkommen können. Und was den Lohnverlust angeht, mit dem das Anrecht bezahlt wird, kümmert sich die Gewerkschaft darum, dass trotzdem auch für weniger gut Verdienende die Arbeitszeitreduzierung eine reale Option wird: Sie fordert einen Teillohnausgleich. Zum Kriterium dafür macht sie allerdings gar nicht den Geringverdienst, sondern sie macht sich zum Anwalt gesellschaftlich anerkennungswürdiger Sondergründe, die eine Sonderzahlung rechtfertigen: Besonders belastete Schichtarbeiter sowie Beschäftigte, die zusätzlich kleine Kinder oder Pflegefälle am Hals haben, sollen mit der Zumutung des Lohnverzichts, mit der sie sich das Erreichen des Rentenalters bzw. Zeit für familiäre Notwendigkeiten erkaufen können, wenigstens ein bisschen besser zurechtkommen können.

Die Forderung von Gesamtmetall: Ein Anrecht auf das je betrieblich benötigte Arbeitsvolumen

Gesamtmetall lehnt das gewerkschaftliche Ansinnen strikt ab und malt gleich zum Einstieg den Anfang vom Ende des Flächentarifvertrags (zukunft-statt-zu-teuer.de) an die Wand und stellt noch vor Verhandlungsbeginn die ultimative Entwertung der Verhandlungen als Drohung in den Raum:

„Nach Auffassung von Arbeitgebervertretern stellt die Gewerkschaft mit einem solchen Kurs die Bereitschaft vieler Unternehmen auf die Probe, sich weiterhin an den Metall-Tarif zu binden... Viele Unternehmen machten sich vor diesem Hintergrund ,ernsthafte Gedanken über die Sinnhaftigkeit der Tarifbindung‘.“ (Ebd.)

Die Drohkulisse gibt der Tarifpartnerschaft den passenden Sinn: Die Gewerkschaft hat gefälligst die Sorte Flexibilität, die die Arbeitgeber brauchen, als unverrückbaren Ausgangspunkt jedweder Verhandlung abzunicken. Die Arbeitgeber gehen in die Offensive und verlangen eine Modernisierung des tariflichen Rahmens nach ihrem entgegengesetzten Bedarf:

„Konkret fordern die Metallarbeitgeber daher für die Betriebe die Möglichkeit, bei Bedarf die Arbeitszeit mit den Beschäftigten individuell, ohne Mehrkosten und ohne Quotenregelung auch über 35 Stunden pro Woche hinaus vereinbaren zu können. Die 35-Stunden-Woche könne dabei die tarifliche ,Anker‘-Arbeitszeit bleiben. ,Wir wollen keine generelle Arbeitszeitverlängerung. Aber die Betriebe müssen die Chance bekommen, sich befristet oder dauerhaft mehr Arbeitszeitvolumen zu verschaffen, wenn es benötigt wird – und wenn die Beschäftigten dies mittragen.‘ Auch eine kollektive betriebliche Vereinbarung, bei Bedarf die Arbeitszeit zu verlängern und das Entgelt entsprechend zu erhöhen, müsse möglich sein.“ (Südwest Metall)

Nicht, dass bislang die Arbeit nicht erledigt worden wäre, die die Metallarbeitgeber so ansagen. Die Quotenregelungen, denen zufolge auch bisher schon mit bis zu 18 % der Beschäftigten 40-Stunden-Verträge abgeschlossen werden können, sind schließlich nicht die Verhinderung, sondern nur eines der Mittel, sich bei Bedarf das nötige Arbeitszeitvolumen zu verschaffen. Bloß, die Mehrkosten deuten es an, einfach normal, nämlich die tarifvertraglich gesetzte Norm, war es bislang nicht, dass dieser Bedarf umstandslos und also auch ohne Zusatzkosten die abrufbare Arbeitszeit definiert. Bei diesem angepeilten Fortschritt gibt sich Gesamtmetall generös, fordert nämlich keine generelle Arbeitszeitverlängerung – die wäre ja auch eine Form der Einschränkung der beanspruchten Flexibilität. Und auch die ruhmreiche 35-Stunden-Woche darf gerne als Anker einer Regelung bestehen bleiben, solange das dem Sinn der Sache, mit den Beschäftigten individuell, ohne Mehrkosten und ohne Quotenregelung oder auch durch kollektive betriebliche Vereinbarung den Betrieben befristet oder dauerhaft mehr Arbeitszeitvolumen zu verschaffen, wenn es benötigt wird, nicht im Wege steht, sprich: zu einer bloßen rechnerischen Fiktion wird.

Ob die Beschäftigten die ihnen angesagte Flexibilität mittragen, ist dabei keine offene Frage. Die Unternehmer nehmen das als den gesicherten Ausgangspunkt für eine kleine, aber feine Ergänzung. Sie tun so, als ob ‚Flexibilität‘ zuallererst eine Forderung der Gewerkschaft wäre, für die die Arbeitgeber im Gegenzug doch auch ein bisschen Flexibilität erwarten könnten, und kapern so das gewerkschaftliche Motto von der Flexibilisierung im Namen der Beschäftigten für ihr Interesse:

„Wenn die Metall- und Elektroindustrie den Weg in ein neues Arbeitszeitregime mit höherer Zeitsouveränität für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eröffnen würde, dann ist das nur denkbar, wenn kürzere Arbeitszeiten und längere Arbeitszeiten für den Einzelnen gleichermaßen möglich werden. Anders kann eine Balance der Interessen der Beschäftigten und der Betriebe nicht erreicht werden.“ (Arndt Kirchhoff, NRW-Metall-Präsident)

Mit der Öffnung der Arbeitszeit nach oben ist alles andere als Wahlfreiheit in der betrieblichen Welt, stattdessen ein „neues Arbeitszeitregime“, das die Balance gewährleistet, die die Betriebe meinen, davon geht der Verbandspräsident einfach aus und lässt es sich auch gerne von Arbeitnehmerseite bestätigen:

„Fast ein Drittel der Metaller möchte mehr arbeiten, aber nur ein Fünftel weniger. Und das hat die Beschäftigtenumfrage der IG Metall herausgefunden. Also müsste die IG Metall doch auch auf diese Wünsche eingehen?!“ (Gesamtmetall via twitter)

Von diesem Standpunkt aus definiert Gesamtmetall im Vorfeld der Verhandlungen zwei rote Linien. Die erste betrifft das Prinzip, dass Unternehmer auch wirklich nur die Arbeit bezahlen, die sie tatsächlich abrufen. Wo man im Arbeitgeberlager gerade dabei ist, dieses Prinzip zu perfektionieren, indem man es vom Bezug auf ein Normalmaß trennt und damit endgültig auch die überkommene Zuschlagslogik überwindet, also die Überstundenzahlung insgesamt streichen will, die man mit massenhaft unbezahlten Überstunden längst erfolgreich unterläuft, ist das Verständnis für jeden Schritt dahinter zurück wenig ausgeprägt. Südwest-Metall-Chef Wolf zum teilweisen Entgeltausgleich:

„Schon die Begründung, dass unsere Beschäftigten sich das sonst nicht leisten könnten, leuchtet mir nicht ein. Unsere Facharbeiter verdienen bei 28 Stunden mehr als jede Verkäuferin im Einzelhandel, jede Arzthelferin und wohl auch die meisten Krankenschwestern bei 40 Stunden.“

Über die finanziellen Umstände der Metaller weiß Südwest-Metall alles Nötige, nämlich dass sie mit dem Metall-Tarif erledigt sind, weil andere Beschäftigte noch schlechter dastehen – da kann das Geld doch wirklich nicht das Problem sein! Und außerdem: Für den Anspruch, dass kein sachfremder, also dem Rentabilitätskalkül der Unternehmen externer Gesichtspunkt in der Lohnzahlung vorkommen darf, beruft man sich schlicht auf das so nützlich eingerichtete Prinzip, dass das erstens so ist, und zweitens auch moralisch gilt:

„‚Die IG Metall möchte offensichtlich, dass weniger zu arbeiten besser bezahlt wird als mehr zu arbeiten‘, sagte Kirchhoff. Dies verstoße nicht nur gegen das Prinzip Leistung und Gegenleistung, sondern sei auch unter Gerechtigkeitsaspekten in der betrieblichen Wirklichkeit nicht zu vermitteln.“ (Verband der Metall- und Elektroindustrie NRW, vdsm.net)

Die zweite rote Linie baut gleichzeitig die Brücke zum Kompromiss: Ein Recht der Arbeitnehmer auf zeitweilige Arbeitszeitreduzierung darf keinesfalls dazu führen, dass allen Ernstes die Beschäftigten über das Arbeitsvolumen bestimmen, das ein Betrieb aus einer Belegschaft herausholen will. Darüber ist nämlich bereits entschieden:

„Wie viel und wann gearbeitet werden muss, darüber entscheiden weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer – sondern einzig und allein der Kunde. Arbeit muss erledigt werden, wenn sie anfällt. Gleichzeitig gibt es immer weniger Arbeitnehmer, die eine Einheitslösung wollen – wo die eine vielleicht lieber etwas länger arbeiten würde, um entsprechend mehr zu verdienen, sagt der andere, ihm sei es wichtiger, flexibel zu sein – etwa, am Nachmittag sich um Nachwuchs kümmern zu können, dafür aber die Arbeit dann am Abend von zu Hause aus zu erledigen. Das zeigt: Die eigentliche Frage ist nicht ‚mehr‘ oder ‚weniger‘, sondern ‚flexibler‘ – und zwar sowohl für Arbeitgeber wie für Arbeitnehmer. Über die Frage, wie wir für beide Seiten mehr Flexibilität organisieren können, können wir jederzeit gerne reden. Aber klar ist: Die Arbeit muss erledigt werden – sonst wird sie woanders erledigt.“ (Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander, 3.8.17)

So melden Unternehmer den Anspruch auf absolute Gültigkeit ihres Interesses in der Form seiner vollständigen Unfreiheit an: Die Kunden sollen entscheiden über das – deswegen unumstößlich feststehende – Arbeitsvolumen der Beschäftigten, als stünde dazwischen nicht das Unternehmen mit seinem Zweck, Märkte zu erobern. So wird das Geschäftsinteresse, das den kapitalistischen ‚Bedarf‘ nach Arbeit definiert, als gültige Vorgabe für alle Fragen der Arbeitszeit zwar ins Feld geführt, aber zugleich auf den Kopf gestellt: Die Rechnungen mit einem gegen die Konkurrenten auszunützenden Markt und die entsprechende Ausrichtung der Produktion und damit des Arbeitskräfteeinsatzes gemäß dieser Rechnung kommt als Sachzwang der Konkurrenz daher, der zum Abarbeiten eines feststehenden Arbeitspensums nötigt, weil sonst die Konkurrenten dem eigenen Unternehmen – und das heißt selbstverständlich auch seinen werten Arbeitskräften – diese Arbeit wegnehmen. Was konstruktive Vorschläge angeht, wie so nützliche Bedürfnisse der Arbeitnehmer nach Mehr- resp. häuslicher Nachtarbeit in die Abwehr dieses Unheils für die gesamte Betriebsfamilie optimal einzubauen sind – da sind die Arbeitgeber ganz Ohr.

Die Synthese: Gesichertes Arbeitsvolumen und Wahlrecht – wenn vereinbar

Nach fünf erfolglosen Verhandlungsrunden, einem erstmaligen 24-Stunden-Warnstreik in ausgewählten Betrieben und der unternehmerischen Gegenwehr qua Rechtsgutachten und angedrohter Schadenersatzklage, nachdem so beide Seiten laut Beobachtern in den Abgrund geschaut (SZ, 6.2.18) haben, gibt es in der sechsten Runde eine Einigung, mit der sich beide Seiten ziemlich pudelwohl (Jörg Hofmann, 7.2.18) fühlen:

„Zukunftsweisend nennt der Erste Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, das Tarifergebnis für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg. Sie erhalten nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit. Flexibilität ist nicht länger ein Privileg der Arbeitgeber.“ (igmetall.de)

Und sein Gegenpart Dulger von Gesamtmetall lässt verlauten:

„Mit diesem Modell haben wir genau die Flexibilisierung nach unten und nach oben vereinbaren können, die wir angestrebt haben.“ (gesamtmetall.de)

Übereinstimmung besteht noch in einem weiteren Punkt:

„Beide Verhandlungspartner betonten, die Lösungen seien sehr vielschichtig. ‚Das ist die Hypothek: Die wahnsinnige Komplexität des Ganzen und die Aufgabe, das nun der Öffentlichkeit, den Betrieben und den Mitarbeitern zu erklären‘, sagte Wolf.“ (tagesschau.de, 6.2.18)

Diese Aufgabe kann man im Detail getrost den Beteiligten überlassen, denn der Kern der einvernehmlichen Lösung ist dann doch sehr übersichtlich und entspricht ganz dem Kompromiss, den Gesamtmetall schon vorgezeichnet hat. Im Gegenzug gegen das von der IG Metall geforderte allgemeine Recht auf ‚verkürzte Vollzeit‘ inkl. Rückkehrrecht können die Betriebe mit mehr als den bisherigen 18 % ihrer Beschäftigten Verträge über 40-Stunden-Wochen ohne Aufschlag abschließen. Weshalb die Regelung so komplex ausgefallen ist und worauf es ihm bei allen Details ankommt, bringt der Arbeitgebervertreter in dankenswert offener Weise auf den Punkt:

„Als besonders positiv bewertete der Verhandlungsführer und Südwestmetall-Vorsitzende Dr. Stefan Wolf, dass es den Arbeitgebern gelungen sei, das Arbeitszeitvolumen nach oben zu öffnen: ‚Das war eine harte Nuss, weil die IG Metall nicht gewillt war, die tarifliche Quote aufzugeben, die die Zahl der Beschäftigten mit 40-Stunden-Vertrag auf 18 Prozent begrenzt. Dafür habe ich nach wie vor kein Verständnis.‘ In der Summe seien aber ab 2019 nun viele andere Lösungen gefunden worden wie der erleichterte Zugang in die Sonderquoten oder der Wechsel in eine kollektive Volumenbetrachtung. ‚Diese Lösungen sind letztlich genauso viel wert wie eine deutliche Anhebung der Quote‘, sagte Wolf.“ (Verband der Metall- und Elektroindustrie NRW, vdsm.net)

Und wenn nicht, wenn sich das Moment von Handlungsfreiheit der Beschäftigen, das in ihrem Wahlrecht nun einmal enthalten ist, trotz aller Vorkehrungen mal negativ bemerkbar zu machen drohen sollte, dann gibt es dagegen auch noch eine Rückversicherung: Die Einigung sieht die Ablehnung der Arbeitszeitreduzierung aus betrieblichen Gründen vor, wenn es betrieblich nicht umsetzbar ist, weil z.B. Schlüsselqualifikationen verlorengehen oder überhaupt eine Belastungsquote des Betriebs überschritten wird.

Bleiben noch die Lohnforderung und der Teillohnausgleich. Ersteres wird in der bewährten Manier geregelt, dass die IG Metall die schmerzhafte Vier vor dem Komma mit einer Streckung der Laufzeit von 12 auf stolze 27 Monate erkauft. Und Letzteres, nämlich das Abräumen des Lohnausgleichs im Falle der Teilzeitarbeit, trägt seinen Teil zur Komplexität des Abschlusses bei. Zwecks Rettung eines irgendwie erkennbaren Überrests dieser Forderung greift man bei der IG Metall noch tiefer in die große Vorratskiste an Verfahrenstricks: Ein Teil der Lohnerhöhung wird umgewidmet in ein an allerlei Bedingungen geknüpftes Zusatzgeld, auf das die ursprünglich lohnausgleichsberechtigten Teilgruppen zusätzlich zugunsten sechs freier Tage verzichten können, die die Arbeitgeber dann auf acht aufstocken. Für IG Metall-Verhandlungsführer Zitzelsberger ein voller Erfolg:

„Mit diesem Modell schaffen wir einen Ausgleich für Belastungen und sorgen dafür, dass unsere Kolleginnen und Kollegen länger gesund bleiben... Außerdem schaffen wir Freiräume für wichtige gesellschaftliche Aufgaben und erleichtern die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.“ (igmetall.de)

Mehr ist nicht drin, wenn Belastungen dafür da sind, ‚ausgeglichen‘ zu werden: ein paar teuer erkaufte freie Tage und Stunden für die Perspektive, das Ganze gesundheitlich ein wenig länger auszuhalten, mit der Aufzucht und Pflege von Kindern und Alten notdürftig in Einklang bringen zu können – und am Ende womöglich sogar noch einen Rest Privatleben zu genießen. Herzlichen Glückwunsch!