Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Die Antwort auf den ausländerfeindlichen Terror in Hanau
Zwei Präsidenten reden ihrem Volk ins Gewissen

Eine Kritik der obrigkeitlichen Belehrungen des deutschen Volkes darüber, warum sich fremdenfeindlicher Terror für ein gutes Volk nicht gehört.

Aus der Zeitschrift
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Die Antwort auf den ausländerfeindlichen Terror in Hanau
Zwei Präsidenten reden ihrem Volk ins Gewissen

Wenn Migranten in Deutschland ermordet werden, kennen die repräsentativen Persönlichkeiten des Staates die kollektive Gefühlslage ihrer Bürger offenbar sehr gut. Sie sprechen deren Befinden jedenfalls gleich stellvertretend aus. Es ist ja auch nicht das erste Mal.

„Wir alle sind erschüttert über ein terroristisches Verbrechen, einen brutalen Akt mörderischer Gewalt. In unsere Trauer mischen sich Bitterkeit und Zorn.“ (Bundespräsident Steinmeier, 4.3.20) „Auch 14 Tage nach den rassistisch motivierten, vom Hass auf Muslime getriebenen Morden ist das Entsetzen greifbar.“ (Bundestagspräsident Schäuble, 5.3.20)

Auf einer offiziellen Gedenkveranstaltung wird, wie nach solchen Vorfällen üblich, die Betroffenheit der ganzen Nation ausgesprochen, jedenfalls ausgerufen; den Angehörigen wird die Solidarität der Nation versichert und zum Schluss eine obligatorische Schweigeminute absolviert. Doch so leicht, mit ein bisschen demonstrativer Bestürzung und einer feierlichen Bekundung der Empathie, lassen die Präsidenten ihre Mitbürger diesmal nicht davonkommen: Betroffenheit reicht längst nicht mehr. (Schäuble) Stattdessen steht Selbstkritik an – und das gleich an zwei Tagen hintereinander. Der Bundespräsident ergreift zuerst das Wort.

Steinmeier

„Denn dieses Verbrechen geschah nicht zufällig. Diese Tat hat eine Vorgeschichte. Eine Vorgeschichte der Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit Migrationsgeschichte, von Muslimen, von angeblich Fremden. Eine Vorgeschichte geistiger Brandstiftung und Stimmungsmache. Eine Vorgeschichte des Hasses... Es ist dieses Klima, in dem die Hetzer immer schamloser werden, immer offener agieren, sich nicht mehr verstecken. Es ist dieses Klima, in dem Terroristen zur Waffe greifen, sich gerechtfertigt fühlen zu morden.“

Dem obersten Repräsentanten der Nation ist das Offensichtliche nicht entgangen: die politische Verbindung zwischen dem Klima des Hasses und der mörderischen Tat. Hier hat kein Verrückter, sondern ein Ausländerfeind zugeschlagen – getrieben nicht von einem psychologischen Defekt, sondern von einem politischen Rechtsbewusstsein. Und mit dem gibt er sich nicht als Fremdkörper im deutschen Gemeinwesen, sondern als fanatischer Inhaber einer ausländerfeindlichen Gesinnung zu erkennen, die dort viele und immer mehr Anhänger findet. Der Täter ist mit der Gewissheit zu Werke gegangen: Was die wahren Deutschen wirklich denken und allenfalls in Worte gießen, das wird er wohl in die Tat umsetzen dürfen; und was die politisch Verantwortlichen nicht, jedenfalls nicht genügend tun, das wird man wohl selbst tun müssen – mit aller Konsequenz, die die politische Führung vermissen lässt und die die wahren Volksgenossen sich zwar wünschen, sich aber nicht trauen.

Steinmeier will es diesmal auch nicht beim Evergreen einer gemeinsamen nationalen Betroffenheit mit den Opfern und ihren Angehörigen, beim symbolischen Schulterschluss der Gemeinschaft der Guten gegen das unergründliche Böse belassen. Was das für ein Hohn wäre – davon lässt er sich von den Betroffenen selbst belehren:

„‚Dieser Angriff war ein Angriff auf uns alle.‘ So versuchen wir nach schrecklichen Ereignissen wie denen in Hanau regelmäßig unsere Solidarität mit Ihnen, den Opfern und ihren Angehörigen auszudrücken. In den letzten Tagen haben einige von Ihnen lautstark widersprochen: Nein, dieser Angriff galt nicht uns allen. Er galt denen, die einen ausländischen Namen tragen, die eine andere Religion haben, in deren Familie es Migration aus dem Süden gab, und sei das schon viele Generationen lang her... Als Mann mit weißen Haaren und weißer Haut, dessen Vater aus Westfalen, die Mutter aus Breslau nach Westdeutschland kam, muss ich meine Zugehörigkeit zu unserem Land nicht begründen. Ich erlebe nicht, wie mich im Vorbeigehen abschätzige Blicke treffen, wie verletzende Bemerkungen fallen, herabsetzende Witze gerissen werden. Ich erlebe nicht, wie Vorstellungsgespräche, Wohnungssuche und Behördengänge zum Spießrutenlauf werden. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, im Alltag ausgegrenzt zu werden – lange bevor es zu Gewalt kommt... Ja, es gibt Rassismus in unserem Land – und das nicht erst seit einigen Wochen.“

Schon wieder beweist der Bewohner des Schlosses Bellevue, dass ihm sein Gemeinwesen sehr vertraut ist: Für die Mitbürger ausländischer Herkunft gestaltet sich das Leben in der deutschen demokratischen Konkurrenzgesellschaft systematisch etwas schwieriger. Sie haben es nicht bloß mit den ortsüblichen Nöten und Antagonismen zu tun; wegen ihres fremdländischen Aussehens und Namens werden sie außerdem mit einem mehr oder minder starken Vorbehalt konfrontiert. Und so viel geht aus Steinmeiers Litanei auch hervor: Dieser Vorbehalt hat nichts zu tun damit, dass da jemand etwas fürchtet, was er nicht kennt. Ihr fremdländisches Erscheinungsbild lässt die Migranten inzwischen allenfalls in den abgeschiedeneren Ecken der Republik als Fremdlinge hervorstechen – freilich überall als Abweichung vom nationalistischen Idealbild des Deutschtums. Durch diese Brille betrachtet zeugt ihr Erscheinungsbild eben von einer Fremdheit ganz anderer, politischer und damit ziemlich entscheidender Art. Zur politischen Kultur dieses globalisierten Landes gehört es nämlich, die Nationalität nicht als Rechtsverhältnis der Staatsgewalt zu ihrer menschlichen Basis und – umgekehrt – der Landesbewohner zur herrschenden Staatsmacht zu begreifen, sondern als eine Qualität, die der wahre deutsche Bürger in sich hat und die alle anderen aus der so begründeten, quasi-natürlichen Volksgemeinschaft ausschließt. Deutschsein – das ist das exklusive Vorrecht der Eingeborenen mit Eingeborenenhintergrund. Solche Staatsangehörige bringen es also mit beeindruckender Verlässlichkeit fertig, sich selbst und die anderen vollständig unter ihre politische Zugehörigkeit zu subsumieren – und das für eine zwingende Konsequenz ihrer Natur zu halten, sogar zu fühlen. Dunkle Haut und Haare, Sprachen und Glaubensrituale, die man nicht versteht – wenn das alles für deutsche Staatsbürger ein rotes Tuch ist, dann wegen dem, wofür das alles politisch steht, nämlich für genau das, was auch für die angestammten Deutschen selbst gilt: für die natürliche Zugehörigkeit zum Vaterland, die ein Fremder nie erwerben kann, die ihm also mit allen Mitteln verwehrt werden muss.

*

Dass sich dieser rassistische Standpunkt für Deutsche längst nicht mehr gehört, will Steinmeier seinem Volk nahebringen – mit Hinweisen, von denen er annimmt, dass auch der bornierteste Zeitgenosse sie verstehen müsste:

„Der Anschlag galt den angeblich Fremden. Getroffen hat er Menschen. Ganz unterschiedliche Menschen. Männer und Frauen. Musikfans und Sportliebhaber. Menschen, die hier lebten, lachten, weinten, Pläne für die Zukunft schmiedeten. Die hier aufgewachsen sind, Kinder bekommen haben, gearbeitet, studiert, gefaulenzt haben. Die auf dem Bau gebuckelt oder Gedichte geschrieben haben... Die der Stolz ihrer Eltern waren, Stützen ihrer Familien und Freunde... Sie waren so viel mehr als das, was der Attentäter in ihnen sah.“

Warum fällt es den Deutschen denn eigentlich immer wieder so schwer, diese Trivialität zu kapieren? Im Migranten den Menschen zu sehen? Es ist ja wirklich nicht viel verlangt, an ihm all die Notwendigkeiten und Vorlieben, charakterlichen Stärken und Schwächen zu erkennen, die man von sich und den Seinen kennt. Warum ist denn ‚der Mensch‘ im Migranten eine so viel blassere Figur als das Feindbild, das deutsche Patrioten von ihm zeichnen? Auch dafür hat Steinmeier eine Antwort. Das liegt an

„dem simplen Schema von ‚wir‘ gegen ‚die‘. Das ist die Logik des Terrors. Das ist die Logik des Hasses. Menschen in Gruppen zu zwingen. Sie zu reduzieren auf ihre Herkunft, ihre Religion oder ihre Hautfarbe. Ihnen ihre Einzigartigkeit zu nehmen. Eine Einzigartigkeit, die jeden Menschen ausmacht und die unser Grundgesetz in Artikel 1 schützt: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

So viel ist daran schon wahr: Wer Migranten so sehr hasst, dass er sich von ihrer schieren Anwesenheit zu Mord und Totschlag berechtigt sieht, hat das menschliche Objekt seines Hasses vollständig in das Feindbild aufgelöst, das er sich von ihm geschnitzt hat. Doch wenn Steinmeier sich hier anschickt, diese Logik beim Namen zu nennen, begeht er eine so eklatante Auslassungssünde, dass man sie perfide nennen müsste, wäre sie nicht offensichtlich das Werk eines Überzeugungstäters mit einer ausgeprägten déformation professionelle. Er lässt ausgerechnet die Scheidung zwischen ‚wir‘ und ‚die‘ weg, die eben nicht bloß eine gewaltträchtige Denkweise, sondern die Realität der Nation ist und die ein Volk als solches überhaupt begründet: die Scheidung zwischen Inländer und Ausländer. Er lässt damit die Scheidung weg, die allein durch staatliche Gewalt geschaffen und so gründlich und umfassend aufrechterhalten wird, dass das terroristische Treiben nationalistischer Gesinnungstäter daneben tatsächlich nicht mehr als eine private Entgleisung ist, eine verbotene Zutat zu dem Grenz- und Ausschlussregime, dessen Ausübung die Politik sich vorbehält. Mit diesem ein- und ausschließenden Gewaltmonopol schafft der Staat überhaupt sein Volk, macht die Landesbewohner zu seiner Manövriermasse; und was sich derzeit im Mittelmeer abspielt, ist ein plastisches Beispiel für die Gewalt, die diese Scheidung dauerhaft verlangt, weil sie nur dadurch Bestand hat.

Mehr noch: Diese Scheidung gehört keineswegs nur zu den Tatbeständen, die die Bürger hinzunehmen haben, weil es bei uns nun einmal so läuft, sondern sie ist auch allemal eine Vorgabe für ihr Denken und Fühlen. Genau das stellt Steinmeier mit seiner feierlichen Ansprache unter Beweis, wenn er in aller Selbstverständlichkeit die kollektive Gefühlslage gleich der ganzen Nation zu bekunden beansprucht und sich dabei sichtlich schwertut, Sätze ohne wir alle über die Lippen zu bringen. Was die Opfer von Hanau ff. erfahren müssen: Es bleibt nicht bei der Vorgabe. Ihr wird von deutschen Patrioten entsprochen. Diese staatliche Scheidung zwischen In- und Ausländern ist es ja, in deren Namen Feinde der Migranten z.B. in Hanau zu Werke gehen. Sie übersehen also nichts, weder die Einzigartigkeit noch die gleiche Menschlichkeit ihrer Opfer. Auf die wenden sie vielmehr in aller blutigen Konsequenz genau die Sortierung an, auf der das Leben der nationalen Gemeinschaft beruht, weil die öffentliche Gewalt es so will – und daran ändert sich nichts dadurch, dass die Täter die Trennlinien zwischen ‚wir‘ und ‚denen‘ anders ziehen als das herrschaftliche Original.

Die gewaltsame Scheidung des Staates, das stellt der Mann an dessen symbolischer Spitze klar, fällt nicht unter die Logik des Terrors. Sie ist kein Fall erzwungener Gruppenmitgliedschaft und auch keine gewaltsame Reduzierung des Menschen, auch wenn der noch so vollständig unter die rechtsetzende Gewalt des Staates gestellt wird und auch wenn ihm mit aller gebieterischen Selbstverständlichkeit eine Parteilichkeit für die Nation unterstellt wird. Warum? Weil diese gewaltsame Scheidung doch ein Dienst am Menschen ist – das steht ja ganz vorne in der Verfassung. So simpel ist das Schema. Der Staat besteht damit hochoffiziell darauf, dass er mit seiner Gewalt das Leben seiner Bürger erst freisetzt; dass sein hoheitlicher Genehmigungsvorbehalt ein unerlässlicher Schutz und als solcher zu schätzen ist. Das ist denn auch der eigentliche Gehalt dessen, was die Deutschen sehen sollen, wenn sie die unverwechselbare Einzigartigkeit der Migranten, ihre superkonkrete Individualität in Augenschein nehmen. Sie sollen den Besitzanspruch des Rechtsstaats auf seine Bürger für die Identität halten, auf die es den Bio-Deutschen wie den eingebürgerten Migranten gleichermaßen und vor allem anzukommen hat. Als Gegenmittel gegen den nationalistischen Ausschluss der Migranten schreibt Steinmeier den Respekt vor der Gleichheit der Bürger als Rechtssubjekte vor, zu denen der Staat sie macht, wenn er ihnen einen Pass gibt und sie unter sein Recht beugt:

„Jeder Mensch hat die gleiche Würde, die gleichen Rechte. Es gibt keine Bürger zweiter Klasse, keine Abstufungen im Deutschsein.“

Das kleine und gar nicht neue Update, an das Steinmeier sein Publikum dabei erinnert: Diese Kreatur des deutschen Staates hat heutzutage viele bunte Avatare:

„Für einige der Opfer mag ihre Herkunft bedeutsam gewesen sein, für andere weniger. Längst ist die Realität in unserem Lande vielfältiger geworden. Aus der Spannung von dem schon immer Dagewesenen und dem, was in den Jahren hinzugekommen ist, aus diesem Austausch, aus dem Nebeneinander, hat sich etwas ganz Eigenes und Neues entwickelt, das eben zu uns gemeinsam gehört. Gehen wir deshalb nicht denen auf den Leim, die uns zu spalten versuchen mit dem simplen Schema von ‚wir‘ gegen ‚die‘.“

Als Teil des modernen deutschen ‚Wir‘ ist der Migrant von allen guten Deutschen zu akzeptieren: Deutschsein heute ist von Staats wegen keine Frage der Herkunft, Hautfarbe und Religion, der Sitten und Gebräuche – das moderne deutsche Volk ist die wahr gemachte politische Abstraktion des Kollektivs aller Staatsbürger jenseits all ihrer Unterschiede und Gegensätze. Als solche kann man die Migranten doch auch lieben lernen, weil auch sie inzwischen Deutschland sind.

*

Dennoch muss Steinmeier zur Kenntnis nehmen: Deutsche Patrioten tun sich damit immer wieder recht schwer. Sie haben zwar kein Problem damit, nach den Rechtssetzungen einer Staatsgewalt zu leben; auch sie können sich ihr Gemeinwesen nicht anders vorstellen. Unerträglich ist aber die Vorstellung, ihr nationales Wir sei bloß das Objekt, das berechnend zusammengesetzte Produkt einer Herrschaft, ganz ohne organische Verbindung zur Natur der Volksgenossen, wenigstens zu ihrer gemeinsamen Geschichte oder ‚Leitkultur‘. Das ist in einer Hinsicht ein ungerechter Verdacht: Die nationale Führung auch des globalisierten, multikulturellen Einwanderungslandes ist die letzte, die damit zufrieden wäre, die nationale Zugehörigkeit der Bürger bloß als eine im Pass dokumentierte rechtliche Zusortierung zu wissen. Auch für sie hat der Bürger mit dieser Zusortierung seine nationale Identität, so verbindlich wie das Werk einer höheren Gewalt, aber ihm so wenig fremd wie seine eigene Natur. Trotzdem: Ohne den klassischen Rassismus, auch als ‚völkisches Denken‘ bekannt, ist das Leben und Fühlen als Volk offenbar eine ordentliche Herausforderung.

Einen Tag später setzt sich der Bundespräsident im Bundestag auf die Ehrentribüne; nun ergreift der Bundestagspräsident Schäuble das Wort.

Schäuble

Auch er lässt sein Publikum nicht so leicht wie sonst davonkommen:

„Betroffenheit reicht längst nicht mehr. Hanau fordert vor allem: Aufrichtigkeit.“

Das schließt zunächst eine Selbstkritik der Staatsgewalt ein, vor allem der Abteilung Justiz, die laut Schäuble die rechtsextremistische Gefahr zu lange unterschätzt hat. Die Kritik, die die versammelten Abgeordneten sich von ihrer repräsentativen Spitze anhören müssen, ist also eine grandiose Verharmlosung ihres Beitrags zur rechtsextremistischen Gefahr. Sie bekommen dann einen Auftrag zur Verbesserung, der ganz in ihrem Sinne ist und im Prinzip auch durchaus im Sinne der Rechten selbst: mehr und effektivere Durchsetzung der staatlichen Ordnung, also mehr Stärke vonseiten der Staatsgewalt, deren behauptete Schwäche überhaupt die Generaldiagnose der rechten Täter ausmacht.

Im Anschluss kommt Schäuble ebenfalls auf das ausländerfeindliche gesellschaftliche Klima im Lande zu sprechen, in dem das Ressentiment gegenüber dem Fremden und abwegigste Verschwörungstheorien geschürt werden, bis Minderheiten als Bedrohung empfunden werden – und schmettert der Politik eine Kritik entgegen, die schmeichelhafter kaum sein könnte: Sie hat nicht genug getan, um die Gesinnung unschädlich zu machen, die mit dem Treiben der Politik selbst nichts zu tun hat:

„Gewählte Repräsentanten stehen in der besonderen Verantwortung, sich von extremistischen und rassistischen Ausfällen nicht nur verbal zu distanzieren, sondern deren Urheber konsequent dort zu verorten, wo sie stehen: jenseits des bürgerlichen Anstands und außerhalb unserer demokratischen Ordnung.“

Von dort schreitet Schäuble schließlich zu einer Kritik der Gesellschaft insgesamt, nämlich daran, wie die Deutschen generell zu den Migranten stehen. Er zitiert den Schriftsteller D. Utlu:

„‚Was geschah im Herzen, als die Nachricht aus Hanau kam? ... Wer hat Empathie gespürt für die Getöteten und ihre Hinterbliebenen? ... Jeder kann sich befragen, was die Ermordung dieser Menschen mit ihm oder ihr gemacht hat. Und wenn es nichts macht, wenn diese Gesellschaft zu keiner ehrlichen Trauer fähig ist, dann können wir fragen, weshalb das so ist und nach unserer Menschlichkeit suchen.‘ ... Und in schmerzhafter Konsequenz weitergedacht: Was wäre eigentlich passiert, wenn es sich in Hanau nicht um einen Mordanschlag auf Muslime, sondern um ein islamistisches Attentat gehandelt hätte?“

Die deutsche Gesellschaft soll also mit sich mal ehrlich sein: So richtig hat sie die Migranten nicht als Teil ihres Wir angenommen, sie längst nicht in die Mannschaft aufgenommen, der ihr Herz gilt. Eher sind deren Mitglieder auf dem Sprung, die Migranten zu einem inneren Feind zu erklären. Was tun?

„Hanau fordert Aufrichtigkeit von uns als Gesellschaft – indem wir uns eingestehen, dass wir bei der Integration noch lange nicht da sind, wo wir sein sollten. Einer Integration, die von allen etwas abverlangt, wenn sie gelingen soll. Und bei der wir auch ehrlich sein müssen, was wir an Integration einfordern, und wie viel unsere Gesellschaft an Verschiedenheit erträgt – zumal unter den Bedingungen einer Welt im rasanten Wandel. Bei der wir Fremdheitsgefühle angesichts tiefgreifender Veränderungen der gewohnten Umwelt ernst nehmen sollten, wenn wir auch die Menschen wirklich erreichen wollen, die Vielfalt mit Skepsis begegnen. Wer sich angesichts eines als überfordernd empfundenen gesellschaftlichen Wandels auf der Verliererseite wähnt, ist deshalb noch kein Rassist. Wir dürfen diese Fähigkeit zu differenzieren nicht aufgeben, wenn wir uns dem gesellschaftlichen Resonanzraum zuwenden, in dem sich Fremdheitsgefühle erst radikalisieren.“

Was Schäuble da präsentiert, könnte man als grobe Dummheit abqualifizieren, wenn er nicht auch so perfide wäre, ausgerechnet seinen interessierten Entschluss, das denkbar Unterschiedlichste zusammenzuschmeißen, als Aufruf zum Differenzieren auszugeben. Laut Schäuble muss man jedenfalls auch im Ausländerfeind den Menschen sehen, wenn man die Deutschen zur Akzeptanz gegenüber einem bunter gewordenen Deutschland bewegen will. Das heißt, man muss die politische, nationalistische Ablehnung von Migranten – immerhin die einzige Sorte Fremdheit, der es in Deutschland derzeit an den Kragen geht – mit einer urnatürlichen Angst vor Veränderung überhaupt zusammenwerfen. Er mischt dann auch noch die typisch proletarische Sorge um einen sozialen Abstieg unter, die er zwar als Wahn zurückweist, aber als Katalysator einer verständlichen, weil rein menschlichen Angst vor Fremden durchaus mühelos nachvollziehen kann. Mit dem nationalistischen Fehler, den Schäuble hier seinen Bürgern als deren absolut natürliche geistige Ausstattung nachsagt, muss man also fest rechnen – und ihm auch nicht zu nahetreten wollen:

„Der gesellschaftlichen Vielfalt und der Bandbreite an legitimen Gefühlen werden wir jedenfalls niemals gerecht, wenn wir Menschen allzu leichtfertig abstempeln – als rechts oder links, als fremd oder rassistisch, als idealistisch oder naiv. Es geht vielmehr darum, genau dort die Grenze zu ziehen, wo der Kern unserer Ordnung verletzt wird: bei der Würde und den Rechten des Individuums. Sie zu schützen, ist Aufgabe des Staates. Sie anzuerkennen, ist die Verpflichtung jedes einzelnen von uns. Nichts rechtfertigt, Menschen wegen ihrer Herkunft oder ihres Glaubens herabzusetzen, zu verunglimpfen, zu verfolgen, anzugreifen. Nichts! Verachtung für den anderen, Hass auf das Fremde: Das dürfen wir nicht dulden – und Straftaten, die daraus resultieren, sind durch nichts zu relativieren oder zu entschuldigen.“

Vor dem Ausländer darf man ruhig Angst haben, das ist nur normal – solange die Ehrfurcht vor dem Recht des Staates gewahrt bleibt, dessen Träger auch der Migrant ist. Am Ende lauscht Schäuble den Ängsten der Migranten vor Verfolgung durch die Deutschen und den Ängsten der Bio-Deutschen vor der Überfremdung durch die Migranten ein und dasselbe menschliche Bedürfnis ab: das nach der unwidersprechlichen Ordnungsgewalt des Staates:

„Für die innere Stabilität einer Ordnung, der sich Menschen anvertrauen, ist entscheidend, dass diese es vermag, das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit zu stillen. Die Menschen haben nur dann Vertrauen, wenn der Staat seiner Verpflichtung gerecht wird, allen den größtmöglichen Schutz zu gewähren, und er damit ein Grundgefühl von Sicherheit vermittelt.“

So geht er dann, der schöne Frieden in der Zukunft unserer offenen Gesellschaft. Und so geht eine Selbstkritik an der deutschen Politik und der deutschen politischen Kultur zu Ende, die weder der einen noch der anderen ein Haar krümmt.