Die Bahnhofsschießerei in Bad Kleinen

Die wehrhafte Demokratie legt sich einen Gewaltapparat und rechtliche Handhaben zu, um den Kampf gegen eine sich potenziell ausbreitende Staatsfeindschaft souverän auszuschalten. Mit der imponierend angelegten Festnahme von Restbeständen der RAF in Bad Kleinen führt sie der Öffentlichkeit den Staatsschutz als virulente Herausforderung der Nation vor. Anhand anfallender Toter blamiert die Öffentlichkeit den Sicherheitsapparat an seinen eigenen Erfolgsmaßstäben und gibt damit den von der Regierung in diesem Sinne gezogenen Konsequenzen Recht.

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Gliederung

Die Bahnhofsschießerei in Bad Kleinen

Wenn 55 im polizeilichen Blitzkrieg gedrillte Spezialisten und 6 Hubschrauber aufgefahren werden, um auf einem Bahnhof in Mecklenburg-Vorpommern 2 RAF-Leute zu verhaften, dann bekommt man einen vorläufigen Eindruck davon, was für einen Polizeiapparat sich der deutsche Staat für seine innere Sicherheit leistet.

Polizeistaatlicher Perfektionismus

So wurde an dem Fall klar, wofür sich die wehrhafte Demokratie über die normale Polizeimacht hinaus diverse Elitetruppen zulegt. Sie verkörpern einen Anspruch, der dem amerikanischen Kriegsideal des „chirurgischen Schlags“ nachgebildet ist. Potentielle Störfälle der inneren Ordnung in jeder beliebigen Situation auf staatlichen Befehl hin „ausschalten“ zu können, gewaltsame Auseinandersetzungen so zu führen, daß deren Ergebnisse überhaupt nicht von der Gegenseite abhängig sind, also Gewaltaffären nach Bedarf anzetteln und völlig zweckgemäß und zielgerichtet zu Ende führen zu können, das sind in deutschen Landen die für die Staatsgewalt gültigen Maßstäbe. Um ihnen zu entsprechen, haben sich die Vollzugsorgane als total überlegen zu erweisen. Die staatlichen Rambos müssen alles in den Schatten stellen können, was noch so entschlossene Terroristen in privater Regie zustandebringen könnten, und diese Befähigung ganz in den Dienst des staatlichen Auftraggebers stellen. Was sich der Staat da für eine Personnage heranzieht, ist auch kein Geheimnis mehr, wenn öffentlich die psychologische Problematik diskutiert wird, ob die skrupellose Bereitschaft zur Anwendung jeder Form von Gewalt – die gewisse Neigungen zu so einem Beruf voraussetzt – mit der Pflicht zur Selbstkontrolle unter einen Hut zu bringen ist, die diese Rambos erst zu zweckgemäßen Instrumenten der Staatsgewalt macht. Deswegen haben die Polizeipsychologen alle Hände voll zu tun mit der Herausbildung „streßstabiler“ und „seriöser“ Persönlichkeiten, denen „in bis zu 40 Tagen Psycho-Training jährlich schießwütiges Draufgängertum aberzogen“ und gleichzeitig „beigebracht (wird)… niemandem zu glauben, daß er tot ist“. Das sind doch einmal wertvolle Auskünfte darüber, wofür das Studium der Psychologie und deren Ideal einer in allen Lebenslagen funktionierenden Identität alles taugen.

Der Einsatz selbst belegte, was die Perfektionisten staatlichen Zuschlagens im Ernstfall dafür tun, daß das Ergebnis nichts zu wünschen übrig läßt. Von dem geplanten Idealfall herunter, die Zielpersonen in einem Blitzangriff zu überwältigen, bevor sie reagieren können, bedenken die Planungsstrategen solcher Aktionen schon im voraus alle möglichen Eventualitäten, die das erwünschte Ergebnis beeinträchtigen könnten. Sie berücksichtigen alle erdenklichen Störungen durch äußere Umstände. Sie beziehen die Möglichkeit individuellen Versagens der eingesetzten Kräfte in ihre Planung ein. Sie rechnen mit allen Versuchen von Gegenwehr. Sie sorgen vor für Schießereien jeden Ausmaßes. Sie treffen Vorkehrungen gegen sämtliche Ausbruchsmöglichkeiten. Und für all diese Eventualfälle bauen sie durch den Einsatz quantitativ und qualitativ überlegener Kräfte solange vor, bis es auch noch ein Kommunikationsnetz zwischen den Akteuren und Leitstellen vor Ort braucht, damit nichts durcheinander gerät und die Entscheidungshoheit der Befehlsgewaltigen bis zuletzt gewahrt bleibt. Geplant und vorbereitet wird auf diese Weise ein gewaltsames Intermezzo, das in seiner Organisation dem Ideal des vorweg garantierten Erfolgs ziemlich nahekommt. Und zwar eines Erfolgs, der auch höheren staatlichen Gesichtspunkten gerecht wird. Schon bevor der erste Schuß gefallen ist, stehen die Sanitätshubschrauber für den prompten Abtransport von Verletzten parat. Schließlich soll den Veranstaltern nachher niemand Versäumnisse bei den lebensrettenden Maßnahmen nachsagen können. Während des Zugriffs werden Funkprotokolle und Videoaufzeichnungen angefertigt, die später als Hilfsmittel der internen Manöverkritik und der polizeilichen Ausbildung zur Anwendung gelangen und auf diese Weise die Optimierung von Abläufen befördern; vom Nutzen, den ausgewähltes, in staatlicher Regie hergestelltes Bildmaterial für die Öffentlichkeit hat – noch so eine Parallele zum amerikanischen Ideal des perfekten Krieges –, ganz zu schweigen. Und nach dem Abräumen wird die Hoheit der Behörden über die Ermittlung gesichert, damit alles dem Staat nützliche Beweismaterial nur in die richtigen Hände gelangt. Das Funktionieren seiner Exekutive bemißt sich für den deutschen Staat daran, Gewalt so souverän einsetzen zu können, daß selbst noch in Bezug auf die rechtlichen und sonstigen weitergehenden Folgen seines Zuschlagens bis hin zum Eindruck, den der Einsatz der Staatsgewalt auf die Öffentlichkeit macht, alles unter seiner Kontrolle bleibt.

In ihrem Ärger darüber, daß ihr Spitzel aufgeflogen war, offenbarten die zuständigen Behörden, welche anspruchsvollen Berechnungen im übrigen für sie nicht aufgegangen waren. Sie hatten einen V-Mann auf die steckbrieflich gesuchte Birgit Hogefeld angesetzt mit dem erklärten Ziel, die verbliebenen Restbestände der RAF „Mann für Mann, Frau für Frau aufzuspüren“, um mit diesem Verein endgültig und vollständig abrechnen zu können. Der Aufenthaltsort der „Gesuchten“ war also bereits bekannt, bevor sich der V-Mann an sie milieugerecht herangemacht hat. Daß nicht sofort zugegriffen wurde, zeugt von der Sicherheit, die auf Seiten der Behörden geherrscht hat, in der Hinsicht keine Chance zu verpassen. Offenbar hatten sie ihr Ziel unter Kontrolle; und auf dieser Grundlage leisteten sie es sich, die „gefährliche Terroristin“ noch eine zeitlang auf freiem Fuß zu lassen, um sie aushorchen und die „Erkenntnisse“ über die RAF vervollständigen zu können. Um den für diesen Job geeigneten, informellen Mitarbeiter zu finden, mußten offenbar nur die ohnehin angelegten Karteien nach einer Figur durchforstet werden, die erstens in der „Szene“ beheimatet ist, die zweitens wegen Schulden mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist und die deswegen drittens den Anträgen des Verfassungsschutzes zugänglich gemacht werden kann. Das alles spricht wenig dafür, daß der deutsche Staat unter dem Zugzwang gehandelt hat, ein virulentes Ordnungsproblem lösen zu müssen, sondern zeigt vielmehr, welche Freiheiten ihm seine Exekutive im Umgang mit Subjekten verschafft, die er als Terroristen verfolgt.

Der staatliche Kampf gegen den Linksextremismus

Um „Terrorismusbekämpfung“ ist es in Bad Kleinen nach offizieller Verlautbarung nämlich gegangen. Mit dieser Titelgebung leisteten die Veranstalter ihren Beitrag zur staatsbürgerlichen Orientierung. Während auf Staatsfeinde der Grundsatz anzuwenden ist, daß sich deren Motive durch den Einsatz von Gewalt diskreditieren, verhält es sich bei den Rambos im Staatsdienst gerade umgekehrt. Bei ihnen hat die Regel zu gelten, daß die integeren Absichten Gewalt rechtfertigen und gebieten.

Keine Frage: Die unnachsichtige Verfolgung der RAF zeigt, daß die maßgeblichen Stellen diesen linksradikalen Haufen nach wie vor als ernstzunehmende Gefahr ansehen. Die Bekämpfung dieser Bedrohung ist für die Nation ein politisches Ereignis von größerer Bedeutung, sie gilt als eine Bewährungsprobe für die innere Sicherheit, als Prüfstein für das dafür zuständige Personal und ist in der Weise auch Gegenstand des öffentlichen Interesses. Fragt sich nur, warum das so ist. Denn auch der Presse, die gerne mehr über die Verbrechen der in Bad Kleinen ausgeschalteten „Terroristen“ mitgeteilt hätte, um die Dringlichkeit der Polizeiaktion herauszustreichen, fiel zu dem Thema bezeichnenderweise nicht recht viel mehr ein, als daß sie Mitglieder in einem Verein sind, den der Staat verfolgt.

Daß der Linksextremismus überhaupt mittlerweile ziemlich vom Boden der Republik verschwunden ist, daß die RAF im Speziellen mit Anschlägen auf die herrschende Elite seit geraumer Zeit nicht mehr in Erscheinung getreten ist und daß sie von diesem Mittel ihres Kampfs gegen den Staat öffentlich Abstand genommen hat, hat am staatlichen Verfolgungswillen nichts geändert. Die Behörden betätigen sich in ihrem unvermindert entschlossen geführten Kampf ziemlich unabhängig davon, was die RAF-Leute praktisch anstellen, und zeigen damit, daß der Grund ihrer Anstrengungen nicht in einer irgendwie akuten Bedrohung liegt, sondern darin, wie sie diese Bedrohung definieren.

Anders als im Fall rechtsradikaler Ausländeranzünder, die den herrschenden Demokraten überhaupt nur dann störend auffallen, wenn sie die Monopolgewalt mißachten, und die sich ansonsten ja auch tatsächlich nicht groß von einem Wahlvolk unterscheiden, das die Lösung des „Ausländerproblems“ der Führung überantwortet, weiß der Staat im Linksradikalismus eine programmatische Staatsfeindschaft am Werk, die er als Bedrohung seines Gewaltmonopols nimmt, noch lange bevor eine Fensterscheibe kaputtgegangen ist. Daß die Rechten den Staat an der Schlagkraft seiner Gewalt messen, also an seinem eigenen Kriterium, während Linke die Legitimität staatlicher Gewalt in Frage stellen, weil sie die Dienste des Staats an der Gesellschaft vermissen, übersehen die Verantwortlichen in keiner Weise.

Entsprechend unterschiedlich werden die beiden politisch motivierten Störfälle des Gewaltmonopols durch den Staatsschutz verfolgt. Während bei rechten Gewalttätern sehr genau geprüft wird, ob sie als „unpolitische“ „Einzeltäter“ einzuordnen sind, ob sie als politisch „Verführte“ anzusehen sind oder ob sie politisch organisiert sind, bekämpfen die Behörden in linken Radikalen von vornherein das gegen den Staat gerichtete Programm.

Bei ihnen geht der Staat prinzipiell davon aus, es mit einer staatsfeindlichen Verschwörung zu tun zu haben, die er aufdecken und deren „Kern“ er habhaft werden muß. Ob die RAF derzeit tatsächlich aus mehr besteht als aus der berühmten „Kommandoebene“ und ob die ihrerseits aus mehr besteht als aus ein paar verstreuten Individuen, die sich hauptsächlich vor der Polizei verstecken müssen, ist dabei ziemlich gleichgültig. Schließlich speist sich die herrschende Vorstellung von einem Kommando, das weit über sich selbst hinausgehende Fäden spinnt und dirigiert, aus dem gar nicht zu widerlegenden Verdacht, ein staatsfeindliches, politisches Programm könnte in dieser feinen Republik, womöglich unbemerkt, auf fruchtbaren Boden fallen und Anhänger finden.

Etliche Institutionen sind daher damit beauftragt, diese latente und daher auch ohne konkreten Anlaß fortwährend existierende Gefahr für den Staat zu kontrollieren. Um diese Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, genügt es völlig, der linken Szene anzugehören, die staatlicherseits als „Sumpf“ des Terrorismus genommen und als solcher observiert wird. Die zuständigen Ämter fügen die Beobachtungen, die sie in diesem Sumpf machen, zu einem Bild von der „Struktur“ der staatsfeindlichen Verschwörung zusammen. „Kontakte“ – Wohnung, Auto, Telefon, Bekannte – werden zu Indizien, die eine nach weiterem und engerem „Umfeld“, nach „Mitgliedern“ und „hartem Kern“ differenzierte Zurechnung der Individuen zur Verschworenengemeinschaft erlauben, die zerschlagen werden soll. Dafür und in dem Maß, in dem sie dem verbotenen Haufen zugerechnet werden, werden die Individuen verfolgt.

Mit Verbrechensbekämpfung im üblichen Sinn sind diese Aktivitäten nicht zu verwechseln. Die „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ ist in Deutschland zwar auch ein Verbrechen, aber eben kein gewöhnliches. Dieser Straftatbestand wurde extra geschaffen, um den Sicherheitsorganen in ihrem eigentümlichen Kampf gegen den Linksextremismus die passende juristische Handhabe zu verschaffen. Durch ihn wird der juristische Grundsatz der Individualschuld außer Kraft gesetzt und die Zurechenbarkeit zu dem Haufen, den der Staat verfolgt, selbst schon zu dem maßgeblichen Verbrechen gegen den Staat erklärt, für das die Individuen zur Verantwortung gezogen werden:

„Weil die Terroristen der dritten Generation keinerlei verwertbare Spuren hinterließen, gelang es der Polizei nicht, die Verbrechen einzelnen Personen zuzuordnen. Der Haftbefehl, der Birgit Hogefeld nach ihrer Festnahme präsentiert wurde, basiert auf einem Schriftgutachten, wonach die Wiesbadenerin das Auto für den Anschlag auf Tietmeyer angemietet haben soll. Grams wurde nur wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gesucht.“

Dieses Verbrechen ist so ziemlich das einzige, das den in letzter Zeit erwischten RAF-Leuten zur Last gelegt wird. So macht der Staat auf seine Weise deutlich, daß er diese Staatsfeinde nicht mehr oder jedenfalls nicht in erster Linie wegen der Anschläge verfolgt.

Daß für den Staat grundsätzlichere Verfolgungsgründe im Spiel sind, bekommen auch diejenigen zu spüren, die er dingfest gemacht und abgeurteilt hat. Ganz normal im Sinne gewöhnlicher Verbrechensbekämpfung ist es nämlich auch nicht, nicht einmal im Falle von Mord und Totschlag, daß Politiker und Öffentlichkeit gegen die übliche Rechtspraxis intervenieren, sobald Häftlinge vorzeitig entlassen werden sollen. Bei Mord z.B. ist das in der Regel nach 15 Jahren. Wo die juristische Routine in den letzten Jahren die Frage auf die Tagesordnung gesetzt hat, was mit den gefangenen RAF-Leuten geschehen soll, die zum Teil schon erheblich länger einsitzen, wurde noch jedesmal darauf bestanden, daß die Regel in diesen Fällen nicht gelten darf. Das machen auch die „Kinkel-Initiative“ und die politische Debatte über sie deutlich. Das „Angebot“ des ehemaligen Justizministers besteht nämlich aus gar nichts anderem als aus einer staatlichen Kapitulationsforderung an den linksradikalen Verein – mit dem Zusatz, dann weiterzusehen. Dieser Zusatz, der den einsitzenden RAF-Leuten ganz unverbindlich in Aussicht stellt, von der Justiz irgendwann doch wie gewöhnliche Verbrecher behandelt zu werden, ist sofort als „Versöhnungsangebot“ interpretiert worden. Von denjenigen nämlich, die in ihm eine Relativierung der unversöhnlichen Härte gesehen haben, die im politischen Sonderfall der einsitzenden RAF-Leute eigentlich angebracht wäre und ja auch tatsächlich praktiziert wird. Im allgemeinen – wenn nicht gerade ein paar taz-Redakteure unter der Überschrift „23 Jahre sind genug“ die Forderung aufstellen: „Die Kinkel-Initiative muß endlich umgesetzt werden“ – wird dieses „Angebot“ deswegen ja auch als unerträgliches Zugeständnis an Terroristen zurückgewiesen.

Die symbolische Bedeutung der Schießerei

Ein Fahndungserfolg in Sachen „Linksterrorismus“ war den Behörden offenbar ein dringliches Bedürfnis. Sichtlich erleichtert darüber, daß sie „nach sieben Jahren“ „bedrückender Fahndungsdefizite“ „endlich“ etwas vorzuweisen hatten, gingen sie in den ersten Tagen, in denen der RAF-Mann auch schon umgelegt, der „Fahndungserfolg“ davon aber noch nicht „überschattet“ war, mit ihrer Glanzleistung an die Öffentlichkeit. Der BKA-Chef ließ auf einer Pressekonferenz seiner gar nicht klammheimlichen Freude darüber freien Lauf, daß ein „polizeilicher Zugriff gelungen (war), und zwar auf Top-Leute der Kommandoebene der RAF. Wir sind uns bewußt, daß in der Öffentlichkeit, insbesondere natürlich auch in der Politik und hier bei Ihnen, eine großes Interesse daran besteht, wie das möglich war.“ Gelungen – so wurde der aufgesetzte Kopfschuß von offizieller Seite sachgerecht als Nebenwirkung der Veranstaltung eingeordnet – fanden auch der Generalbundesanwalt und der Innenminister die Angelegenheit. Sie lobten „die akribische kriminalistische Feinarbeit“, meldeten einen „wichtigen Erfolg gegen den Terror“ und „dankten den Sicherheitsbehörden für die intensive und gezielte Ermittlungsarbeit“.

Es ist schon bemerkenswert, wieviel Gewicht da von den Inhabern höchster Staatsämter einer Polizeiaktion verliehen wurde, die der Erledigung von ein paar linksextremen Restposten gegolten hatte. Auf die Idee, die vergangenen Jahre unter den Gesichtspunkt unerträglicher „Fahndungsdefizite“ zu stellen, muß man in der Chefetage der Nation schließlich auch erst einmal gekommen sein. Immerhin waren den Behörden in dieser Zeit, hauptsächlich aufgrund einer gewissenhaften Auswertung der vom Unrechtstaat geerbten Stasi-Akten, RAF-Leute reihenweise ins Netz gegangen. Der Staat ließ an Individuen, die ihre politischen Absichten längst aufgegeben hatten und versuchten, sich in eine bürgerliche Existenz zu retten, das Recht wiederherstellen. Zum Teil haben sie sich den Behörden gestellt, um endlich Ruhe zu bekommen. Der staatliche Fahndungswille hat sich in diesen letzten Jahren also ziemlich weitgehend und in jedem Fall unerbittlich Geltung verschafft. Das „Einräumen“ von Defiziten auf diesem Feld ist ziemlich durchsichtig darauf berechnet, die Brisanz eines Problems herauszustellen, dessen Lösung den Sicherheitsorganen und ihren Vorständen, dem Staat und seinen Politikern dann alle Ehre macht. Offenbar liegt der deutschen Führungsmannschaft so viel daran, zu zeigen, daß der Staat bedroht ist, und diesen Gesichtspunkt in der Öffentlichkeit zu verankern, daß sie sich selbst bezichtigt, in der Hinsicht etwas versäumt zu haben. Aus diesem Blickwinkel der Öffentlichkeitswirkung ihres Machtgebrauchs erklärt sich die Unzufriedenheit mit den Fahndungserfolgen der vergangenen Jahre, die den Behörden durch äußere Umstände ganz unspektakulär zugefallen waren, ohne daß die Staatsgewalt sich dafür groß hätte aufstellen müssen. Gelitten wurde da unter der Drangsal, daß die eingefangenen Feinde das innenpolitische Feindbild des Staats nicht in der gewünschten Weise bestätigen. Und zwar zuweilen so demonstrativ, daß der Eindruck entstehen konnte, die Nation leide daran, daß die RAF sich so wenig rührt und dem Staat so wenig Angriffsfläche bietet.

Die Erleichterung über den Einsatz in Bad Kleinen, die sich anfänglich noch ganz ungebrochen äußerte, belegt umgekehrt, daß nach Auffassung der maßgeblichen Instanzen der imponierende Auftritt der Staatsgewalt der geeignete Fall war, um der Öffentlichkeit die Präsenz der Gefahr für den Staat endlich drastisch vor Augen zu führen. Streng nach der Logik, daß die staatlichen Verfolgungsbemühungen beweisen, daß die Verfolgten Terroristen sind, wurde alles, was der Staat gegen die beiden RAF-Leute in Anschlag gebracht hatte, vom Ausstellen der Steckbriefe bis zum umfänglichen Aufgebot an Polizeikräften und der Schießerei auf dem Bahnhof, als Beweismittel gegen sie gewendet. Sie sollen sogar Schußwaffen dabei gehabt haben, wurde von der Kommandoebene der Nation gemeldet, die gerade ihre Polizeimacht hatte aufmarschieren lassen.

Vermittelt wurden in dieser Demonstration das Lernziel, daß der Schutz des Staates das virulente und von jedermann anzuerkennende Problem der Nation ist, und die Einsicht, daß der staatliche Gewaltapparat deswegen gar nicht gut genug funktionieren kann. – Welche andere Lehre aus der Aktion wäre auch passender für einen Staat, der an allen Ecken der Gesellschaft und in immer eindeutigerer Weise zu der Diagnose gelangt, daß die Staatsgewalt ihre Belange und sich nicht ausreichend durchsetzt, der alle Kritik an den Zuständen, die er schafft, in Zweifel am Funktionieren seines Gewaltmonopols übersetzt, der sich im Hinblick auf die Ordnungsprobleme, die er aufwirft, das Versäumnis vorwirft, für die Polizeimacht zuwenig getan zu haben, und den seine wachsenden Anforderungen an die innere Ordnung zunehmend unzufrieden werden lassen mit dem eingerichteten Polizeiapparat, der für seine Ansprüche viel zu wenig kann? Wenn in einer Nation das zur politischen Linie wird,[1] dann will der Staat sich auch nicht mehr an seinen Diensten für seine Gesellschaft messen lassen, sondern besteht darauf, daß die Maßstäbe, die er praktisch gegenüber seiner Gesellschaft geltend macht, auch als Beurteilungsmaßstäbe seiner Politik verbindlich werden. Daß ein funktionierendes Gewaltmonopol die Leistung des Staats für seine Gesellschaft ist und daß der Staat sich ausschließlich an der Frage messen läßt, wie perfekt er seinen Laden im Polizeigriff hat, das sind keine Verleumdungen böser Kritiker des Staats, sondern darauf bestehen heute dessen oberste Vertreter.

Für diese Lektion, haben sie sich als adäquates Demonstrationsmaterial das Aufräumen mit Resten linksradikaler Staatsgegnerschaft herausgesucht. Dem Kanzler, der sich bei jeder rechtsradikalen Ausschreitung zu der Klarstellung veranlaßt sieht, daß der Staat einen Kampf „gegen den rechten und linken Extremismus“ zu bestehen hat, sind in Bad Kleinen nicht auch die Rechten eingefallen, die gegenwärtig jeden Tag mit Gewalttaten auftreten. An diesen ausländeranzündenden Fanatikern eines starken Staats könnte er zwar auch vorführen lassen, was sein Polizeistaat alles kann. Aber als Symbol für eine existenzielle Bedrohung des Staats sind ihm die linken Staatsgegner lieber.

Der öffentliche Skandal

Und wie ist die Lektion verstanden worden? Was man so hört, ist die Schießerei auf dem Bahnhof überhaupt nicht gut angekommen. Sie soll „verheerend schiefgelaufen“ sein. Von „schier unglaublichen Pannen, Schlampereien und Vertuschungen“ wurde berichtet, und die Nation hat sich drei Wochen lang gar nicht mehr eingekriegt vor lauter Empörung über das „Versagen der Terrorfahnder“.

Ausgangspunkt für den Skandal waren Berichte von Augenzeugen, die sich nach ein paar Tagen bei den Redaktionen von „Monitor“ und „Spiegel“ gemeldet hatten und dort zu Protokoll gaben, daß der Tote auf dem Bahngleis von den staatlichen Vollzugsorganen „regelrecht hingerichtet“ worden sei. Die Nation erschrak. Darüber nämlich, daß sich Beamte im Dienst etwas geleistet hatten, was staatlicherseits nicht so leicht zu übergehen war, was rechtliche Schritte gegen Polizisten nach sich ziehen und die Polizei in Verruf bringen würde. Es wurde sogar daran gedacht, daß es nötig werden könnte, die glorreiche Elitetruppe aufzulösen. – Und dann wurde dem Skandal die Richtung gegeben: Eine unverzeihliche „Panne“ sei da passiert, die wohl nur damit zu erklären sei, daß einer der Akteure vor Ort „durchgedreht“ und überhaupt alles schiefgelaufen sei. Auf diese Deutung eines „aufgesetzten Todesschusses“ muß man auch erst einmal kommen! Die öffentlichen Meinungsbildner dementierten mit ihrer immer größeren Aufregung über die „Fehler“ der Sicherheitsorgane aus lauter Treue zur Polizei immer nachdrücklicher die Absicht, über deren mögliche Konsequenzen sie kurzzeitig erschrocken waren, und verlegten sich mit ihrer Pannendiagnose auf das Feld konstruktiver Kritik. Neben der brisanten Leiche wurden sogleich weitere „Pannen“ aufgedeckt, die gar nicht zahlreich genug sein konnten, um auf den eigentlichen Skandal hinzuweisen: „Dilettantisch“ und „unprofessionell“ lautete in der Folge das einhellige Urteil einer Öffentlichkeit, die sich von perfekt abgewickelten Auftritten der Polizeimacht begeistern läßt, von staatlicher Seite aber auch entsprechend bedient sehen will.

Einmal unter diese Optik gerückt hat die Schießerei auf dem Bahnhof für den bekanntermaßen kritischen deutschen Journalismus einiges zu wünschen übrig gelassen: „Die bestausgebildeten Beamten feuerten mindestens 33 Schuß, weil sie einen Verdächtigen außer Gefecht setzen wollten.“ – Sie haben „wie wild auf einem belebten Bahnhof herumgeballert.“ – „Wenn bei einer Festnahmeaktion 44 Schüsse fallen (davon 11 aus der oder den Waffen des Grams), wenn es zwei Tote gibt: dann ist das kein Ruhmesblatt für die einst gefeierte GSG 9.“ – Aus lauter Ruhmesblättern für die Truppe hätte die Zeitungslandschaft also bestanden, wenn das Einsatzkommando Grams gar nicht erst zum Schuß hätte kommen lassen, wenn die Festzunehmenden so souverän überwältigt worden wären, daß ihnen zur Gegenwehr keine Chance geblieben wäre, wenn deswegen eine Schießerei und Tote gar nicht nötig geworden wären oder wenn dafür wenigstens bereits der erste Schuß gereicht hätte, wenn schon Überwältigte nicht überflüssigerweise nachträglich noch erschossen worden wären, wenn bei der öffentlichen Schießerei keine Unbeteiligten getroffen oder die Öffentlichkeit vorsorglich durch entsprechende Wahl des Terrains ausgeschlossen worden wäre etc. – Kurz: Wenn vom Standpunkt eines total zweckmäßigen und ausschließlich am Erfolg der Staatsgewalt orientierten Zuschlagens aus am Ergebnis der Aktion kein Makel zu entdecken gewesen wäre, hätten die kritischen Beobachter der deutschen Szene eine Feierstunde für die Staatsgewalt veranstaltet.

Restlos überzeugt davon, daß es sich um eine gute Sache handelt, wenn der Staat seine Feinde mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft, ohne dabei auch nur einen Moment lang die Motive und Taten des Staats und die seiner Feinde bedenken zu müssen, ließ die Öffentlichkeit keinen anderen Beurteilungsmaßstab zu als den einer sich erfolgreich durchsetzenden Staatsgewalt. Was mancher Bananenrepublik den Vorwurf eines totalitären Regimes eintragen würde, das wird in einer deutschen Bundesrepublik – die ist eben keine Bananenrepublik, wie der Kanzler einen vorlauten Reporter belehrt hat – als einziges und unwidersprechliches Rechtfertigungskriterium für den Staat in Anschlag gebracht. Die ganze öffentliche Kritik war dem aus Fußballkommentaren bekannten Muster des unnötigen Fouls nachgebildet, das jede zweckmäßige Regelverletzung heiligt.

„Unnötig“, eigentlich „überflüssig“ und „ungeschickt“, ist freilich überhaupt nichts von dem, was die Öffentlichkeit rückblickend am Ergebnis der Aktion und seiner Präsentation moniert hat. Auch wenn es nicht oder nicht völlig zweckmäßig und im Sinne des Auftraggebers ist, wenn bei der in Auftrag gegebenen Festnahme von RAF-Leuten ein Polizist auf der Strecke bleibt und einer der zu Verhaftenden, statt verhaftet, erschossen wird, so liegen die Gründe, die diese „unnötigen Pannen“ notwendig machen, doch ganz in der Natur des Auftrags.

Eine Öffentlichkeit, die dem Staat herzliches Gelingen wünscht, wenn der seinem Fahndungsbedürfnis freien Lauf läßt, und die den Akteuren vor Ort den Ratschlag mit auf den Weg gibt, Schußwesten anzulegen, rechnet schließlich selbst mit dem gar nicht so erstaunlichen Umstand, daß sich die Verfolgten zur Wehr setzen. Sie weiß also auch, in was der Staat – unter ihrem Beifall – den „Beamten“ hineingehetzt hat, von dem nach allgemeiner Auffassung „viel zuwenig geredet“ worden ist. – Was hätte man über ihn auch sagen sollen? Daß er und seine Kollegen ein Training absolviert haben, das in der Fachwelt „mit der Ausbildung von Polizeihunden und Polizeipferden, die feuer- und schußfest gemacht werden“, verglichen wird? Daß er den Ordnungsansprüchen des Staats zum Opfer gefallen ist? Daß ihm der umgekehrte Fall, Grams von ihm erledigt, wahrscheinlich lieber gewesen wäre? Diejenigen, denen um den toten Polizisten zu wenig Aufhebens gemacht worden ist, werden schon wissen, warum sie selber über ihn gar nicht soviel zu sagen haben. Und redseliger müssen sie ja auch nicht werden, um ihr eigentliches, zutiefst menschliches Anliegen vorzubringen, daß um den anderen Toten nicht so viel Aufhebens gemacht wird.

Der ist mittlerweile ohnehin mehr auf der Erfolgsseite der Bilanz verbucht. Die nähere Art und Weise, wie er umgenietet worden ist, die feinsinnige Kommentatoren eine Zeit lang für ungehörig gehalten haben, ist ebenfalls kein unglücklicher Zufall gewesen. Schließlich gehört es zu den Zielvorgaben solcher Einsätze, Gegner blitzartig „passiv zu stellen“; die alternativen Methoden, dieses Ziel zu erreichen, liegen gar nicht so weit auseinander und sind von den Rambos vor Ort nach Effektivitätskriterien ad hoc zu entscheiden. Wenn bei der Auftragserfüllung dann gelegentlich und im Zweifelsfall sowieso über das Ziel hinaus geschossen wird, läßt sich im Einzelnen vielleicht nicht mehr so genau unterscheiden, ob der Betreffende seinen Auftrag miß- oder ganz gut verstanden hat, ob er seine privaten Gelüste gegenüber linken Extremisten rausgelassen hat, ob er überfordert war oder einfach „durchgeknallt“ ist. Fest steht jedoch, daß es sich um keine Ausrutscher handelt, die Psychologen zu erklären hätten. Daß die Erledigung solcher Jobs kein ganz gewöhnlicher Beruf ist, sondern nach Typen verlangt, die stolz darauf sind, vom Staat mit gewissen Sonderrechten zum Töten ausgestattet zu werden, die im Bewußtsein totaler Berechtigung Gewalt ausüben, die bereit sind, ihren Willen und ihre Physis fürs perfekte Zuschlagen herzurichten, das alles nimmt nämlich nichts davon weg, daß sich der Staat für seine Sicherheitsbedürfnisse sehr zweckmäßig genau solche Typen heranzüchtet.

Mit ihrem Anspruch, daß alles, was in Bad Kleinen nicht der Vorstellung einer absolut reibungslosen Auftragsabwicklung entsprochen hat, hätte unterbleiben müssen, befolgte die Öffentlichkeit in ihrer Beurteilung der „mißlungenen Bahnhofsballerei“ genau dasselbe Ideal, das staatlicherseits sehr konsequent durch den Einsatz eines in allen Belangen überlegenen Gewaltapparats praktiziert worden ist. Sichtlich beeindruckt von der Polizeimacht, die der Staat aufgefahren hatte, hatten sich die Nachrichtenmagazine vom staatlichen Gewaltaufgebot umstandslos die Beurteilungskriterien für den Einsatz vorgeben lassen: Wie weiland in Mogadiscio hätte es werden sollen, als die GSG 9 ein Flugzeug gestürmt hatte, in Sekundenschnelle ein paar Terroristen umlegte und damit „weltberühmt“ wurde, zum „Synonym für deutsche Präzision, für Erfolg, für Blitzkrieg in Polizeiuniform“.

Nach demselben Muster des unnötigen Fouls ging der Skandal in die zweite Runde. Die vierte Gewalt, die sich gerne als Kontrollinstanz der Staatsgewalt in Pose wirft, führte vor, wie sie ihren Auftrag versteht. Nach dem Motto: Erst keine gute Arbeit abliefern und dann auch noch unfähig sein, den schlechten Eindruck zu vertuschen, empörte sich die kritische Öffentlichkeit nun nicht mehr so sehr darüber, daß die Sache Grund zu Zweifeln bot, sondern darüber, daß die Ermittlungsbehörden und ihre Vorstände durch ihre Informationspolitik Zweifel an der erfolgreichen Durchführung der Aktion zuließen.

Den Zuständigen wurde auf dieser höheren Ebene des Skandals in aller Form der Vorwurf gemacht, daß die Pflege der staatstreuen Gesinnung, zu der sich die freie Presse aus eigener Verantwortung versteht, auch nicht einfacher wird, wenn herauskommt, daß Staatsbeamte jemanden exekutiert haben. Daß dadurch „der verheerende Eindruck entstanden (war), die Terroristen seien Opfer, nicht Täter“, bereitete den Meinungsprofis größeres Kopfzerbrechen. Offensichtlich hielten sie geradezu staatsfeindliche Gedanken und ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des staatlichen Vorgehens in dem Fall für ziemlich naheliegend. Sie warfen solche Bedenken deswegen ausdrücklich auf, nicht, um sie anzumelden und ihnen rechtzugeben, sondern um sie auszuräumen. Die Gefahr vor Augen, daß in den Köpfen verunsicherter Bürger ganz unerlaubte Gedanken herumspuken könnten, fühlten sie sich bemüßigt, Klarheit zu stiften in der Frage, worin der Skandal eigentlich besteht, und vor allem, worin er jedenfalls nicht besteht. In ziemlich gleichlautenden Kommentaren legten sie in den das ganze Spektrum der verschiedenen Meinungen abdeckenden Organen dar, daß der Tote auf dem Bahngleis zwar eine „Tragödie“ ist, eine „menschliche Tragödie“ sogar (also ein unvermeidliches und hinzunehmendes Schicksal, aus dem niemandem ein Vorwurf gemacht werden darf), aber keine „politische Katastrophe“ und schon gleich nicht der „Skandal“. Den sahen sie ganz woanders. Darin nämlich, daß dem Staat das Aufklärungsmonopol entglitten war und sich deswegen ihr Enthüllungsjournalismus austoben konnte.

Aus diesem Blickwinkel, daß der „verheerende Eindruck“ – nicht die Sache – unbedingt hätte vermieden werden müssen, mußten sich die Behörden schwerwiegende Versäumnisse vorhalten lassen. Der eigentliche Skandal war, daß die „Panne“ überhaupt und dann auch noch über Außenstehende aktenkundig wurde; daß dann der zuständige Generalbundesanwalt „auch nach Tagen“ noch „keinen Aufschluß über den verhängnisvollen Todesschuß geben konnte“, anstatt sofort Klarheit in dem Sinn zu stiften, daß und warum der tote Terrorist in Ordnung geht; daß sich die Behörden mit „täglich neuen Versionen“ immer mehr widersprachen und dadurch unglaubwürdig machten, anstatt von vornherein eine einheitliche und daher glaubwürdige Lügenversion anzubieten. Die Meinungsprofis deckten empört „Vertuschungen“ auf, beschwerten sich aber weder über die Vertuschungen noch darüber, was da vertuscht werden sollte, sondern darüber – „Stahl agierte von Tag zu Tag ungeschickter“ –, daß die Vertuschungen aufgedeckt werden konnten und damit der Eindruck einer unbezweifelbar souverän agierenden Staatsgewalt versaut wurde, auf den die Öffentlichkeit Anspruch erhoben hatte.

Die verantwortlichen Meinungsbildner der Nation ließen somit keinen Zweifel daran, was sie unter einer gelungenen Informationspolitik des Staates verstehen. Ungefähr so eine nämlich, wie sie der Staat tatsächlich betreibt. Eine, die vertuscht und geheimhält, wie es für den Staat gerade zweckmäßig ist. Teils aus rein polizeilichen, öffentlich sowieso gebilligten Gründen, teils um der Öffentlichkeit nur Material für gute Nachreden auf die Verantwortlichen zu offenbaren. Nur eben keine, die sich dabei unglaubwürdig macht. Solche Pannen, die eben herauskommen, wenn die verschiedenen Behörden, die so ein Einsatz auf den Plan ruft, anschließend an der jeweils für sie passendsten (Selbst-)Darstellung arbeiten und sich dabei überkreuz kommen, verzeihen die Vertreter der vierten Gewalt den Vertretern der drei anderen Gewalten so schnell nicht. Und zwar deswegen, weil ihr Ideal gelungener Manipulation nicht aufgegangen war, durch das Zusammenspiel von staatlicher Informationspolitik und freier Presse die Meinungsbildung im Lande so zu bestimmen, daß Material zu Zweifeln gar nicht erst ins Angebot kommt.

Stattdessen mußten die Meinungsprofis, denen das Vertrauen in den Staat so sehr am Herzen liegt, daß sie es schon für einen untragbaren Zustand halten, wenn sie es erst noch herstellen müssen, die offenkundig gewordenen Patzer des Staats ausbügeln und die Verhältnisse richtigstellen, die durch den Skandal durcheinandergekommen waren. Die Öffentlichkeit, die unter der Meinungsführerschaft des „Spiegel“ den Skandal losgetreten hatte, rief sich unter der ideologischen Leitung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zur Ordnung. Den Nationalpädagogen unter den Journalisten bereitete es zunehmend Sorge, daß auch noch ein ganz von konstruktiver Kritik triefender Skandal, den sie selbst nach Kräften mitbefördert haben, als Kritik am Staat mißverstanden werden könnte und Bürger in ihrem politischen Urteil darüber verunsichern könnte, wo die Guten und wo die Bösen stehen. Ziemlich grundsätzliche Kommentare über den unverzichtbaren Dienst der Polizei an der Gesellschaft und über die Notwendigkeit, Terroristen unschädlich zu machen, wurden für nötig befunden, und laut wurde darüber nachgedacht, daß es nicht angeht, durch einen Skandal solche staatsbürgerlichen Urgewißheiten zu erschüttern. Auf diese Weise betrachteten die Pressefritzen ihre eigene Skandalberichterstattung vom Standpunkt der Zensur, daß nämlich sie den Staat in Verruf gebracht hätte.

Die Bewältigung des Skandals

Wenn sich eine ganze Nation über ein mißlungenes Auftreten des Polizeistaats aufregt, dann ist diese Aufregung ganz im Sinne der beabsichtigten Ergebnisse. Der Skandal besitzt dann eine vorwärtstreibende Kraft genau in die Richtung, die mit dem Auftritt gemeint war. Die ganze Nation denkt in der Folge konstruktiv darüber nach, was sich ändern muß, um die Sache in Zukunft besser zu machen, und verlangt nach Konsequenzen. Die zieht die Führung der Nation und bewältigt damit den Skandal praktisch. Insofern hat so ein Skandal Wirkungen.

Minister und andere Verantwortliche müssen gehen. Und die dann kommen, sind ganz von der Durchsetzung der gescheiterten Anliegen beseelt. Der Wechsel im Innenministerium hat der Nation einen Mann beschert, der vom „Spiegel“ als „eine Mischung aus Rambo und Terminator“ eingeführt wurde, die „für Rechtswähler attraktiv“ ist, und der beim bekanntermaßen liberalen Geist dieses Magazins alles andere als Befürchtungen auslöst: „Ob Kanther… all diese Hoffnungen erfüllen kann, ist indessen fraglich.“ Ein Polizeiminister vom Scheitel bis zur Sohle, der es als Kompliment begreift, der „Stahlhelm-Fraktion“ zugerechnet zu werden, weil er die Nation mit dem Standpunkt vertraut machen will, daß „law and order“ in Deutschland ganz grundsätzlich viel zu gering gehandelt werden. Dieser Mann hat sich etwas mehr vorgenommen, als ein Ressort unter anderen zu leiten. Seinen Auftrag, den er als Innenminister hat, die Gesellschaft vom Standpunkt der Polizei aus zu betrachten, versteht Kanther dahingehend, diesen Standpunkt zum Zentrum der Politik zu machen und ihm alle sonstigen politischen Belange unterzuordnen. Ganz in diesem Sinne hat sich die Regierung mittlerweile dazu entschlossen, die innere Sicherheit zum Wahlkampfthema Nr.1 zu machen.

Eine „Umstrukturierung der Sicherheitsbehörden“ wird in Angriff genommen. Damit solche Blamagen dem Staat in Zukunft erspart bleiben, werden geeignete Maßnahmen ergriffen. Ein weniger an Polizei, am Ende noch die Auflösung unserer Elitetruppe, kommt natürlich nicht in Frage. Denn: „Wenn die Feuerwehr Fehler macht, löst man sie nicht auf.“ Man effektiviert sie vielmehr, beseitigt ihre Schwachstellen und erhöht so ihre Schlagkraft. Die Unzufriedenheit mit dem Ausgang der Polizeiaktion in Bad Kleinen und die Konsequenzen, die aus ihr gezogen werden, treffen sich da mit dem Standpunkt, daß der Polizeiapparat ohnehin auf Vordermann gebracht werden soll. Insofern fallen die Konsequenzen aus der mißglückten Aktion auch etwas umfänglicher aus.

Was in dieser Nation als normal gilt, hat mit dem Skandal ein neues Niveau erreicht. Wenn einen Monat lang täglich die Meldung von den „nach wie vor ungeklärten Umständen“ zu lesen ist, hat sich die Öffentlichkeit wieder beruhigt. Und zwar darüber, daß die zuständigen Stellen der Sache nachgehen. Über den Verlauf von Schußkanälen in obduzierten Leichen bestens informiert – von wegen „ungeklärt“! –, darf der realitätsbewußte Sachverstand den Meldungen getrost entnehmen, daß die Ermittlungsbehörden wohl nie zu einem juristisch verwertbaren Ergebnis kommen werden. Was gar nichts macht. Dem Recht wird durch die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen zwei Beteiligte Genüge getan. Der hehre Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“ kann seine unbedingte Gültigkeit wie schon lange nicht mehr unter Beweis stellen. Und mit der Zeit rücken einfach andere Dinge in die Schlagzeilen.

Die Klarstellung, die eigentlich die Aktion hätte erbringen sollen, wird umso eindringlicher nachgereicht. Der Kanzler besucht „demonstrativ“ die ins Gerede gekommene GSG 9, dankt für ihren Einsatz und entnimmt der Polizeiaktion den Beweis für die Gefährlichkeit der Verfolgten und für die Unerläßlichkeit der Truppe. So wird von höchster Stelle aus dem Vorgehen der Polizei gegen die Linksradikalen von der RAF die Notwendigkeit weiterer Einsätze abgeleitet. Mit Kettenanstiftung, wie im Fall der Mauerschützen, ist es natürlich nicht vergleichbar, wenn unser Vorsitzender unsere Grenzschützer nach der Erschießung eines Verfolgten vor „verleumderischen Angriffen“ in Schutz nimmt und ihnen die „Solidarität der Bundesregierung“ zusagt.

Aus dem Einsatz in Bad Kleinen gewonnene Erkenntnisse über die RAF erweitern die Fahndungsliste. Nächster Versuch…

[1] Die ausgeführte Kritik an dieser politischen Linie ist im Artikel „Rechte Reformpolitik“ in der vorliegenden Zeitschrift nachzulesen.