Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Möllemanns ‚Tabubruch‘ und der neue deutsche ‚Antisemitismus-Streit‘:
Ein deutscher Fallschirmjäger im Wahlkampfeinsatz „kriecht nicht vor Juden“ – aber das letzte Wort hat das Guidomobil

Möllemann hält die Selbstbezichtigung, zu der sich die BRD in der Vergangenheit in ihrem Verhältnis zum Judenstaat berechnend bekannt hat, als Nationalist nicht mehr aus und bricht mit der pro-jüdischen Heuchelei, die zum nationalen Moralkodex gehört. In der FDP findet ein Streit statt, ob der Tabubruch die Wähler eher abschreckt oder als unzufriedene Nationalisten anspricht.

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Möllemanns ‚Tabubruch‘ und der neue deutsche ‚Antisemitismus-Streit‘:
Ein deutscher Fallschirmjäger im Wahlkampfeinsatz „kriecht nicht vor Juden“ – aber das letzte Wort hat das Guidomobil

Jamal Karsli hat es nicht mehr ausgehalten:

„Die israelische Armee wendet Nazi-Methoden an. … Gerade von Deutschen sollte auf Grund der eigenen Geschichte eine besondere Sensibilität erwartet werden, wenn ein unschuldiges Volk den Nazi-Methoden einer rücksichtslosen Militärmacht schutzlos ausgeliefert ist.“ (Jamal Karsli)

Das sitzt – und löst Empörung aus: Ein Deutsch-Syrer schmäht mit einem Nazi-Vergleich den staatlichen Rechtsnachfolger der prominentesten Opfer Hitlers! Nicht als ob in Deutschland Hitler-Vergleiche per se verboten wären; und auch die Rechtfertigung drastischer Kritik und massivster Einmischung von deutscher Seite in die Affären anderer Nationen durch den Verweis auf eine besondere, nämlich durch einen beispiellosen eigenen Völkermord erworbene deutsche Verantwortung in Menschenrechtsfragen hat der Mann von ehrenwerten deutschen Politikern abgeschaut – von Außenminister Fischer vor allem, der z.B. die deutschen Luftangriffe auf Jugoslawien als praktizierte Lehre aus den Verbrechen des Dritten Reiches verstanden haben wollte; mit dem grünen Vizekanzler ist die Instrumentalisierung der Nazi-Opfer für die Legitimation von Auswärtsspielen der deutschen Staatsmacht überhaupt zum festen Bestandteil bundesrepublikanischer Diplomatie nach außen und Propaganda nach innen geworden. Der Ex-Grüne Karsli aber hat das urdeutsche Nazi-‚Argument‘ an der denkbar falschesten Stelle angewandt: Auf Israel darf man damit doch nicht losgehen!

Die „Entgleisung“ des ansonsten eher unauffälligen NRW-Abgeordneten wird zur Staatsaffäre, weil FDP-Vize Jürgen Möllemann sich ihrer annimmt. Er begrüßt den von den Grünen verstoßenen Mandatsträger als gleichgesinnten Freund der gerechten arabischen Sache in seiner Landtagsfraktion und seiner Partei, schmettert die immer lauter von allen Seiten erhobene Forderung nach sofortigem Wieder-Ausschluss des Israel-Kritikers ab und haut stattdessen mit Nachdruck in die gleiche Kerbe: Attentate im Feindesland sind Pflicht jedes aufrechten Patrioten; da macht auch Israel als Besatzungsmacht keine Ausnahme!

„Israels Politik fördert den Terrorismus. Was würde man denn selber tun, wenn Deutschland besetzt würde? Ich würde mich auch wehren, und zwar mit Gewalt. Ich bin Fallschirmjägeroffizier der Reserve. Es wäre meine Aufgabe, mich zu wehren. Und ich würde das nicht nur im eigenen Land tun, sondern auch im Land des Aggressors.“ (Jürgen Möllemann am 4.4.02)

Damit löst der FDP-Offizier nun erst den richtigen ‚Sturm des Entsetzens‘ aus. Nicht, dass man ihm nicht Recht geben müsste, was Deutschland betrifft. Auch als allgemeinen Lehrsatz über die Pflichten eines Fallschirmspringeroffiziers dürfte noch jeder über Freund und Feind aufgeklärte Staatsbürger Möllemanns Maxime gelten lassen – jeder kriegsgewohnte Israeli sowieso. Aber zu denken, gar noch auszusprechen, und erst recht: als Mitglied des bundesdeutschen Establishment davon zu schwadronieren, dass Gewalt gegen Israel so etwas wie legitime Gegengewalt sein könnte: Das ist ein Skandal. Und zwar einer der höheren Sorte: Möllemann wird unter Verdacht gestellt, mit seinen Ansichten gar nicht „bloß“ die Weltsicht eines Araber-freundlichen, ansonsten völlig handelsüblichen Kommisskopfes zu Protokoll geben zu wollen, sondern eine grundsätzlich angelegte, rassistisch motivierte Feindschaft gegen die Juden zu propagieren. Vorwürfe gehen hin und her, der Zentralrat der Juden in Deutschland wird zu Rate gezogen und streitet mit, immer mehr spitzt sich die Angelegenheit auf eine „Judenfrage“ zu. Am Ende droht aus Nordrhein-Westfalens FDP-Fraktion ein neuer Antisemitismus, und jeder, der als aufrechter Demokrat glänzen möchte, wirft sich in die Pose des tapferen Kämpfers gegen ein Wiederaufleben des Faschismus in Deutschland. Als ob mitten in der deutschen Spaßgesellschaft eine Bundeskristallnacht ins Haus stünde!

Möllemanns FDP – ein Hort des Antisemitismus?

Um erst einmal in diesem letzten Punkt für die nötigsten Unterscheidungen zu sorgen:

– Feindschaft bis zur Kriegsbereitschaft, ob gegen Israel oder mit Israel gegen die Palästinenser-Autonomie oder mit und gegen wen auch immer, ist allemal in dem harten Sinn rassistisch, in dem kein patriotisch-staatsbürgerlicher Kopf an Rassismus denkt: Leute werden buchstäblich mit Haut und Haaren, mit ihrem ganzen physischen Dasein unter die eine Bestimmung subsumiert, Manövriermasse und Machtbasis einer bestimmten Staatsgewalt zu sein; ihr staatsbürgerliches Untertanendasein wird praktisch in aller Brutalität wichtiger genommen als ihre Existenz selber; Krieg „definiert“ sie mit äußerster Gewalt und letzter Konsequenz als nationales Kollektiv, behandelt sie pauschal als Menschenschlag, dem es beschieden ist, das Schicksal seiner Obrigkeit auszubaden, lässt in letzter Instanz nichts anderes an ihnen gelten.

– Umgekehrt hat Rassismus in dem Sinn, wie er Möllemann vorgeworfen wird, nämlich im Sinne einer antisemitischen Ideologie und generell judenfeindlichen politischen Einstellung unseligen Hitler-deutschen Angedenkens, mit einer Kritik am Staat Israel und seiner Politik nichts zu tun. Gerade die erbittertsten Verfechter dieses Antisemitismus, die ihn in Deutschland 12 Jahre lang mit zunehmender Konsequenz in die Tat umgesetzt haben, haben da nie etwas im Unklaren gelassen: Politischer Judenhass war – und ist, soweit es ihn noch gibt – die radikal zugespitzte polemische Seite eines beleidigten Nationalismus. Für die entsprechende Einstellung braucht es nicht mehr und nicht weniger als Patrioten, die zwischen ihre Nation und ihre Person voller Stolz ein Gleichheitszeichen setzen, für ihr großes nationales Ich ein bedingungsloses Recht auf Erfolg einklagen, die Bedienung dieses Rechts vermissen, stattdessen überall auf innere Zerrüttung und weltpolitische Deklassierung ihres großartigen Kollektivwesens stoßen, sich dessen desolate Lage, und alle eigenen Drangsale als Teil dieses Ganzen gleich mit, aus mangelnder Durchsetzungsfähigkeit und -willigkeit ihrer nationalen Herren sowie mangelnder Geschlossenheit und Gleichgesinntheit ihres Volkskörpers erklären – lassen –, dafür nach Schuldigen suchen und selbstverständlich fündig werden, nämlich entdecken, was sie in ihrer Empörung über die Entrechtung von Volk und Heimat postulieren: einen inneren Feind – neben und zusätzlich zu allen äußeren Feinden –, der das Gemeinwesen und dessen angestammte Mannschaft nicht zu ihrem Recht kommen lässt; „zersetzende Elemente“, die die Einheit und Einigkeit von Volk und Vaterland, diese – in ihren Augen – erste und allerwichtigste politische Erfolgsbedingung, untergraben; und die das unweigerlich ganz einfach deshalb tun, weil sie nicht von Natur aus dazugehören zum nationalen Volkskollektiv. Patrioten, die so rechtsbewusst fordernd, so enttäuscht und so empört die Welt anschauen, hassen unterschiedslos kommunistische Agitatoren, die die Volkseinheit durch Klassenkämpfe zerstören, ebenso wie kapitalistische Wucherer, die ehrbare Volksgenossen und die Staatsmacht selbst in Zinsknechtschaft halten. Und es fällt ihnen leicht, den einen, alles erklärenden Grund für dieses ganze Sabotagewerk ausfindig zu machen: Volksfremde sind da am Werk, ein fremder Menschenschlag, der sich im ansonsten ganz intakten heimatlichen Gemeinwesen eingenistet hat. Der „Schluss“ auf „die Juden“ ist denen in Hitlers Deutschland zum Verhängnis geworden.

Genau der „Schluss“ wird im heutigen Deutschland nicht mehr gezogen; auch von Möllemann nicht. Nicht als ob die ihm zu Grunde liegende nationalistische Anspruchshaltung außer Gebrauch gekommen wäre; an Unzufriedenheit mit dem Gang der nationalen Dinge, an patriotischer Empörung über verlotterte innere Verhältnisse und mangelhafte Machtentfaltung nach außen fehlt es auch nicht. Aber so ist es dann doch nicht, dass eine von Klassenkämpfen gebeutelte, weltpolitisch gedemütigte Nation nach einem Retter seufzt; das Bedürfnis, einen inneren Feind dingfest zu machen und seiner gerechten Bestrafung zuzuführen, bleibt beschränkt; und soweit es vorhanden und anerkannt ist, wird es mit der Kriminalisierung und Abschiebung unerwünschter Zuwanderer bedient – „der Jude“ passt da überhaupt nicht ins Bild. Und Israel schon gleich nicht: Skinheads haben nichts gegen Türken, die in der Türkei bleiben; Antisemiten verfolgen keine „Semiten“, wenn die ihr eigenes Gemeinwesen aufmachen; und faschistische Gemüter sind eher beeindruckt durch das Menschenmaterial einer Nation, die mit so viel Elan und Erfolg ihr beanspruchtes Recht auf Land und Macht durchsetzt wie der heutige Judenstaat – der hat sich jedenfalls mit seinen Kriegserfolgen sehr rasch die Hochachtung altgedienter Wehrmachtsoffiziere zugezogen, nach dem Motto: „Das hätten wir denen gar nicht zugetraut!“…

„Antisemitismus-Streit“ ohne Antisemiten

Deutschlands jüngster „Antisemitismus-Streit“ kommt denn auch ohne einen einzigen bekennenden Antisemiten aus. Keine der inkriminierten Figuren propagiert Judenhass; im Gegenteil: Ein ums andere Mal weist Möllemann den Vorwurf des Antisemitismus empört zurück – nicht gerade die Art, wie Hitler und Konsorten angefangen haben. Umgekehrt gibt es unter all den wackeren Demokraten, die da wieder einmal „den Anfängen wehren“ wollen, keinen einzigen, der den Antisemitismus, wie es ihn immerhin einmal gegeben hat, geschweige denn dessen bleibende staatsbürgerliche „Logik“, die offensive Klärung einer nationalen Schuldfrage zu Lasten eines so definierten „völkischen Fremdkörpers“, kritisieren würde oder auch bloß so benennen könnte. Diese tapferen Widerständler kämpfen erklärtermaßen gegen ein Schreckgespenst aus finsteren Zeiten: ein irrationales, also grundloses, also unausrottbares Denkmuster; ein dumpfes Vorurteil mit langer Tradition und bösen Folgen. Und so sieht ihr „Widerstand“ gegen den Antisemitismus dann auch aus: Sie sorgen dafür, dass der Bundestag diese ideologische Verblendung per Abstimmung und Beschluss hochoffiziell ächtet, und fänden es im Übrigen am besten, die antijüdischen „Ressentiments“, gegen die ihnen ansonsten offenbar überhaupt nichts einfällt, würden weiter schlummern wie bisher – so der allgemeine antifaschistische Konsens bei Sabine Christiansen. Mehr noch: Sie bekennen sich dazu, dass sie für ein Tabu eintreten, für ein Verbot also von der gleichen Irrationalität wie die „Geisteshaltung“, die sie mit einem Berührungsverbot belegen möchten, damit sich niemand ansteckt. Das nationale Feuilleton diskutiert konstruktiv Für und Wider eines derartigen „Tabu“ und befindet es im Großen und Ganzen für sinnvoll, einzig passend jedenfalls für ein demokratisch gereiftes Volk, dem sein tief sitzender Judenhass ohnehin nicht und mit Argumenten schon gleich nicht auszureden sei.

Umso feinfühliger spürt die nationale Elite aus Möllemanns Sprüchen zum israelischen Besatzungsregime und erst recht aus seiner polemischen Zurückweisung des Antisemitismus-Vorwurfs den „Tabu-Bruch“ heraus. Der FDP-Vize will nämlich nicht bloß „im Land des Aggressors“ ideell Widerstand leisten – er will auch und vor allem eben dies in seinem Heimatland klar und deutlich sagen dürfen:

„Wer Ariel Scharon kritisiert, wird von bestimmten Leuten in Deutschland in die Ecke des Antisemitismus gestellt. Das verbitte ich mir aufs Schärfste. Ich fürchte, dass kaum jemand den Antisemiten, die es in Deutschland gibt, und die wir bekämpfen müssen, mehr Zulauf verschafft hat als Herr Scharon und in Deutschland Herr Friedmann mit seiner intoleranten und gehässigen Art. Überheblich. Das geht so nicht. Man muss in Deutschland Kritik an der Politik Scharons üben dürfen, ohne in diese Ecke geschoben zu werden.“ (Jürgen Möllemann am 16. 5.)

Und genau das „geht so nicht“.

Ein kalkuliertes anti-antisemitisches „Tabu“

Was den deutschen Fallschirmjägeroffizier umtreibt, ist nicht so sehr die Besatzungspolitik Israels. Was ihn wirklich und viel tiefer erregt, ist der große moralische Vorbehalt, unter dem in Deutschland jede Kritik an und Polemik gegen Israels Politik unweigerlich steht: der Generalverdacht, dem Kritiker ginge es gar nicht um Israels Politik, sondern um sein heimliches, unterschwelliges Ressentiment gegen „die Juden“ – um Antisemitismus eben, so, wie der demokratische Sachverstand ihn sich heutzutage erklärt. Und Möllemann sagt auch gleich klar und offen dazu, warum und inwiefern ihn dieser Vorbehalt stört: Er will als Deutscher im eigenen Land so frei sein, aus seinem Herzen keine Mördergrube machen zu müssen, und Israel genau wie alle anderen Nationen, deren Politik ihm nicht passt, öffentlich schlecht machen dürfen. Er stört sich – und teilt das der Mitwelt laut und nachdrücklich mit – an einem ganz speziellen Stück deutscher „political correctness“, einer Selbstbeschränkung, die die Bundesrepublik sich tatsächlich für ihr Verhältnis zum modernen Judenstaat auferlegt hat und zu der ihre politische Führung sich auch bei Bedarf bekennt. Der Außenminister beschreibt und begründet die moralischen Zusammenhänge so:

„Der Grundkonsens für uns Deutsche muss sich aus der historischen Verpflichtung für das Land Israel ergeben. Meine Vätergeneration wollte das jüdische Volk in furchtbarer ideologischer Verblendung vernichten. Dafür haben sie das furchtbarste Verbrechen der Menschheitsgeschichte ins Werk gesetzt. Dafür trägt unser Land, Deutschland, die bleibende Verantwortung. Das ist unsere fortgesetzte Verpflichtung zu einer nicht hinterfragbaren Solidarität. … Erst auf dem festen Fundament unverbrüchlicher Solidarität ist Kritik möglich.“ (Joschka Fischer, FR, 20.4.)

Und die 25 bis 30 Millionen Russen, denen die ‚Volk-Ohne-Raum-Verblendung‘ unserer Vätergeneration einen Heldentod frei Haus geliefert hat? Hat man je von einer aus „historischer Verpflichtung“ resultierenden „unverbrüchlichen Solidarität“ mit der Sowjetunion und ihren Kommunisten gehört? Ist da nicht die alte, durch die Westintegration massiv gestärkte Feindschaft Deutschlands unbeschadet und bis hin zur Atomkriegsdrohung fortgeschrieben worden? Die Geschichte scheint ihre Schuldtitel schon sehr ungerecht, für die ideologischen Bedürfnisse des Imperialismus jedoch haargenau passend zu verteilen!

Es mögen ja viele an den Kopfstand glauben, nach dem die Ausrichtung der Politik sich von ihrem eigenen moralischen Überbau herleitet; Fischer und seinesgleichen tun es nicht. Wenn Macher der Nation höhere Verpflichtungen beschwören, denen sie mit ihren Machenschaften um des Wahren und Guten willen gehorchen müssten, dann haben sie die Festlegung der Richtlinien ihrer Politik hinter sich. Dann haben sie die Interessen ihrer Nation definiert und steuern dann gerne und mit leichter Hand höhere und höchste Werte bei, die ihre Machtausübung rechtfertigen und unangreifbar machen – der schöne Schein, mit dem Diplomatie gemacht wird, und das moralisch gute Gefühl, auf das ein demokratisches Volk, das sich brav regieren lässt, einen Anspruch hat, verlangen es so. Das gilt selbstverständlich auch, und zwar von Beginn an, für das besondere Verhältnis Deutschlands zu Israel. Auch das war und ist keine moralische Konsequenz aus einer ‚geschichtlichen Erblast‘ der Deutschen. Die Einrichtung der deutsch-israelischen Sonderbeziehungen war das von den Siegermächten verlangte Signal, dass der Rechtsnachfolger des Dritten Reiches sich künftig als verlässlicher Partner der westlichen Werte- und Kriegsgemeinschaft betätigen wollte; sie war der von Adenauer gern erbrachte Preis für die sukzessive Wiederherstellung seiner außenpolitischen Handlungsfähigkeit; sie tat ihre Wirkung als Beweis für die Unschuld und Gerechtigkeit aller bundesdeutschen Bemühungen, als Rechtsnachfolger des Hitler-Reiches Gesamtdeutschlands alte Größe und Herrlichkeit wiederherzustellen. Und sogar nach vollbrachter „Wiedervereinigung“ trägt das Spezialverhältnis zum „Staat der Opfer“ Hitler-Deutschlands immer noch einiges bei zur moralischen und diplomatischen Anschubfinanzierung deutschen Auftrumpfens, auch mit Gewaltmitteln, in Europa und anderswo. Dieser traditionsreiche BRD-Rehabilitierungsnationalismus beinhaltete freilich von Beginn an nicht nur praktische ‚Wiedergutmachung‘ in Form von Geld- und Militärhilfe, sondern auch die offizielle Anerkennung der israelischen Staatsgründungsideologie, nach der alle Politik Israels per definitionem die Lehre aus dem Holocaust ist und dem nackten Überleben der Juden dient. Unbedingte Parteinahme für diesen Staat war damit zum politmoralischen Gebot für Deutschland und die Deutschen geworden. Und weil Israel sich zum wichtigen Bündnispartner des wichtigsten deutschen Bündnispartners entwickelt hat und gerade heute gerade mit seiner Intransigenz und Militanz gegen die terroristischen Umtriebe der Palästinenser von den USA als vorrangiger Partner im großen „Krieg gegen den Terror“ benutzt und geschätzt wird, hat sich auch an der deutschen Wertschätzung für den Judenstaat bis heute nichts Grundsätzliches geändert.

Von wegen also „nicht hinterfragbar“: Das „Tabu“ ist wohlkalkuliert und verrichtet nützliche Dienste für die Stellung und die Selbstdarstellung Deutschlands in der Welt. Doch es tut diesen Dienst gerade dadurch, dass die spezielle deutsche Parteilichkeit für die Sache Israels nicht „hinterfragt“ wird, sondern mit dem Schein umkleidet wird, sie führte ein sittliches Eigenleben als fester Bestandteil des moralischen Selbstverständnisses der Nation jenseits aller politischen Berechnung. Das muss jeder, der als Repräsentant der guten deutschen Sache in der Welt auftreten will, beachten. Für kritische Anmerkungen zur israelischen Politik gilt daher die Maxime – und zwar umso mehr, je prominenter der Kritiker –, dass sie von der Heuchelei bedingungslosen Wohlwollens für die kritisierte Sache getragen sein und eine konstruktive Parteilichkeit für die Nation der Juden zu erkennen geben müssen, wie sie sonst und eigentlich nur die Kritik von Patrioten an ihrem eigenen Heimatland auszeichnet. Wer in Deutschland zu Israel redet, der hat sich wie ein israelischer Nationalist zu äußern. Wo dieses „Tabu“ verletzt wird – oder jedenfalls ein entsprechender Verdacht besteht –, da liegt dann eben keine richtige oder verkehrte Kritik an Israel vor, sondern eine Sünde gegen das elementare Gebot anti-antisemitischer Sittlichkeit. Das funktioniert z.B. so, dass ein kritisches deutsches Weltblatt aus gegebenem Anlass zu bedenken gibt:

„Auschwitz lässt sich nicht wegschieben, indem man Ramallah sagt.“ (SZ, 27.5.)

Vielleicht wollte der, der da ‚Ramallah‘ gesagt hat, ja überhaupt nichts zu ‚Auschwitz‘ sagen und schon gar nichts „wegschieben“; aber darauf kommt es gar nicht an. Den Generalverdacht, es ginge ihm in Wahrheit nicht um sein Thema, sondern um die Zurückweisung des Themas, das eigentlich anstünde, nämlich das der „deutschen Schuld“, wenn nicht sogar um die Leugnung dieser Schuld selber, den muss sich jeder gefallen lassen, der Israel in Deutschland mit Vorwürfen kommt. Der Verdacht, einmal aufgebracht, ist kaum zu widerlegen – und gerade so das geeignete Prüfkriterium; zu entkräften nur durch die glaubwürdig erlogene Versicherung, man meinte es mit Israel und den Israelis doch nur gut und spräche gewissermaßen als Repräsentant wahrer jüdischer Heimatliebe.

Für die Inszenierung dieser eigentümlichen politmoralischen Heuchelei hat die nationale Sittlichkeit den real existierenden Juden im Land eine ziemlich zweischneidige Rolle zugewiesen. Sie – bzw. ihre Repräsentanten – werden ideell dem Staat zugerechnet, der sie seinerseits ja auch wirklich als virtuellen Teil seiner völkischen Basis beansprucht, und genießen das fragwürdige Privileg, auf die Einhaltung dieser hochrangigen moralischen Selbstverpflichtung der deutschen Demokratie auf Anti-Antisemitismus aufpassen zu dürfen. Die Wortführer der Gemeinde geben sich auch glatt dafür her, spielen die Rolle des empfindlichen Sensoriums für einschlägige Entgleisungen im nationalen Überbau. Und immer, wenn sie ihren Auftrag wieder mal erfüllt und Alarm geschlagen haben, kriegen sie, ganz folgerichtig, ihrerseits ein Problem: Dann müssen sie klarstellen, dass sie nicht „bloß“ als besondere Partei im religiös-moralischen Pluralismus der Republik und als quasi-diplomatische Außenvertretung einer fremden Macht reagieren, sondern nur ihrem nationalen Beruf als Seismographen allfälliger Erschütterungen der demokratischen Moral im Lande nachkommen:

„Es geht nicht um einen Streit zwischen dem Zentralrat und Möllemann, sondern um eine Auseinandersetzung zwischen Herrn Möllemann und den Demokraten in diesem Lande. Es geht nicht darum, eine Minderheit, sondern die Demokratie zu schützen. Dazu bedarf es eines Aufstands der Demokraten.“ (Paul Spiegel, SZ 5.6.)

Ein kalkulierter anti-anti-antisemitischer „Tabu-Bruch“

Genau dagegen legt Möllemann Einspruch ein. Der FDP-Mann will sich ein für alle Mal nicht mehr rechtfertigen müssen, wenn er von seiner deutschen Warte aus der Politik Israels Unrecht gibt und Parteilichkeit für die palästinensische Seite bekundet. Und er will sich schon gar nicht vor den jüdischen Sittenrichtern verantworten müssen, die der berechnende deutsche Nationalismus in diese Funktion eingesetzt hat:

„Den Antisemitismus-Vorwurf empfinde ich als ehrenrührig, unverschämt und inakzeptabel.“ Er, Möllemann, Fallschirmspringeroffizier, jedenfalls werde vor dem Juden Friedmann nicht „kriechen“. Umgekehrt: „Friedmann muss aufhören, so zu tun, als könne er verlangen, dass eine Partei ein Mitglied ausschließt. Das kann der Kardinal von Köln auch nicht, wenn ein Christdemokrat Positionen vertritt, die nicht mit der katholischen Kirche übereinstimmen.“ (Jürgen Möllemann, SZ 28.5.)

Was er als Vize-Chef einer ehrenwerten deutschen Partei darf oder nicht dürfen soll, das ist Möllemanns Thema und ihm jedenfalls viel wichtiger als jeder sachliche Einwand gegen Israels immer weiter ausgreifendes „Landnahme“-Programm oder gar gegen den Dienst an der amerikanisch-gesamtwestlichen Herrschaft über die Region, den der Judenstaat damit leistet – von solchen Einwänden ist sowieso auch gar nichts weiter zu vernehmen. Deswegen attackiert er die Figuren, die für Deutschlands anti-antisemitische Sittlichkeit stehen. Er wirft ihnen vor, mit ihrer Aufpasserei selbst Urheber dessen zu sein, worauf sie aufpassen – logisch, er merkt es ja an sich selbst, wie die Typen ihn ärgern, also selber ein einziges Ärgernis sind:

„Michel Friedmann fördert mit seiner intoleranten und gehässigen Art den Antisemitismus in Deutschland.“ (Möllemann, 17.5.)

Friedmanns „Art“, die ausgerechnet der in dieser Hinsicht kongeniale Möllemann nicht ab kann, steht klar erkennbar für die Sache, die ein deutscher Patriot vom Schlage des nordrhein-westfälischen FDP-Chefs nicht länger will aushalten müssen. Ausgerechnet als Deutscher einem nicht-deutschen Nationalismus die Ehre bedingungsloser Anerkennung erweisen, den eigenen nationalen Rechtsstandpunkt am moralischen Vorrecht einer anderen Nation relativieren zu sollen: Das weist Möllemann ad personam Friedmann als Zumutung zurück; als nicht etwa bloß persönliche, sondern allgemein nationale Beleidigung; als „Kriecherei“, die er sich stellvertretend für seine deutsche Heimat nicht länger anzutun gedenkt.

Und das erregt die Republik. Denn das ist ein Affront gegen die pro-jüdische Heuchelei, die sie sich in ihr moralisches Stammbuch geschrieben hat und aus handfesten politischen Gründen noch keineswegs zu streichen gedenkt. Deswegen verweigert sie sich der „Logik“, die Möllemann in seinem Angriff auf Friedmann & Co zur Anwendung bringt und auf die die nationale Öffentlichkeit sich sonst überall selber bestens versteht:

„Wenn Möllemann sagt, Friedmann produziert Antisemitismus, heißt das: Der Jude ist selbst schuld. Das ist unerträglich“ (Walter Döring, innerparteilicher Möllemann-Konkurrent, SZ, 28.5.)

– finden dieselben Leute, die überhaupt nichts dabei finden, die in ihrem netten Wählervolk fest verankerte Ausländerfeindschaft den Ausländern, nämlich deren unbefugter Anwesenheit anzulasten und Übertreibungen, die ihnen daran nicht passen, mit einer Politik der entschiedeneren Fernhaltung und Entfernung unerwünschter Zuwanderer zu „bekämpfen“. Bei den Juden gilt ausnahmsweise auch nicht, was in allen anderen Streitfragen des beleidigten deutschen Ehrgefühls selbstverständlich gilt: dass es den guten Demokraten angelegen sein muss, die Xenophobie nicht den Skinheads, den rassistisch angehauchten Säuberungswahn nicht den erklärten Rassisten, überhaupt den Nationalismus nicht den Rechtsextremen und rechtsextreme Forderungen nicht den Falschen zu überlassen. Den Hass auf jüdische Anstandsdamen der Nation vom Schlage Michel Friedmanns darf ein anerkannter Politiker vom Schlage Jürgen Möllemanns nicht adoptieren; da wird die erklärte fromme Absicht, den Judenhass an seinen jüdischen Urhebern zu bekämpfen, als Heuchelei, als Versuch der Ausnutzung und Beitrag zur Belebung „antisemitischer Ressentiments“ durchschaut. Der ganze Vorstoß wird mit Entrüstung geahndet: Von Dammbruch (SZ, 21.5.) ist die Rede, dem Amok-Vize (SZ, 19.5.) wird Exzessiv-Populismus (SZ, 4.6.) vorgeworfen, die Bild-Zeitung reimt Pöbelmann Möllemann (31.5.), die Süddeutsche schimpft auf den approbierte Krawallbruder (31.5.) usw. Möllemanns inner- wie außerparteiliche Konkurrenten verweisen auf die bereits wieder gepackten Koffer der Juden und inszenieren eine veritable „Wehret den Anfängen!“-Kampagne. Und alle heucheln sie nicht schlecht, wenn sie so tun, als wären da die Anfänge einer neuen Hitlerei unterwegs und als hätte der FDP-Mann zumindest einen Angriff auf das „Existenzrecht Israels“ im Sinn. Mit dem Projekt einer neuerlichen Judenverfolgung hat der neueste liberale Anti-Anti-Antisemitismus wirklich nichts zu schaffen. Genau so wenig will der freiheitliche Fallschirmspringer mit seinen großmäuligen Phrasen über seine vorgestellte höchstpersönliche Tapferkeit vor fremden Besatzern einem neuen „großdeutschen Befreiungskrieg“, diesmal gegen Israel, den Weg bereiten; allenfalls zweifelt er ein wenig am Nutzen der Richtlinie, die sich die BRD mit ihrer strikten Parteilichkeit für Israel zurechtgelegt hat, für Deutschlands weltpolitischen Ehrgeiz. Und sogar was das ominöse anti-antisemitische „Tabu“ betrifft, an dem er sich absichtsvoll vergeht, dürfte dem Ex-Vizekanzler der Republik bei aller patriotischen Borniertheit nicht entgangen sein, wie gut sich die schamerfüllte Erinnerung an Deutschlands völkermörderischen inneren Krieg gegen den „jüdischen Feind“ politisch funktionalisieren lässt, ohne die Nation an irgendetwas zu hindern – der grüne Außenminister führt es doch vor! An eben dieser Moral, auch wenn sie sich praktisch als Freibrief für noch so viel politische Dreistigkeit verwenden lässt, entdeckt Möllemann aber den Makel, der damit doch immer noch dem Allerheiligsten jedes Patrioten angeheftet wird. Und als Erfinder des freidemokratischen Wahlziels „18%“ entdeckt er an dieser moralischen Selbstbemäkelung der Nation, ungeachtet all ihrer politischen Opportunität, die Chancen, die für seinen freidemokratischen Wahlkampf in diesem „Thema“ stecken und die auch seinem Parteichef und offiziellen Kanzlerkandidaten völlig einleuchten:

Der neue freidemokratische ‚Judenhass‘: Ein Wahlkampfschlager

„Die Kritik an der israelischen Besatzungspolitik ist erstmals von den Liberalen so deutlich in der deutschen Öffentlichkeit artikuliert worden. Es hat sich gezeigt, dass es aus der Mitte der Gesellschaft das Bedürfnis gibt, diese Diskussion fortzuführen. Das ist ein Tabubruch, auf den man stolz ist.“ (Guido Westerwelle, Die Welt, 27.5.)

Offenbar zu recht! Nicht wenige stolze Deutsche können sich dafür begeistern, die Holocaust-Brille abzulegen, und machen die sittlich-moralische Selbstbeschränkung Deutschlands zur Quelle dessen, was Sozialforschungsinstitute heute an „antisemitischen Ressentiments“ im Volk erfragen. Das ‚Thema‘, ob die politischen Repräsentanten, nachdem die Nachkriegszeit offiziell beendet und die Vergangenheit erfolgreich bewältigt ist, ein ebenso unbefangenes Verhältnis zu Israel und den Juden pflegen dürfen können sollen wie alle anderen Nationen, also endlich uneingeschränkt – und ohne innere jüdische Sittenpolizei – den nicht weiter zu rechtfertigenden Standpunkt des deutschen Nationalismus einnehmen dürfen, ist geeignet, eine so fundamental mündige Wählerschaft wie die deutsche zu begeistern. Nicht die tatsächlichen Leistungen der Politik und ihre ungemütlichen Auswirkungen auf ihr Leben können ihre Meinungsbildung wochenlang beschäftigen oder gar ihren Protest provozieren. Was die Stammtische und Talkshows in Wallung bringt, ist die heiße Frage, ob deutsche Politiker heute „alles sagen dürfen“ – und die coole Antwort, die die Spaßmacher von der FDP ihnen erteilen:

„Es geht nur noch darum, wer die tatsächlichen Probleme der Menschen ohne ideologische Scheuklappen erkennt, in der Sprache des Volkes nennt und zu ihrer Zufriedenheit löst.“ (Jürgen Möllemann) „Die FDP spricht nur aus, was viele Menschen denken.“ (Guido Westerwelle)

So arbeitet die FDP-Führung zielstrebig an dem „Profil“, das sie ihrer Partei, zusätzlich zu ihrem herkömmlichen Status und Erscheinungsbild als Honoratiorenpartei der Besserverdienenden und ausgleichende „dritte Kraft“ zwischen den großen „Volksparteien“, verpassen will, um mit den Wahlkreuzchen der sagenumwobenen „Protestwähler“ vom „Rand des Parteienspektrums“ selber zum respektablen Kanzlerwahlverein heranzuwachsen. Die Liberalen wollen als nationale Protestpartei von der Art, wie sie ringsum im zusammenwachsenden Europa in Mode kommt, wahrgenommen werden und das Reservoir an nationalistischer Unzufriedenheit monopolisieren, das es doch auch hierzulande geben muss. Dabei hat der Vize-Chef als Protagonist dieses Programms klar erkannt, dass sich mit dem abendländischen Protestthema Nr.1, der „Ausländerfrage“, in Deutschland wenig hermachen lässt; das haben die großen „Volksparteien“ ihrer rechtsradikalen Konkurrenz schon längst „weggenommen“. Dafür hat er die fortdauernde „Entrechtung“ der unbefangenen deutschen Vaterlandsliebe durch eine hoch gehängte proisraelische Parteilichkeit und durch jüdische Moralwachteln als alternativen Schlager ausfindig gemacht: ein „Thema“, das wegen seiner moralischen Heikligkeit Aufregung verspricht, von der Konkurrenz aus demselben Grund sicher nicht „besetzt“ wird und bei der großen Masse patriotischer Knallköpfe im Land gut ankommen sollte. Und siehe da: Der – vermutliche – Erfolg gibt ihm Recht:

„Wahlforscher halten einen Erfolg der ausgeklügelten, ganz rational durchkalkulierten Wahlkampfstrategie für möglich, weil sie viele jüngere Wähler, die eine neutrale und kritische Position gegenüber Israel haben, bewegt“ (Die Welt, 28.5.)

Dass ausgerechnet Neutralität in der Palästinafrage „jüngere Wähler“ in nachzählbarer Menge für die FDP begeistern könnte, wird Möllemann selbst nicht glauben. Dass Israels derzeitige Besatzungspolitik fortwährend für Schlagzeilen sorgt, ist allerdings eine erstklassige Voraussetzung für das Unternehmen, mit israelkritischer Polemik ins Gespräch zu kommen, mit der alles entscheidenden Frage, ob Deutschlands Weltpolitikern wahrhaftig von fremden Machthabern und deren inländischer „5. Kolonne“ „der Mund verboten“ werden darf, im Gespräch zu bleiben und bei einer Wählerschaft anzukommen, die sich ganz bestimmt weder durch ein besonderes Interesse am Nahen Osten noch durch ein jugendliches Alter, vielmehr durch einen leicht zu beleidigenden Stolz auf ihr großartiges Vaterland auszeichnet.

Der aktuelle Anti-Antisemitismus: Wahlkampf gegen einen Wahlkampf-Knüller

Möllemanns – absehbaren – Erfolg können sich die konkurrierenden Wahlkämpfer selbstredend nicht gefallen lassen. Sie schlagen zurück. Als erstes mit einem trostreichen Dementi: Von einem – womöglich „jüdisch“ inspirierten – Kritikverbot für Deutsche könne überhaupt nicht die Rede sein; niemand, schon gar kein Ausländer, hat das Recht, einem gestandenen Inländer übers Maul zu fahren oder gar den Mund zu verbieten, wenn er daherredet, wie sein patriotisches Ressentiment es ihm eingibt; für Möllemann’sche Aufregung besteht insoweit überhaupt kein Grund; unzufriedene Nationalisten können zufrieden sein. Deswegen darf man andererseits die Exponenten der deutschen Judengemeinde trotzdem nicht beleidigen; sonst zieht man sich selber all die Beleidigungen zu, die die Möllemann-Gegner – die verfügen schließlich auch über eine „ausgeklügelte, ganz rational durchkalkulierte Wahlkampfstrategie“ – jetzt auspacken. Was deren Wirksamkeit angeht, so trifft es sich gut, dass von Möllemanns durchaus nicht unpopulären Angriffen auf „die arrogante und gehässige Art“ des ARD-Stars Friedmann, des Juden, einiges unmittelbar auf ihn selbst, den schon einige Male durch politische Misserfolge blamierten Angeber, zurückfällt. Von größtem Vorteil ist aber vor allem, dass sich die FDP selber über der Frage zerstreitet, wie sehr und wie hemmungslos sie sich als nationale Protestpartei zur Schau stellen will und ob sie die ad personam antijüdische Zuspitzung ihres Wahlkampfes wirklich gut finden soll. Hier setzen die Konkurrenzparteien den Hebel an. Wochenlang wird das leicht widersprüchliche Projekt, die FDP als etablierte, seriöse Partei mit klassischer Wertestruktur und gleichzeitig als Protestpartei und Sprachrohr der national Unzufriedenen aufzustellen, als Doppelspiel und Schlingerkurs gebrandmarkt. Und das hat Erfolg. Als erstes geht die FDP-Strategie der ‚Äquidistanz‘ zu den beiden großen „Volksparteien“ flöten, als die SPD die Gunst der Stunde erkennt und aus dem Wahlkampf einen Lagerwahlkampf mit den guten und verlässlichen RotGrünen einerseits, den dubiosen und nach rechts abdriftenden SchwarzGelben andererseits macht. Prompt sorgt sich der andere potentielle Koalitionspartner der FDP darum, ob mit dem Judenthema die nötigen Prozente zu schaffen seien:

„Wenn die FDP ihre Position zu Karsli nicht ändert, halbieren sie ihre Wahlchancen. Ich hoffe, dass Möllemann einen Rückzug antritt.“ (Edmund Stoiber SZ, 21.5.)

Die altehrwürdigen Aushängeschilder der Partei und ihres klassischen Honoratioren-Image, auf das auch die guidomobilen Erneuerer keinesfalls verzichten wollen, von Genscher bis Lambsdorff raten vorsichtig, aber unüberhörbar, man solle doch wieder zur Mitte des Parteienspektrums zurückrudern. Hildegard Hamm-Brücher weist darauf hin, dass sie mitsamt ihren liberalen Grundwerten noch unter den Lebenden weilt und als ‚Grande Dame der FDP‘ und wandelndes Symbol wahrer Liberalität spektakulär aus der Partei austreten könnte. Das sind jetzt die entscheidenden Denkanstöße, die den Antisemitismusstreit vorantreiben!

Die demokratische Erledigung von „Antisemitismus“ und „Antisemitismus-Streit“

Die FDP ist zwischen den drohenden Prozentverlusten durch einen Imageschaden und dem nicht unbeträchtlichen Zuspruch in aktuellen Wählerumfragen hin- und hergerissen. Das spiegelt sich in ihrem Vorsitzenden und seinem Stellvertreter wider. Mit Genuss überführt die kritische Öffentlichkeit Westerwelles Weigerung, seinen Vize, wie allerseits gefordert, öffentlich zurückzupfeifen, zum ‚Machtkampf‘: Er oder ich – Nach wochenlangem Zaudern kommt es nun zum High Noon. (SZ, 6.6.) Der „Antisemitismusstreit“ entwickelt sich so, demokratisch folgerichtig, zu einer Ehrfrage zwischen zwei Politschnöseln. Zur Debatte steht jetzt die demokratische Haupttugend: die Führungsstärke des FDP-Vorsitzenden. Angesichts dieser Lage ist der Popanz des wiederbelebten Antisemitismus wie weggeblasen. Die Schlagzeilen und Kommentare der Zeitungen beschickt jetzt der gebeutelte Westerwelle (FAZ, 5.6.), der bedröppelte Westerwelle (SZ 5.6.), der pushover Westerwelle (SZ, 5.6.). Westerwelle lässt sich am Nasenring von Möllemann durch die Manege ziehen (Joschka Fischer, Die Welt, 4.5.), höhnt die politische Konkurrenz, und die im Kampf gegen einen neuen Judenhass verbündete freiheitliche Journaille sekundiert:

„Da war nichts mehr von jenem angekleisterten Selbstbewusstsein, mit dem er sonst seine Führungsstärke pries.“ (SZ, 5.6.)

Darauf kommt es also an, das ist die wahre sittliche Quintessenz des ganzen Aufruhrs:

„Führung ist durch nichts zu ersetzen. Deswegen ist der Fall Möllemann ein Fall Westerwelle. … Westerwelle ist in den Sympathiewerten so abgestürzt, wie es kaum schlimmer hätte kommen können, wenn er Geld aus der Parteikasse gestohlen hätte.“ (SZ, 4.6.)

So wird der Streit auf dem Höhepunkt seiner Absurdität doch wieder ehrlich und ernst. Jetzt geht es wirklich um etwas Entscheidendes, nämlich um etwas womöglich Wahlentscheidendes: um Punktsiege in der Parteienkonkurrenz und damit in der Machtfrage. Dafür kommt es auf die Führungsstärke des FDP-Vorsitzenden an. Der fühlt sich dementsprechend zur Machtprobe herausgefordert, setzt sie binnen Tagesfrist auf die Tagesordnung einer eiligst einberufenen Vorstandssitzung, setzt sich durch – und gewinnt sogleich wieder bei seinen Kritikern und Konkurrenten an Statur.

Und so kommt schließlich auch der Moralhaushalt der Nation wieder ins Lot.

Epilog im Überbau: Ein deutscher Dichter im Satire-Einsatz kriecht nicht vor Literaturpäpsten mit „Auschwitz-Keule“

Das Wahlkampfdrama um Möllemann ist noch flott in Gang, da folgt schon die Komödie: ein mindestens genau so bitter ernster ‚Antisemitismus-Streit‘ in den luftigen Höhen des nationalen Kunst- und Kulturbetriebs. Prominenter Hauptdarsteller: Martin Walser, Romancier. Der Lieblingsschriftsteller der FAZ und der dahinter verborgenen klugen Köpfe inszeniert sich seit Jahren als der deutsche Nationaldichter, der in seiner exzeptionellen Innerlichkeit die moralisch-sittliche Lage der Nation so intensiv erlebt und erleidet wie kein zweiter. Die bedeutendste Errungenschaft seines engagierten Spätwerks ist die Wortprägung Auschwitzkeule. Er meint damit die Dauerpräsentation unserer Schande (Martin Walser 1998) in Presse, Funk und Fernsehen, die den deutschen Weltbetrachter zwingt, sich bei seinen moralischen Betrachtungen über die Zeitläufte gegen seine deutsche Natur zu verbiegen. Das peinigt des Dichters nationale Seele seit geraumer Zeit. Das Resultat kann besichtigt werden: Verdruss durchzieht sein Werk. Verdruss spricht aus seinem Gesicht. Der Literat selbst ist zum Sinnbild des moralisch entrechteten Deutschen geraten. „Normalität“ tut da Not. Damit meint Walser: ein „ganz normaler“ Nationalismus muss her; „auch“ für Deutsche. Eine Moral, die Deutschland über alles stellt und nicht unter einen ewigen Rechtfertigungs-Vorbehalt.

Ausgerechnet mitten im schönsten Antisemitismus-Wahlkampf kommt der Mann nun mit einer bösen Satire über die Macht im Kulturbetrieb daher, in der er über seinen Intimfeind, den polnischen Juden, Warschauer-Ghetto-Überlebenden und Kulturpapst Marcel Reich-Ranicki einiges an Gift und Galle versprüht. Dies selbstverständlich äußerst kunstvoll: Im Roman verschwindet der böse Kritiker für eine Weile; ein von ihm böswillig verrissener braver Autor gerät unter Mordverdacht; ein zwielichtiger Journalist insinuiert ein antisemitisches Attentat; ein unverdächtiger jüdischer Intellektueller findet das typisch für die deutschen Medienvertreter – wenn er einen Nichtjuden umgebracht hätte, dann würden sie sich weniger aufregen; doch am Ende taucht der Kritik-Papst quicklebendig wieder auf und rollt das „rr“ wie zuvor so Reich-Ranicki-mäßig, dass noch der dümmste Leser das „Literarische Quartett“ wiedererkennt und sich vor Vergnügen auf die Schenkel haut. Und was tut die nationale Intelligenz mit ihrer „Auschwitzkeule“? Was tut vor allem der FAZ-Herausgeber, dem Walser eine solche Gemeinheit nie zugetraut hätte, mit dem „Tod eines Kritikers“ (so der Titel)? Man insinuiert ein ideelles antisemitisches Attentat, stellt den Schöngeist unter Verdacht, er wollte das alte Sujet vom ‚hässlichen Juden‘ wieder salonfähig machen, verbeißt sich begeistert in der heißen Frage: Satirisches Pamphlet oder antisemitisches Machwerk? (Stern, Nr.24) und lässt sie in einer nicht-enden-wollenden Kette von Feuilleton-Artikeln gut zur Hälfte von Denunzianten beantworten, die nach der unverwüstlichen Logik des Verdachts „Antisemitismus“ noch überall entdecken, wo ein Jude literarisch nicht gut wegkommt.

Dabei hat der Dichter in seinem Roman doch gar nicht den braven Autor, sondern einen jüdischen Intellektuellen Beschwerde über die „Moralkeule“ der anti-antisemitischen Nachkriegszeit führen lassen und sich in Gestalt dieses Autors nur über all die anderen Gemeinheiten beschwert, die ihm angetan werden, nämlich ad personam Reich-Ranicki über die bösen Mächte, die sein deutsches Dichten und Denken, Singen und Weben in die Fesseln eines tyrannischen Kulturbetriebs schlagen! Doch es hilft anscheinend nichts: Jetzt will ihm nicht bloß sein Hauptfeind von der Literaturkritik, sondern gleich auch noch der nationale Moralbetrieb verbieten zu reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist:

„Und genau das passiert ja jetzt! Dieser Schirrmacher-Schlag ist nichts anderes als mein Thema: Machtausübung im Kulturbetrieb.“
„Ich habe gewisse Sprechweisen von Reich-Ranicki parodistisch in den Roman übernommen. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich das nicht darf. Man darf in der Literatur jede beliebige öffentliche Figur parodieren, warum nicht Reich-Ranicki?“

Doch, Junge, du darfst. Der jüdische Kulturdiktator findet das zwar wieder mal unter Niveau. Aber es gibt genügend Deutsche, die lieben dich sogar dafür – wenn schon nicht für den Roman, dann für den Vers, den sie sich auf die Frage machen, warum ein Deutscher irgendetwas nicht dürfen soll.