Antikommunistischer Siegestaumel für Intellektuelle
Das Verbrechen Kommunismus

Die Auflösung der Sowjetunion und das Auseinanderfallen der KPdSU gilt der demokratischen Öffentlichkeit nicht als erklärungsbedürftiger Sachverhalt, sondern als Beweis für die Behauptung, der Kommunismus sei nicht nur untergegangen, sondern durch seinen Untergang endgültig widerlegt und ins Unrecht gesetzt worden. Die Illustration der Behauptung: Ökonomie = Misswirtschaft, Politik = Missachtung der Menschennatur, die Führung = alles Verbrecher, die Theorie = ein menschenverachtender Irrglauben. Die SU musste einfach untergehen, weil sie nicht zu der Gerechtigkeit passt, die „in der Geschichte waltet“ und die „bei uns“ zuhause ist.

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Antikommunistischer Siegestaumel für Intellektuelle
Das Verbrechen Kommunismus

Das ließ man sich nicht entgehen. Gleich nach dem mißlungenen Putsch der sowjetischen Staatsspitze gegen die Staatsauflösung, rechtzeitig zu Verbot und Auseinanderlaufen der KPdSU kam die gehobene deutsche Presse mit Nachrufen auf den Kommunismus heraus. Das Ableben der Systemalternative kam darin nicht als erklärungsbedürftiger Gegenstand, sondern als Beweismittel und Erklärung vor: Der Kommunismus ist nicht nur untergegangen, sondern dadurch widerlegt und hat deshalb verdient unterzugehen. Jetzt stiftet der Erfolg der Macht die historische Wahrheit, Mißerfolg ist Widerlegung und Beweis des Unrechts. Liberale Kommentatoren, die Ronald Reagans Wort vom „Reich des Bösen“ immer furchtbar primitiv gefunden hatten, lassen die letzten Entschuldigungsgründe für das „soziale Großexperiment“ fallen und geben der Weisheit des „Cowboy im Präsidentenamt“ voll recht: Der Sozialismus war von Anfang an nichts als ein Verbrechen krimineller Minderheiten. Die Tatbestände, die Definitionen der Werte und Gesetze, gegen die sich die Bolschewiken vergangen hatten, geraten zum hemmungslosen Bekenntnis zu all den ekelhaften Eigenschaften unseres überlegenen Systems, deretwegen Marx seine Abschaffung empfohlen hatte.

Natürlich hatten die Systemvergleicher von gestern auch damals schon gewußt, was sie vom Wirtschaften und Regieren jenseits des Eisernen Vorhangs zu halten hatten: Dort hatte man ein anderes – materiales, nicht formales – Verständnis von den Menschenrechten als unser maßgebliches westliches; der Einparteienstaat samt seinen gesellschaftlichen Organisationen war nie eine parlamentarische Demokratie in unserem Sinn; die Planwirtschaft vermochte zwar knappe Ressourcen auf nationale Großprojekte zu konzentrieren, reagierte aber nicht spontan wie unser Markt auf externe Veränderungen. Vergleichsweise Einsichten dieser Art bewiesen – für jeden, der auf dem westlichen Standpunkt stand – ausreichend eindeutig, daß das andere System nicht wie das unsere war, also nichts taugen konnte. Sozialkundelehrer und Ostblockkenner haben es schon immer gesagt. Jetzt begrüßen sie das Ende der Sowjetunion wie einen Beweis: Sie haben Recht bekommen – und zwar von der Geschichte höchstpersönlich. „Wer hat’s denn schon immer gesagt?“ – tönen triumphierend ihre Artikel. Als ob sie das je und sogar schon immer gesagt hätten! Sie fanden das andere System undemokratisch, illiberal, seinen Reichtum eine ärmliche egalitäre Massenversorgung, aber es hat ihnen mit allen seinen Abartigkeiten doch immer zu gut funktioniert: Der Osten war ihnen zu stabil und effektiv in der Einbindung der Bevölkerung, er hat immer noch zu viel Reichtum, besonders in Form von Rüstung, hervorgebracht und zu viel Attraktivität für ein paar Arbeiterparteien im Westen und ganze Staatenblöcke in der 3.Welt. Die Verurteilung des anderen Systems kannte immer auch die Seite des Respekts für die feindliche Weltmacht, die mit Millionenheeren an der Elbe stand. Daß dieser Sozialismus „real“ war, hat seine westlichen Kritiker ebenso beeindruckt wie die stolzen Erfinder dieses eigentümlichen Systemnamens. Daß er im letzten Jahr endgültig irreal geworden ist, begrüßen sie als einen Beweis all der vergleichenden Unwert-Urteile, die sie über ihn zustande gebracht hatten, obwohl beides überhaupt nicht dasselbe ist. Weil die Geschichte ihren Werturteilen recht gibt, geben sie der Geschichte recht, verlassen ihr vergleichendes, demokratisch-moralisches Werten und propagieren das reine Recht der Macht: Was sich behauptet, ist gut, was untergeht, muß untergehen und soll es deshalb auch. Antikommunistische Journalisten werden zu umgedrehten, aber ausdrücklichen Anhängern des „Histo-Mat“ und propagieren den „Geschichtsautomatismus“, den sie ihren kommunistischen Gegnern immer vorgeworfen hatten. Hatten diese die Kritik des Kapitalismus mit der Diagnose seiner angeblichen Überlebtheit und Realitätsuntüchtigkeit („geht in Fäulnis über“) verwechselt und ihm sein baldiges Ableben prognostiziert, so fahren demokratische Journalisten jetzt die ebenso intelligente Retourkutsche, nicht ohne sich dabei genüßlich auf Geschichte, wie Marx sie verstand, zu berufen.

Daß sie im und für den Triumph umdenken mußten, verschweigen sie nicht, und zu ihrem Ruf „Wer hat’s denn schon immer gesagt?“ gesellt sich der andere: „Wer hätte noch vor zwei Jahren so etwas ahnen können?“ Sie sehen sich in ihren treffsicheren Einsichten von der Geschichte korrigiert und werfen dem einst Realen Sozialismus als arglistige Täuschung vor, daß es dazu kommen konnte: Mit seiner realen Existenz hat er die besten Köpfe der alten Welt geblendet und dazu verführt, ihm eine relative historische Berechtigung und nur eine relative Ablehnung zuteil werden zu lassen. Stellvertretend für die Recken des Journalismus müssen die Namen von George Bernard Shaw, Lion Feuchtwanger, Ernst Bloch, Thomas Mann, Sartre, Brecht und Präsident Roosevelt an den Pranger: Sie alle sind dieser freilich entschuldbaren Täuschung erlegen:

„Die Leichtgläubigen der freien Welt …Sie alle verdanken ihre Selbsttäuschung auch den Verwirrungstechniken der Machthaber … Den Einfältigen wurden wirtschaftliche, soziale und außenpolitische Scheinerfolge der Regimes aufgeschwatzt.“ (Fritjof Meyer, Die Katastrophe des Kommunismus, Spiegel-Spezial, Dez. 91, S.14, entspricht Spiegel 36 – 39/91)

Ihre späte Einsicht, d.h. die Verspätung ihrer Einsicht, gerät unseren unbestechlichen Zeitungsleuten zur wesentlichen Eigenschaft des anderen Systems: Das rote Weltreich hat überhaupt nur vom erfolgreichen Verbergen seiner inneren Substanzlosigkeit, ja historischen Nichtigkeit gelebt.

„Doch irgendwann mußte das Gespinst aus Zwang und Lüge zerbrechen… Alles mußte sich wenden, sobald ein Mann des Systems mit der Autorität seines Amtes (Gorbatschow) die Morschheit nicht mehr verhüllte.“ (ebd., S.15)

Jetzt fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen: Ihre eigene Überraschung darüber, wie geräuschlos, unblutig und widerstandslos die Macht der KP gebrochen wurde und die Sowjetunion von der Bühne abtrat, wird ihnen auch schon wieder zum Beweis in der Sache: Sie halten der KPdSU ihr stilles Verscheiden nämlich nicht als eine bei Staaten ungewöhnliche Selbstlosigkeit oder gar als Humanismus zugute. Im Vergleich mit völkermordenden Zusammenbrüchen anderer Weltreiche beweist ihnen das glatte Ende der SU nur, daß „nichts dahinter“ war:

„Noch nie zuvor hat sich eine Weltmacht so schnell und still verabschiedet. …Mit der Entmachtung der Putschisten wurde gleichsam ein zerschlissener Vorhang von der Bühne des kommunistischen Welttheaters weggerissen, und es zeigt sich: Dahinter war nichts, die Bühne ist leer. Von historischer Notwendigkeit …wie bei der französischen Republik, die 1789 das Königtum in einem Meer von Blut ertränkte – war an dieser Gewaltherrschaft nichts. Der Marxismus-Leninismus als politische Macht konnte deshalb so sang- und klanglos abdanken, weil sein Eintritt in die Weltgeschichte keiner spezifischen Realität entsprochen hatte.“ (Jürgen Busche, historisch notwendiger SZ-Journalist, der am 7.9.91. einer spezifischen Realität entsprach)

Hätten die Putschisten die Gegner der Sowjetunion doch in einem Meer von Blut ertränkt, dann könnte sich ihre Gewaltherrschaft jetzt auf eine historische Notwendigkeit berufen, und kein freiheitlicher Journalist würde sich um die Beweiskraft der Leichenberge ganz herumdrücken können. Aber wenn die Kerle nicht mal schießen …

Auch das reine Recht der größeren Macht jedoch versteht sich nicht ehrlich als das Recht des Stärkeren. Es muß schon auch noch das Recht sein, was die Stärke adelt, und nicht nur die Macht, die das Recht (er-)setzt. Der kritische Journalismus hat also doch noch eine Aufgabe bekommen und ist nicht nur zum passiven historischen Nachtrab verurteilt: Er darf den Gang der Geschichte nicht nur gerecht finden, sondern sich dem weitergehenden Beweis widmen, daß Gerechtigkeit der Gang der Geschichte ist. Mit Konsequenz werden alle einstigen Unwert-Urteile über das andere System zu Urteilen der Realitätsuntauglichkeit umgemünzt und umgekehrt: Das Ende der SU wird zum Beweis ihres menschenfeindlichen und verbrecherischen Charakters und dieser wiederum – damit sich der Kreis schließt – zum Grund ihres schließlichen Mißerfolgs. Die Autoren, die sich gerade zur Geschichte beglückwünschen, gewinnen ihre Einsichten schlicht daraus, daß sie sich weigern, Moral und Ursache noch zu unterscheiden. Die siegreiche Seite braucht das auch nicht, sie hält sich die Verwechslung zugute und vergegenwärtigt sich daran das unbewußte Walten der Vernunft in der Geschichte und ihre ausgleichende Gerechtigkeit.

Welthistorisches Experiment scheitert an den Realitäten

Was gestern noch eine furchterregende Weltmacht war, erkennen Durchblicker jetzt als ein fragwürdiges Experiment, das seine Verträglichkeit mit der Realität erst noch zu beweisen hatte und nach 75 Jahren Scheinerfolg versagte. Daß die Realität, an der sich der Reale Sozialismus blamierte, schon noch etwas genauer bestimmt werden kann als mit dem allgemeinen Gegensatz zum Reich der Träume, verschweigen diejenigen nicht, die trotzdem nichts weniger als seine absolute Realitätsuntüchtigkeit bewiesen sehen wollen. Viel zwingender, als es für die riesengroße, weithin autarke und atomar unangreifbare Sowjetunion wirklich der Fall war, erscheint ihnen heute, was sie bis gestern stets geleugnet hatten: daß die Sowjetunion an der Feindschaft der kapitalistischen Welt und ihren überlegenen ökonomischen und kriegstechnischen Potenzen kaputtgegangen ist. Nun, da der Sieg das Recht stiftet und der Untergang den Unwert beweist, gehört es sich geradezu, zusammen mit Bush und Kohl den „Sieg im Kalten Krieg“ und eine westliche Urheberschaft der „Umbrüche im Osten“ zu reklamieren. Der Zusammenbruch stand an,

„sobald …die gegen alle Regeln der Ökonomie gegängelte Volkswirtschaft im internationalen Wettbewerb kapitulieren mußte.“ „Die vom Weltmarkt abgeschirmte Staatswirtschaft, deren Investitionen fast nur der Schwer- und Rüstungsindustrie zuflossen, meldete Nullwachstum und lebte von der Substanz. Die Überrüstung hatte die USA zum Gegenzug der Weltraumwaffen-Strategie provoziert, die Moskau mangels Masse nicht mehr nachvollziehen konnte.“(Meyer, Spiegel)

Die Sowjetökonomie soll am internationalen Wettbewerb gescheitert sein, dem sie – siehe Abschottung – gar nicht ausgesetzt war; sie soll von einer Substanz gelebt haben, die sie in ihrer Ineffizienz niemals zustande bringen konnte. Kleinere Widersprüche schaden freilich einer Diagnose nicht, die sich ihrer historischen Gültigkeit jenseits aller Argumente sicher ist: Jedenfalls war diese Ökonomie nicht ertragreich genug, um es mit dem Weltmarkt des Kapitals aufzunehmen. Es gelang ihr nicht, so viel Reichtum aus ihren sozialistischen Werktätigen herauszuholen und deren Konsum zu entziehen, um ihn für Akkumulation, Rationalisierung und Rüstung zu reservieren, wie ihre kapitalistischen Feinde. Das war ihr Fehler! Die sozialistische Wirtschaft, rechte und linke Spezialisten sind sich da einig, hat die „Produktion des relativen Mehrwerts“ nicht gemeistert: Die Verbilligung des Lebens der Arbeitsbevölkerung für die Nation durch Steigerung der Produktivität ihrer Arbeit. Man braucht gar nicht zu fragen, ob die sozialistische Regierung dieses hehre Ziel überhaupt hatte; eine Ökonomie, die sich auf diese modernste, den kapitalistischen Reichtum begründende Form der Ausbeutung nicht versteht, ist einfach „Mißwirtschaft“: Ihre Industrialisierung und die dafür nötige Akkumulation ist zugleich zu groß – politisch erzwungen, dem Volk um den Preis des Hungers abgerungen – und zugleich zu klein; verrottete Fabriken und vorsintflutliche Maschinen beweisen Westexperten, daß relativ zur Größe des Nationalprodukts zu viel konsumiert wurde. Die Sowjetunion konnte sich die Überrüstung, die alles erdrückte, gar nicht leisten, die schließlich viel zu klein war, um bei Reagans „Star Wars“ mitzuhalten.

Eine reiche Nation und genug Waffen sind das erste Lebensbedürfnis des Volkes, das die Sowjetunion verletzt hat. Ihre Wirtschaft mag ihr Volk bescheiden ernährt haben – jedenfalls vor den Reformen –, aber was soll das, angesichts der wirklichen und historisch gültigen Maßstäbe für Staaten und Ökonomien? Eine Wirtschaft, die ihrem Betreiber weniger Gewinn einspielt als das System, in dem Gewinn der Systemzweck ist, die weniger schnell akkumuliert als dort, wo Akkumulation um der Akkumulation willen betrieben wird, hat kein Lebensrecht auf unserem vernünftigen Globus. Der Kapitalismus, der den Reichtum abzuzweigen versteht, den die Rüstung braucht, kann sie sich leisten, hat also auch ein Recht darauf. So sehr, daß alles Unrecht des kalten Krieges und des Rüstungswettlaufs jetzt auf die Sowjetunion fällt. Ihre – vom Ende her gesehen – untaugliche Gegenwehr gegen Containment und Roll-back entlarvt der Spiegel nachträglich als mutwillige und unberechtigte Herausforderung des überlegenen Systems, das auf eine Über-Rüstung der Sowjets, die diesen nicht zustand, nur überlegen reagierte.

Ein falsches System, das der Menschennatur widerspricht.

Steht das Urteil – gescheitert in der Konkurrenz mit dem unschlagbaren System – erst einmal fest, dann ist die Ursachenforschung keine Schwierigkeit mehr: Jede Differenz zu den bei uns gewohnten Verhältnissen erweist sich in diesem Licht als sinnloser Verstoß gegen die wirtschaftliche Vernunft, der nicht gutgehen konnte. Und weil der Fehler des anderen Systems in der Abweichung vom Kapitalismus besteht, gerät die Verurteilung zum – unverdienten – Kompliment, es sei Kommunismus gewesen. Die sozialen Absichten selbst waren die wirtschaftliche Unvernunft, die sich historisch rächt:

„Nicht Recht und Gerechtigkeit sondern Bedürfnisbefriedigung, nämlich das Glück als vollständige Befriedigung der wachsenden Bedürfnisse, definierte das Ziel dieser revolutionären Politik … Wir hatten im Weltmaßstab und innerhalb des sozialistischen Lagers einen hohen Lebensstandard. Wir haben nicht täglich nur gelitten. Ich sage für mich: Es waren interessante Jahre, erfüllte Jahre, aber ein absurder Staat. Dieser Staat gewährte soziale Sicherheit um den Preis der Freiheit, der Wahrhaftigkeit und deshalb der Würde. Es war der schmähliche Gesellschaftsvertrag: Wohlverhalten gegen Wohlergehen … Daß viele diesen Gesellschaftsvertrag als so empörend gar nicht empfanden … zeigt nur wie weit Entwürdigung und Selbstentwürdigung normal geworden waren.“ (Ex-DDR Pfarrer, nunmehr SPD-Politiker Richard Schröder, Die Zeit, 12.9.91.)

Hätte er doch gesetzestreues Wohlverhalten einfach so verlangt, wie jeder normale Staat, anstatt mit den Bürgern ein Tauschgeschäft einzugehen. Hätte er doch Freiheit und Würde gewährt anstatt sozialer Sicherheit, Rechte und Chancen anstatt der Befriedigung von Bedürfnissen. Der Sozialismus hat den Menschen die Lebensrisiken des Konkurrenzkampfes weggenommen, ihn um das Recht auf Arbeitslosigkeit und die Freiheit einer eigenverantwortlichen Behauptung am Markt betrogen – also um seine ganze Würde!. Ohne einen Markt aber – da kennt sich auch ein nationalökonomisch ungeschulter Pfarrer aus –, der zur Leistung zwingt und Schwäche straft, ohne die Chance wie die Drohung, auf der breiten Skala von ganz arm bis ganz reich hin und herzurutschen, haben die Menschen kein Arbeitsmotiv. Die hohen Werte von Freiheit und Würde schätzt Pfarrer Schröder zugleich als ökonomische Hebel zur Erzwingung von Leistung beim dummen Arbeitsvieh, so daß ganz unklar wird, ob die beklagte Entmenschung der DDR-Bevölkerung mehr ein Betrug an ihrer Freiheitsseele oder mehr einer am Nationalprodukt gewesen ist. Bloß für ihre Versorgung – hat die Theologie herausgefunden – würden die Menschen nämlich nie arbeiten. Um „besser zu leben“ als andere, aber schon.

„…die Menschen arbeiten rationalerweise um besser zu leben … Lohnt sich die Arbeit nicht, läßt sich nichts kaufen, der Lebensstandard nicht steigern – dann verhält sich der vernünftig, der die Arbeit einstellt.“ (Spiegel 37/91)

Ohne die Chance zum Steigern und Maximieren würde Meyer „rationalerweise“ auch die Arbeit unterlassen, die es braucht, um den Lebensstandard zu halten. Er jedenfalls will einen allumfassenden Bummelstreik im Osten entdeckt haben, mit dem die terroristische Zwangswirtschaft für die widernatürliche Befreiung vom Arbeitszwang bestraft wurde.

Die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln war der größte Fehler und der Grund des Scheiterns der Ordnung, die blöderweise kein Kapitalismus sein wollte:

„An die Stelle der Unternehmer trat die Staatsbürokratie, an die Stelle des Privateigentums der ‚volkseigene Betrieb‘ – der niemandem gehörte, für den sich also auch niemand unmittelbar verantwortlich fühlte.“ (Spiegel 37/91) „…der Staatshaushalt kassierte die Erträge der VEB und – bezahlte die Pleiten; … die Verfilzung von Staatshaushalt und Betrieb …“ (Schröder, Zeit)

– hatte die wirtschaftliche Haftung für die unteren Einheiten abgeschafft – und da haben es sich die Schweine bequem gemacht, anstatt ranzuklotzen.

Im gescheiterten Sozialismus erkennen die Verteidiger der Menschenwürde eindeutig eine staatsschädigende Abschwächung von Arbeitszwang und Konkurrenzdruck, die im Westen allzeit so segensreiche Wirkungen entfalten. Dazu brauchen sie das „System der materiellen Anreize“, die Disziplinierungsinstrumente und sonstigen Kapitalismuskopien des Realsozialismus gar nicht zu würdigen und auch nicht den Umstand, daß moderne Fabrikarbeit auch drüben erstens regelmäßig verrichtet wurde und zweitens in ihrer Produktivität gar nicht mehr von der individuellen Arbeitswut abhängt. Sie wissen den Grund des sozialistischen Scheiterns – und der ist ihr eigenes schlechtes Bild vom arbeitsscheuen Menschen, für das sie den Untergang des Ostens wie einen Beweis zitieren: Dort hätten die Leute aus Einsicht und frei übernommener Verantwortung ihren Beitrag zur notwendigen Arbeit verrichten müssen, ohne Existenzdrohung und ohne Aufstiegschancen. So etwas ist doch nicht normal bei Menschen?

Alles Verbrecher

So klärt sich die Sache mit der unterdrückten Menschenwürde: Wer den Menschen eine Vernunft zumutet, die ihrer Dummheit nicht entspricht, vergeht sich an ihnen. Wer durchsetzen will, was das kapitalistische Menschenbild nicht zuläßt, will – wie einst Jesus, dem man das aber nicht vorwirft, sondern hoch anrechnet – einen „neuen Menschen schaffen“, und das heißt, den wirklichen terrorisieren. Das Projekt der Bolschewiki war ein einziges Verbrechen an der Menschennatur: Ganze Völker haben diese machtgierigen Intellektuellen zum Experimentierfeld ihrer abartigen Ideen herabgewürdigt. Die sowieso unökonomischen und unbezahlbaren sozialen Wohltaten erkennen westdeutsche Menschenfreunde nun als die scheinhafte Fassade, hinter der es tatsächlich um nichts anderes ging als um die Befriedigung der Machtgier des Politbüros und seine Privilegien:

„Adieu Sozialismus, schöner Mantel für Ausbeutung in Permanenz und gelegentliche Greueltaten.“ … „Dieses Staatseigentum war Diebstahl. Die staatlichen Räuber verwendeten es zur Erhaltung ihrer Herrschaft; für die Rüstung samt den erforderlichen Grundstoffindustrien, für den extrem aufgeblähten Sicherheitsapparat, die Privilegien der Funktionäre – und ein Minimum an Nahrung und Obdach, Schulung und medizinischer Versorgung für die Arbeiter und Soldaten.“ … „Der sowjetisch geprägte Sozialismus trieb die von Marx als Ausbeutung denunzierte Wertschöpfung auf die Spitze …“ (Spiegel 37/91)

Man möchte gar nicht fragen, wofür eigentlich die bisweilen liebevoll „Raubritter“ genannten Finanzbehörden des Westens die Milliarden einsammeln, die Liste des ‚Spiegel‘ ist ziemlich vollständig. Aber drüben ist dasselbe ganz etwas anderes. Für den Sozialismus, der einmal gegen die Übel des Kapitalismus durchgesetzt wurde, ist die schärfste Kapitalismuskritik gerade recht – und zwar von Autoren, die am Kapitalismus nie etwas zu kritisieren fanden: Gegen unsere Marktwirtschaft ist Marx’ Mehrwert-Theorie eine Denunziation der notwendigen Wertschöpfung; geht es ums Denunzieren der Sowjetunion, hat Marx aber völlig recht. Drüben herrscht die Ausbeutung, die es im Kapitalismus gar nicht gibt. Und nicht nur das. Auch Gewalt.

Autoren, die für die Blutbäder der französischen Revolution, des amerikanischen Bürgerkriegs, die Bombardements des zweiten Weltkriegs und und und – selbstredend mit humanem Bedauern – jedes Verständnis aufbringen, weil sie diese Schlächtereien als notwendige Vorstufen heutiger „vernünftiger“ Verhältnisse schätzen, wissen umgekehrt, daß es zur Urteilsbildung über den Sowjetkommunismus nur der Erwähnung gewisser Worte bedarf: „Roter Terror“, „Bürgerkrieg“, „Ausrottung der Kulaken als Klasse“, „KGB“, „Berlin“, „Budapest“, „Prag“. Gewalt und Herrschaft beweisen dort, daß die Bolschewiki keinen Dienst an ihren Völkern vorhatten und keine vernünftige Ordnung auf ihre Macht gründen wollten. Die blutige Geburt noch jeder Nation, die allzu bekannte Vorgeschichte des inneren Friedens soll im Westen keinen Rückschluß auf den Gewaltcharakter des dadurch etablierten Zustandes erlauben – auch wenn jeder Journalist daheim das staatliche Gewaltmonopol schätzt und entschieden verteidigt sehen will. Ihre klugen nachgerufenen Betrachtungen auf das sozialistische Weltsystem sehen alles gerade umgekehrt: Da ist der Frieden, den die zuerst kriegerische, nach der inneren und später äußeren Durchsetzung auch zivilere Staatsgewalt schuf, eine „Friedhofsruhe“ und die Herrschaft eine „Gewaltherrschaft“, die nur beweist, wie sehr man die freiheitsdurstigen Menschen und Völker des Riesenreichs unterdrücken mußte, um sie von der anstehenden Revolution und Beseitigung ihrer Unterdrücker abzuschrecken. Dort beweist dem rückwärts blickenden Beobachter die Gewalt die unsichere Grundlage der Ordnung und den Keim des Untergangs, als ob sonst Staaten an dem Blut zugrunde gingen, das sie zu ihrer Errichtung und Behauptung vergießen. Nachträglich und in Bezug auf die Sowjetunion weiß man es ganz genau: Unrecht Gut gedeiht nicht! Auf Gewalt kann man keine Ordnung gründen – und nichts beweist den Gewaltcharakter der östlichen Ordnung so schön, wie ihr Ende.

Die machtgierigen bolschewistischen Verbrecher, die unter dem Vorwand, die Ausbeutung abzuschaffen, die es gar nicht gibt, die schlimmste Ausbeutung einrichteten, haben ihr Scheitern nicht nur verdient. Sie sind – quod erat demonstrandum – an ihren Verbrechen untergegangen.

Ursachenforschung: Von der Gefährlichkeit des Verstandes und seiner Träger

Fragt sich nur noch: Warum? Wie konnte es dazu kommen? Anders als dem Faschismus muß man der sozialistischen Idee doch humane, völkerverbindende und soziale Werte bescheinigen und sie ins Erbe der europäischen Aufklärung mit hineinrechnen. Warum haben die kommunistischen Radikalen der, als Teil unserer Geschichte durchaus anerkannten, Arbeiterbewegung nichts als schlimmste Verbrechen zustandegebracht? Wie ist es zu diesem

„Irrweg gekommen“? „Wie konnte sich die hoffnungsfrohe Entwicklung zum Schlaraffenland des Kommunismus sogleich in ein Feudalsystem, sogar in eine Sklavenhaltergesellschaft umkehren?“ (Spiegel 37/91)

Das Bedürfnis der geifernden Verhetzung kann nie genug Fassungen für die unfaßbaren Verbrechen der Kommunisten finden. Jetzt soll der etablierte Sozialismus in Wahrheit eine besonders krude Variante des Kapitalismus und außerdem noch ein Feudalismus und Sklavenhalterei gewesen sein, obwohl beim besten Hetz-Willen nicht alles gleichzeitig richtig sein kann. Auch der Autor weiß, daß es weder den freien Arbeitsmarkt noch Lehen und Ritter noch – bei allgemeiner Abwesenheit des Menschenrechts auf Privateigentum – ein Privateigentum an Menschen gegeben hat. Zur wahllosen Anhäufung aller unpassenden Verbalinjurien, die ein an Marx gebildeter Journalist über Gesellschaften so auf Lager hat, sieht er sich trotzdem berechtigt, um das Bild der furchtbaren Verkehrung guter Absichten in verbrecherische Taten möglichst drastisch auszumalen. Die Antwort auf die Frage, wie es zu dieser Verkehrung kommen konnte, fällt nämlich sehr grundsätzlich aus und ist total gleichgültig gegen etwaige Fehler, ökonomische Dummheiten oder moralische Brutalitäten der KPDSU: Das Gegenteil guter Absichten kommt heraus, nicht weil man ihre Realisierung falsch anpackt, sondern weil man sie anpackt!

„Das kommunistische Manifest ließ sich als Gedankenspiel eines ohnmächtigen Intellektuellen lesen, als legitime Kritik an unhaltbaren Zuständen, als pseudoreligiöse Verheißung – von Politikern mit kriminellen Neigungen aber auch als eine Anweisung zum Handeln.“ (Spiegel 38/91)

Wahrhaft religiöse Verheißungen und unverbindliche Gedankenspiele ohnmächtiger Spinner verdienen natürlich jeden Respekt. Kritik an Zuständen, die unhaltbar waren, nicht, weil die Menschen unter ihnen kaputt gingen – das tun sie ja heute noch –, sondern weil sie sich sowieso nicht halten ließen – wie man heute weiß –, können deutsche Intellektuelle nur legitim finden. Wenn aber wegen dieser Zustände einer nicht warten mag, bis sie sich von selbst nicht mehr halten, und sich daran macht, sie abzustellen, dann verrät der nichts weniger als kriminelle Neigungen. Marx hat das kommunistische Manifest doch nicht geschrieben, damit dann jemand die Welt verändert! Das gebotene Mitleid und die gute soziale Absicht haben sich als reine Idee von der Realität fern zu halten. Wenn die Idee zur Tat schreitet, wird sie böse; wenn sie sich durchsetzt, die Ausbeuter enteignet und ihre politische Gewalt entmachtet, dann übt sie Gewalt und stellt sich nicht etwa moralisch auf die gleiche Stufe wie die Gewalt, die sie beseitigt, sondern darunter: wie Kriminelle zur Polizei.

Der Spiegel geht nach diesem Leitfaden die Geschichte des Sozialismus durch: Jeweils der historische Vorgänger, der noch keine Chance zur politischen Tat hatte, bekommt ein Plus wg. Reinheit der Idee, und ein Minus, weil auch da schon Absichten der Realisierung durchscheinen. Jeder Nachfolger ist ein Verräter an der Praxisferne und billigen Reinheit der Ideen des Vorgängers. Je später, desto weniger wird ihnen der Idealist zugute gehalten und desto klarer tritt der verabscheuungswürdige Machtpolitiker hervor. So sind Marx und Engels, wenigstens anfangs, liebenswerte idealistische Philosophen, wenn auch sie schon ihre dunklen Seiten haben: Haß, Intoleranz und merkwürdige, gefährlich mißverständliche Formulierungen wie die von der Diktatur des Proletariats. Lenin war zwar sehr gebildet, aber ein Advokat mit Machtinstinkt; er wollte nie einen Sozialismus errichten, sondern mit Staatsterror den Kapitalismus der deutschen Post und Kriegswirtschaft kopieren. Am Schluß aber verrät der Massenmörder Stalin die herrschaftskritischen Ideen des zynischen Machtmenschen Lenin.

„Die Kommunisten wollten die Welt verändern, es kommt aber darauf an, sie zu interpretieren!“ (Schröder, Zeit, frei zitiert)

Wie konnte es dazu kommen? Diese Frage hat noch eine zweite, auf das deutsche Geistesleben gerichtete Dimension: Wie immer bei den Unfällen der Geschichte, steht nach Klärung der Verbrechen und der Identifizierung der Verbrecher die Frage nach der Verführbarkeit der anständigen Menschen an. Selbstreinigung tut not, denn die eigentliche Katastrophe des Kommunismus ist die, daß deutsche Intellektuelle über seine wahre Natur von der Geschichte – nachträglich – aufgeklärt werden mußten. Generationen von ihnen haben diesen Verbrechern Bewunderung gezollt oder wenigstens Entschuldigungsgründe für sie gesucht. Selbstkritik, nicht nur der berechtigte Triumphalismus ist das Gebot der Stunde. Der europäische Geist ist gegen die sozialistische Anfechtung noch immer nicht genug gefeit und hat auch für sich seine Lehre aus der Geschichte zu ziehen: Der reale Sozialismus war

„der größte und ehrgeizigste Versuch in der Weltgeschichte, eine Weltmacht allein auf eine Theorie zu gründen“ (Busche, SZ)

Auch diese Fassung seines Geburtsfehlers verdient nicht gerade, eine Beschreibung genannt zu werden: Auf einen Bürger- und einen Weltkrieg, auf Atomraketen und Weltraumfahrt, auf die, wenn nicht modernste, so doch in vielen Feldern absolut größte nationale Industrieproduktion und auf die berühmten Instrumente der inneren Sicherheit war diese Weltmacht schon auch „gegründet“. Aber die Botschaft ist klar: Es ist verderblich und muß scheitern, wenn die Menschen ihren Verstand darauf verwenden, sich ihre Lebensverhältnisse vernünftig und nützlich einzurichten. Der ist dazu da, sich einen privaten Reim auf die Katastrophen der unbeherrschten Lebensumstände zu machen; denn eine wirkliche Weltmacht funktioniert nach ganz anderen Gesetzen als denen der Vernunft:

„Doch der Zusammenbruch ist wie schon das Programm der kommunistischen Weltrevolution das Ergebnis einer unglaublichen Hybris. …da sich das Denken vom christlichen Glauben emanzipierte, (und) meinte, die Sache des Menschen allein auf Vernunft gründen zu können.“ (Busche, SZ)

Die Volksaufklärer in Sachen kommunistische Verbrechen unterschreiben Marx’ Charakterisierung der Ideologie als private Interpretation objektiv ganz anders bestimmter Verhältnisse und seine Formel von der Gesellschaft, deren Funktionieren „auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten“ beruht – und finden beides in Ordnung! Sie hetzen gegen die Versuchung, im politischen Treiben dem eigenen Verstand zu folgen, statt, was passiert, gottergeben hinzunehmen. Sie können es nicht oft genug sagen, daß dem demokratischen Bürger ein Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit ansteht, also der christliche Glaube, der sich vom Denken emanzipiert.