Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Herbsttagungen von IWF, Weltbank und einer „globalen Anti-Globalisierungsfront“:
Anmerkungen zum Auftritt der modernen anti-imperialistischen Protestkultur
Beim IWF-Treffen der imperialistischen Mächte wird demonstriert. Fragt sich nur wogegen: weltweite Armut und Zahlungsunfähigkeit ganzer Nationen sind nach Auffassung dieser Kritiker nicht Auswirkung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sondern allein der Unfähigkeit und dem mangelnden Willen der Mächtigen geschuldet. So ist der Kapitalismus vor systemkritischen Anwürfen gerettet, und Imperialismus eine einzige Machenschaft schuldiger Täter. Haupttäter sind IWF und Weltbank, die Demonstranten hingegen lauter gute Menschen.
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Systematischer Katalog
Herbsttagungen von IWF, Weltbank und
einer „globalen Anti-Globalisierungsfront“:
Anmerkungen zum Auftritt der
modernen anti-imperialistischen Protestkultur
Ein offizieller und ein alternativer Veranstaltungsrahmen
Die geladenen Gäste der Feier sind die Finanzminister und Notenbankchefs der Mitgliedsländer von IWF und Weltbank. Die kommen zu einem Treffen in Prag zusammen, weil die Herren das Bedürfnis haben, sich und ihre gemeinschaftliche Betreuung des Weltkreditsystems festlich zu würdigen. Den guten Werken von IWF und Weltbank, die mit ihrer Politik routinemäßig dafür sorgen, dass die weltweiten Geschäfte mit Ware und Geld, Kapital und Kredit möglichst nicht an der Zahlungsunfähigkeit der am Weltmarkt teilnehmenden Nationen scheitern, wird in einer Gala Anerkennung gezollt. Der versammelte finanz-diplomatische Überbau über dem monetären Überbau der kapitalistischen Weltwirtschaft tauscht Meinungen zu Stand und Perspektiven der weiteren administrativen Pflege der Weltfinanzen aus und diskutiert mögliche Gefahren, die dem Weltgeschäft von schon bekannten oder demnächst bekannt werdenden staatlichen Problemkandidaten erwachsen könnten. Er berät sich über laufende oder demnächst zu vereinbarende Umschuldungsaktionen, würdigt diese und andere Leistungen des Bemühens um die Haltbarkeit des Kredits im globalisierten Geschäft, und versichert so sich und dem Rest der marktwirtschaftenden Welt, dass die einschlägigen Behörden ihrer Verantwortung auch im kommenden Jahr so nachgehen werden, wie man es von ihnen kennt.
Der Gastgeber der staatlichen Repräsentanten des Weltkredits und der erlauchten Institutionen zu dessen Pflege ist die frisch zu Demokratie und Marktwirtschaft gewendete tschechische Republik. Die will als Ausrichter des Treffens renommieren, will ein wenig vom Glanz der Behörde des internationalen Geld-, Kredit- und Schuldenmanagements auf sich als Kapitalstandort lenken und mit einem würdigen Empfang der kapitalistischen Finanzwelt dokumentieren, dass man sich als mindestens ebenso würdiger Partner des grenzüberschreitenden Geschäftslebens weiß. Und wenn auch die bisherige marktwirtschaftliche Karriere dieser Nation sehr zu wünschen übrig lässt: Gelegenheit zur Demonstration, dass sie wenigstens politisch auf dem besten Weg und schon eine ziemlich perfekte Demokratie ist, bekommt sie geboten.
Denn es haben sich auch ungeladene Gäste in Prag
angesagt. Manche wollen das Treffen des IWF als Forum
ihrer Kritik wahrnehmen, und denen zeigt ein ehemaliger
Dissident und Dichter gegen die sozialistische
Unterdrückung der Geistes- und Meinungsfreiheit, was für
eine demokratische Karriere er in seiner Eigenschaft als
Staatspräsident hingelegt hat. Was die polizeistaatliche
Unterdrückung störender Proteste betrifft, erfüllt er
jedenfalls alle Ansprüche, die an ihn als obersten
Aufseher über eine marktwirtschaftlich-funktionelle
politische Ordnung zu richten sind – die Prügelorgien,
die er in Auftrag gibt, kann Demokrat Havel ganz zu Recht
als professionell und bedacht
würdigen. Er wäre
aber nicht der Feingeist Vaclav, hätte er für die
verdroschenen Kritiker nicht auch ein Angebot zu einem
echt demokratischen Dialog parat. Handverlesene Vertreter
der Demonstranten dürfen nachträglich vor ihm und einigen
der berühmten Gäste frei ihre Meinung sagen. Vor
wenigen Wochen noch waren die Aktivisten der globalen
Anti-Globalisierungsfront (…) von der tschechischen
Polizei windelweich geprügelt und wie Kriminelle
behandelt worden, und zwar ganz unabhängig davon, ob sie
ihren Protest friedlich zum Ausdruck gebracht hatten oder
nicht. Und nun saßen sie unter den hellerleuchteten
Lüstern und der tschechische Präsident und andere
Mächtige dieser Welt nickten beifällig, wenn die gleichen
Ansichten vorgetragen wurden, für die sie sich auf der
Straße dicke Beulen und blaue Flecken geholt hatten.
(FAZ, 29.10.)
Was diese Mächtigen der Welt in Prag wollen, kann man also nachvollziehen, ebenso, was der tschechische Präsident mit ihrer Einladung will. Aber was wollen die Demonstranten dort? Und zwar nicht nur die wenigen, die sich zum Plausch in den Hradschin haben einladen lassen, sondern die vielen anderen, die nur verprügelt wurden?
Die Manager des Weltkredits auf der moralischen Anklagebank
Die nach Prag reisenden Kritiker von IWF und Weltbank
sind selbst ausgesprochen stolz darauf, eine zwar sehr
bunte und pluralistische, aber eben doch eine Mannschaft
zu sein. Also scheren auch wir sie über einen Kamm und
halten zu ihrer ersten Charakterisierung fest, dass in
ihren Kreisen über alle Unterschiede in Auffassung und
Anliegen hinweg in einem Punkt Konsens herrscht: Es sind
die mächtigen Finanzorganisationen des kapitalistischen
Weltgeschäfts und deren Personal, die man als Mächte, die
über das Schicksal der Menschheit entscheiden
, für
alle Übel dieser Weltwirtschaft verantwortlich macht. Die
Kritiker prangern das Verbrechen an dem
Menschenrecht
an, in Würde und Glück zu leben
,
werfen den Managern von IWF und Weltbank vor, außer
den Regeln des Freihandels keine anderen sozialen,
ökologischen oder rechtlichen Gesichtspunkte
gelten
zu lassen, kurzum: machen sie haftbar für einen Zustand
der Welt, den sie als das glatte Gegenteil von dem
identifizieren, was sich ihrer Auffassung nach
gehört; darüber sind sie empört, und zu dieser Empörung
sehen sie sich berechtigt, weil sie ja nur anklagen, was
nach allgemein anerkannten, aber eben gar nicht gültigen
Maßstäben anklagenswert ist – die Welt
, die sie
und alle anderen vor sich sehen, ist einfach keine,
die dem Menschen dient
. Repräsentativ für die
dünnste aller vorstellbaren Allgemeinheiten, im Namen der
Welt
oder der Menschheit
, für das Gute
einzutreten: Das ist die moralische Gesinnung,
in der sie sich aufstellen – gegen alle, die an der
verantwortlichen Stelle, an der sie tätig sind, in ihrem
Tun für die Kritiker Zweifel begründen, mit derselben
guten Absicht unterwegs zu sein wie sie. Allerdings
rennen diese Anwälte einer der Allgemeinheit
verpflichteten Weltordnung bei den Adressaten ihrer
Kritik offene Scheunentore ein. Selbstverständlich
verfügen die bei ihrem praktischen Tun nicht über eine
verbrecherische Gesinnung, sondern ausschließlich über
lautere Absichten. Mindestens derselbe humanistische
Impuls, der die Demonstranten zu ihrem Aufmarsch in Prag
verleitet, regt sich auch im Präsidenten der Weltbank, so
dass der angesichts des Vorwurfs, für haufenweise Armut,
Not und Elend verantwortlich zu sein, nur auf das
Leitmotiv des Treffens seines Vereins zu deuten braucht.
Aus dem geht ja ganz eindeutig hervor, dass auch der –
wie seine Kritiker – für eine Welt
ist, die für
alle arbeitet
, seine Weltbank also doch mit gar
nichts anderem beschäftigt ist, als verdammt hart an
der Beseitigung der Armut in der Welt
zu arbeiten. Er
höchstpersönlich jedenfalls teilt mit den Demonstranten
von Haus aus ihre Leidenschaft, die Armut zu
bekämpfen
, und wenn in der Welt des Kredits irgendwo
gute Menschen zu finden sind, dann in Gestalt seiner
Wenigkeit und in der seines Kollegen, der dem IWF
vorsteht: Auch er habe ein Herz. Was beim IWF
engagiert getan werde, sei nicht böse, sondern vielmehr
gut.
So stehen die einen auf dem Standpunkt, die Lage
der Weltwirtschaft sei ein zum Himmel schreiender Verstoß
gegen die verpflichtende Norm einer Welt-Gerechtigkeit,
für die sie sich engagieren, und wollen den dafür
Verantwortlichen das Handwerk legen; und die Betreffenden
weisen ihre Verantwortung für alle Ungerechtigkeiten der
Welt weit mit dem Hinweis zurück, in ihrem Wirken selbst
doch nur von den allerbesten Absichten geleitet zu sein.
Ein wenig mehr Sachlichkeit würde diesem moralischen
Dialog also nur gut tun, der Kritik schon gleich. Für die
wäre sie sogar zwingend geboten. Denn wenn man sich schon
gegen die Machenschaften von IWF und Weltbank aufstellt,
werden wohl deren Auftrag und nicht die persönlichen
Gemeinheiten oder – je nach Optik – privaten humanitären
Drangsale der Behördenleiter ihre Substanz ausmachen. Wer
Köhler, Wolfensohn und Kollegen die Ausübung ihres Berufs
verbieten will, wird sich ja wohl vordringlich an dem
stören, was sie bei dessen Ausübung tun – und allenfalls
zusätzlich auch noch an den netten Worten, mit denen die
bei Bedarf ihr Gewerbe zu einem einzigen Dienst an der
Menschheit umlügen. Doch der kleinen Mühe, sich und
anderen Kenntnis über die Natur des Handwerks zu
verschaffen, das sie diesen Menschen gerne gelegt hätten,
unterziehen sich die Kritiker samt und sonders nicht. Sie
richten ihr Augenmerk gar nicht auf das, was die
inkriminierten Behörden tun, welchen sachlich begründeten
Notwendigkeiten sie in ihrer alltäglichen Routine dienen
und Geltung verschaffen. Vielmehr kaprizieren sie sich
darauf, mit ihrer Empörung über die Resultate, die auf
deren Wirken zurückgehen, im Recht zu sein. Die drückt
für sie ein doch nur überaus gerechtfertigtes Anliegen
Aller aus – und in dem Bewusstsein, mit der guten Sache,
der sie sich verschrieben haben, im Grunde alle
wohlmeinenden Menschen in ihrem Rücken zu wissen, treiben
sie die Gesinnungsprüfung der für die schlechte Welt
Verantwortlichen einen Schritt weiter und
glauben den Chefs von IWF und Weltbank die guten
Absichten demonstrativ nicht, derer die sich
rühmen. Die wollen sie als Heuchler durchschaut haben,
als solche, die sich ihre guten Absichten heraushängen
lassen, es in Wahrheit aber überhaupt nicht ernst meinen
mit ihnen – und sind damit auch schon am Ende ihrer
Ursachenforschung: Nicht guter, sondern böser Wille
regiert an den höchsten Schaltstellen der Macht. Als
unbestechlichen Beweis für diese Diagnose, dass alles
Schlechte der Weltwirtschaft, an dem sie und andere
Anstoß nehmen, doch nur die schlechte Absicht
derer zeigt, auf deren Verantwortung es zurückgeht,
zitieren sie die vielen unguten Auswirkungen eines
globalen kapitalistischen Systems
– wobei sie mit dem
Verweis auf ein ‚System‘ zwar suggerieren, sie hätten so
etwas wie einen allgemeinen Grund der beklagten
Übelstände gefasst, aber mit ihm dann doch nichts anderes
anbieten als eine hohle Phrase für alles Übel in der
Welt: Mehr als 4 Mrd. Menschen leben von einem
täglichen Einkommen von weniger als 2 US-Dollar; circa 17
Mill. Kinder sterben jedes Jahr an leicht heilbaren
Krankheiten. 1/3 der EinwohnerInnen der südlichen
Hemisphäre wird das 40. Lebensjahr nicht erreichen. 250
Mill. Kinder in den sogenannten Entwicklungsländern sind
gezwungen, als Sklavenarbeiter für transnationale
Konzerne zu arbeiten. Gleichzeitig gibt es in der
europäischen Union 50 Mill. Menschen, die in Armut leben
und 5 Mill. Obdachlose. 30 Mill. Menschen in den USA
leiden unter Unterernährung.
(INPEG – Initiative of People against
Globalization)
Es wird schon so sein, wie sie sagen. Das Problem ist
nur, dass ihnen diese und andere Tatbestände ja niemand
bestreitet. Die Sachverständigen von IWF und Weltbank
schon gleich nicht. Die würden nicht einmal in Abrede
stellen, dass das von der Kritikern namhaft gemachte
Elend der Welt mit ihrer Tätigkeit und vor allem mit
ihrer hohen Verantwortung zu tun hat – nur eben genau
andersherum, als ihre Ankläger es wissen wollen: Das
viele, selbstredend bedauerliche Elend auf der Welt ist,
ihrer herrschenden Weltmeinung zufolge, nicht
wegen, sondern trotz Freihandel,
weltweitem Kreditverkehr und supranationaler
Kreditaufsicht in der Welt, ist nicht Auswirkung
der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sondern ein
Defizit an ihr, wahrscheinlich sogar Folge ihrer
mangelhaften Durchsetzung; wären denn sonst
nicht alle so reich wie die Reichen in den Ländern mit
komplett durchgesetzter kapitalistischer
Produktionsweise? Gegen diese apologetische
Interpretation des Elends auf dem Globus setzen die
Kritiker den umso empörteren Verweis auf dessen
Ausmaß, auf den augenscheinlichen
Zusammenhang zwischen den Sparprogrammen, die der IWF
überschuldeten Nationen verordnet, und der Streichung von
Sozialprogrammen – und laufen damit ins Leere. Denn im
Streit um die Frage, wo letztlich die Ursachen
des Massenelends auf der Welt liegen – im
kapitalistischen System und bei dessen
Verwaltungsagenturen oder in Missständen, die die
segensreichen Leistungen von Marktwirtschaft und Kredit
verhindern –, ist der noch so drastische und schlagende
Hinweis auf Wirkungen kein gutes Argument. Nicht
dass die Macher und Apologeten des Systems ein besseres
hätten. Nur haben sie die Macht, die maßgeblichen Fakten
zu setzen, nach denen sich das Handeln aller anderen
Instanzen sowie die allemal sittlich-konstruktive
Weltmeinung richtet. Ihre Gegner haben nichts als ihre
Überzeugung – und für die noch nicht einmal den guten
theoretischen Grund, dass sie die Notwendigkeit
von massenhafter Verelendung im System der weltweiten
Marktwirtschaft, nämlich durch das Kommando des
Kapitals über die Existenzbedingungen seines
Menschenmaterials nachweisen könnten. Statt
dessen empören sie sich über üble Wirkungen – von
was auch immer, jedenfalls irgendwie
vom Tun der
Mächtigen –, schreiben diese ebenso üblen Absichten zu
und liefern damit einen Grund, der glatt jede
Notwendigkeit der beklagten Zustände im System
dementiert: Sie müssten nicht sein, wenn die
Mächtigen nur anders wollten. Wahrscheinlich
täte es dieser Empörung noch nicht einmal gut,
wenn sie sich mit der Einsicht auseinandersetzen müsste,
dass schönere Verhältnisse unter dem Regime bürgerlicher
Staatsgewalten und ihrer Marktwirtschaft, IWF hin oder
her, prinzipiell nicht zu haben sind. Denn die zielt auf
einen Punktsieg des moralischen Weltgewissens; und
besagtes Gewissen will von objektiven Notwendigkeiten gar
nichts wissen, kennt vielmehr bloß Schuldfragen, die mit
tätiger Reue und sittlicher Läuterung zu beantworten
sind. Eben deswegen passt es so genau zu der
Welt, in der es immer so viel zu bereuen gibt – ohne
Elend wäre es glatt arbeitslos.
Die Konstruktion eines anti-imperialistischen Feindbilds
Ihren extrem kurzen Schluss von einem von niemandem
bestrittenen Übel in der Welt auf Schuldige, die nichts
anderes als dies Übel wollen, elaborieren die Kritiker
dann nach zwei Seiten weiter aus. Gemäß der Logik, dass
die vielen armen Opfer der kapitalistischen
Weltwirtschaft nur von Machenschaften übler
Täter zeugen können, machen sie sich zuerst nach
denen auf die Suche. Allerdings ist Suche vielleicht
nicht ganz das richtige Wort zur Bezeichnung des
Unterfangens, von den wenig menschenfreundlichen
Auswirkungen der kapitalistischen Weltwirtschaft auf
bösen Machenschaften schließen zu wollen, denen die sich
verdanken. Als wesentlich menschenverachtenden
Kapitalismus
hat man diese Produktionsweise schon
vollständig durchschaut, indem man sie mit Worten, die
den banalen Zweck des kapitalistischen Wirtschaftens zum
entsprechenden Dämon stilisieren, zu einer einzigen
organisierten und institutionalisierten
Menschenverachtung erklärt: Bloß um Profit
geht es
dem Kapitalismus, reiner Shareholder-Kapitalismus
ist er, nur die Logik des Profits
gilt – die mit
dem Verweis auf die persönliche Gier
nach Profit
auch schon hinlänglich erklärt ist –, und wenn es noch wo
ein Ideal gibt, dann ist das der Glaube an die allein
seligmachenden Kräfte des Marktes
, und das ist ja nun
kein humanes Ideal in dem Sinn. Kein Platz fürs Gute in
der Welt also, wo man sich doch so gut vorstellen könnte,
in der neben allem Profit und allen Marktkräften auch
menschenfreundlich
bedient zu werden!
So zeichnet sich dieses System
für seine Kritiker
wesentlich durch eine Reihe von Verstößen aus,
die sich allesamt zu dem Befund addieren, dass in ihm
niemand daran denkt, zuerst an den Menschen zu
denken
. Alles, was sie von ihrer kapitalistischen
Welt kennen und wahrnehmen, beziehen die Kritiker auf
eine unendlich wohlmeinende Vorstellung
eigentlicher Prinzipien und Normen, nach denen
sich die Welt doch richten müsste. Dass wirklich
keiner der tatsächlich maßgeblichen Zwecke und Interessen
sich auch nur irgendwie als Dienst an ihrer schönen
sittlichen Idee zur Deckung bringen lässt, nehmen sie als
Argument dafür, sich nicht um die Zwecke, sondern um so
entschiedener um das Ideal zu kümmern, dem sie das
gesellschaftliche Treiben insgesamt gewidmet wissen
wollen. Dieses Ideal bringen sie dann noch in einer
derart pfäffisch überhöhten Manier zur Sprache, dass die
gedeckelten Interessen der lieben Menschheit nur in
homöopathischen Spurenelementen vorkommen. Man könnte
meinen, sie wüssten von Politik wirklich nur das, was
deren Macher in ihren Sonntagsreden von sich und ihrem
Tun behaupten – da steht er nämlich grundsätzlich immer
im Mittelpunkt, der Mensch! Aber sie wollen sich ja nicht
für mehr Sonntagsreden stark machen, sondern diesen den
Einwand entnehmen, dass diesen die Welt nicht entspricht.
Daher kontern sie auch die verlogene Tour der politische
Verantwortlichen, im Grunde nur aus schierer
Verantwortung
die Mühe des Regierens zu tragen,
mit der Behauptung des strikten Gegenteils und entdecken
die schiere Unverantwortlichkeit als Begriff des
Kapitalismus – was über den auch kein besseres Urteil
ist, aber doch zeigt, wie gründlich fertig sie mit dem
sind. Und auch um eine Antwort auf die Frage, wie es zu
der hat kommen können, sind sie nicht verlegen: Die
Globalisierung
ist es, die ihnen zufolge für den
weltweiten Siegeszug von Ungerechtigkeit und Unmoral
verantwortlich ist – ein Phänomen, das sie sich als
anonyme Macht vorstellen, die über die Nationen gekommen
ist. An der von ihren eigenen Regierungen in Umlauf
gebrachten Sprachregelung vom Weltmarkt als machtvollem
Sachzwang, den es als Herausforderung
zu
bewältigen
gelte, machen sie sich nämlich in
denkbar trostloser Weise zu schaffen – und glauben ihr
einfach aufs Wort. Was immer da von den Regierenden an
Abhängigkeiten
und sonstigen neuen Zwängen des
imperialistischen Weltgeschäfts beschworen und von ihnen
zur Begründung dafür herangezogen wird, dass ab sofort
Schluss zu sein hat mit sozialen Rücksichtnahmen daheim
und anderswo: Aus noch der dümmsten ideologischen
Rechtfertigung der Notwendigkeiten, die die politischen
Herren der Welt ihren Völkern wegen ihres Willens
diktieren, in der Konkurrenz auf den Märkten der Welt zu
gewinnen, lesen sie ein Eingeständnis allseits
waltender politischer Ohnmacht heraus – und
fügen dem allenfalls noch den Vorwurf hinzu, dass die
Machthaber an ihrer eigenen Entmachtung durchaus auch
selbst schuld sind. Immerhin haben sie es ja zugelassen,
dass ein ungezügelter Liberalismus
sich als
absolute Marktwirtschaft
auf der Welt hat breit
machen können, den Nationalparlamenten die Macht
entrissen
und eine Herrschaft der Konzerne über
Mensch und Natur
errichtet hat. Klar: die Abdankung
der zur Befriedigung aller menschlichen Rechte und
Bedürfnisse an sich Zuständigen erlaubt die
Machtergreifung einer dann in jeder Hinsicht
ungezügelten
und daher so globalen
Profitgier – oder sollte es umgekehrt sein? Egal, denn so
oder so bekommt man, ohne über irgendeine
imperialistische Tat groß Rechenschaft abgegeben zu
haben, alles vom Imperialismus Wissenswerte jedenfalls
theoretisch gut in den Griff – nämlich als eine einzige
Machenschaft schuldiger Täter zu fassen, und als
Haupttäter kann man dann auch noch IWF und
Weltbank namhaft machen. Gemäß dem der
Globalisierungs-Ideologie zu entnehmendem
Befund, dass die Nationalstaaten ohnmächtig sind, sind
sie sich sicher, dass die Schaltstellen der Macht
heutzutage in diesen inter-nationalen Instituten
zu finden sind. Die sind für die Kritiker das
Herrschaftsinstrument der globalen Konzerne
, eine
Ansammlung gesichtsloser Bürokraten
, die einzig
der Logik des Profits folgen
, das teuflische
Gehirn des Weltkapitalismus
, der einer ungerechten
und zerstörerischen Weltordnung
in nichts
nachstehende Demiurg des Bösen also. Indem diese Kritiker
die schönfärberischen Sprachregelungen ihrer Herrschaft
aufgreifen – vom Menschen
, dem die Politik zu
dienen habe, bis zur Globalisierung
, deretwegen
die Politik ihren vornehmen Dienst nicht immer so gut
versehen könne, wie sie dies beabsichtige – und sie gegen
die politischen Verantwortungsträger in IWF und anderswo
zu verwenden suchen, liefern sie in ihrem Protest ein
einziges affirmatives Bekenntnis ab. Sie
bekennen sich zu ihrer geistigen Herkunft, nämlich zu der
Enttäuschung, die noch jeder wohlmeinende Staatsbürger
durchlebt, wenn er seiner Obrigkeit deren fromme Lügen
glauben möchte. Nur fällt ihr Bekenntnis ein wenig
radikaler aus als beim großen Rest der enttäuschten
Staatsbürger.
Die Avantgarde „weltweiter Betroffenheit“
Zu den Tätern gehören ihre Opfer, das Unrecht, das die
einen wenigen begehen, widerfährt vielen anderen, die –
so will es die moralische Logik nun einmal – deswegen,
weil es ihnen widerfährt, prinzipiell im Recht sind – und
in genau dieses Recht werden von den Gegnern der
Globalisierung
alle gesetzt, auf die sie als Zeugen
der menschenverachtenden
Qualität dieses
Systems
deuten können. Und das sind alle, die sie
aus dem verelendeten Fußvolk des globalen Imperialismus
an Betroffenen
und Leidtragenden
zusammensammeln und als Opfern ausdrücken
können, was zu ihrer Stilisierung des
Kapitalismus als skandalöse Unverantwortlichkeit passt.
Unter der Leitlinie Unbehagen an der
Globalisierung
machen sie sich auf die Suche nach
einer gemeinsamen Betroffenheit
– und da stehen
dann alle, die sich nur irgendwie einer
Verliererseite des internationalen Weltgeschäfts
zuschlagen lassen, Seit’ an Seit’ zusammen und in allem,
was sie in ihren sehr disparaten Interessen wollen und
tun, unterschiedslos im selben moralischen Recht – in dem
nämlich, in das ihre Betrachtung als Opfer ungerechter
Behandlung sie setzt. Arme Staaten
, die ihr ganzes
Land für die Teilnahme am Weltmarkt hergerichtet und
entsprechend vor die Hunde gehen lassen haben, ebenso wie
verarmte Bevölkerungen
und landlose Bauern
,
die die Armut dieser armen Staaten ausbaden dürfen,
Arbeitslose
ebenso wie viele der Unternehmen, die
sie entlassen haben – wenn sie nur keine „Multis“ sind!
–, nationalistische Gewerkschaften
ebenso wie
Kleinproduzenten aus Drittweltstaaten
, deren
Produkte diese Gewerkschaften nicht ins Land lassen
wollen, Umweltschützer
, die Produkte sauberer,
aber etwas teurer haben wollen, ebenso wie
Konsumentenvertreter
, die den Konsum gerne
billiger hätten – alle zeugen sie immer nur von ein und
demselben Skandal, dem nämlich, dass die
Globalisierung
allenthalben unschuldige, zu
Unrecht Betroffene schafft. Zweitens aber auch davon,
dass das Gute, für das die vielen Opfer in ihrer Unschuld
stehen, sich gleichwohl nicht unterkriegen lässt.
Insofern die in den Globalisierungsgegnern
ja nur
ihre mutige Avantgarde gefunden haben, sind sich die
aufmarschierten Kritiker einfach sicher, dass die
Globalisierung
auch eine riesige Welle von
globalem Widerstand gegen die sich ausbreitende Macht des
Kapitals
schafft. Sie jedenfalls bekennen sich nicht
nur zu den sittlichen Prinzipien, die ihnen wichtig sind,
sondern wollen auch praktisch für sie einstehen.
Sie legen Wert darauf, das Gute nicht nur zu wollen,
sondern auch etwas für es zu tun, und deswegen
phantasieren sie sich den Widerstand
der sie
bewegt, als Bewegung
im Weltmaßstab zurecht. Weil
sie in ihrer Empörung eben nicht nur empört sein, sondern
auch etwas bewegen
wollen, umarmen sie geistig an
Betroffenen
, wen sie nur können. Niemanden aus-,
sondern umgekehrt möglichst alle einzugrenzen, die
verschiedensten und einander auch entgegengesetzten
Interessen aufzuführen, um sie auf das größte gemeinsame
Vielfache ihrer Betroffenheit
bringen und darüber
kommensurabel machen zu können, so dass sich alle im
Geiste zu einer riesigen Welle
addieren lassen –
das ist der praktische Vorteil dieser Kritik, die mit dem
kapitalistischen System
so abstrakt, nämlich ganz
ohne die Kritik der Sachgesetzlichkeiten, die dieses
System zu einem solchen machen, abrechnet. Die erlaubt es
in ihrer gleichmacherischen Ignoranz einem dann auch, die
vielen unschuldigen Opfer des kapitalistischen
Weltgeschäfts kurzerhand zu einer riesigen
antikapitalistischen Front umzulügen und auf diesem Wege
dem eigenen Ethos, auch praktisch für die Besserung der
Welt zu sorgen, gerecht zu werden – so dass hinter jeder
Position und Fraktion, die sich in Prag zum Protest
aufstellt, dann die vor Tatkraft strotzenden Massen aller
vom Imperialismus Entrechteten und Geknechteten stehen:
ArbeiterInnen (…) indigene Volksgruppen (…)
UmweltaktivistInnen (…) ÖkologInnen und so weiter werden
in Solidarität miteinander arbeiten, in dem Verständnis,
dass ihre verschiedenen Kämpfe nicht voneinander isoliert
sind.
Dumm daran bloß, dass es diese Kämpfe
und den ganzen antiglobalen Widerstand
nur als
Beschwörung derer gibt, die ihn in Prag beschwören.
Die Kultur zum Protest
Und als ob sie das selbst wüssten, lassen die Kritiker
ihrer Phantasie dann auch noch praktisch freien Lauf und
schreiten in Sachen globaler Widerstand
stellvertretend für die unterdrückte Menschheit zur Tat.
Die Repräsentativauswahl der guten Menschheit, die in
Prag für globale Gerechtigkeit mobilisieren
will,
stellt vordringlich sich selbst als
glaubwürdigen Vertreter der guten Sache vor, für die sie
eintritt – und liefert der interessierten
Weltöffentlichkeit eine überzeugende Vorstellung davon,
wie gut sich ein globaler Widerstand
, den es nicht
gibt, wenigstens ersatzweise inszenieren lässt. Seine
Avantgarde praktiziert ihn einfach als symbolische
Interaktion. Locker geht der Protest gegen die Macht der
Konzerne zur Demonstration über, dass die Protestierer
in ihrem Tun nicht weniger erfindungsreich und
effektiv (sind) als die Manager von Großkonzernen
.
Das macht guten Eindruck. Viel Musik und Tanz, Partys auf
Straßen, Solidaritätsaktionen, zinsfreie Kredite –
saukreativ symbolisch vor großen Bankpalästen vergeben –,
angelegte Gärten und Luftballons bezeugen, dass die
moderne Protestgeneration
ein professionelles
Management hat, das eindrucksvoll Bilder inszeniert,
die Journalisten gefallen
. In Trainingscamps üben
Demonstranten die Technik gewaltfreier Rebellion
und andere kreative Inszenierungen, mit denen die
Kritiker der demokratischen Öffentlichkeit vor allem
ihren guten Willen glaubwürdig vor Augen stellen
wollen. Aber nicht alle sehen ihr praktisches Ethos in
Kindergarten-Idyllen dieser und anderer Art befriedigt.
In ihrer konstruktiven Gesinnung sehen sie sich bei der
Wahrnehmung der Pflicht, die Welt zu verbessern, zu mehr
und Höherem berufen, und die machen sich dann zum
nächsten Übergang in Sachen praktizierter globaler
Widerstand
auf. Zu einem kleinen ‚Marsch durch die
Institutionen‘ entschließen sich da einige
Weltverbesserer – aber nur, um sich in der Pose von
Beratern der Behörden zur Pflege des Weltkredits zu
gefallen, die genau wüssten, wie man das, was die tun,
besser tun könnte. So viele Menschen auf der
Welt sind arm, weil kein Kapital ihre Arbeit lohnend
gebrauchen kann? Ja, man kann doch auch gut mit Arbeit in
Armut leben, und schon haben sie ein passendes Rezept
gegen die parat: Wo der IWF Länder zwingt
,
Monokulturen für der Export anzulegen
und dafür
die dort ansässige Bevölkerung vom Land gejagt wird,
warten sie mit der Idee einer doch vielleicht auch
vorstellbaren Subsistenzwirtschaft
auf. Auch den
armen Ländern
könnte geholfen werden, denn wer vom
Weltmarkt nicht leben kann, soll das doch mal mit
lokalen Märkten
versuchen. Und wo die Länder der
3. Welt unfähig sind, die Kredite und ihre hohen
Zinsen zurückzuzahlen
, sollen IWF und Weltbank doch
einfach ein Einsehen haben, Schulden streichen und neue
Kredite ohne erpresserische Auflagen
vergeben. Für
das Abstellen der allergröbsten Notlagen könnte man so
doch etwas tun
, und mit Appellen dieser und
ähnlicher Art tragen sie das menschenfreundliche Ideal
einer imperialistischen Welt ohne ungleiche Verteilung
des Reichtums
vor, also einer Konkurrenz, die überall
für Wachstum und Wohlstand sorgt und keine Verlierer
kennt: Sie jedenfalls können sich sehr gut vorstellen,
dass dies für die angefeindeten Institutionen eine
zumindest erwägenswerte, alternative und moralisch
akzeptable Leitlinie ihrer Politik wäre. Wenn die bei
ihren Kreditvergaben und Umschuldungen doch nur einmal
über ihren Schatten springen und die Konsequenzen einfach
ignorieren würden, die akkumulierte Schulden nach sich
ziehen – das wäre doch schon mal was, zumindest ein
Schritt, und so kommt die ganze Kritik dieser engagierten
Staatsbürger und guten Menschen auch in praktischer
Hinsicht an ihr gerechtes Ende: Sie fasst sich in dem
Antrag an die Verantwortlichen zusammen, ihrer
Verantwortung nachzukommen.