Zwei Anmerkungen zu ‚Butscha!‘
Aus der Kleinstadt Butscha gibt es schlimme Bilder zu sehen. Also sieht Bild hin. Was auf den Bildern aus Butscha zu sehen ist: das Grauen des Kriegs; das, was ‚die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln‘ anrichtet; und auch, dass beim groß- und kleinkalibrigen Töten und Zerstören die ach so zivilisatorische Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten mal wieder nicht eingehalten worden ist. Was auf den Bildern definitiv nicht zu sehen ist: ungefähr alles, was die deutsche Öffentlichkeit – offenbar auch stilbildend für ihr Publikum – darin entdeckt und daraus folgen lässt.
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Systematischer Katalog
Zwei Anmerkungen zu ‚Butscha!‘
Aus der Kleinstadt Butscha gibt es schlimme Bilder zu sehen. Also sieht Bild hin:
„Es sind furchtbare Aufnahmen. Man möchte weggucken. Aber es ist wichtig, dass wir hingucken. Dass SIE, liebe Leserinnen und Leser, Bescheid wissen, was Putin tut... Langsam fährt die Kamera durch Butscha, die lange Straße entlang... Links und rechts filmt die Kamera Leichen. Eine hat auf dem Rücken gefesselte Arme. Ein Mann liegt auf seinem Fahrrad, seine Einkäufe neben ihm. Die Kamera muss Kurven machen um die Leichen. Ein Bildausschnitt weist einen Kreisverkehr aus, links ist ein Wohnblock, zwei nebeneinanderliegende Leichen. Freunde. Wer die Bilder der Toten von Butscha sieht, dem schießen die Tränen in die Augen. Offensichtlich wehrlose Menschen, Bürger, Zivilisten, unbewaffnet, ermordet von russischen Soldaten. Frauen und Mädchen wurden mehrfach gefangen gehalten, immer und immer wieder vergewaltigt... Menschen, die in Kellern gehalten, gefoltert, getötet wurden. Vergewaltigte Mädchen und Frauen... Andere Fotos zeigen Frauenleichen, nackt und verbrannt zwischen Autoreifen, offenbar geschändet mitten auf der Landstraße. Diese Hand gehört einer liebenden Mutter. Ihr Name ist Irina. Eine Hand, die unserer Nachbarin, unserer Tante, unserer Mutter gehören könnte. Diese Frauenhand, die symbolisch für das Grauen von Butscha steht. Für ein furchtbares Kriegsverbrechen, das Putins Mörder-Truppen in der Stadt bei Kiew begingen.“ (Bild, 6.4.22)
I. Von den Bildern des Kriegs
Was auf den Bildern aus Butscha zu sehen ist: das Grauen des Kriegs; das, was ‚die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln‘ anrichtet; und auch, dass beim groß- und kleinkalibrigen Töten und Zerstören die ach so zivilisatorische Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten mal wieder nicht eingehalten worden ist. Was auf den Bildern definitiv nicht zu sehen ist: ungefähr alles, was die deutsche Öffentlichkeit – offenbar auch stilbildend für ihr Publikum – darin entdeckt und daraus folgen lässt.
Sie sieht die Schwelle zur Barbarei
überschritten,
das Gegenteil der Zivilisation
, weil
nicht-uniformierte und unbewaffnete Opfer zu Schaden
gekommen sind, für die in der zivilisierten Staatenwelt
das Attribut ‚unschuldig‘ reserviert ist. Und zwar – nach
fachkundigem westlichem Urteil – nicht bloß als
bedauerlicher, aber wenigstens nichtbarbarischer
‚Kollateralschaden‘, sondern gezielt. Dass Journalisten
beim Anblick der Bilder und beim Rückgriff auf solche
Prädikate ihrer moralischen Empörung freien Lauf lassen,
ist offensichtlich und so weit auch normal. Auffällig ist
freilich auch, was und wer hier für die Normalität
moralischer Gefühle die Maßstäbe setzt: Ziemlich
feinfühlig folgt die Empörung den Unterscheidungen, auf
die die staatlichen Gewalttäter selbst in ihrem
internationalen Kriegsrecht sich geeinigt haben –
offenbar in der Gewissheit, wozu sie bei der Austragung
ihrer Gegensätze im Prinzip und im Detail fähig und
willens sind. Das Gegenteil der Zivilisation
ist
derlei Gewalt also schon deswegen nicht, weil im besagten
Kriegsrecht mit seiner supranationalen Strafinstanz –
Gipfel des zivilisationsverbürgenden Völkerrechts –
immerhin ein ganzer, fein abgestufter Katalog von
Kriegshandlungen festgehalten wird, mit denen sie fest
rechnen und bei denen sie sich offensichtlich nicht
gerade von moralischen Empfindsamkeiten leiten lassen.
Genauso wenig geben die Bilder für das Urteil her, das
gewiss nicht erst seit ‚Butscha‘, seitdem aber so fest
steht, dass der Ortsname selbst schon alles sagt: Ein
enthemmter, totaler Krieg eines totalitären
Regimes
wird da geführt, in dem Putins
Mörder-Truppen
zu Werke gehen, eine russische
Soldateska
, die zerstört, brandschatzt und mordet
nach Gusto
(SZ, 4.4.22).
Das Prinzip dieses Urteils ist so schlicht wie verkehrt:
Wenn solche Taten im Kriegsverlauf begangen werden, die
nicht nur grausam, sondern so was von verboten sind, dann
– so wird da gedacht – geht es auch um sie; dann
besteht der Kriegszweck selbst in nichts anderem, als
dass bar jeden Grundes über Leichen gegangen wird,
vorzugsweise über jene von Leuten, die niemandem etwas
zuleide getan haben. So wird ausgerechnet im härtesten
Gegensatz von Staaten, die ihr Volk zu den
Waffen rufen oder zur Heimatfront erklären, die
politische Qualität des Gemetzels ignoriert.
Fatal ist diese verkehrte Vorstellung nicht deswegen,
weil Putin und seine Armee mehr Verständnis, zumindest
ein milderes Urteil verdient hätten; auch nicht, weil
ihre Kriegsziele eigentlich viel nobler wären als die
Taten, die man deswegen als bedauerliche Ausreißer zu
verbuchen und unter dem Strich zu verzeihen hätte. Es ist
eher umgekehrt: Krieg wird so zum Beutezug herabgestuft,
zum persönlichen Ausraster von Soldaten und/oder ihres
Befehlshabers. Letzterer wird damit zwar übelst
beschimpft, aber gar nicht als das, was er ist:
politischer Führer einer Nation im Krieg; mit der
berufsbedingten Autorität, die Reichweite des
Existenzrechts der Nation zu bestimmen; Spitze eines
ganzen Machtapparats und Oberbefehlshaber einer
Zerstörungsmaschinerie, die für viel mehr ausgelegt, auf
viel mehr vorbereitet und mit viel mehr befasst ist als
bloß mit der Wunscherfüllung eines bösen Menschen.
Verurteilt wird eine moralische Karikatur und sonst
nichts. Die SZ bestätigt das auf ihre Weise, wenn sie ein
totalitäres Regime
für einen derart enthemmten
totalen Krieg
verantwortlich macht. Sie möchte, was
die Bilder zeigen, als extra verwerfliche Ausnahme
verstanden haben, die die Regel eines sich selbst
hemmenden, behutsam selektiven Militäreinsatzes
bestätigt, die die Strategen der Münchner Redaktion in
den gigantischen Kriegsvorbereitungen zivilisierter
Staaten offenbar leicht entdecken können.
Dass Bilder von geächteter Gewalt auch anders und für anderes sprechen können, beweisen die Kollegen von der FAZ:
„Kampf um die Bilder des Krieges! Unter den vielen verstörenden Videos, die über die sozialen Medien verbreitet werden, ist eines, das angeblich von ukrainischen Soldaten begangene Kriegsverbrechen zeigt. Auf unscharfen Bildern ist zu sehen, wie Uniformierte mit den blauen Armbändern der ukrainischen Truppen gefangene russische Soldaten verhören und ihnen schließlich aus nächster Nähe in die Beine schießen. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Video echt ist. Im Krieg verrohen Menschen unweigerlich. Und die ukrainischen Soldaten verteidigen ihr Land gegen einen gewalttätigen Eindringling, der mutwillig ihr bisheriges Leben zerstört hat und gezielt massenhaft Zivilisten umbringt – ihre Nachbarn, Verwandten, Freunde. Die Gegenwehr der Ukrainer gegen den Terror kann nur erfolgreich sein, wenn es ihnen gelingt, möglichst viele russische Soldaten kampfunfähig zu machen – also zu töten, zu verwunden oder gefangen zu nehmen. Angesichts der Härte, mit der die Kämpfe geführt werden, wäre es ein Wunder, wenn es keine Fälle von Misshandlung russischer Kriegsgefangener gäbe.“ (faz.net, 2.4.22)
Klare Worte zur Reihenfolge von Parteinahme und Urteil:
Die verkehrte Frage nach der gerechten Gewalt wird nicht
daran entschieden, was einer tut, sondern
wer es tut. Erfolgreich
ist die Ukraine,
wenn ihre Soldaten genauso unweigerlich verrohen
,
wie der Russe es so systematisch und auf Befehl tut. Die
Misshandlungen werden gar nicht dementiert, russisches
Gemetzel rechtfertigt Gegenterror; der steht
dann nicht für das Ende der Zivilisation, sondern für die
Späne, die dort fallen, wo gegen das Böse und für das
Gute gehobelt wird.
Und das ist auch letztlich die Hauptsache, für die die Bilder aus Butscha stehen – ein Mahnmal:
„Diese Fotos müssen uns verändern! Jetzt muss ein Ruck durch Deutschland gehen, besonders auch durch die Regierung. Waffenlieferungen müssen schnell und unbürokratisch erfolgen; was wir haben, muss in die Ukraine.“ (Bild, 5.4.22) Nicht weniger zwingend lautet die Botschaft ans gehobenere Publikum: „Butscha und die Gräuel des Krieges erzwingen höheren Einsatz. Die Optionen werden immer weniger. Der Faktor Zeit wird immer wichtiger. Bald wird die russische Soldateska zum nächsten Schlag im Osten und Süden der Ukraine ausholen. Wer Putin jetzt treffen will, muss nicht nur sein Militär schlagen und die zum Widerstand entschlossene Ukraine versorgen. Er muss auf den internen Schock in Russland zielen, auf das Budget, die Renten, die Solde. Erdgas und Öl waren in Putins Strategie die wichtigste Waffe. Sie kann auch gegen ihn verwendet werden.“ (SZ, 5.4.22)
Butscha mahnt zu mehr kriegerischer Gewalt, also
ironischerweise zu genau dem, was auf den Bildern
wirklich und einzig zu sehen ist, sowie zu einer gesunden
Dosis Wirtschaftskrieg mit „Shock and Awe“ gegen die
russische Zivilgesellschaft. Ein bisschen
Enthemmung
muss offenbar schon sein, damit der
gute Krieg gut funktioniert.
II. Von dem Krieg der Bilder
Was sich mit solchen Bildern anfangen lässt, ist also bloß das: die Bebilderung einer feststehenden Parteilichkeit. Leisten sollen sie aber nicht weniger als die Begründung der Parteinahme, so als wären sie unwiderlegbare Argumente. Wirklich als Urteil genommen, liegt da ein Zirkelschluss vor; an dessen Autoren und Followern ausgedrückt, handelt es sich um eine Heuchelei. Der praktischen Absicht nach wird so aus dem Recht der richtigen Seite auf kriegerische Gewalt, das durch seine Ausmalung mit möglichst vielen Leichen im Kreis herum sich selbst bestätigt, die Pflicht zu deren bedingungsloser Unterstützung mit Waffen und besten Wünschen. Woran man merkt, dass diese Aufklärung durch Anschauung eben überhaupt kein ‚bloß‘ darstellt, sondern offenbar ein unentbehrliches Element der Pflege der Kriegsmoral ist. Die Bilder liefern da zweifellos schlagende Argumente, mit denen die Bürger sich von ihrer Parteilichkeit endlos überzeugen können, sich darin immer wieder bestärken, vielleicht den einen oder anderen Zweifel ausräumen oder zumindest den Genuss der moralischen Gewissheit auffrischen.
Was sich mit solchen Bildern überhaupt nicht anstellen lässt: irgendjemanden von der Parteilichkeit abzubringen, zu der er sich schon entschlossen hat – und das sind schließlich alle, die sich am ‚Krieg der Bilder‘ beteiligen, sei es als passive Betrachter oder als aktive Multiplikatoren. Entsprechend geht es auf diesem Schlachtfeld zu: Wenn die Horrorbilder die eigene Parteilichkeit nicht bestätigen, dann sind sie – heißt es – mindestens aus dem Zusammenhang gerissen; der würde nämlich deutlich machen, wie gerechtfertigt die dort zu sehende Gewalt – vielleicht nicht in jedem einzelnen Fall, aber im Großen und Ganzen – sei; schließlich produziert auch die Gegenseite Bilder, die einen nicht kaltlassen können. Und wenn sich die abgelichteten Grausamkeiten dann doch nicht wirklich rechtfertigen lassen, dann sind sie offensichtlich zu schön, um wahr zu sein, also ‚total fake‘.
Der Kampf um die Bilder
, das wechselseitige
Vorzeigen der Grausamkeiten, die Staaten ihre Bürger als
lebende Nationalfähnchen begehen und erleiden lassen, ist
also ein Taubstummendialog. Der wird darüber überhaupt
nicht überflüssig, sondern umso verbissener geführt. Alle
Seiten – erst recht im Zeitalter des Internets – werden
stets mit frischer Ware versorgt. Mindestens so lange,
wie der wirkliche Krieg andauert.