Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
16+1 Leichen in Erfurt:
Eine „unbegreifliche Tragödie“ und das Umdenken, das dennoch aus ihr folgt
Die Öffentlichkeit verurteilt den Amoklauf eines Schülers und verrät damit lauter Wahrheiten über die „Leistungsgesellschaft“. Von dem Versuch, „die Frage der Ehre“ von ihren (gewaltsamen) Konsequenzen zu trennen.
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16+1 Leichen in Erfurt:
Eine „unbegreifliche Tragödie“ und
das Umdenken, das dennoch aus ihr folgt
Auf den Amoklauf von Erfurt reagiert Deutschland prompt und unisono mit dem Ausdruck des Entsetzens, „unfassbar“, „unerklärlich“. Bundespräsident Rau, oberster Interpret des politisch Korrekten, spricht dasselbe als Vorschrift und Erklärungsverbot aus.
„Wir sind ratlos. Wir haben nicht für möglich gehalten, dass so etwas bei uns geschieht. Wir sollten unsere Ratlosigkeit nicht zu überspielen versuchen mit scheinbar nahe liegenden Erklärungen. Wir sollten uns eingestehen: Wir verstehen diese Tat nicht.“
Das ist freilich eine dicke Lüge. Die bürgerliche Welt versteht diese Tat ganz ausgezeichnet, wie übrigens jeden Mord. Wie sonst könnten Krimis verstanden und genossen werden, wie könnte der Zuschauer mit dem Kommissar um die Entdeckung des Täters wetteifern, wenn er die Motive nicht verstünde, über die sich der Täter verrät. Entgegen der beschworenen Ratlosigkeit sind die Zeitungen voll mit einfühlsamen Erklärungen.
„Robert flog, im Februar, zwei Monate vor der Abiturprüfung, von der Schule. Diese härteste Maßnahme, die eine Schule verhängen kann, wirkte für den strebsamen jungen Mann wie ein Todesurteil. Das Abitur war weg, unwiederbringlich, und das Studium damit auch. … Eine Blamage, die er vor allen geheim hielt. … Deshalb die Rache vom Freitag, diese Serie von Hinrichtungen und Bestrafungen.“ (Der Spiegel 18/2002)
Andere steuern schulpolitische Details bei –
„Thüringen ist das einzige von 16 Bundesländern, in dem ein Schulverweis kurz vor dem Abitur den Weg zu einem Schulabschluss überhaupt verbaut. … Wie kann es sein, dass ein Schüler, nachdem er zum zweiten Mal nicht zum Abitur zugelassen wurde, in ein biographisches Nichts fällt? … Doch zeigt dies ein grundsätzlicheres Problem des deutschen Schulsystems: Auch in andern Bundesländern herrscht das Prinzip der Selektion. Schüler werden schon früh nach Leistung sortiert und damit Lebenschancen bereits nach der vierten Klasse festgeschrieben. … So werden Einzelne entmutigt, und in den Schulen wird schleichende Verwahrlosung produziert. Diejenigen, die Fehler machen, stigmatisiert das System zu schlechten Schülern. Sie werden vom Gymnasium in die Realschule und von dort in die Hauptschule exportiert – oder fallen, wie im Extremfall des Robert Steinhäuser durch alle Raster.“ (Die Zeit 19/02, S.31)
– wieder andere kulturkritische Verallgemeinerungen:
„Erfolg und Leistung sind die letzen Maßstäbe dieser Gesellschaft. … Wenn der Mensch ausschließlich dadurch definiert ist, dass er Arbeit hat oder Geld hat oder die Zulassung zum Abitur, dann ist er ohne Arbeit oder Geld oder Abitur das schiere Nichts.“ (Die Zeit 19/02, S.37)
Experten melden sich, die verstehen, worum es so einem Nichts dann noch zu tun ist:
„Dem Amoklauf scheint der soziale Tod vorauszugehen: Ein Mensch fällt aus seiner Ordnung der Dinge und brütet im Privaten und im Inneren über seinen Unglücksvorräten. Die Erfahrungen von Unglück, Demütigung, Kränkung sind dann am explosivsten, wenn sie nur noch in sich kreisen. Die Vorstellung, andere Menschen in Furcht und Schrecken versetzen zu können, wird zu einer Quelle von Macht- und Überlegenheitsgefühlen. … Jungen lernen, dass sie sich durchsetzen müssen. Sie brauchen Stützen für ihr lädiertes Selbstwertgefühl.“ (Die Zeit 19/02, S. 31)
Es ist auch nicht unbekannt, dass das lädierte Selbstbewusstsein auch schon vor der finalen Satisfaktion aus der puren Vorstellung der Rache Befriedigung ziehen kann und sich damit zum Kunden einer Unterhaltungsindustrie qualifiziert, die Rache-Phantasien bedient. Auch die richtige Reihenfolge von Horrorvideo und Amoklauf ist also verstanden. Überhaupt wird alles so sehr verstanden, dass nicht ein Artikel im deutschen Blätterwald, sondern gleich mehrere sich wundern müssen.
„Nach dem, was jeder Lehrer, Sozialpädagoge, Polizist und hinreichend aufmerksame Elternteil über die seelische Verwahrlosung vieler junger Menschen in diesem Land weiß, muss es eher verwundern, dass derartiges Unheil nicht häufiger geschieht.“ (Die Zeit, 19/02, S. 1)
I.
Die Interpreten verstehen die Tat und das ist kein Wunder. Sie befassen sich ja mit ihresgleichen, mit der Welt, in der sie leben, und damit, wie sie mit den Herausforderungen dieser Welt fertig werden. Dabei präsentieren sie die Stufenleiter des normalen Wahnsinns, den sie mit dem Täter von Erfurt teilen.
Erstens ist ihm und ihnen klar, dass die zu Unrecht so genannte „Leistungsgesellschaft“ schon von früher Jugend an eine große Zahl Verlierer produziert, die dann beschissene „Lebenschancen“ haben. Warum das so ist, interessiert Journalisten und Amokläufer weniger; deshalb ein kurzer Nachtrag: Tatsächlich verlangt die Schule nicht die Erfüllung bestimmter Leistungsanforderungen, die mit entsprechender Vorbereitung im Prinzip alle erfüllen könnten, sondern veranstaltet zwischen ihren Schülern einen Vergleich, bei dem immer welche scheitern müssen, wenn andere relativ besser abschneiden. Die schulische Selektion erbringt die Leistung, für die es hierzulande Bildungsanstalten gibt: Sie verteilt die Heranwachsenden auf die unabhängig von ihren Lernleistungen qualitativ und quantitativ vorgegebenen Positionen einer Klassengesellschaft, öffnet den einen den Weg zu höheren Position und Einkommen und verdammt die anderen zu viel Arbeit und Armut.
Zweitens wissen Journalisten und Amokläufer, worauf es angesichts dieser Herausforderung ankommt: Auf Kritik an Schule und Gesellschaft nicht! Es kommt darauf an, bei den Erfolgreichen zu landen und nicht bei den Verlierern. Das ist das Schöne an der freiheitlichen Klassengesellschaft, dass entlang der relativen Leistung eines jeden sein Schicksal entschieden wird. Jeder ist seines Glückes Schmied und hat – selbstverständlich in Konkurrenz zu anderen – aus sich so viel zu machen, wie er kann und will. Schüler wie Lehrer sehen es so, dass an dem, was die Schule aus einem macht, sich zeigt, was man für einer ist. Der Platz, den der Leistungsvergleich einem Schulabgänger in der Gesellschaft zuweist, offenbart, was an Begabung und Willenskraft in einem steckt: Jeder kriegt, was er verdient, und landet auf dem gesellschaftlichen Rang, auf den er gehört. Die quasi rassistische Ideologie der Erziehung macht das Ergebnis der Selektion zu einem Urteil über die Person und gibt Verlierern wie Siegern der Konkurrenz die schöne Auskunft mit auf den Weg, dass ihnen entspreche, was aus ihnen geworden ist.
Drittens ist den verständnisvollen Kommentatoren ganz klar, dass der zum „pursuit of happiness“ berechtigte und verpflichtete moderne Mensch blöd genug ist, im Misserfolgsfall mehr an dem negativen Urteil über seine werte Person als an dessen materiellen Folgen, der Armut, zu leiden. Zum Erfolg verpflichtete Zeitgenossen machen den Misserfolg in der Konkurrenz sich selbst zum Vorwurf und verachten sich, wenn sie nicht gut genug für das sind, worum es ihnen einzig geht: den Erfolg. Aktiv werden sie dann leichter in der Pflege ihres „lädierten Selbstwertgefühls“ als für eine Korrektur des wirklichen Misserfolgs. Der eine hält sich für einen ewigen „loser“ und hält an seinem Erfolgsmaßstab eisern fest, indem er sein untaugliches Selbst richtet. Auch unter Schülern ist Selbstmord nicht so selten. Andere wie Robert S. inszenieren einiges, um sich abnehmen zu können, dass sie – allen widrigen Umständen und ihrer realen Lage zum Trotz – zu den „winnern“ gehören und nicht zu den vielen „losern“, die sie verabscheuen.
Viertens teilen die besonnenen Betrachter mit dem Amokschützen sogar die allgemeine Anerkennungssucht. Ihre Zitate setzen den Ausschluss vom Abitur unmittelbar mit Blamage, Unglück unmittelbar mit Demütigung und Kränkung gleich – als ob das dasselbe wäre. Tatsächlicher Schaden gilt ihnen sofort als Schaden am „Image“. Ihnen ist klar, dass der ganze kompensatorische Selbstbetrug nichts wert ist, wenn es seinem Träger nicht gelingt, dafür Beifall und Bestätigung von einem Publikum einzusammeln. Sie verstehen, dass ein blamierter Konkurrenzgeier kein Abitur mehr braucht, sondern die Wiederherstellung seiner gekränkten Ehre. Absolut gleichgültig gegen die Frage, ob der Schulverweis eine im juristischen Sinn gerechte Antwort auf die Fälschung ärztlicher Atteste ist, betrachtet ihn der gesellschaftlich geschätzte Größenwahn eines geborenen „winners“ – „gesundes Selbstbewusstsein“ heißt das unter anderen Umständen – als Diebstahl an seinem Recht auf Erfolg. Nur vor diesem Maßstab ist der Schulverweis ein Unrecht, eine Beleidigung sogar, die der Beleidigte rächen muss, und eine Schmach, die er verdient, wenn er sie auf sich sitzen lässt. Sogar die letzte Spitze des Wahnsinns können brave Journalisten nachfühlen: Dass einer dem bodenlosen Idealismus der Ehre, dem verweigerten Respekt, den er sich wieder zu verschaffen gedenkt, sein eigenes Leben und das vieler anderer opfert, finden sie selbstverständlich übertrieben, aber keineswegs jenseits ihres Horizonts. Sie selbst wissen ja, was ihre liebste intellektuelle Beschäftigung ist, was sie unter Freunden und Kollegen an Angeberei, Mobbing und Ehrverletzung austeilen, wie schwer sie Zurücksetzungen verdauen und mit was für Verwünschungen sie diese zurückgeben.
II.
Nach dem Verständnis und als Einspruch dagegen kommt der Rückruf:
„Was immer den Täter getrieben haben mag – sei es Rache oder Größenwahn, sei es Enttäuschung, Verzweiflung über erlittene Kränkungen oder Hass auf übermächtige Autoritäten –, nichts davon vermag Art und Umfang der Tat zu erklären. Unzählige Menschen sind von ähnlichen Gefühlen geplagt und denken dennoch nicht im Traum daran, sich mit Pistole und Pumpgun auf den letzten Weg zu machen. … Amokläufe sind derart selten, dass sie sich unmöglich aus Tatsachen oder Fiktionen erklären lassen, die in einer Gesellschaft gang und gäbe sind.“ (W. Sofsky, Focus 18/02, S.18)
Für solche Argumente hält sich die bürgerliche Welt wissenschaftliche Psychologen: Die gewussten und noch einmal aufgeführten Handlungsgründe des Rächers, die Gedanken und Anliegen also, derentwegen er seine Tat unternimmt, werden als eine zwanghafte Determination des Seelenapparats missverstanden, nur um dann die Unvollständigkeit dieser Determination aufdecken zu können: Andere gekränkte Ehrnickel schießen nicht! Also dürfen die bekannten Gründe nicht als Gründe der Handlung gelten. Der Experte von Focus meint zwar, dass Steinhäuser und andere Leuten von „ähnlichen Gefühlen“ geplagt werden, will aber gar nicht wissen, worin beide sich unterscheiden: Steinhäuser hält so konsequent am Standpunkt seiner Ehre fest, mit der seine ganze Existenz steht und fällt, dass er ihrer Wiederherstellung sein ganzes, dadurch sehr kurzes Leben weiht. Andere mit demselben Rachebedürfnis bleiben so weit berechnende Realisten, dass sie sich beleidigt zusammenreißen und sich mit den Gehässigkeiten des zivilen Umgangs schadlos halten.
Das psychologische Argument hat den einen Zweck, die Tat zu verrätseln und der Spekulation Raum zu schaffen: Alles ist jetzt drin, von der verkorksten Psyche des vielleicht doch „richtig kranken“ Täters bis zum Wiedererscheinen „des Bösen“, an das eine aufgeklärte Welt immer wieder einmal erinnert werden muss. Die gezielte Verrätselung trennt die Tat von der Gesellschaft, in der sie entsteht, und den üblichen Techniken der Selbstbehauptung in ihr. Mit „uns“ und „unserer Art zu leben“ darf, also kann der Massenmord nichts zu tun haben. Jede Erklärung der Tat wird als viel zu weit gehende Entschuldigung des Täters und Beschuldigung des „Systems“ zurückgewiesen. Die geforderte absolute Missbilligung verlangt ein ebenso absolutes Unverständnis! Dann erst, wenn klar ist, dass keine Selektion, keine beschissene Lebenschance, keine erlittene Kränkung so eine Tat erklären kann, dürfen die alten Argumente wieder auftreten – freilich nicht mehr positiv, als Ursachen für die Entgleisung in Erfurt, sondern negativ: als Versagen eigentlich guter Institutionen, die mit ihrem Versagen einem kranken Hirn niemals Gründe, aber doch Anlässe für seine kranken Schlüsse geliefert haben. Da ist zuerst das Elternhaus, das, zu lauter guten Leistungen – Erziehung, Kontrolle und emotionale Obhut – bestimmt, an ihnen versagt haben muss. Dann die Schule, die entweder zu früh mit der Härte der Notengebung beginnt, Versager zu bald entmutigt und deren Verwahrlosung programmiert, oder eben die jungen Menschen nicht rechtzeitig an Niederlagen gewöhnt. Näher hat das thüringische Schulgesetz versagt, das keine Ersatz-Abschlüsse für gescheiterte Abiturienten vorsieht, und die Leitung des Gutenberg-Gymnasiums, die es versäumte, dem womöglich sogar rechtlich nicht korrekten Schulverweis eine kleine Aussprache nachzuschieben und dem Ausgeschlossenen andere Bildungswege aufzuzeigen. Versagt hat die Gesellschaft, die Versager nicht auffängt, der Jugendschutz, der Horrorfilme und Gewaltvideos nicht genügend indexiert, das Waffengesetz, die Schützenvereine und so fort. Wenn man die Ursachenforschung dank der Argumentationshilfen der Psychologie nur richtig anlegt, gerät sie automatisch zu einer Liste von Verbesserungsvorschlägen.
III.
Mit solchen tut sich der Bundespräsident bei seiner Trauerrede hervor; beredt widerruft er seine Rat- und Sprachlosigkeit mit einem Appell zur Menschlichkeit in dieser harten Leistungsgesellschaft.
„Unsere Kinder und Schüler müssen sich aneinander messen. Sie müssen lernen, Konkurrenz auszuhalten. Ohne Leistung, ohne Leistungsbereitschaft wäre die Schule wirklichkeitsfremd. Immer muss aber klar sein, dass die Beurteilung einer Leistung kein Urteil über eine Person ist. Kein Schüler, kein Mensch ist ein hoffnungsloser Fall. … Niemand darf abgedrängt werden, niemand darf an einen Punkt kommen, an dem er glaubt, sein Leben sei nichts wert, weil er in einem bestimmten Bereich nur wenig leisten kann, weil er „nichts bringt“, wie man so sagt. Jeder ist wertvoll durch das, was er ist, und nicht durch das, was er kann.“
Natürlich muss es in unserer Gesellschaft weiterhin Konkurrenz und das dazugehörige Scheitern geben. Das darf niemand ändern wollen. Gegen das Scheitern ist nichts zu machen – aber vielleicht dagegen, dass es so schlecht ausgehalten wird. Bruder Johannes will die „Frustrationstoleranz“ fördern – und weiß auch wie: Genau dem Standpunkt, mit dem Robert Steinhäuser so folgenreich ausgerastet ist, der Ehrsucht, dem Bedürfnis nach abstrakter und unbedingter Anerkennung sind verbesserte Angebote zu machen. Wegen eines Versorgungsmangels mit dem Gut Ehre sollte keiner töten müssen: Mehr Trennung zwischen der Niederlage in der schulischen Leistungskonkurrenz und einem Werturteil über die Person sollte möglich sein; auch wenn es der Schule wie der werten Schülerpersönlichkeit in ihrem Verkehr miteinander auf gar nichts anderes als auf Leistung und Tabellenplatz ankommt. Neben der Absage an Aufstiegschancen muss die Schule Raum für die billige Beteuerung schaffen, dass auch Schüler, die „nichts bringen“, wertvolle Menschen sind. Der Aufruf des Präsidenten wird sofort in die Tat umgesetzt. Nach dem Massaker halten Schüler und Lehrer in Erfurt und ganz Deutschland inne und leben, bis der Schulalltag wieder los geht, das Dementi des schlimmen Verdachts, der auf einmal in allen Zeitungen stand: Nein, die Schule ist kein Ort kalter Konkurrenz, sondern ein Hort lebendiger Gemeinschaft; Lehrer und Schüler sind keine Feinde, Außenseiter werden nicht ausgegrenzt, Versager nicht gehänselt. Bis es mit Lehrplan und Notengebung wieder richtig los geht, liegen sich die Trauernden weinend in den Armen und fühlen sich gut.
Wenn dadurch nicht verhindert wird, dass die nötigen
Niederlagen im jugendlichen Lebenskampf in Hass
umschlagen, sollte wenigstens das Mögliche dafür getan
werden, dass dieser Hass nicht auch noch durch schlechte
Vorbilder auf dumme Ideen gebracht wird. Man könnte
gewaltverherrlichende Filme und Videospiele verbieten, um
der Rachsucht die industriell vorgefertigten Gewalt-
und Tötungsmuster, die abgerufen werden können
(SZ 2.5.), zu entziehen, so
dass die böse Phantasie immerhin selber tätig werden
muss. Aber halt! Diese Spiele bieten auch die Gelegenheit
Aggression auszuleben, also abzubauen; und vielleicht ist
mancher virtuelle Massenmörder gerade deshalb kein
realer, weil sich in seinem Kinderzimmer
Killermonster, Sex-Bestien und Zombie-Mörder im
täglichen Wechsel die Klinke in die Hand geben,
spekulativ natürlich, um so gebannt und unschädlich
gemacht zu werden
(FAZ
7.5.). Also Vorsicht mit schnellen Verboten – zur
Stärkung des Jugendschutzes reicht der Bundesregierung
vorerst ein Aufdruck auf den entsprechenden CDs, der
klarstellt, für welche Altersgruppe das jeweilige
Mordvergnügen das Richtige ist.
Sofern das phantastische Spielfeld nicht ausreicht, um den unvermeidlichen Hass in ungefährliche Bahnen zu lenken, muss der Wille zur Humanisierung der Gesellschaft noch radikaler einschreiten: Ohne Schießeisen und Ausbildung hätte Robert S. natürlich nicht so viel Schaden anrichten können; sein Tötungswille hätte sich mit dem Küchenmesser behelfen müssen. Insofern könnte das Verbot von Waffenbesitz und Waffengebrauch wohltätig sein. Aber für Waffen und die Vereine der Waffennarren gilt dasselbe wie für die phantastischen Blutorgien. Schießen als Sport ist wertvoll – es kann günstig auf den seelischen Haushalt wirken und aggressive Außenseiter ins Vereinsleben integrieren. Dennoch ist eine Reform des Waffenrechts unausweichlich: Sportschützen sollten ihre Waffen nicht mit nach Hause nehmen dürfen, und wenn doch, dann ohne Munition. Und wenn sie sich daran sowieso nicht halten, dann sollten sie wenigstens ein paar Jahre älter sein, wenn sie zum Amoklauf aufbrechen.
Man sieht: Es ist gar nicht leicht, etwas zu ändern an diesem Deutschland, damit alles beim Alten bleibt – nur ohne Erfurter Konsequenzen.