Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Was die Franzosen am dringendsten brauchen? Die deutsche Agenda 2010!

Das ‚Handelsblatt‘ wirft seinen Blick wieder mal ins französische Nachbarland. Für gewöhnlich erfährt man dabei etwas über EADS, den französischen Strommarkt, die Schwierigkeiten von Siemens und anderes, was vom deutschen Standpunkt aus wichtig und wissenswert ist. Diesmal ist die Abteilung ‚Soziales‘ dran, und auch da wird man auf Anhieb mit dem Wesentlichen vertraut gemacht: „Frankreich trägt schwer an seiner defizitären Sozialversicherung, an seinem starren Arbeitsrecht und an seiner schwerfälligen Sozialbürokratie“. Es gibt eben Leute, die sehen, egal wo sie hinschauen, einfach immer nur dasselbe, weswegen sie genau genommen in Frankreich auch gar nichts mehr in Augenschein zu nehmen brauchen. Es reicht für sie vollkommen, dass der Präsident dieses Landes bei der kritischen Prüfung seines Staatsbudgets die Kosten für untragbar befindet, mit denen der Unterhalt von Minderbemittelten zu Buche schlägt – schon ist ihnen klar, wie unbedingt recht der Mann mit allem hat, und man erfährt, wie es um die ‚soziale Frage‘ in Frankreich bestellt ist: Ein einziger Skandal ist das soziale Elend dort, weil die staatlichen Kassen, mit denen es betreut wird, „defizitär“ sind.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Was die Franzosen am dringendsten brauchen? Die deutsche Agenda 2010!

Das ‚Handelsblatt‘ wirft seinen Blick wieder mal ins französische Nachbarland. Für gewöhnlich erfährt man dabei etwas über EADS, den französischen Strommarkt, die Schwierigkeiten von Siemens und anderes, was vom deutschen Standpunkt aus wichtig und wissenswert ist. Diesmal ist die Abteilung ‚Soziales‘ dran, und auch da wird man auf Anhieb mit dem Wesentlichen vertraut gemacht: Frankreich trägt schwer an seiner defizitären Sozialversicherung, an seinem starren Arbeitsrecht und an seiner schwerfälligen Sozialbürokratie. (HB, 18.9.07) Es gibt eben Leute, die sehen, egal wo sie hinschauen, einfach immer nur dasselbe, weswegen sie genau genommen in Frankreich auch gar nichts mehr in Augenschein zu nehmen brauchen. Es reicht für sie vollkommen, dass der Präsident dieses Landes bei der kritischen Prüfung seines Staatsbudgets die Kosten für untragbar befindet, mit denen der Unterhalt von Minderbemittelten zu Buche schlägt – schon ist ihnen klar, wie unbedingt recht der Mann mit allem hat, und man erfährt, wie es um die ‚soziale Frage‘ in Frankreich bestellt ist: Ein einziger Skandal ist das soziale Elend dort, weil die staatlichen Kassen, mit denen es betreut wird, defizitär sind. Weil die dort nämlich viel zu schwerfällig eingerichtet sind, um ihre Ausplünderung durch Bedürftige ohne Arbeit wirksam zu unterbinden. Und weil obendrein auch noch die Volksgenossen mit Arbeit von den Regelungen eines starren Arbeitsrechts schmarotzen, das aus absolut unverständlichen Gründen dem einzig senkrechten marktwirtschaftlichen Zugriff auf ihre Arbeitskraft Schranken zieht – klar, dass ein Land in dieser Verfassung schwer an sich zu tragen hat! Untrügliche Indizien sprechen jedenfalls dafür, dass sich in Frankreich in etwa derselbe ‚Reformstau‘ angesammelt hat, wie er von hier bekannt ist. Doch während unsere Verantwortlichen den längst angepackt haben, scheint dem Nachbarn überhaupt erst zu dämmern, woran er leidet und was ihm politisch not tut. Wenigstens etwas.

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Was dem ‚Handelsblatt‘ recht ist, ist der ‚Süddeutschen Zeitung‘ nur billig. Das Blatt nimmt sich das französisch régimes spéciaux genannte Rentensystem für Eisenbahner, Metrobedienstete und andere vor und übersetzt es für seine Leser erst mal politisch korrekt ins Deutsche: Um eine Ansammlung alter, ungerechtfertigter Privilegien in der Altersversorgung für manche Berufsgruppen (SZ, 19.9.) handelt es sich da. Aha. Es ist offenbar so, dass sich im Kopf eines Journalisten auch dieses liberalen Weltblatts beim Stichwort ‚Altersversorgung‘ eine Spirale in Gang setzt. Die dreht sich vor sich hin und spuckt dabei die Urteile aus, die bei diesem Thema unbedingt fällig sind. Zu ‚Renten‘ gehört ‚Reformbedarf‘, der steht für die Maxime ‚runter mit den Renten!‘, und das schreibt er dann auf seine Weise hin. Mit dem Wörtchen alt im Zusammenhang mit Altersversorgung steht fest, dass sich da etwas erneuert gehört, was genau, vermittelt die tiefe Einsicht, über die ein Fachmann für den Ruhestand der öffentlich Bediensteten in Frankreich verfügt: Besondere Rechtsregeln, lat. Privilegien, gelten da doch glatt für besondere Berufsgruppen, wer hätte das gedacht! Nicht, dass er als Journalist etwas gegen Sonderrechte für manche Berufgruppen hätte, z.B. für die eigene oder andere wichtige Verantwortungsträger. Aber für alte französische Eisenbahner kommen sie auf keinen Fall in Frage: Um ungerechtfertigte Ausnahmen vom Regelfall handelt es sich da, weil es für ihn beim normalen Volk für Abweichungen vom normalen Niveau der Altersarmut nach oben eben keine Rechtfertigung gibt. Höchste Zeit also, dass mit diesem Missstand aufgeräumt wird, dessen wahre Dimension sich einem erst recht darüber eröffnet, vergegenwärtigt man sich nur einmal, auf wessen Kosten das Luxusleben dieser Minderheit geht: Pro Jahr kostet den Steuerzahler dieses Rentensystem etwa sechs Milliarden Euro. (SZ, 19.9.) Kaum zu fassen, was der französische Steuerzahler sich von seinem Staat alles bieten lässt. Als deutscher Steuerzahler kann man sich da jedenfalls nur ans Hirn greifen.

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Freilich ist die Rettung nah, unheilbar ist diese notorische französische Krankheit nämlich nicht. Unser Nachbar kriegt nicht nur irgendeine Reform, nein, er kriegt die richtige. Die Regierung dort kommt endlich auch zur politischen Vernunft, und politische Vernunft ist das, was die deutsche Regierung neulich in ihrem Land so vorbildlich durchgesetzt hat: Frankreich bekommt jetzt also auch seine Agenda 2010 .... Der neue Staatschef hat Verschwendung, Ineffizienz und Betrug in den Sozialsystemen den Kampf angesagt – ein überfälliger Schritt. (HB, 18.9.) Aber ob ihm der auch gelingt? So unbedingt begrüßenswert es ist, wenn der Mann sich mit unserer Agenda als Blaupause bei seinen Bonvivants um den angemessenen proletarischen Lebensstandard verdient macht und ihnen den Gürtel enger schnallt (HB, 18.9.): Ob er kann, was er muss, ist schon die Frage. Bei den Redakteuren der SZ herrschen da jedenfalls Zweifel, wissen sie doch, wie sehr diese verwöhnten Franzmänner an ihren Privilegien hängen. Schon immer waren die leicht aufzuwiegeln von Gewerkschaften, bei denen zwar gerade einmal 7,5 % der Beschäftigten organisiert sind – die also absolut kein Recht haben, gegen irgendetwas aufzubegehren –, denen es aber stets gelingt, viele Menschen zu mobilisieren (SZ, 21.9.) – was ja wohl das Allerhöchste bei Anliegen ist, denen jede Berechtigung fehlt. So hat man als deutscher Volksgenosse also nicht nur stolz auf seine Regierung zu sein, weil die einen schon zeitig und überdies dermaßen vorbildlich mit Hartz I bis IV bedient hat. Man hat sich auch noch darüber zu sorgen, ob die Verarmung des Volks links vom Rhein, die die dort Regierenden in Angriff nehmen, so reibungslos über die Bühne geht wie hierzulande. Denn dabei ist ja schon einmal einer eingeknickt: 1995 Juppé, der schon damals die Rentenprivilegien abschaffen wollte, aber nach dreiwöchigen Massenprotesten klein beigeben musste. (SZ, 21.9.) Und dieser Hektiker, der jetzt das Land regiert, stimmt einen Fachmann für erfolgreiches Regieren aus Frankfurt diesbezüglich auch nicht gerade zuversichtlich. Der will offenbar alles sofort und gleichzeitig anpacken (FAZ, 22.9.), anstatt sich sein verwöhntes Volk Schritt für Schritt mit durchnummerierten Reformwerken zur Brust zu nehmen. So läuft er Gefahr, viele Gruppen gleichzeitig gegen sich aufzubringen: von den Schülern, Studenten und Lehrern bis hin zu den Eisenbahnern, deren Gewerkschaft schon einen Streik angekündigt hat. (FAZ, 22.9.) Am Ende versagt auch er am selben Barrikaden-Test, an dem andere vor ihm scheiterten (SZ, 21.9.) – und dann müssen deutsche Journalisten ihren Lesern über die soziale Lage in Frankreich wieder berichten, dass sie so etwas ja schon früh befürchtet haben: Wer mit seiner Agenda zu spät kommt ...