Einleitung
Das Lebenswerk des Michail Gorbatschow: Die große Revision
Da erringt einer das Kommando über die eine der zwei „Supermächte“ der modernen Welt. Er regiert die Sowjetunion, die der Weltmacht des vereinigten demokratisch-kapitalistischen Westens unter Führung der USA Schranken setzt und dessen hochgerüstete Feindschaft aushält. Dieser Neue – einer der „zwei mächtigsten Männer der Welt“ – mobilisiert sein Volk für einen nationalen Aufbruch, der die beträchtlichen Produktivkräfte des Landes effektiver machen und seine Macht zu eigenständigen Eingriffen ins Weltgeschehen sichern soll. – Nach sechs Jahren ist das „sozialistische Lager“, das die Sowjetunion um sich formiert hatte, unwiderruflich aufgelöst. Die sowjetische Macht ist weltpolitisch im totalen Rückzug begriffen, ökonomisch bis an den Rand der Existenzunfähigkeit heruntergewirtschaftet. Noch bevor der doppelte Staatsbankrott fertig ist, wird der Sowjetstaat selbst in fünfzehn souveräne Bestandteile aufgelöst, die einander das Überleben nach Kräften schwer machen; die armseligsten davon haben ihren Völkern als einziges funktionierendes Produktionsverhältnis den Einsatz für eine gewaltsame Sortierung der ehemaligen Sowjetbürger nach Grenzen und völkischen Gesichtspunkten zu bieten. – Der Urheber des Desasters dankt ab, zusammen mit der von ihm ruinierten Staatsmacht – und erklärt sich weltöffentlich ein ums andere Mal im Prinzip hochzufrieden mit seinem Reformwerk. Ein Verrückter? Ein noch nie dagewesener Fall von Hochverrat? Oder was sonst?
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Einleitung
Das Lebenswerk des Michail Gorbatschow: Die große Revision
Da erringt einer das Kommando über die eine der zwei „Supermächte“ der modernen Welt. Er regiert die Sowjetunion, die der Weltmacht des vereinigten demokratisch-kapitalistischen Westens unter Führung der USA Schranken setzt und dessen hochgerüstete Feindschaft aushält. Dieser Neue – einer der „zwei mächtigsten Männer der Welt“ – mobilisiert sein Volk für einen nationalen Aufbruch, der die beträchtlichen Produktivkräfte des Landes effektiver machen und seine Macht zu eigenständigen Eingriffen ins Weltgeschehen sichern soll. – Nach sechs Jahren ist das „sozialistische Lager“, das die Sowjetunion um sich formiert hatte, unwiderruflich aufgelöst. Die sowjetische Macht ist weltpolitisch im totalen Rückzug begriffen, ökonomisch bis an den Rand der Existenzunfähigkeit heruntergewirtschaftet. Noch bevor der doppelte Staatsbankrott fertig ist, wird der Sowjetstaat selbst in fünfzehn souveräne Bestandteile aufgelöst, die einander das Überleben nach Kräften schwer machen; die armseligsten davon haben ihren Völkern als einziges funktionierendes Produktionsverhältnis den Einsatz für eine gewaltsame Sortierung der ehemaligen Sowjetbürger nach Grenzen und völkischen Gesichtspunkten zu bieten. – Der Urheber des Desasters dankt ab, zusammen mit der von ihm ruinierten Staatsmacht – und erklärt sich weltöffentlich ein ums andere Mal im Prinzip hochzufrieden mit seinem Reformwerk. Ein Verrückter? Ein noch nie dagewesener Fall von Hochverrat? Oder was sonst?
Da boxt sich einer bis zur Führung durch auf der Karriereleiter der sowjetischen Staatspartei, die ihre Aufgabe u.a. darin sieht, ihr 300-Millionen-Volk einigermaßen effektiv an die Arbeit zu bringen, es wenn schon nicht besonders gut, dann doch sicher zu versorgen und mit viel patriotischem Stolz bei Laune zu halten. Das gelingt auch, aber nicht gut genug. Um die Laune zu verbessern, Volk und Führung im Engagement für neue Aufbauziele neu zu einen und so alle unbefriedigenden Fortschrittsbilanzen in Ordnung zu bringen, inszeniert der neue Chef eine allumfassende Kritik- und Verbesserungskampagne und legt seine gesamte Kadertruppe darauf fest. – Nach sechs Jahren unermüdlichen Reformierens hat das Volk wenig zu essen und zu wenig zum Heizen. Wo sein Arbeitseinsatz früher zu unproduktiv ausfiel und die Erträge, vor allem für die Massen selbst, zu wünschen übrig ließen, da findet das Sowjetvolk jetzt gar keine Gelegenheit, sich produktiv, geschweige denn zum eigenen Nutzen nützlich zu machen. Sein bescheidener Wohlstand, soweit vorhanden, ist restlos dahin; die sozialen Schutzgarantien des Staates sind nicht bloß unwirksam geworden, sondern annulliert. Die Staatspartei, die dieses Reformwerk bis zum bitteren Ende mitgetragen hat, ist entmachtet und wird verboten. – Und der Chef hat sich angesichts des angerichteten Massenelends und des Ruins der Sache, der er vorgestanden hatte, nur eines vorzuwerfen: eben diese Reformpolitik nicht entschlossener und schneller vorangetrieben zu haben. Was liegt da vor: Realitätsverlust? Oder ein selbst unter Politikern nicht ganz alltäglicher Fall von menschenverachtendem Zynismus?
Da wird einer an die Spitze der Partei gewählt, die in Rußland die Revolution gemacht hat und sich viel auf ihr Ethos zugute hält, immer nur den Willen des Volkes zu vollstrecken. Der neue Nachfolger Lenins führt einen Feldzug gegen die verlogene Selbstzufriedenheit des Partei-„Apparats“; er appelliert ans Engagement seines Volkes, ermuntert es zu produktiver Unzufriedenheit und revolutionärer Gesinnung, will es dazu anstiften, die Kontrolle über seine Lebensumstände selber in die Hand zu nehmen. – Nach sechs Jahren ist eine „Revolution“ passiert, ohne daß die werktätigen Massen sich selbst zum Subjekt irgendeiner „Entwicklung“ gemacht hätten. Die alte Produktionsweise ist kaputt, die Herrschaft der staatssozialistischen Einheitspartei gebrochen – und das Volk denkbar weit davon entfernt, mit den Ergebnissen etwas Gescheites, für sich Nützliches anzufangen. Es sieht zu, wie nationalistische Führungsmannschaften die Macht übernehmen, um sie zur Abgrenzung ihrer Machtbereiche zu benutzen. Von der althergebrachten politischen „Bevormundung“ ist es befreit – durch das alternativlose Angebot, sich zur Manövriermasse einer neuen völkischen Staatsmacht zu machen und auf gute Herren zu hoffen. Einem alltäglichen Kampf ums Überleben ist es ausgeliefert: ohne taugliche Mittel, total abhängig von ökonomischen „Prozessen“ und Entscheidungen mit Namen „Markt“, auf die es nicht den geringsten Einfluß hat und auch nicht nimmt. Was auch immer man von der ersten russischen Revolution und ihren Ergebnissen halten mag – das als „zweite russische Revolution“ gepriesene Ereignis hat eindeutig konterrevolutionäre Resultate: Die Leute sind politischen und ökonomischen Verhältnissen unterworfen, in denen ausschließlich fremde, ihren Interessen feindliche, herrschaftliche Zwecksetzungen bestimmend sind. – Der Veranstalter dieser „Revolution von oben“ ist durch deren Erfolg gleich selber freigesetzt worden von seinem Amt – und rühmt sich vor und in der ganzen Welt, seinem Volk die Freiheit und zivilisierte Staats- und Lebensverhältnisse beschert zu haben. Selbstbetrug? Oder der Volksbetrug eines Renegaten, der, vom KP-Vorsitzenden zum offenen Reaktionär geläutert, fürs Volk sowieso keine andere Freiheit kennt als die, sich in seiner totalen Abhängigkeit vom Gang der Geschäfte und der bürgerlichen Staatsmacht einzurichten?
Und ein letzter Aspekt: Da wird einer, als Chef, auch zum Cheftheoretiker des real existierenden Sozialismus. Also eines Standpunkts, der die demokratisch-kapitalistische Welt noch immer mit seinen paar Erinnerungen an kommunistische Kritik geängstigt, als „menschenfeindlich“ angeklagt und ihr Dogma von der Alternativlosigkeit der Herrschaft des großen Geldes und der politischen Gewalt praktisch widerlegt hat. Der „sozialistischen Idee“, „es“ müßte doch auch anders gehen, will der Mann mit seinem „neuen Denken“ neue Überzeugungskraft verleihen. – Nach sechs Jahren Redenhalten und Bücherschreiben enthält der „wissenschaftliche Sozialismus“, soweit vertreten durch das Oberhaupt dieser antikapitalistischen Alternative, endgültig nichts mehr, was der bürgerlichen Ideologie – vom „Markt“ als gelungener Versorgungsanstalt und vom Staat als Instanz zur Lösung all der Weltprobleme, die es ohne ihn gar nicht gäbe – fremd wäre, geschweige denn widersprechen würde. Die „Ideale des Sozialismus“ präsentieren sich als moralische Phrasensammlung, an der sogar der polnische Papst und die bayrische CSU nichts Anstößiges mehr entdecken können, sondern bloß noch den Beleg, daß Kapitalismus und Demokratie offenbar auch theoretisch unschlagbar und ohne Alternative sind. – Und der Schöpfer dieses „neuen Denkens“ freut sich an der freundlichen Aufnahme, die er weltweit den „sozialistischen Idealen“ verschafft hätte. Ein Fall von Verblödung im Amt? Oder die wunderbare Bekehrung eines Kommunisten zur alleinseligmachenden Markt- und Staatsgläubigkeit?
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Wie auch immer: Mit seinen Glanztaten ist der letzte Generalsekretär der KPdSU und Präsident der Sowjetunion „unser Gorbi“ geworden.
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Freilich erst nach und nach. Gorbatschows „neues Denken“ in der Außenpolitik zum Beispiel war dem vereinigten Westen zu Anfang höchst verdächtig. Da sah es doch lange Zeit so aus, als wollte dieser Mann die NATO und ihre Führungsmacht mit ihren Beteuerungen, keine militärische Überlegenheit anzustreben und zu jeder gleichgewichtigen Abrüstung bereit zu sein, beim Wort nehmen und in Verlegenheit bringen, womöglich sogar so schöne Projekte wie die „eurostrategische“ Aufrüstung der BRD und Reagans SDI erpresserisch verhindern. Seinerzeit mußte der westdeutsche Kanzler noch aus seiner profunden Geschichtskenntnis heraus an Goebbels erinnern, der schon die nationalsozialistische Eroberungspolitik so gut verkauft hätte, und seine sowieso gleichgesinnten NATO-Kollegen vor jeder Leichtgläubigkeit gegenüber dem neuen Häuptling im „Reich des Bösen“ (US-Präsident Reagan) warnen. Stück um Stück kam dann aber doch die praktische Klarstellung, daß der gute Mann im Kreml den Westen auf ganz andere Weise „beim Wort nehmen“ wollte. Er hat getestet, ob die Feindseligkeit der NATO-Staaten und deren Aufrüstung wirklich bloß – wie von ihnen behauptet – die Antwort auf eine durch die Sowjetmacht geschaffene Bedrohungslage wäre – und das Mittel für diese Testreihe war die einseitige Preisgabe einer sowjetischen Machtposition nach der andern, wann immer der Westen sich damit unzufrieden erklärte.
Auch dieses sowjetische Vorgehen hat die Mächte der Freien Welt zunächst einmal nur in ihrer Skepsis bestärkt. Denn bei allen Rückzugsmanövern der Sowjetmacht blieb ja immer noch das Ärgernis bestehen, daß da ein riesengroßer Staat mit seinem abweichenden System sich und noch ein paar andere Länder als Ausnahme der kapitalistisch-demokratischen Regel entzog und sogar mit weltkriegstauglicher Gewalt auf seinem Recht bestand, das westliche Monopol auf staatliche und internationale Ordnung zu brechen. War die Nachgiebigkeit Gorbatschows nicht im Grund nur eine Falle, um dem Westen hinterrücks eine dauerhafte Koexistenz mit der realsozialistischen Staatsalternative abzulisten? Der Hoffnung des neuen Kreml-Herrn, die Feindseligkeit des Westens ließe sich durch eine Minderung der bedrohlichen Rüstungsbestände entkräften, setzten die NATO-Mächte die Klarstellung entgegen, daß in Wahrheit ja gar nicht – wie immer behauptet – die Feindschaft wegen der Waffen und der von ihnen ausgehenden Bedrohung da sei, sondern die Waffen, die eigenen nämlich, wegen der Feindschaft, die sich das „Reich des Bösen“ schlicht dadurch zugezogen habe und auch verdiene, daß es sich eben nicht in die „Eine Welt“ des weltweiten Kapitalismus und des globalen amerikanisch-westeuropäischen Machtmonopols einfügt. Doch auch da fand Gorbatschow allmählich die richtige Antwort: Reformen, unwiderrufliche, die an den politischen Idealen des westlichen Systems Maß nahmen und dem Sowjetreich die Heimkehr ins Weltreich der kapitalistischen Zivilisation und demokratischen Gewalt bescheren sollten.
Dennoch: So recht überzeugen konnte auch das noch nicht. Denn selbst der Umsturz der abweichenden innenpolitischen Kultur im Sowjetstaat und die „marktwirtschaftlichen Reformen“ waren zunächst einmal noch die autonom gewählte Politik einer souveränen Weltmacht, die sich noch immer auf einen eigenen Staatenblock und ein irgendwie mitmachendes Volk stützen konnte; und insofern waren ihre Ergebnisse noch immer nicht so irreversibel, wie man es im Westen mittlerweile verlangen durfte. Argwöhnisch wurde von den demokratischen Gegnern jeder „bloß destruktiven“ Kritik überprüft, wo die destruktive Kritik der sowjetischen Führung an ihrem System und ihrer Macht doch noch eine konstruktive Absicht verriet – und da gab es eine Menge „Rückfälle“ zu beklagen. Da wurde ja doch noch manche Versorgungsnotlage durch Befehle von oben gebremst; den Balten wurde ihr Ausstieg aus der Union und den Kaukasiern ihr Grenzkrieg nicht erlaubt; bei Personalentscheidungen wurden nicht immer Harvard-Schüler bevorzugt. Und ganz übel wurde von den Anwälten weltweiter Demokratie die Volksabstimmung im Frühjahr 91 vermerkt, die den Fortbestand des sowjetischen Unionsstaats sichern sollte und sogar in diesem Sinne ausfiel. Die geschworenen Feinde jedes revolutionären Umsturzes waren eben mit nichts geringerem mehr zufriedenzustellen als mit dem totalen Umsturz des ganzen Systems; Anhänger des Dogmas, daß der Mensch ohne Staat nicht leben kann, maßen ihren sowjetischen Kollegen an den Fortschritten des staatlichen Zerfalls, den er herbeiregierte.
Unterdessen kam die Sache voran. Zur Überraschung der Freien Welt entledigte sich der Mann in Moskau seiner Bündnispartner, die auf ihre Weise schon seit längerem den Absprung vom realen Sozialismus zum nationalen Kapitalismus suchten; gegen alle Bündnisdisziplin setzte er deren Nationalismus ins Recht, der dementsprechend antisowjetisch aufblühte und im Anschluß an den Westen sein Glück suchte. Ohne große Vorbehalte übergab der Sowjetpräsident die DDR dem NATO-Pfeiler BRD – ab da waren Kohl und sein Volk sich tatsächlich sicher, daß in Moskau kein kommunistischer Goebbels, sondern ein „Ehrendeutscher“ (Bild-Zeitung) regierte. Ganz ungetrübt blieb zwar selbst dieses Verhältnis nicht: „Unser Gorbi“ war, offenbar aus alter kommunistischer Kumpanei, nicht bereit, nach der DDR auch noch deren letzten Chef Honecker an Kohls neue Großmacht auszuliefern. Er kam aber gar nicht mehr dazu, sich mit diesem oder anderen „Rückfällen“ die deutschen Sympathien wieder zu verscherzen. Denn mittlerweile war seine Reformpolitik wirklich irreversibel geworden: Er hatte sich geweigert, den Staatsnotstand auszurufen, den er herbeigeführt hatte; den halbherzigen Rettungsversuch seines Stellvertreters Janajew hatte er scheitern lassen; und statt von dessen Junta ließ er sich von dem führenden Vertreter des nationalrussischen Antisozialismus und neuen Hoffnungsträger des Westens Jelzin absetzen. Am Ende sprach er ein würdevolles Schlußwort über 70 Jahre Sowjetunion; als hätte der einstige Reagan-Scharfmacher C. Weinberger das Drehbuch dafür geschrieben, verabschiedete er das „Reich des Bösen“ aus der Weltgeschichte – „mit einem Winseln“ statt mit einem „Knall“.
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Damit hat der Mann den Gipfel seiner Beliebtheit erreicht. Freilich: Damit hatte es sich dann auch. Schon Tage nach seinem Rücktritt vom mit ihm erloschenen Präsidentenamt der nicht mehr existierenden Sowjetunion fragt kaum noch einer nach ihm. Der Moskauer „Putsch“ und das weltweite Geschrei nach Freilassung des einzig legalen SU-Präsidenten ist noch kein Jahr vorüber, und Gorbatschow ist ein toter Hund. Für die Ausnutzung der neuen Weltlage, die er herbeigeführt hat, kann keiner ihn brauchen; schon gar nicht seine westlichen Freunde und Kollegen, die voll damit beschäftigt sind, ihre Beute zu zerlegen und verdaulich herzurichten. Geradezu klassisch erfüllt der Mann die Rolle des Mohren, der seine Schuldigkeit getan hat.
Was ihm bleibt, ist die literarische Vermarktung seiner Verdienste um die Sache des Westens. Da hat er noch einen gewissen Marktwert: als Kronzeuge, als authentischer Bürge, ja als Inkarnation einer großen Geschichtslüge, die im Westen prima ankommt, über den wahren Sinn und die tieferen Gründe seines großartigen Lebenswerks. Gorbatschow stellt sich nämlich schlicht auf den Standpunkt des erreichten Ergebnisses und gibt ihm recht: Wenn Sowjetmacht und Sozialismus zugrunde gegangen sind, dann hat nicht er etwas falsch gemacht, sondern dan haben die beiden es nicht besser verdient; dann hat „das Leben“, „die Geschichte“ oder sonst eine metaphysische Rechtsinstanz, an die auch ein gottloser Russe glauben kann, ihr Verdikt über ein ebenso lebensunfähiges wie lebensunwertes „Experiment“ gesprochen. So deutet er sich das faktische Ergebnis seiner Politik als einen Erfolg, der dieser recht gibt: Sein Zerstörungswerk hätte bloß die Lebensunfähigkeit und -unwürdigkeit des kaputtgegangenen Systems – die sonst womöglich verborgen geblieben wäre... – offenkundig gemacht. Die einzige kritische Nachfrage, die er sich damit beim westlichen Publikum einhandelt – warum das fünf lange Jahre gedauert hat und warum er sich anfangs so sehr für die Verbesserung eines verwerflichen und untauglichen Systems eingesetzt hat? – beantwortet der Ex-Präsident öffentlich so: Anders wäre es gar nicht gegangen; um gegen das System Erfolg zu haben, hätte er sich für es engagieren müssen; umgekehrt sähe man doch am Ergebnis, welch gutem Zweck seine Reformen gegolten hätten. Sechs Jahre Perestrojka – ein Trick, um den realen Sozialismus auszuhebeln: Das kommt gut an bei einem Publikum, das vom Weltgeschehen sowieso nicht mehr wissen will, als wo die Guten stehen und wie sie die Bösen fertigmachen. Und wenn der Mann, der mit dem lebenden Leichnam da drüben Schluß gemacht hat, diese Sicht der Dinge bestätigt, dann bekommt er sogar von der CSU, die ihn bis zuletzt für einen weltpolitischen Fallensteller gehalten hat, stehende Ovationen und im Münchner Hofbräuhaus einen Gamsbarthut aufgesetzt, damit auch jeder sieht, welche Gedanken darunter zu Hause sind.
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Trotzdem: Ganz so ist die Geschichte nun doch nicht abgelaufen.
Was die realsozialistische Parteiherrschaft und ihre staatlich gelenkte Wirtschaft betrifft, über die Gorbatschow 1985 das Kommando übernahm, so hat beides funktioniert; auf seine „volksdemokratische“ und nicht-kapitalistische Weise eben; für die Bedürfnisse der aufstrebenden Sowjetmacht nicht gut genug, aber jedenfalls viel zu gut für die Weltherrschaftsbedürfnisse des Freien Westens, der kein Mittel fand, den Gegner kleinzukriegen oder wenigstens zu paralysieren. Ein produktiver Reichtum ist zustandegekommen, von dem die reformierten Nachfolge-Republiken der Sowjetunion noch eine ganze Zeitlang zehren und mit dessen Zerstörung sie einiges zu tun haben – Fernsehberichte von den jeweils aktuellen Bürgerkriegen im ehemaligen „roten Imperium“ zeigen ganz unabsichtlich nebenher die ansehnliche Ausstattung ehemals sowjetischer Provinzstädte. Und was die Politik der „Umgestaltung“ betrifft, so war der ruinöse Umsturz, zu dem sie geführt hat, wirklich nicht ihr Ziel; sie wollte die Lage verbessern und hat alles aufgeboten, was die zuständige Partei als Mittel zur Verbesserung der Verhältnisse ansah.
Am allerwenigsten ist wahr, daß mit dem ruinösen Ergebnis der Reformbemühungen Gorbatschows die Unreformierbarkeit und insofern die letztliche Lebensuntüchtigkeit des realsozialistischen Systems – „in unserer rasch sich wandelnden Welt...“ – bewiesen wäre. Da wäre doch erst einmal der eigentümliche Reformwille selbst ins Auge zu fassen, der sich da betätigt hat; der verbessern wollte, ohne sich einen Begriff von den Prinzipien der unbefriedigenden Verhältnisse, von den das Wirtschaftsleben bestimmenden staatlichen Imperativen und deren Widersprüchen, vom konterrevolutionären Unsinn einer idealen Volksdemokratie und anderen Fehlern der Partei zu machen; der stattdessen sein systemimmanentes Verbesserungswesen mit immer tieferer Bewunderung der Funktionstüchtigkeit des Weltkapitalismus und des in dessen Zentren staatlich verfügbaren Reichtums verbunden und daran ausgerichtet hat. Da wäre das absurde Programm zu würdigen, die realsozialistischen Wirtschaftsbeziehungen durch immer weiter gehende Anleihen beim überwundenen System – Anleihen theoretischer, wirtschaftspolitischer und wirklicher finanzieller Art – in Schwung zu bringen; völlig rücksichtslos dagegen, wie eins zum andern paßte, wie sich die Kopie zum Original verhielt und was der versuchten Nachahmung kapitalistischer Erfolge alles geopfert werden mußte, an eigener Effektivität wie auch an materiellen Mitteln für die Schuldenbedienung. Dem real existierenden Kapitalismus würde doch auch niemand „Reformunfähigkeit“ nachsagen, weil der Versuch, ihn durch Einrichtungen des realen Sozialismus wie z.B. eine tatsächlich wirksame Arbeitsplatzgarantie für jedermann und die Abschaffung der Konkurrenz zu „verbessern“, unweigerlich scheitern müßte – man sollte also auch den sowjetischen Sozialismus nicht dafür haftbar machen, daß sein Leitungs- und Verteilungssystem durch staatliche Diktate wie z.B. dasjenige, den zentral gelenkten Warenabsatz durch „Marktbeziehungen“ zu ersetzen, zersetzt worden ist.
Der Grund dafür, daß der mit Gorbatschow zur Herrschaft gelangte, ganz konstruktiv gemeinte Reformwille nichts als Unheil und Niedergang bewirkt hat, liegt in dessen Fehlern. Vor allem in der zunehmend fanatischen Verehrung dessen, was sozialistische Systemvergleicher für das Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus gehalten und zu kopieren versucht haben; außerdem in der verkehrten Rechnung, Anpassung an den Feind und dessen weltpolitische Forderungen würde das „sozialistische Lager“ zum gesuchten und beliebten Partner der „reichen“ Nationen machen. Fehler, die auf einen politischen Standpunkt zurückgehen und verweisen; den Standpunkt nämlich, den eigenen realen Sozialismus gar nicht als das revolutionäre Gegenteil der kapitalistischen Demokratie anzusehen, sondern als alternativen Lösungsweg für identische „Weltprobleme“, der sich ebensogut durch Elemente des andern Systems bereichern könnte, wie dieses von ihm lernen sollte. Ein Standpunkt, der glatt ignoriert, daß der reale Sozialismus die „Probleme“ des kapitalistischen Wirtschaftens und des demokratischen Regierens für sich wirklich abgeschafft hat, und der andererseits von den wirklichen Problemen und Widersprüchen nichts wissen will, die die realsozialistische Partei sich stattdessen geschaffen hat.
Darin freilich, mit diesem Standpunkt, ist Gorbatschow ganz und gar ein Produkt des realen Sozialismus, verlängert nämlich dessen Fehler – und insofern zeugt sein fatales Reformprogramm von der Verkehrtheit der Sache, die er verbessern wollte. Denn so läßt sich der fundamentale Widerspruch dieses Systems durchaus methodisch zusammenfassen: Es hatte prinzipiell mit dem Kapitalismus und dessen politischer Gewalt gebrochen und wollte doch nie deren revolutionäres Gegenteil und richtiger Kommunismus sein. Geld und Kapital, Lohnarbeit und Gewinn wollte dieser Sozialismus nicht definitiv abgeschafft, sondern per Verstaatlichung einer besseren Verwendung zugeführt haben; die Staatsgewalt sollte nicht überflüssig, sondern erst so richtig – als wäre das schon immer ihr wahrer Beruf gewesen – zur Volksbeglückung eingesetzt werden. Die proletarische Revolution wurde so verwaltet, als hätte sie Kapitalismus und Demokratie im Grunde gar nicht abschaffen, sondern bloß radikal und menschenfreundlich reformieren sollen; im Geiste der sozialen Gerechtigkeit, gegen die der übergroße Machtbesitz der Kapitalisten verstoßen hätte. Auf der prinzipiellen Gegensätzlichkeit der beiden „Gesellschaftssysteme“ hat die demokratisch-kapitalistische Seite jedenfalls seit jeher viel radikaler und unversöhnlicher bestanden als die sozialistische. Was die Stalinisten und ihre Nachfolger immer angestrebt haben: im Innern der Staaten „nationale Einheitsfronten“ mit allen aufrechten bürgerlichen Demokraten, im Weltmaßstab die „friedliche Koexistenz“ von Staaten „unterschiedlicher Gesellschaftordnung“, genau damit haben sich die regierenden Demokraten nie abgefunden – außer auf Zeit unter dem Druck eines kriegerischen Faschismus und unter der Bedingung weitgehender Selbstverleugnung der als Hilfstruppe akzeptierten Kommunisten –, geschweige denn jemals einverstanden erklärt.
Und sie haben letztlich Recht bekommen – ausgerechnet durch den letzten Chef des realsozialistischen Lagers, der den Standpunkt der Vereinbarkeit und den Willen zur Versöhnung von Sozialismus und demokratisch-kapitalistischem System konsequent ins Extrem getrieben hat; folgerichtig bis hin zur Preisgabe und Zerstörung alles Antikapitalistischen und der bürgerlich-demokratischen Herrschaft Entgegengesetzten am eigenen Gemeinwesen und bis hin zur einseitigen Räumung aller weltpolitischen Machtpositionen, die zur Absicherung der großen und schönen Staats-alternative hatten dienen sollen. Mit seiner Entschlossenheit, notfalls auf eigene Kosten einen „beiderseits gedeihlichen“ Frieden mit der imperialistischen Welt zu machen und von deren „Errungenschaften“ für die Entwicklung des eigenen Lagers zu profitieren, gewissermaßen eine weltweite „Volksfront“ aller fried- und fortschrittsliebenden Kräfte herzustellen und dafür jede Unvereinbarkeit seiner Sache mit dem Weltmarkt und dessen imperialistischen Hütern zu verleugnen und zu eliminieren, war Gorbatschow ein Geschöpf und Verfechter des klassischen sozialistischen „Revisionismus“, der selbst mit der gelungenen Revolution keinen prinzipiellen, „antagonistischen“ Gegensatz zur alten bürgerlichen Welt eröffnet haben wollte. Mit seiner Politik der Perestrojka ist er über diesen Widerspruch hinausgegangen und hat ihn schließlich aufgelöst – gegen sein eigenes System, durch die Revision alles dessen, was darin eben doch an Unvereinbarkeit mit der Herrschaft der bürgerlichen Staatsgewalt und des Kapitals, an Umsturz und Neubeginn auf anderer Grundlage enthalten war. Unausweichlich war diese Auf-Lösung gewiß nicht; der Sowjetsozialismus hätte mit seinem Widerspruch noch munter weiterwursteln können – schließlich wächst der Kapitalismus auch unter lauter Wahnwitz und Widersprüchlichkeit. Es war schon Gorbatschows Radikalismus nötig, um den Fehler des Systems zu seiner Zerstörung werden zu lassen.
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Aus der Identität des Fehlers erklärt sich nebenbei, warum die Politik der Perestrojka in der KPdSU zwar je länger, je mehr auf Widerstände, nämlich auf den Wunsch nach Erhaltung des Aufgebauten und bei manchen, die irgendwie noch die Ideale eines revolutionären Gegensatzes zum Rest der Welt im Kopf hatten, auch auf ideologisches Unbehagen, aber nicht auf wirkliche Kritik gestoßen ist: Dazu hätten sich die wohlerzogenen sowjetischen Sozialisten ja allen Ernstes die Systemfehler ihres gesamten bisherigen Aufbauwerks klarmachen müssen; sie hätten der Perestrojka mit richtiger Selbstkritik statt mit ihrer konservativen Liebe zu den vertrauten „Errungenschaften“ begegnen müssen.
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Noch weniger Kritik ist Gorbatschow von Seiten der Linken im Westen zuteil geworden. Die sahen sich im Gegenteil in ihrem Kampf um die Anerkennung ihrer politischen Alternativvorstellungen durch das herrschende System bestätigt und bestens unterstützt durch eine sowjetische Politik, die auf Beseitigung alles demokratisch und marktwirtschaftlich Anstößigen am realsozialistischen System aus war. Allenfalls waren sie peinlich berührt, wenn man im „Vaterland aller Werktätigen“ bereits Positionen räumte, die die sozialistischen Kritiker im Westen noch als irgendwie erheblich einschätzten; in der Weltpolitik überholte Gorbatschows bedingungsloses Entgegenkommen bisweilen ja sogar sozialdemokratische Mahnungen, ein wenig müßte der Westen sich doch wohl auch „bewegen“, und blamierte bürgerliche NATO-Gegner und SDI-Skeptiker. Nur ziemlich vereinzelt mochten Systemkritiker im Westen nicht billigen, daß das realsozialistische Lager gar nichts anderes mehr anstrebte als die „Heimkehr“ in eine imperialistische Welt, an der sie Entscheidendes auszusetzen fanden.
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Zu diesen abweichenden Stellungnahmen gehören die im folgenden dokumentierten – zum Teil neugefaßten – Artikel, hauptsächlich aus der politischen Zeitschrift „MSZ – Gegen die Kosten der Freiheit“, die bis 1991 in München erschienen ist. Am Anfang steht ein ausführlicher Verriß der „Generallinie“ der sowjetsozialistischen Partei, an die der seinerzeit ins Amt gelangte KP-Generalsekretär Gorbatschow so vehement angeknüpft und die er korrigiert hat, ohne sie zuvor einer stichhaltigen Kritik zu würdigen. Die folgenden, in sechs Kapiteln geordneten, überarbeiteten und neu eingeleiteten Beiträge aus den Jahren 86 bis 91 sind so etwas wie ein fortlaufender Kommentar zu Programm und Praxis der Perestrojka, der die Fortschritte dieser Politik bis hin zur Aufgabe des 1917 revolutionär etablierten realen Sozialismus nicht schildert, sondern erklärt. Das Ende des Unternehmens behandelt ein Aufsatz, der der Nr. 1-92 der politischen Vierteljahreszeitschrift „Gegenstandpunkt“ entnommen ist. Die Frage nach der Bedeutung des Geschehenen – für die Geschichte, die Linke, den Kapitalismus, die Welt usw. – wird in einem abschließenden Originalbeitrag nach bestem Wissen und Gewissen des Herausgebers beantwortet.