0. Die Arbeiterklasse – endlich vollendet

Proletarier kennt der gebildete Zeitgenosse eigentlich nur noch aus dem Industriemuseum. Im tiefen 19. Jahrhundert, als noch nicht die globalisierte Marktwirtschaft, sondern der nach seinem ersten angelsächsischen Standort so genannte Manchester-Kapitalismus regierte, gab es wohl so etwas: einen niederen Stand armseliger Lohnarbeiter, rechtlos und ohne alle soziale Absicherung, von reichen Fabrikherren ausgebeutet, in feuchten Löchern und finsteren Mietskasernen untergebracht, schlecht ernährt und von Seuchen heimgesucht, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von kaum 15 Jahren in die Welt gesetzt und schon im Kindesalter ausgenutzt, unausgebildet und verroht, teils maschinenstürmend unterwegs, teils für kommunistische Phantastereien empfänglich...

Aus dem Buch
2002, 2014, 2018, 2024 | 288 Seiten | ab 20 € inkl. MwSt.
Systematischer Katalog
Gliederung

0. Die Arbeiterklasse – endlich vollendet

a)  Kein Proletariat, nirgends!

Proletarier kennt der gebildete Zeitgenosse eigentlich nur noch aus dem Industriemuseum. Im tiefen 19. Jahrhundert, als noch nicht die globalisierte Marktwirtschaft, sondern der nach seinem ersten angelsächsischen Standort so genannte Manchester-Kapitalismus regierte, gab es wohl so etwas: einen niederen Stand armseliger Lohnarbeiter, rechtlos und ohne alle soziale Absicherung, von reichen Fabrikherren ausgebeutet – bisweilen aber auch durchaus gut behandelt –, in feuchten Löchern und finsteren Mietskasernen untergebracht, schlecht ernährt und von Seuchen heimgesucht, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von kaum 15 Jahren in die Welt gesetzt und schon im Kindesalter ausgenutzt, unausgebildet und verroht, teils maschinenstürmend unterwegs, teils für kommunistische Phantastereien empfänglich... Sozialgesetze und behutsame Wahlrechtsreformen haben dann das schlimmste Elend eingedämmt und die – wie keineswegs bloß ein deutscher Führer klar erkannte – „ihrem Vaterland entfremdeten“ Massen allmählich an den Staat herangeführt. Dennoch hat noch im ersten Drittel, wenn nicht sogar in der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so etwas wie eine Arbeiterklasse existiert: eine durch das gemeinsame Schicksal der Lohnarbeit in großen Fabriken geprägte Gesellschaftsschicht, noch immer ziemlich arm und von Verelendung durch Arbeitslosigkeit bedroht, in einer eigenen Subkultur zu Hause, gewerkschaftlich organisiert, sozialistisch orientiert – manchmal allerdings auch faschistisch gesinnt –, gelegentlich zu Klassenkämpfen gegen Unternehmerwillkür und staatliche Ungerechtigkeiten aufgelegt...

Doch das ist vorbei. Jahrzehnte des Aufschwungs und des Fortschritts haben dafür gesorgt, dass die klassischen kapitalistischen Nationen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein völlig anderes Bild bieten – oder jedenfalls ein völlig anderes Bild von ihrer Gesellschaft haben. Von einem Proletariat in dem Sinn, von Leuten, die sich als Proletarier begreifen oder gar mit Stolz als solche bekennen würden, ist weit und breit nichts zu entdecken, von Klassenkämpfen ganz zu schweigen. An die Stelle einer kollektiv ausgebeuteten Industriearbeiterschaft sind in der modernen Erwerbsgesellschaft – oder jedenfalls in ihrem Selbstbild – lauter freie Einzelindividuen getreten, die zeitsouverän und flexibel mit zeitweiligen Hauptberufen, Nebenjobs und Phasen der Arbeitslosigkeit herumwirtschaften, bis sie in eine selbstbestimmte Rente gehen. Von einem gemeinsamen Interessengegensatz gegen die Eigentümerklasse will niemand mehr etwas wissen; das Kapital wird nicht als Gegner, geschweige denn als ausbeuterische Macht gesehen, sondern als Quelle, und zwar als einzige, vielfältiger Erwerbschancen begrüßt. Elend ist nur dort zu Hause, wo es an Kapital fehlt; das wird mit dem Schicksal einheimischer Arbeitsloser bewiesen, das lässt sich an den Krisen der berühmten „emerging markets“ demonstrieren, und erst recht darf Europas Osten als Beleg für diese Erkenntnis herhalten: Von ihren Regierungen Jahrzehnte lang nach anderen „Plänen“ bewirtschaftet, ist die Bevölkerung dieser Region von ihrer neuen herrschenden Elite marktwirtschaftlicher Reformer für schlichtweg unfähig erklärt worden, ohne die „Einfuhr“ von Kapital auch nur zu überleben. Die Gewerkschaften, einstmals Organisatoren einer tatkräftigen Klassensolidarität und Gegenmacht gegen die Übermacht des großen Geldes, haben weltweit eingesehen, dass ein Lohnabhängiger nichts so nötig hat wie einen geschäftstüchtigen Arbeitgeber und letztlich auch nichts anderes braucht; sie sterben ab, sofern ihnen nicht die Umstellung auf eine Art Dienstleistungsunternehmen für ihre Mitglieder gelingt. Die überkommenen Arbeiterparteien haben der Idee einer sozialistischen Alternative schon längst abgeschworen und können mittlerweile auch keinerlei Notwendigkeit mehr entdecken, von Staats wegen zugunsten der Arbeitnehmerschaft korrigierend in den Gang der Marktwirtschaft einzugreifen – außer in dem Sinn, dass sie alles aus dem Weg räumen, was „der Wirtschaft“ die Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten erschweren könnte. Letzte Restbestände eines gewerkschaftlich-arbeiterparteilichen „Milieus“, in denen eine Karikatur einstiger Klassensolidarität deren historisches Ende noch ein wenig überdauert hat, werden, weil hoffnungslos unmodern, liquidiert; so etwas braucht es nicht einmal mehr für den ehrenwerten demokratischen Zweck, die niederen Stände als freie mündige Wähler auf ihren Staat zu verpflichten. Die sind längst an die Selbstverständlichkeit gewöhnt, dass es für die Teilhabe an der Politik nur auf ein Kriterium ankommt, nämlich: als Inländer dazuzugehören; hinter dieser nationalen Identität verschwinden alle sonstigen Unterscheidungen und Einstufungen nach der Erwerbsquelle womöglich oder gar nach der Klassenlage, die es sowieso nicht mehr gibt. Welcher Fangemeinschaft oder subkulturellen Identität man und frau außerdem angehört, bleibt der privaten Willkür überlassen, die schon gleich keine Klassenschranken mehr kennt.

Umfassender und vollständiger könnte der soziale Wandel kaum sein. Eine ganze „Gesellschaftsschicht“ hat Karriere gemacht: vom armseligen Fabrikarbeiter zum Internet-tauglichen Job-Sucher, vom rechtlosen Kollektiv zum mündigen Staatsbürger und Firmenmitarbeiter, vom Hungerleider zum umworbenen Konsumenten. 200 Jahre nach seinem ersten welthistorischen Auftritt ist das Proletariat einfach nicht wiederzuerkennen.

b)  Aber wer tut eigentlich statt dessen die Arbeit und macht die Unternehmer reich?

Irgendwie scheint es sich freilich bei den modernen Arbeitnehmern doch noch um den gleichen sozialen Menschenschlag zu handeln – ohne eine gewisse Identität wäre ja auch gar kein Wandel und Fortschritt zu konstatieren, sondern bloß von verschiedenen Dingen die Rede. Das politökonomische Berufsbild ist so ziemlich dasselbe geblieben: Wie seit 200 Jahren arbeitet die Masse der Leute unter dem Kommando von Eigentümern bzw. deren Funktionären und vermehrt gegen ein von denen durchkalkuliertes und für lohnend befundenes Entgelt deren Eigentum. Ihr Stellenwert im bürgerlichen Gemeinwesen hat sich deswegen gleichfalls nicht so übermäßig geändert: Die arrivierten „Mitarbeiter“ von heute haben verdammt viel von einer abhängigen Variablen an sich. Ihre Interessen sind jedenfalls nicht die gesellschaftlich maßgeblichen; Maß aller ökonomischen Dinge sind vielmehr die Erfolgsziffern der Geschäftswelt, die wiederum sehr viel zu tun haben mit möglichst wenig Lohn für möglichst viel Leistung. Die Auswirkungen dieses unumstößlichen politökonomischen Sachgesetzes erinnern erst recht an die „klassischen“ sozialen Ausstattungsmerkmale der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit – und sie werden in der freiheitlichdemokratischen Öffentlichkeit auch überhaupt nicht verschwiegen, im Gegenteil. Nachrichten aus der Welt der Wirtschaft bestehen zu guten Teilen aus Berichten über Entlassungen, an denen die Betroffenen selbst schuld sind, weil sie zwar nicht viel, aber zu viel verdienen; aus Notizen über wachsende Mengen unbezahlter Überstunden; aus der Wiedergabe von Forderungen an den Gesetzgeber, Lohnsenkungen und Entlassungen zu erleichtern; aus Ermahnungen an die Tarifparteien, „maßvoll“ zu bleiben, was jeder sofort richtig als Warnung vor Lohnerhöhungen versteht. Viel mehr Raum nehmen natürlich Meldungen über den privaten Reichtum ein: seine gelungene Vermehrung, die Risiken und Chancen seiner weiteren Vermehrung, seine Abenteuer an der Börse usw. – wobei mit der allergrößten Selbstverständlichkeit nie von der Wohlfahrt der Leute die Rede ist, die ihn erarbeiten, sondern von der Größe der Geldmacht, die getrennt von denen, in Arbeitgeberhand, existiert und wächst. Die Ungemütlichkeiten eines modernen Arbeitnehmerlebens finden daneben zwar nicht viel Interesse, werden aber auch nicht verheimlicht. Unter verschiedensten Rubriken wird darüber informiert, wie der moderne Arbeitsalltag seine Leute verschleißt, und wie schlecht mit einem unterbis durchschnittlichen Einkommen auszukommen ist. Offizielle Armutsberichte, die den Regierenden einen einigermaßen sachgerechten Überblick über ihre Gesellschaft verschaffen sollen, definieren mit Sorgfalt, und ohne übertriebene Maßstäbe anzulegen, eine plausible Armutsgrenze und finden dann immer noch ein gutes Drittel der Bevölkerung, das darunter liegt; gerne mischt man sich in diesem Sinne übrigens auch in die sozialen Verhältnisse bei befreundeten konkurrierenden Nachbarn ein und berichtet z.B. aus dem „reichsten Land der Welt“, dass dort, in den USA, jedes vierte Kind auf Armenspeisung angewiesen ist. Karitative Organisationen werden allerdings auch im eigenen Land keineswegs überflüssig, sondern bilanzieren ein ums andere Mal zunehmende Bedürftigkeit bei ihrer Klientel. Ein Sittenbild der unauffälligen Verelendung, der mit guten Werken beizuspringen sei, wird dem großen Publikum allweihnachtlich präsentiert. Die zur festen Dauereinrichtung geratene Schuldnerberatung macht warnend darauf aufmerksam, wie leicht und in wie großer Zahl durchaus „normal“ verdienende Zeitgenossen auf den abschüssigen Weg in die „Schuldenfalle“ geraten, aus der sie dann für den Rest ihres Lebens kaum mehr herauskommen. Dass mit einer Entlassung nur allzu oft der Marsch in die Verelendung bis zur Obdachlosigkeit beginnt, ist sowieso allgemein bekannt; doch auch die Kategorie der „working poor“, denen ihr mit redlicher Arbeit verdientes Geld nicht einmal für einen minimalen Lebensunterhalt reicht, ist längst in den sozialpolitisch fortschrittlichsten Nationen heimisch. Und wer das Glück hat, den entsprechenden Alltag nicht selber im Slum-Gürtel eines städtischen Kapitalstandorts durchleben zu müssen, der findet sich in den „guten Stuben“ der dazugehörigen Innenstädte mit der Endstation des ganz normalen Elends konfrontiert, sofern das zuständige Ordnungsamt die Bettler nicht gründlich genug abgeräumt hat.

Versteckt und verheimlicht wird also nichts; an Material, um am modernen Arbeitnehmer etliche zählebige Ausstattungsmerkmale des Proletariats aufzufinden, das doch gleichzeitig seit Jahrzehnten niemand mehr gesehen haben will, fehlt es nicht. Es ist nur erstens so, dass die einschlägige Berichterstattung über die Härten der modernen Arbeitswelt und über die zeitgenössische Armut vollständig ohne Auskunft über den Grund dieser „Phänomene“ auskommt. Der Leistungszwang, der in „lebensfähigen“ Betrieben heute herrscht, wird unter befürwortenden Titeln wie „Rationalisierung“, „Flexibilisierung“ oder „Innovation“ als selbstverständlicher, gar nicht weiter erklärungsbedürftiger Imperativ der modernen Zeitläufte abgehandelt. Und was in tiefschürfenden Analysen und Hintergrundsberichten an Armutsursachen aufgeführt wird, das sind in aller Regel nichts weiter als Verlaufsformen der Verelendung – z.B. der berühmte „Teufelskreis“ aus Arbeitsund Obdachlosigkeit –, Symptome dieses „Prozesses“ – z.B. mangelnde Qualifikation der Betroffenen –, die Schwierigkeiten, aus einmal eingetretenem Elend wieder herauszukommen – z.B. fehlende „Motivation“ der Klienten – bzw. jemandem herauszuhelfen – fehlende Mittel in der Regel –; gerne lässt man auch gleich den „Status“ der Betroffenen für sich sprechen, so als wäre über die Ursachen damit schon alles gesagt – alleinerziehende Mütter etwa oder Kinder mit vielen Geschwistern brauchen sich über ihren Geldmangel gar nicht zu wundern. Die Schuld an der dauernd drohenden Arbeitslosigkeit teilen sich Wetter und Konjunktur, wohingegen für die schlechte Versorgung der Arbeitslosen nur einer verantwortlich ist, nämlich deren große Zahl. Und so weiter. Auf diese Art enthält schon die Kenntnisnahme von den prekären Umständen und materiellen Drangsalen einer zeitgenössischen Durchschnitts-Existenz ein Dementi: Um Notwendigkeiten des ökonomischen Systems, um Merkmale einer Klassenlage handelt es sich nicht. Wo trotzdem an so etwas gedacht wird, und der Verdacht drängt sich ja auf, da wird das Dementi explizit: Die Vielzahl der erfassten Lebenslagen schließt von vornherein aus, dass es sich dabei um Merkmale einer Klassenlage handeln könnte. „Zu einfach“, zu „monokausal“: So lautet das Urteil über ein Stichwort, aus dem dessen Kritiker in Wahrheit sehr genau den Vorwurf heraushören, dass das moderne Elend eine notwendige Errungenschaft des modernen Kapitalismus ist und nicht ein Sammelsurium von Zufällen. Moralische Vorwürfe sind da viel besser am Platz: Wer der Gesellschaft „Missstände“ ankreidet und auf „Versagen“ der zuständigen Instanzen – letztlich von „uns allen“ –„schließt“, der denkt zwar auch nicht gerade mehrdimensional, attestiert dem Gegenstand seiner kritischen Sorge aber die prinzipiell besten Absichten und liegt insofern schon mal grundsätzlich richtig. Wer so „kritisiert“, verlangt dann auch nie Unmögliches, sondern das einzig Vernünftige: dass alle sich bessern und vor allem die Verantwortlichen ihre Sache besser machen. Denn das ganze Elend müsste doch nicht sein. – Doch was, wenn „das alles“ doch sein muss, so wie das System des Gelderwerbs durch Lohnarbeit nun einmal funktioniert? Wenn es gar nicht so viel Böswilligkeit und so viele Pflichtversäumnisse gibt, jedenfalls im Verhältnis zur Gutwilligkeit und treuen Pflichterfüllung der übergroßen anständigen Mehrheit, dass die allgemein bekannten Drangsale eines durchschnittlichen Erwerbslebens mit so hoher Trefferwahrscheinlichkeit daraus folgen könnten? Wenn die lohnabhängige Masse in den Mustergesellschaften der westlichen Welt dauernd „sozial absturzgefährdet“ ist und eine starke Minderheit auf dem Verelendungs-Trip, nicht obwohl, sondern weil lauter wohlmeinende Funktionäre Arbeitswelt und Gemeinwohl professionell am Laufen halten?

Mit all den offenherzigen Auskünften über die Lage der arbeitenden Klassen im 21. Jahrhundert verhält es sich zweitens so, dass daraus nach dem einhelligen Urteil aller anständigen Menschen noch lange nicht das Recht folgt, ehrbare Mitmenschen mit abfälligen Ausdrücken wie „Prolet“ – der „-arier“ dahinter macht die Sache auch nicht besser – zu belegen und ihnen damit eine soziale Minderwertigkeit zu bescheinigen. Da hilft es gar nichts, dass die Bezeichnung gar nicht die sittlichen Qualitäten von irgendwem, sondern den materiell minderwertigen Status kennzeichnen soll, den das System der Lohnarbeit seinen „abhängig Beschäftigten“ aufzwingt: Gerade weil jeder die Kritik am sozialen Status der großen Masse der Gesellschaft heraushört, wird die Kritik daran im Namen derjenigen, die darauf festgelegt sind, als Verstoß gegen die korrekten Sitten zurückgewiesen. Tatsächlich sind es gerade die empörten Repräsentanten und Freunde der lohnarbeitenden Menschheit, die sich damit die Frechheit herausnehmen, den Leuten ihre proletarische Existenz als ihre eigene freie Wahl und geradezu als ihr sittliches Persönlichkeitsmerkmal zuzuschreiben – um dann darauf zu bestehen, dass den guten Leutchen ihre Dienstbarkeit und Armseligkeit auf keinen Fall mit beleidigenden Fremdworten um die Ohren gehauen werden darf. Die Mannesresp. Frauenehre der nützlichen Idioten des Kapitalismus verbietet Ausdrücke, die diese Funktion schlecht machen; die anständig arbeitende Privatperson adelt den Dienst, den sie am Erfolg ihres Arbeitgebers versieht: So will es die bürgerliche Sittlichkeit. Und so ist der „Prolet/arier“ schon vor dem „Nigger“ und der Alleinherrschaft der männlichen Substantivendung[1] einer politisch korrekten Säuberung des öffentlichen Sprechverhaltens zum Opfer gefallen. – Nur: Was ist, wenn im Endeffekt doch mehr das Wort als die Sache aus der Welt geschafft worden ist? Wenn sich die politökonomischen Bedingungen, von denen die Existenz lohnabhängiger Arbeitnehmer bestimmt wird, viel weniger veredelt haben als die dafür verwendeten Ausdrücke? Wenn der mindere materielle Wert eines Lohnarbeiter-Lebens durch das Verbot abwertender Bezeichnungen gar nicht gestiegen ist?

Dass die Allgemeinheit in der heutigen „Informationsgesellschaft“ über die Verwendungsweise menschlicher Arbeitskraft im modernen Unternehmen und über materiellen Mangel und die Verelendungsgefahren bei den Betroffenen durchaus informiert ist, hat schließlich drittens deswegen nichts weiter, und schon gar nichts Systemkritisches zu bedeuten, weil sich alle „Schattenseiten“ ganz gut mit den zahllosen historischen Errungenschaften verrechnen lassen, auf die inzwischen kein Zeitgenosse mehr verzichten mag: Lohnarbeiter fahren heutzutage mit Autos zur Arbeit, bedienen dort Maschinen, von denen das 19. Jahrhundert sich noch nichts hat träumen lassen, bekommen ihr Entgelt aufs Girokonto überwiesen, sind sozial- und lebensversichert, genießen politische Rechte, die einstmals den Besitzenden vorbehalten waren, und legen weit mehr Nationalals Klassenbewusstsein an den Tag. Der Wandel ist wirklich nicht zu übersehen. – Doch was ist, wenn dieser enorme Fortschritt in den Modalitäten der Lohnarbeit die ökonomischen Zwecke, denen die lohnabhängige Menschheit dienstverpflichtet ist, gar nicht verändert hat? Wenn er im Gegenteil bloß die Effektivität und Intensität ihrer Indienstnahme steigert? Wenn alle epochemachenden Verbesserungen in der Lage der arbeitenden Klasse doch gar nicht den Kapitalismus an die Lebensbedürfnisse seiner Insassen angepasst haben, sondern umgekehrt das Leben der Lohnabhängigen bis in deren Bedürfnisnatur hinein an die Bedarfslage „der Wirtschaft“ und an die Ansprüche der Staatsgewalt, die darüber Regie führt? Wenn die Jahrhundert-Karriere des Menschenschlags, der früher einmal „Proletariat“ hieß, bis heute nicht dessen Wohlstand bezweckt und auch nicht bewirkt, sondern seine Funktionalisierung für die politische Ökonomie des Kapitals auf die Spitze getrieben hat? Was, wenn das für alle aufgeklärten Beobachter des sozialen Geschehens längst feststehende Ende der proletarischen Klasse nichts anderes dokumentiert als deren Vollendung: die totale Subsumtion der Klasse unter ihren kapitalistischen Lebenszweck?

Eins ist klar: Aus der Anschauung voller Kaufhäuser und schlechter Wohngegenden, sauberer Fabriken und ausufernder Volkskrankheiten, demokratischer Wahlkämpfe und gewerkschaftlicher Umzüge ergibt sich die Antwort auf die Fragen, die wir ans Happy End des Proletariats zu stellen hätten, nicht. Ohne ein paar Urteile und Schlüsse geht es nicht ab, wenn man herausfinden will, wie es um den modernen Arbeitnehmer, seine Verwandtschaft mit der längst unmodern gewordenen Arbeiterklasse und die Notwendigkeit einer gewissen Umwälzung der politökonomischen Verhältnisse eigentlich steht.

[1] Um das vorab klarzustellen: Wir glauben nicht, dass den Frauen im Kapitalismus ausgerechnet das „/sie“ hinter jedem männlichen Personalpronomen und das „/in“ hinter jeder Endung auf „-er“ zu ihrem Glück fehlt, und sparen uns deswegen diese sprachliche Albernheit.