IV. Die BRD: Entwicklungen eines Frontstaats

Inzwischen ist aus der BRD eine Wirtschaftsmacht geworden. Überholt sind die diplomatischen Streitereien um einen bundesrepublikanischen Alleinvertretungsanspruch, der zwar nicht aufgegeben, aber längst in ein viel umfassenderes Konzept bestimmender Mitwirkung an der Weltpolitik aufgenommen worden ist. Aus den Ansprüchen von einst sind deutsche Interessen geworden, aus der politischen Forderung nach der besonderen Berücksichtigung eines »deutschen Problems« hat sich der »Einfluß der Bundesrepublik« weltweit entwickelt.

Aus dem Buch
1983, 2023 | 336 Seiten | 15 €  Zum Warenkorb

IV. Die BRD: Entwicklungen eines Frontstaats

1. In der Nachkriegszeit gehörte sich für Deutsche »politische Zurückhaltung«. Angehörige und selbst Vertreter der Nation hatten sich durch bescheidenes Auftreten auszuzeichnen. Schließlich waren sie als Deutsche die Erben des Dritten Reiches, das seine Interessen mit Waffengewalt hatte durchsetzen wollen und – dabei gescheitert war. So sahen sie sich nun dem Verdacht ausgesetzt, bei jeder Äußerung nationaler Ansprüche Anwälte des alten oder Vorboten eines neuen Nationalismus zu sein. Dem Vorbehalt, unter dem die westlichen Siegermächte die BRD gegründet hatten, entsprachen die westdeutschen Politiker der ersten Generation: der »-ismus« war geächtet, und für die neue Nation und ihre Interessen durfte man sich erstens nur mit dem Bekenntnis stark machen, nie und nimmer gegen andere freiheitliche Nationen und ihre Bürger eingestellt zu sein; und zweitens war der von den westlichen Schutzmächten gebotene Antikommunismus nicht mehr im Namen Deutschlands, sondern in dem der Freiheit abzuwickeln. Bei aller demonstrativ zur Schau getragenen Bescheidenheit war damit freilich westdeutschen Volksvertretern auch einiges erlaubt. Immerhin ließ die Zugehörigkeit zum freien Westen den Anspruch zu, eigentlich alle Deutsche zu vertreten. Immerhin gestattete die mit dem Ergebnis des Krieges vollzogene »Selbstkritik« nicht nur die klare Distanzierung vom unfreiheitlichen anderen Teil der Nation, sondern beinhaltete auch das Recht auf Wiedervereinigung, selbstverständlich gemäß den Bedürfnissen des eigenen Lagers. Kaum hatte der Wiederaufbau, jene legendäre Kombination aus einem amerikanisch kreditierten Geldwesen (Währungsreform!) und deutscher Wertarbeit (das Volk hat keine Gelegenheit gehabt, seine im Unrechtsstaat des Führers erworbenen Untertanentugenden zu verlernen!), die ersten Früchte getragen, hörte man schon von der Hallstein-Doktrin. So sicher waren sich westdeutsche Politiker schon kurz nach der Stunde Null in bezug auf ihre Bedeutung in der neuen Weltordnung, daß sie anderen Staaten die Nichtanerkennung der DDR als Bedingung dafür aufmachten, in den Genuß bundesrepublikanischen Wohlwollens zu gelangen.

Inzwischen ist aus der BRD eine Wirtschaftsmacht geworden. Überholt sind die diplomatischen Streitereien um einen bundesrepublikanischen Alleinvertretungsanspruch, der zwar nicht aufgegeben, aber längst in ein viel umfassenderes Konzept bestimmender Mitwirkung an der Weltpolitik aufgenommen worden ist. Aus den Ansprüchen von einst sind deutsche Interessen geworden, aus der politischen Forderung nach der besonderen Berücksichtigung eines »deutschen Problems« hat sich der »Einfluß der Bundesrepublik« weltweit entwickelt. Die deutsche Geschäftswelt bedient sich aller Herren Länder als Anlagesphäre, der Handel blüht und gedeiht, auch der mit Waffen – und unter so schlichten Sätzen wie »Wir sind eine Exportnation« künden deutsche Politiker von der Unverzichtbarkeit westdeutschen Geschäftserfolgs allüberall: Auch bei den ungeliebten Partnern im östlichen Reich der Unfreiheit, die nicht nur im Falle Polen zu spüren kriegen, was es heißt, sich den Maßstäben des Kapitals und seinen Wünschen in Sachen Kreditvergabe anzubequemen. Es gehört zu den guten Gepflogenheiten des bundesrepublikanischen Diplomatengeschicks, nicht nur die Bedingungen für die Fortsetzung wirtschaftlicher Beziehungen zu setzen und auch einmal für Abbruch zu votieren, wo die Vorteile der anderen Seite für zu gravierend erachtet werden, als daß man sie des eigenen Gewinns wegen zulassen könnte. Die Verlierernation des letzten Weltkrieges nimmt an Weltwirtschaftsgipfeln teil, auf denen die mächtigsten Nationen darüber befinden, wie sich Wachstum und Armut auf dem von ihnen dominierten Weltmarkt zu verteilen haben.

Deswegen ist aus der BRD auch eine Militärmacht geworden. Eine an den gar nicht bescheidenen Zielsetzungen des freiheitlichen Bündnisses entscheidend beteiligte Macht, deren Vertreter auf »Nach«rüstung dringen und nach dem Ausbau der Bundeswehr zum Zwecke der »Vorwärtsverteidigung« durchaus in der Lage sind, gegenüber der Sowjetunion sämtliche Grundsätze der »Politik der Stärke« geltend zu machen. Die berühmte Entdeckung des Bundeskanzlers Schmidt, zum Status eines vollwertigen Mitmachers der westlichen Politik fehlten der BRD eigentlich noch atomare Waffen, ist der logische End- und Höhepunkt des Erfolgsweges dieser Republik. Wenn ein deutscher Politiker so tut, als müßte die Sowjetunion von jedem ihrer untereinander verbündeten Gegner extra mit letzter Konsequenz »abgeschreckt« werden, so denkt er ganz bestimmt nicht an den beredt beschworenen »Schutz« von Land und Leuten. Worum es geht, ist die Möglichkeit, den NATO-Zweck von Westeuropa aus allein schon voll durchsetzen zu können, und die dadurch gesteigerte »Sicherheit«, den USA ein so wichtiger und gewichtiger Partner zu sein, daß das Bündnis, also die Weltmacht Nr. 1, um »uns« nicht mehr herumkommt.

So äußert sich die Bescheidenheit einer Nation, deren Regierende wissen, was sie von der Beteiligung an der Weltwirtschaftsordnung haben und was sie aus der Beteiligung am Weltfrieden machen können. Zur Anschauung gebracht wurde die Weltgeltung westdeutschen Engagements während des Besuchs des obersten Sowjetmenschen in Bonn im Herbst ’81 – eines Menschen, vor dem Angst zu haben jedem Bundesbürger geraten wird. Nichts sonst ist an dem gesamten Besuch öffentlich beredet und gefeiert worden als die selbst noch in den Tischreden an den Tag gelegte »Standhaftigkeit« des Kanzlers, insbesondere in Abrüstungsfragen: Zu Recht seien die Vorschläge Breschnews für ein »Aufrüstungsmoratorium«, notfalls zunächst sogar ein einseitiges sowjetisches, als perfider Anschlag auf Einheit und Sicherheit des westlichen Bündnisses kompromißlos zurückgewiesen worden; endlich hätten die Sowjets einsehen müssen, wie ernst der Westen die »Null-Lösung« für die sowjetischen Mittelstreckenraketen meint und wie wenig hier auf eine Verhandlungsbereitschaft, auch bei den doch so entspannungsfreudigen Westdeutschen, zu rechnen ist. Und keiner aus der Garde der Parteiführer hat es sich nach seiner Unterredung mit dem Chef der KPdSU nehmen lassen, vor den Fernsehkameras sein Wohlgefallen an der Intransigenz heraushängen zu lassen, mit der er auf der »Lösung« des »SS 20-Problems« bestanden hätte, und so öffentlichkeitswirksam die eigene Lüge zu dementieren, Westeuropas Staatenlenker würden oder wären schon durch diese »Wunderwaffe« wer weiß wie erpreßbar.

Die vielbeschworene Tugend solcher deutscher Friedensdiplomatie ist nicht aus der Not geboren, sich einer »sowjetischen Bedrohung« zu erwehren, und schon gar nicht aus dem Zwang, sich im Kielwasser amerikanischer Großmachtpolitik bewähren zu müssen. Der »Zwang« löst sich unmißverständlich in die dankbar ergriffene Erlaubnis auf, die Sache der Freiheit auf deutsch und mit schwarz-rot-goldenem Sonderanspruch zu »verdolmetschen«.

2. Die Fortschritte der deutschen Einflußnahme auf die Geschäfte des Weltmarktes sind wie die Zunahme des politischen und militärischen »Gewichts« der BRD mit allerlei »guten Gründen« legitimiert worden. Wie es sich für eine Demokratie gehört, in der jede staatliche Entscheidung und Maßnahme mit dem Schein der Notwendigkeit versehen wird, der sich die maßgeblichen Instanzen beugen, anbequemen und in »unser aller« Interesse verschreiben, ist jede Abteilung der Politik mit einem historischen Ehrentitel, gewissermaßen mit einem echt deutschen Markenzeichen versehen worden.

Die sehr bereitwillige Übernahme des Bündnisauftrags, als gutgerüsteter NATO-Partner für den von Anfang an eingeplanten Kriegsschauplatz Europa die nötigen arbeitsteiligen Dienste zu verrichten, liest sich auf gut deutsch sehr schlicht: »Unsere Interessen liegen an der Seite der USA.« Oder: »Die USA garantieren unsere Sicherheit; Einigkeit und Recht und Freiheit, kurz alles, was das Leben lebenswert macht, sind ohne die sehr kostspielige Treue zum Bündnis nicht zu haben.« Außenpolitische Kontroversen zwischen den Parteien, die in der BRD um die Macht konkurrieren, verliefen über Jahrzehnte hinweg nach dem öden Grundmuster: Souveränität oder Unterordnung? – und endeten in schöner Regelmäßigkeit bei der tiefen Einsicht, daß erstens eine westdeutsche Souveränität ohne Unterordnung unter die Gebote der bewaffneten Freiheit nicht denkbar sei, zweitens aber Mitmachen noch allemal »unsere Stärke« garantiert. In Anlehnung an die Bescheidenheitsrituale der frühen Jahre gefielen sich auch spätere Führergenerationen darin, die unausweichliche Beteiligung am Jahrhundertunternehmen eines NATO-geordneten Weltmarkts herunterzuspielen. So eindeutig wie die Parteinahme bei jedem der zahlreichen Kriege ausfiel, so unübersehbar sich unter dem Schutz der Bündnisgewalt die westdeutschen Zuständigkeiten überall auf dem Globus erweiterten, so beflissen gingen deutsche Politiker mit ihrer Selbstdarstellung als der besseren und unschuldigen Hälfte des freien Westens zu Werke. Mittlerweile treten sie bei jeder Affäre der Weltpolitik, ob die Konkurrenz zwischen Nationen nun mit oder ohne Waffen ausgetragen wird, als selbstlose und unverdächtige Vermittler auf. Sie schlagen »Lösungen« vor, deren Nutzen für die Republik und ihre Geschäftswelt zwar nicht zu übersehen ist, aber durch die Brille eines verantwortlichen Nationalisten gesehen eben nur den gerechten Lohn für weise Zurückhaltung darstellt. Westdeutsche Politiker können tun und mitmachen, was sie wollen, – es ist Friedenspolitik.

Kaum haben sich die USA unter dem Druck der sowjetischen Nachrüstung (die diesen Namen allerdings nie erhielt) dazu bereit gefunden, den diplomatischen und geschäftlichen Verkehr mit der Sowjetunion für bedingt zulässig zu erklären, und ihn auch selbst gepflegt, da hat ein westdeutscher Kanzler eine exklusiv westdeutsche Aufgabe entdeckt. »Aussöhnung« mit dem Osten stand auf dem Programm, symbolisiert in einem friedensnobelpreisträchtigen Kniefall und exekutiert als Riesengeschäft. Der westdeutsch-russische diplomatische Deal hieß: bedingte Anerkennung der europäischen Machtsphäre der Sowjetunion, ja sogar – vorbehaltlich aller verfassungsrechtlicher Vorbehalte – der DDR und der polnischen Westgrenze gegen die sowjetische Bereitschaft, die BRD als gleichrangigen und gleichberechtigten weltpolitischen Kontrahenten zu berücksichtigen. Mit einem höheren Preis konnte die Sowjetunion den keineswegs prosowjetisch gemeinten Abschied der BRD vom »Revanchismus« wahrhaftig nicht honorieren. Sie hat einem westdeutschen Anspruch stattgegeben, der ihr umgekehrt von der Weltmacht Nr. 1 stets abschlägig beschieden wird. Und billiger war für die Bundesrepublik der Einstieg ins Ostgeschäft nicht zu haben, ein Einstieg, der mittlerweile die Früchte eines jahrzehntelangen friedlichen Handels hat reifen lassen. Was ein Fünfjahresplan taugt, fällt zu einem Gutteil in die Kompetenzen risikobewußter deutscher Banken, hängt von den positiven Bilanzen deutscher Aktiengesellschaften ab – und diese Geschäftspartner sind der Freiheit so sehr verpflichtet, daß sie sogar den Umgang östlicher Regierungen mit Dissidenten, Auslandsdeutschen und anderen Weltbürgern zum Argument gegen eine Unterschrift machen. Das Ganze lief im demokratischen Machtkampf ab als Streit um erlaubtes oder ungebührliches Entgegenkommen gegenüber den Moderatoren von Völkergefängnissen; da es aufgrund der unabweisbaren Vorteile stattfinden »mußte«, entschloß sich der westdeutsche Duden zur Aufnahme der Vokabel »Entspannungspolitik«, damit auch diese Ideologie in den nationalen Sprachschatz festen Eingang fand. Daß westdeutsche Politiker durch ihren Erfolg auch berechtigt sind, ihren östlichen Partnern die Bedingungen der Entspannung zu diktieren und auf europäischen Sicherheitskonferenzen vorzubuchstabieren, was Menschenrechte und politisches Wohlverhalten bedeuten, ist ebenso selbstverständlich wie die Tatsache, daß der Todestag eines erschossenen Gewerkschafters in Deutschland West nichts für einen 17. Juni in Deutschland Ost herzugeben hat.

An Gewalt und Not fehlt es weder in den zivilisierten Staaten Europas, für die Führer der BRD so verbindlich das Wort ergreifen, noch in den Ländern, die deutsche Außenminister stolz »unsere Partner in der Dritten Welt« nennen. Zur ideologischen Einordnung der Taten, mit denen die BRD zum Fortschritt von Wachstum und Armut beiträgt, leistet die selbstgerechte Nachkriegsbescheidenheit freilich gute Dienste. Die Bemühungen, aus Europa eine Anlagesphäre deutschen Kapitals zu machen und »die Gemeinschaft« zu einem Bollwerk deutschen Protektionismus und Freihandels auszugestalten, gelten nicht nur als Aussöhnung der im letzten Krieg tragisch gegeneinander aufgebrachten Völker, sondern als ehrenhafter Kampf gegen nationale Egoismen und für eine freie Weltwirtschaftsordnung. Was den zweckmäßigen Einsatz von Völkern der dritten Garnitur und die Freundschaft mit deren Befehlshabern angeht, pflegt die Bundesrepublik zufrieden darauf zu verweisen, daß ihr weder Kolonialismus noch das Beharren auf Privilegien in bezug auf Ex-Kolonien zur Last gelegt werden können. Ein untrüglicher Beweis für den Hilfscharakter, der deutsches Kapital und deutsche Waffen in aller Welt auszeichnet. Die BRD leistet nur Kapital- und Waffen-, also Entwicklungshilfe. Für die gebührt ihr jedes Mitspracherecht.

3. Den Klartext in bezug auf die Zielsetzungen und Wirkungen westdeutscher Politik hat in der fast vierzigjährigen Geschichte der BRD keine machtvolle Oppositionsbewegung in Umlauf gebracht. Öffentlich bekanntgemacht wird er von oben, durch die berufenen Führer der Geschicke eines Volkes, das zu spürbaren Einwänden, zu praktischer Kritik sich nicht veranlaßt sah. Der offizielle Antikommunismus der Adenauer-Ära ist von den Wünschen der Bürger ebenso unbehelligt betrieben worden wie die Benützung und Schädigung, wie die Aufweichung des Ostblocks während der »Entspannungsphase«. Daß an den Interessen der eigenen Nation, also auch immer an denen der NATO, die Welt zu messen ist, war und ist Hauptbestandteil des demokratischen Konsens in der BRD – über alle Gemetzel hinweg, aus denen sich die »kritische Weltlage« erahnen ließ. Stets ist es der jeweiligen Bundesregierung gelungen, ihre Werke als unabdingbare Reaktion auf die »Schwierigkeiten« glaubhaft zu machen, die ihr andere – von den schwachen europäischen Partnern über die Ölscheichs bis zu dem auf allerlei Umsturz erpichten Kreml – bereitet haben. Die »Wende« der deutschen Politik seit Beginn der achtziger Jahre ist auch keine Reaktion auf ein massiv vorgebrachtes Volksbegehren; der selbstkritische Charakter, den die Befürworter dieser Wende (die allesamt in Bonn ihren zweiten Wohnsitz haben) ihr zuschreiben, bezieht sich ausdrücklich auf den Erfolg der deutschen Beteiligung an der NATO, an Europa, am »Nord-Süd-Dialog«, an der »Entspannung« und vielem anderen mehr. Deutsche Politik in den achtziger Jahren beruft sich auf die Tatsache, daß »wir wieder wer sind« und deshalb »Verantwortung zu tragen« haben, ja die ganze Welt unter dem Gesichtspunkt »unserer Sicherheitsinteressen« zu behandeln haben. Die bundesdeutsche Debatte um die Frage: »Ist die Friedens-, Entspannungs-, Entwicklungs-, Bündnispolitik gescheitert?« lebt von der Gewißheit, daß neue und höhere Aufgaben anstehen und alte und tiefere Werte wieder zu beleben sind. In dem öffentlich inszenierten Streit, wieweit man vom erreichten Stand westlicher Weltregelung und Feindschaftserklärungen gegen Osten aus die bisherigen Fortschritte als gefährliches Versagen und Nachgeben gegenüber östlichen Drohungen interpretieren soll, sind sachliche Differenzen über Ziele und Mittel deutscher Politik kaum auszumachen. Da wird mit aller Freiheit um die Selbstdarstellung als fähige Verwalter deutscher Notwendigkeiten gefeilscht und dabei den Titeln Freiheit, Entspannung, Frieden der zeitgemäße Inhalt verpaßt. Nachdem die Werke der NATO- und BRD-Politik übereinstimmend als Antwort auf eine von sonstwo (d. h. letztlich immer von drüben) ausgehende Gefahr für Frieden, Freiheit, Weltwirtschaft und Selbstbestimmungsrecht der Völker ausgemacht sind, streiten sich Regierung und Opposition darüber, ob die Politik der Rüstungs- und Erpressungsdiplomatie unter dem Titel »Rettung der Entspannung« durch deutsche Politik im Bündnis oder unter dem Titel »Wiederherstellung eines stabilen Gleichgewichts« durch eine Politik der Stärke an der Seite der USA verkauft werden soll. »Sicherung des Friedens« heißt es beidemal, laut SPD durch die »leider« notwendige »Nach-« und sonstige Rüstung samt Osthandelsverschärfungen, laut Christenpartei durch eine endlich konsequent durchzusetzende »Nach-« und sonstige Rüstung samt Verschärfungen im Osthandel.

In seltener Eintracht streiten sich die maßgeblichen Parteien um die Sache der Freiheit. Einerseits läßt schon der weltpolitische Rundblick keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es um die Freiheit der Nation geht, daß sich das westdeutsche Staatswesen ziemlich beschränkt vorkommt, wenn es in sämtlichen Weltgegenden durch seine berufenen Sprecher seinen höchsten Wert in Gefahr sieht. Das unbedingte Recht auf »unsere« Zuständigkeit wird da proklamiert, und immerzu kommen Sachen vor, die »wir« nicht hinnehmen können, so daß diplomatischer, ökonomischer oder auch militärischer Druck erforderlich ist – und die Warnung an auswärtige Adressen, sich nicht einzumischen. Andererseits wird mit schonungsloser Offenheit ausgesprochen, daß eben diese Freiheit mit Wohltaten oder Genüssen der Bundesbürger herzlich wenig zu tun hat. Im Gegenteil: Alle Führerpersönlichkeiten wissen zu sagen, daß Opfer für die Freiheit in jeder Größenordnung fällig sind. Materielle Vorteile werden nie aufgezählt, wenn es um das höchste aller Güter geht; umgekehrt gebietet die Freiheit, in der man leben darf, das willige Hinnehmen der »schweren Zeiten«. Offenbar verträgt sich die Freiheit nicht nur sehr gut mit Gewalt, sondern auch mit Not: Bescheidenheit und die Bereitschaft zur bedingungslosen Unterstützung des Staates, der für sie da ist, werden als der ganz selbstverständliche Preis der Freiheit gefordert.

4. Diese Unbescheidenheit gegenüber ihrem Volk vertreten westdeutsche Politiker nach guter demokratischer Sitte so, daß sie jede ihrer Maßnahmen als unausweichliche Reaktion auf äußere und innere »Schwierigkeiten« darstellen, die sie vorfinden. Gestritten wird zwischen den Konkurrenten um die Macht darum, wer zur Erledigung der Notwendigkeiten berufen und befugt ist – und dieser Streit hat den Regierten eine »Wende« beschert. Dabei sind zwar sämtliche Zielsetzungen bundesdeutscher Politik zur Sprache gekommen in den kärglich unterschiedenen Lesarten des Auftrags, wie die Nation zu retten sei – die Aufmerksamkeit der professionellen und massenwirksamen Kritik des politischen Geschehens wurde jedoch von der Technik des Machtwechsels weitgehend in Beschlag genommen. Der Koalitionswechsel der FDP erfreute sich nebst den Erfolgsperspektiven der für die Macht in Frage kommenden Parteien der herzlichsten Anteilnahme, und der »Glaubwürdigkeit« der Beteiligten wie der »Regierbarkeit« des Landes galten die meisten Sorgen. Die Einleitung des Wahlkampfs durch ein neuartiges Mißtrauensvotum, dessen berechnete Inszenierung für niemanden ein Geheimnis war, wurde zeitweise das Problem Nr. 1 der Nation, so daß über den »Geist der Verfassung« sowie Stil- und Methodenfragen aller Art so ausgiebig gerechtet werden durfte, daß die längst vollzogenen Übergänge in Sachen politische Ökonomie zum bloßen und selbstverständlichen »Hintergrund« herabsanken, die Zwecke der Nation endgültig nicht mehr »zur Diskussion« standen.

Damit ist keineswegs gemeint, daß sie in der BRD nicht zur Sprache kommen. Wenn demokratische Parteien um ihre Ermächtigung werben und dabei mit dem Selbstlob hausieren gehen, sie wären noch nie so geschlossen wie auf ihrem letzten keimfreien Parteitag dafür eingetreten, die Opfer durchzusetzen und sich darin auch von niemandem stören zu lassen; wenn sie in ihrer Propaganda mit sämtlichen sozialkundlichen Vorurteilen aufräumen, die der Demokratie den Vorzug zuerkennen, die Regierenden würden sich an den Wünschen ihrer Untertanen beschränken oder auch nur orientieren, dann künden sie auch von den Zielen, die sie aufgrund der »Lage« für fällig erachten.

Diese »Lage« heißt spätestens seit 1982 schlicht und einfach Krise: Erstens befand sich das Kapital dank seiner jahrelangen Geschäftserfolge tatsächlich in der Krise, weil es seine Akkumulation über die Schranken des Marktes hinausgetrieben hatte und nun mit der leidigen Tatsache konfrontiert war, daß sich die Produktion und deren Erweiterung nach seinem Maßstab nicht mehr machen ließ; die rentablen Anlagesphären waren dezimiert, nachdem über Jahre hinweg der durch Staat und Geschäftsbanken ständig verfügbare Kredit für recht erfolgreiche Geschäfte ausgenutzt worden war. Die Benützung der herrlichen und nach wie vor vorhandenen Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit, der »Kapazitäten«, lohnte sich nicht mehr, und das schöne »Wachstum« kam zum Erliegen. Zweitens galt diese Störung des höchsten ökonomischen Anliegens, das das bürgerliche Gemeinwesen kennt und dem es sich mit seinen ganzen faux frais verpflichtet weiß, als untrügliches Zeichen dafür, daß der Staat und die Menschheit insgesamt in einer Krise seien, was seitdem an den Finanzen des Staates und am deutschen Wald ebenso nachgewiesen wird wie an den vergammelten Jugendlichen und an den Arbeitslosen. »Krise« wurde zum Synonym nicht nur für fehlenden Profit, für das Erlahmen des Stachels im kapitalistischen Geschäft, sondern auch für sämtliche »Probleme«, die Staat und Kapital für die Regierten und Benutzten geschaffen hatten – und, nicht zuletzt, für die »Probleme«, die sich die politische Verwaltung nun als Programm zurechtdefinierte.

Noch unter der sozialliberalen Koalition lief unter dem Titel »Sparprogramm« die staatliche Krisenbewältigung der 80er Jahre an, die unter Berufung auf die Opfer der bisherigen Konjunktur ein »Haushaltsloch« zum Mißstand erklärte. Die »Rettung des Sozialstaats« kam auf die Tagesordnung. Der bürgerliche Staat, der mit seinem System von Zwangsversicherungen mit einem festen Bestand an »sozial Schwachen« rechnet, deren Auskommen die freie Marktwirtschaft nicht garantiert und deshalb ein gesetzlich verordnetes Sparen der Betroffenen ermöglichen soll, hat befunden, daß er dieser »seiner Leistung« nicht mehr nachzukommen in der Lage sei. Solange diese »Leistungen« nur von einer verschwindenden Minderheit in Anspruch genommen wurden, dienten die Zwangsbeiträge als Posten in seinem Haushalt – als eine seiner Geldquellen. Kaum haben Millionen die »Sozialleistungen« nötig, befindet der Staat sie für unmöglich – weil sie ihn »belasten«. Die sozialdemokratisch propagierte »Rettung des sozialen Netzes« nahm ihren Lauf; daß das Volk »über seine Verhältnisse gelebt« hatte, war den regierenden Machern nun klar; und unter Verweis auf die bereits erzielten Opfer wurde »Solidarität« verordnet, wurden die Beiträge angehoben und die »Leistungen« in allen Abteilungen des Sozialwesens gemindert. Der für »notleidend« erklärte Staat wußte sich berechtigt, unter täglich vierundzwanzigmaliger Beschwörung des Problems Nr. 1, »Arbeitslosigkeit«, Armut und Not zu stiften – üblich ist seitdem der vielsagende Verweis auf die noch fortgeschritteneren Maßstäbe in den USA, wo dasselbe Programm millionenfachen und in Reportagen goutierten Pauperismus hergestellt hat.

Auf der anderen Seite ist – ebenfalls noch unter der alten Regierung – die Dezimierung der Staatsschulden zwar immerzu zum fälligen Hauptanliegen hochgeredet, aber nie vorgenommen worden. Dies jedoch nicht etwa, um per staatlichen Kredit ein »Beschäftigungsprogramm« welcher Art auch immer in Gang zu bringen. Sondern mit dem ausdrücklichen Beschluß, daß dergleichen heute nicht machbar sei. Da kannten sich die Macher sofort aus: Staatlicher Zwang und öffentliche Hilfe konnten die Geschäftsbedingungen des Kapitals nicht »ersetzen« – und die waren nun einmal nicht gegeben. So wurden an jeder spektakulären Pleite die Prinzipien der »freien Wirtschaft« und die gebotene Ohnmacht des Staates gebührend besprochen. Freilich nicht ohne den für die Glaubwürdigkeit eines ordentlichen Gemeinwesens so unerläßlichen Hinweis auf die auch noch vorhandene Macht, die zur Bereinigung der Schuldfrage in Sachen »Krise« eingesetzt gehört. Der Mißerfolg von Teilen der nationalen Geschäftswelt hat sich nach offizieller Lesart nämlich nur wegen der unziemlichen Praktiken der ausländischen Konkurrenz eingestellt – und zu deren Domestizierung will eine deutsche Regierung selbstverständlich alles Nötige unternehmen. Die einschlägigen Mittel der »Abhängigkeit«, die ja sehr fordernd »beklagt« werden, sind vorhanden, so daß bundesdeutsche Diplomatie seit der Krise zu einem Gutteil aus Erpressungsmanövern in der alten Frage »Schutzzoll und Freihandel« sowie deren Abwandlungen besteht. Dies wird für um so dringlicher erachtet, als eine Schädigung der Wucht, die der schwarz-rot-golden eingefärbte Kredit und seine Währung auf dem Weltmarkt entwickelt haben, nicht in Frage kommt. Das wäre nämlich durchaus das ökonomische Gebot der Krise, daß als Kapital zirkulierende Eigentumstitel, Wertpapiere wie Konten, die einer Vermehrung gar nicht mehr fähig sind, verfallen. Der Idealismus, untauglich gewordene Geschäftsmittel dennoch als solche zu behandeln, ist gerade in Krisen nicht Sache des Kapitals; wenn freilich die Geschäftswelt diesen Idealismus durch die Gewalt des Staates, der den Kredit beaufsichtigt und sein Funktionieren wie Vorhandensein garantiert, als Pflicht zum Geschenk gemacht bekommt, verhält sie sich nicht anders als unter der gar nicht freien Marktwirtschaft des »Dritten Reiches«. Sie akzeptiert dankend und sieht ein, daß eine Entwertung des national garantierten Kredits und seiner Ausläufer unter »heutigen Bedingungen« eine Fortsetzung der Krise wäre, die die BRD sich nicht leisten kann. Gegen die Kontraktion des Marktes lassen sich auch in Japan, Europa und Afrika recht wirksame Vorstöße machen; eine Kontraktion des Kredits – die Reduktion fiktiven Kapitals, das die Konten der Bundesbank wie der großen Geldinstitute bevölkert und schließlich das Geschäftsmittel der Nation darstellt – kommt eben deswegen aber gerade nicht in Frage. Das wäre ja gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die weltweite ökonomische Präsenz der Nation; eine Weltwirtschaftsmacht würde so eingestehen, mit ihrer inneren Größe und äußeren Pracht, den Unterhalt Dutzender auswärtiger Souveräne eingeschlossen, »über ihre Verhältnisse« gelebt zu haben. Ein Eingeständnis, das umgekehrt alle kapitalistischen Brüder zu einem gleichartigen Offenbarungseid zwingen müßte – und deswegen unterbleibt, freilich nicht aus Bündnistreue. Die politischen Subjekte der Weltwirtschaft haben sich nicht dazu einen weltweiten Kreditüberbau für ihre konkurrierenden Geschäftswelten wie für ihre eigene Ausstattung mit Machtmitteln wie schließlich für ihre Außenpolitik geschaffen, um dann doch »bloß noch« für dessen einheimischen Ausgangspunkt einzustehen: So haben sie sich ja die Macht zugelegt, die wiederum die Glaubwürdigkeit ihres nationalen Kredits garantiert. Diese Garantie hat keineswegs den idealistischen Inhalt oder gar den bloß metaphorischen Sinn, daß die ökonomischen Erträge der Nation, womöglich in Gebrauchswerten gemessen, so etwas wie die Deckung der Guthaben und Verbindlichkeiten darzustellen hätten. Gedeckt und garantiert ist in »Weltwährungsfragen« dieser Art die diplomatische Überzeugungskraft von Nationen, deren ökonomischen Mitteln sich nur allzu viele Staaten nicht entziehen können, weil ihnen das Rechtsmittel fehlt, das ihnen Widerspruch einzulegen gestatten würde. Dieses Rechtsmittel heißt Gewalt; und die ist allemal dort am besten ausgestattet, wo sie die Erzeugung von Reichtum erfolgreich geboten hat. Deren Untertanen haben daher auch ein unwidersprechliches – weil von ihrer Obrigkeit ihnen beigelegtes – »Recht« darauf, daß ihr Staat auch und erst recht in einer Weltwirtschaftskrise zu allerletzt fiktiven Reichtum streicht; und den schönsten Anspruch auf die Fortführung der internationalen Konkurrenz unter den härteren Bedingungen eines längst krisenträchtig gewordenen Kreditüberbaus haben selbstredend deren erste Opfer: die Millionen aus Geschäftsgründen Entlassenen.

Daß bei diesem Typ der Krisenbewältigung die Arbeitslosenzahlen sinken, will allerdings kein maßgeblicher Politiker behaupten – im Gegenteil. Vorsorglich werden Hochrechnungen auf Jahre voraus veranstaltet, die ein schönes kontinuierliches Steigen verheißen. Gute Dienste tun die im und für den guten Geschäftsgang Entlassenen wie die durch Pleiten überflüssig Gemachten eben nur als Opfer, die sich für den Anspruch der Nation auf Erfolg zitieren lassen; den Beweis, daß ihr Wohlstand sich mit der Durchsetzung der Republik einstellt, mag kein Politiker antreten. Beliebt ist dagegen der Verweis auf die Jahre nach dem Krieg, in denen das Volk gezeigt hat, was es verträgt. Der Krisenfanatismus der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit wird von ihren Volksvertretern ausgiebig mit der Botschaft versorgt, daß alle dauerhaft unter den neuen Geboten der staatlichen Notwendigkeiten zu laborieren haben – weil dies allein dem Staat die Freiheit garantiert, die er braucht.

Die ständige Erhöhung der Staatsschulden darf dabei von niemandem als Indiz dafür gewertet werden, daß das »Gemeinwesen« offenbar gar nicht daran denkt zu sparen. Schließlich ist die Behandlung der Mehrheit als Kostenfaktor für den ökonomischen Behauptungsdrang der Republik selbst nicht mehr und nicht weniger als ein Stück Sicherheitspolitik. Genauso wichtig, ja eigentlich viel gravierender – weil die Voraussetzung einer gelungenen Abwicklung jeder Phase der Konjunktur – ist der Kampf gegen die Gefährdung der politisch-militärischen Sicherheit. Ohne nachdrückliches Bestehen der NATO darauf, daß die ganze Welt Geschäfts- und Einflußsphäre der »Industrienationen« bleibt, wären die Opfer der arbeitenden Menschheit glatt »sinnlos«, und insofern ist die Unterordnung der Lebensansprüche unter das Ziel »Wachstum« gerade in der Krise zwar unerläßlich, aber nicht hinreichend. Das zweite Charakteristikum der »Lage« lautet nämlich auch in aller Öffentlichkeit schon seit langem: es fehlt an allen Ecken und Enden bei der Verteidigung. Und vor dem Programm einer endgültige »Sicherheit« in militärischen Dingen stiftenden »Null-Lösung«, die auf ganz andere Resultate berechnet ist als auf den Abbau von ein paar russischen Raketen – daß die SS 20 nicht Anlaß der »Nachrüstung« war, weil es sie bei ihrem Beschluß noch gar nicht gab, wird 1983 ebenso offen heraus verkündet wie der Beschluß, höchstens einmal propagandistisch »neue« Kompromißbereitschaft in Genf anzusagen, die ein Entgegenkommen nicht vorsieht –, haben sich die »Ansprüche« von wohlstandsverwöhnten Deutschen schon gleich zu relativieren.

Dennoch ist das »politische Leben« im Frontstaat auch in den 8oer Jahren nicht ohne »Bewegung« geblieben. Sowohl die Unterwerfung der Lohnabhängigen unter die Bedürfnisse des Kapitals und seine Konjunktur wie die Verpflichtung derselben Leute als Staatsbürger auf den Nationalismus, der sich »im Bündnis« gegen den Osten bewähren will, ist bislang erfolgreich abgewickelt worden – und deshalb auch das Mittel für die »Wende«. In einer funktionierenden Demokratie wie der bundesrepublikanischen gibt es eben eine Konkurrenz um die Macht, in der sich politische Parteien die Akklamation des offiziellen Nationalismus zunutze machen. Alle Erfolge der gerade im Amt befindlichen Regierung, und vor allem die Ideologien, mit denen diese ihren Untertanen die Maßnahmen deutet, die sie ihnen aufherrscht, geraten da zum Hebel für Kritik: die ausgemalte »Not« der sozialliberalen Regierung, welche sie angeblich zu ihren Entscheidungen zwang, wurde in den Einwänden der christlichen Konkurrenz zu einem stattlichen Sündenregister; Staatsverschuldung, Arbeitslose und Pleiten wurden Beweise für die Zerrüttung der Nation, die nun der »Rettung« bedurfte. Sollizitiert wurde die einzige demokratisch erlaubte Form des »Ungehorsams«: der Stimmzettel, durch den die vorhandene Unzufriedenheit eine andere Mannschaft ermächtigt, die noch nicht einmal darauf angewiesen ist, die Beseitigung eines einzigen Anlasses für Unzufriedenheit als ihr Vorhaben vorzuspiegeln. Sie bringt »Deutschland in Ordnung«, fordert neue Opfer und hetzt bei der Fortsetzung des Vorkriegsprogramms auf die »Erblast«, die jede »Härte« rechtfertigt. »Im Interesse Deutschlands« kalkuliert die alte Regierungspartei auf die schlechten Erfahrungen des »Wählers« mit den andern im Amt, so daß schon in der Wahlkampfagitation der Nationalismus des totalen Wählers und sonst nichts zum Zuge kommt – jener Nationalismus, der die Untertanen allemal teuer zu stehen kommt, wenn er unter Berufung auf die ausgezählten Stimmen an ihnen exekutiert wird.

Auf diese Weise ergänzen sich in der deutschen Demokratie der 80er Jahre – vor wie nach Wahlen, mit oder ohne außerordentliche Urnengänge, unter dem Gebot der einen wie der anderen Volkspartei – öffentliche Rekrutenvereidigungen im Fackelschein mit der gezielten Schaffung eines modernen Pauperismus, steuersparende Parteifinanzierungsskandälchen mit Lohnsenkungen jeder Art und eine ungehinderte Aufrüstung mit ebenso neuen wie befreienden Richtlinien für den Waffenexport.

Eine Beschränkung der Souveränität – etwas, das der Demokratie zumindest in Sozialkundebüchern zum Lob gereichen soll – ist dabei auch nicht von einer Seite üblich, die sich so viel als die institutionalisierte Opposition der Lohnabhängigen in der Demokratie zugute hält. Der DGB bringt es nun schon seit Jahrzehnten fertig, die Opfer seiner Mitglieder als »Aufbau« der Bundesrepublik zu feiern. Alle Klagen über die nicht zu übersehenden Kosten, die Kapital und Staat dem Geldbeutel und der Gesundheit der gewerkschaftlich Vertretenen aufherrschen, will ein Arbeiterfunktionär von heute weder als Versäumnis seiner Organisation noch als Auftrag an sie verstanden wissen. Höchstens als ihr Recht, mit zu beraten und mit zu bestimmen, wie sich der »soziale Frieden« am gedeihlichsten zum Wohle der Nation ausnützen läßt. In Sachen Krise ergehen sich sämtliche Organe der Gewerkschaften in der Propaganda der Ideologien, die Politiker und ihnen geistig kongeniale Wissenschaftler in die Welt setzen. Unternehmer sind prinzipiell »Arbeitgeber«, für deren florierende Geschäfte »vernünftige Lohnabschlüsse« immer zu tätigen sind. Höchstens der Vorwurf, sie würden – entgegen einer höheren nationalen Verpflichtung – Geld behalten statt Arbeiter arbeiten zu lassen, wird da noch laut. Und in der nationalen Kritik am Ausland sind sie sich allemal mit den Regierenden einig: von den einmal modischen Einwänden gegen Ölscheichs über die Vorwürfe gegen »die Japaner« bis zu den obligatorischen Wiederholungen der tiefen Erkenntnis, daß deutsche Arbeiter unter der SS 20 ganz besonders zu leiden und für die entsprechenden »Gegenmittel« geradezustehen haben, verstehen sie sich auf jede aktuelle Ideologie zur »Erziehung« von Proleten zu Nationalisten. Alles, was der bundesrepublikanische Staat seinen arbeitenden Bürgern »vorenthält«, trifft auf Verständnis bei dieser Gewerkschaft – die mitten in der Vorkriegswirtschaft auf Demonstrationen ganz erlesener Art viel mehr Wert legt als auf den Einsatz für Korrekturen am Preis der Arbeit. In Veranstaltungen zur »Rettung des Sozialstaats«, die bewußt nicht als Kampfansagen organisiert sind, läßt sie sämtliche Rechte der Arbeiter hochleben – als ihr Verdienst; lobt die Tüchtigkeit und Opferbereitschaft ihrer Mitglieder – preist also die Pflichterfüllung. Daß »Gerechtigkeit« kein Kampfprogramm mehr ist – was sie in den ersten Tagen der Arbeiterbewegung war –, sondern das schiere Ideal einer Zwangsgemeinschaft, zu der jeder in seinem Stande die ihm auferlegten und gemäßen Opfer beizusteuern hat, führt der DGB nach allen Regeln der staatsbürgerlichen Moral Monat für Monat vor – vor allem in Tarifrunden. Die »Wende« hat er pflichtgetreu mit Feiern absolviert: zum 50. Jahrestag der faschistischen Machtübernahme ist ihm die Unerträglichkeit eines Staatswesens am Herzen gelegen, das Gewerkschaften nur als Beauftragte der Nation wirken lassen wollte. Einen Widerspruch zu den gleichzeitig veröffentlichten »Wahlprüfsteinen«, in denen dem Arbeiter empfohlen wird, sich ganz gewissenhaft der Anliegen der BRD in »schweren Zeiten« anzunehmen, haben nur wenige Gewerkschafter bemerkt. Die sind freilich in dieser Organisation, die den Part einer freiwilligen Staatsgewerkschaft spielt, nicht gerne gesehen. Ihnen ist nämlich jene »Vernunft« fremd, die den fliegenden Wechsel zwischen Gewerkschafts- und Politikerkarrieren in der BRD-Demokratie so selbstverständlich macht. In diesem Staat ist es offenbar dasselbe, Arbeitervertreter zu spielen oder Minister zu sein.

5. Immerhin blieb das Bild der nationalen Einheit eine Zeitlang getrübt – und zwar nicht durch Freunde des Klassenkampfes, die gegen die Freiheit von Kapital und Staat einigermaßen wirksam Einspruch erhoben, sondern durch Freunde des Friedens. Der gar nicht schwierige Schluß auf den Zweck einer Politik, die in der Vermehrung ihres militärischen Potentials ihr aktuell wichtigstes Mittel hat, ist allerdings selbst von den Bürgern nicht gezogen worden, die in erheblicher Anzahl Zweifel angemeldet haben – daran, ob ihre Regierung den richtigen Weg geht, wenn sie sich an der Sicherung des Friedens zu schaffen macht. Die Friedensbewegung hat sich nämlich der offiziellen Doktrin angeschlossen, daß Politik, die deutsche vor allem, zur Verhinderung von Kriegen veranstaltet wird; und vom Glauben an diese Lüge, die noch stets in Zeiten der Kriegsvorbereitung ihre Konjunktur bekommt, zehrt die in Demonstrationen vorgetragene kritische Haltung zu den einschlägigen Entscheidungen der amtierenden Regierung. Umgekehrt haben sich die als Sicherheitsbeauftragte der Nation angesprochenen Politiker samt ihren amerikanischen Kollegen in kaum zu überbietendem Zynismus dieses Glaubens bedient und den Protest zurückgewiesen.

Auf das öffentlich wiederholt abgelegte Bekenntnis »Wir haben Angst!« reagierte der alte Kanzler im Brustton der Entrüstung und mit der Versicherung, daß man ihm genauso unterstellen müsse, mit Angst und Sorge erfüllt zu sein. Seinen Willen zur Aufrüstung hätte man eben aus dieser seiner Besorgnis heraus zu würdigen und als Wahrnehmung seiner höheren und damit einzig gültigen Verantwortung zu billigen. Sekundiert wurde er von christlichen Kollegen in Bonn und von amerikanischen »Verantwortlichen«, die noch eindeutiger klarstellten, daß einem Bundesbürger zwar Angst vor der SS 20, nicht aber vor den Waffen der freiheitlichen »Politik der Stärke« ansteht. Die Herrschaften im NATO-Hauptquartier haben zu diesem Behuf den Spruch »Lieber rot als tot!« ausgegraben und ihn als Ausweis einer mit der Freiheit und ihrem Schutz unvereinbaren Haltung gebrandmarkt. Ganz nebenbei ist ihnen auch noch die Unverschämtheit eingefallen, daß Gerät und Soldaten der NATO-Streitkräfte nicht zuletzt dafür ersonnen worden wären, daß Friedensdemonstrationen möglich bleiben.

Über öffentliche Auseinandersetzungen dieser Art ist man zwischen Regierung, Opposition und Friedensbewegung dahin übereingekommen, sich keinesfalls mehr wechselseitig den »Friedenswillen abzusprechen. Die Redensart von der »Friedensfähigkeit« machte die Runde – und die Vorstellungen der streitenden Parteien unterzogen sich gegenseitig einer Überprüfung in bezug auf ihren Realismus. Ausgehend von der auch noch als tröstlich empfundenen Vorstellung »Krieg lohnt sich nicht!« – mit der moderne Bürger von den nüchternen Gesetzen der kapitalistischen Welt immerhin soviel mitbekommen haben wollen, daß es in ihr um Geschäfte geht und ein zerbombtes Land nebst Millionen Leichen unmöglich dem ansonsten üblichen Materialismus selbst ihrer Staatsmänner und Wirtschaftsmanager eine Geschäftsgrundlage bietet –, gelangten die Diskutanten der anonymen »Kriegsgefahr« zu einem gemeinsamen Fehlschluß: »Krieg kann also niemand ernstlich wollen!« Mit Ausnahme einer Minderheit, die in den Gewinnen von Rüstungsmonopolen doch noch ein materialistisches Motiv für Kriege entdeckte, das zum üblichen Geschäftsinteresse »paßt«, fanden sich so die Zuständigen und Betroffenen zu einer nationalen Suche nach dem Weg zur Erhaltung des Friedens zusammen. Der Unterschied zwischen den beiden Lagern ist allerdings kaum zu übersehen: Während die Zuständigen, darin keineswegs (bestochene) Knechte der Rüstungsindustrie, sondern deren Auftraggeber, in der Herstellung der Kriegsbereitschaft den »realistischen« Kurs praktizieren, gestatten sich die Betroffenen und in Zweifel Gestürzten die theoretische Eröffnung von Alternativen. Ob aus christlicher Weltanschauung oder aufgrund der Perspektiven, die sie der veröffentlichten Rüstungsdiplomatie und Strategie entnehmen, zu Skeptikern des Bonner und Washingtoner Kurses geworden – keine Beschwerde und kein Appell versäumt es, die verantwortliche Regierung bei ihrer »Verantwortung für den Frieden« zu »packen«.

Längst sind die Friedensdemonstranten dazu übergegangen, das Bekenntnis abzulegen, das man von höherer Stelle eingefordert hatte. »Einseitig« wollen sie nicht sein, also auch nicht zwischen den Urhebern und den Adressaten der aktuellen und so ominös zutage getretenen »Kriegsgefahr« unterscheiden. Selbst die »linken« und als »moskaufreundlich« denunzierten Anhängsel der Friedensbewegung sind angesichts beschlossener und täglich abgewickelter Aufrüstung ganz brav für »Abrüstung in Ost und West«! Während der Kanzler für das Bedürfnis nach Frieden auch einmal tiefes menschliches Verständnis äußert, um sich Kritik an seiner praktischen Friedenspolitik zu verbitten, während christliche Politiker den mit der Bergpredigt bittenden Friedensfreunden auf Kirchentagen und sonstwo ihr »Mißverständnis« zurechtrücken (die moralischen Maßstäbe ihres Glaubens haben für die Erduldung von Gewalt, für Gehorsam zu dienen, nie und nimmer jedoch für eine Rechtfertigung von Auflehnung gegen unangenehme strategische Vorhaben und Kalkulationen der Obrigkeit mit ihrem Volk), ergeht sich die Friedensbewegung in »Vorschlägen« zum Verzicht auf die gerade per Militärhaushalt georderten Waffen. Aber nicht in der veröffentlichten Absicht, nach der geeigneten Form des Kampfes Ausschau zu halten, die es den rüstungsbeflissenen Ministern und Parlamentariern unmöglich macht, sich auf Kosten der arbeitenden und wählenden Mehrheit ihre Raketenpolitik zu genehmigen. Vielmehr im Zutrauen auf das Gehör, das die Alternative zur offiziellen Friedenspolitik bei den Machern der beklagten Aufrüstung zu finden wünscht. War der alten Ostermarschbewegung bei ihrem Protest gegen die atomare Bewaffnung die »Theorie der Abschreckung« präsentiert worden, so beruft sich die heutige Friedensbewegung auf den Segen der »Abschreckung«, auf die Lüge von der »stabilisierenden Wirkung« von Kriegsmaterial für den Frieden – zählt Raketen und sortiert sie nach »ausreichend«, »überflüssig« und »zu viele«. Leute, die erschrocken sein wollen über die kaltschnäuzigen Berechnungen ihrer Strategen, legen ohne weiteres den Maßstab der Kriegsverhinderung an den Ausbau der Streitkräfte an; und wenn sie dann nach reiflicher Berechnung des gleichgewichtsdienlichen Arsenals zu der betrüblichen Feststellung kommen, daß ihre politischen Führer anderen Kalkulationen folgen, monieren sie keineswegs deren Verlogenheit oder suchen nach den Kriterien, denen die NATO-Regierungen sich verschrieben haben. Lieber warnen sie Gott und die Welt nochmals eindringlich vor der »Gefahr«, die von den Mitteln der Kriegsführung ausgeht, geben zu bedenken, daß »zu viele« Tötungsmaschinen herumstehen – nämlich genug, um die feindliche Bevölkerung jedes Lagers gleich mehrmals um die Ecke zu bringen –, und verraten damit gleich zweierlei: Erstens, daß sie auf Einsichten in kriegstechnische Kalkulationen ihrer Gegner gar nicht scharf sind, also gar nichts wissen wollen von der Kalkulation mit einem Sieg, für den die Vernichtung von Menschenleben eine Selbstverständlichkeit ist und der mehr erforderlich macht als das zum Umbringen von Menschen nötige Sprengstoffquantum; zweitens, daß sie bei ihrer von oben so verteufelten Protestbewegung weniger die Glaubwürdigkeit der hohen Herren für sich und andere in Abrede stellen wollen als ihre eigene Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen.

Diese Glaubwürdigkeit steht und fällt mit der Einhaltung der Gebote, welche von den Zuständigen der bundesdeutschen Demokratie seit den ersten Tagen erlassen werden. Dabei genügt es nicht, mitten in Kriegszeiten – im Sommer 82 wurde ja an mehreren Stellen des Erdballs manches Gefecht ausgetragen, bei nicht zu knapper Beteiligung von NATO-Staaten, NATO-Waffen und Freunden der BRD! – den Fehler zu begehen, für »den Frieden« zu sein und darin die Phrasen der großen Politik von unten zu wiederholen. Das Absehen von den Gegensätzen der Weltpolitik, die immer wieder einen Waffengang für die Macher der »Probleme« und »Krisenherde« nötig erscheinen lassen, darf zwar als Sorge um das rechte Gelingen der »Friedenspolitik« vorgetragen werden, jedoch nicht als Gegnerschaft zu ihr. Der Verdacht, mit dem rührseligen Ruf nach Frieden das Vertrauen aufzukündigen, die eigenen Herrschaften beim Regieren und Aufrüsten stören, sie also bekämpfen zu wollen, muß entkräftet werden! Die deutsche Friedensbewegung hat sich diese Aufgabe in einer Weise zu Herzen genommen, die jeden Anschein von Opposition zerstreut. Und auch von »Opportunismus«, von um des Anklangs bei zu werbenden Teilen der Bevölkerung willen eingegangenen »Kompromissen« bei der Formulierung ihrer Kritiken und programmatischen Aufrufe, kann kaum die Rede sein. Vom Stolz auf die Vielfalt ihrer Unterabteilungen, vom beständigen Hinweis darauf, daß jeder Deutsche gleich welcher politischen Gesinnung in ihr Platz habe, ist der Übergang zum streitbaren Ausschluß von Leuten mit der verkehrten Auffassung schnell zu haben. Der Aufruf zur Toleranz untereinander wird da gleich zur Achtung »Andersdenkender« erweitert, unter die dann die Politiker fallen, die jenes gefürchtete Kriegsgerät bestellen, um es von ihren Untertanen bezahlen und bedienen zu lassen. Die Sorge um »den Frieden« gerät da unversehens zum Bemühen um die Erhaltung des »inneren Friedens«, zum Ausschluß von Gegnern der Kriegsvorbereitung, die den Verdacht eben nicht entkräften wollen, daß sie den autorisierten Veranstaltern von Geschäft und Gewalt das Vertrauen und den Dienst aufzukündigen angetreten sind. Selbst »Linke«, die diesen Verdacht um der Zugehörigkeit zu einer solch breiten Bewegung willen ausräumen möchten, können sich der sehr prinzipiellen »Fahndung« nach »einseitigen« Kritikern, die zwar auch »Frieden« sagen, aber nicht mit den »guten Deutschen« gegen Moskau sind, nicht entziehen. Bundesdeutsche Linke pflegen ihren Nationalismus »daher« durch die konsequente Unterlassung von Kritik an und in der Friedensbewegung – sie hoffen auf sie. Sie sind sich sogar – wenn sie nicht wie die DKP den Verzicht auf die Stichworte »Afghanistan« oder »Polen« in irgendeiner Resolution für den Fortschritt der Friedensbewegung in Richtung »wirklicher Friedenspolitik« halten – mit den alternativen Verteidigern »unserer« Freiheit darin einig, daß der geistige Zusammenschluß mit einer staatlich gemaßregelten »Friedensbewegung Ost« ein ganz unverdächtiges gesamtdeutsch-nationales Anliegen ist und daß Solidarität mit Solidarnosc gegen den russischen Unfreiheitsdogmatismus sich für einen kritisch-verantwortlichen Staatsbürger gehört, obwohl und gerade weil die NATO-Politiker dort ein »Argument« für ihren Rüstungskurs entdeckt und nach Kräften praktisch gegen den Ostblock geltend gemacht haben. Für einen Grund zur westlichen Einmischung halten sie das allemal, und die praktizieren sie dann auch – ganz moralisch – friedlich und unter geflissentlicher Absehung davon, daß die regierenden Politiker diese nationalen Freiheitsideologien längst aus ganz anderen praktischen Gegnerschaftserwägungen mit genau den grundlegenden und letzten Mitteln ihrer Staatsgewalt, den Waffen und der Drohung mit ihrem Einsatz, in die Tat umsetzen. Hier wie anderswo profiliert sich die friedensbewegte Bürgerschaft als sauberer Anwalt nationaler Freiheitsanliegen und macht das Ideal eines besseren Imperialismus – Gegnerschaft gegen Osten eingeschlossen – ohne seine militärischen Gewaltmittel praktisch. Dabei fehlt ihnen nicht einmal der Realismus, sich mit der tagtäglich vorgeführten Tatsache abzufinden, daß ihre Vorstellung von einem Deutschland, einem Europa, einem Westen, kurz einem Imperialismus ohne Kriegs- und Weltkriegskalkulationen, nur ein Wunschtraum von Bürgern ist, der nur diese letzte, aber unerbittliche Konsequenz der mit Geschäft und Gewalt geregelten Weltordnung kritisiert. Angesichts des ständig wachsenden Waffenpotentials und seiner beständig zunehmenden Drohung gegen die Sowjetunion demonstrieren die Repräsentanten der Friedensbewegung an all den beständig aufgemachten Entscheidungspunkten für die »Verteidigung der Freiheit«, ob sie nun Afghanistan, Polen, SS 20, Pershing, El Salvador oder Türkei heißen, daß sie eine friedlichere und angeblich erfolgreichere Alternative anzubieten hätten, und daß sie sogar selber noch all die Entschuldigungsgründe in Form von angeblichen »Schwierigkeiten« speziell deutscher Politiker dafür zu liefern bereit sind, daß ihren Vorschlägen kein Gehör geschenkt wird. Der linke Anhang der Friedensbewegung hält dies nicht für einen Fortschritt auf dem Weg zur »Einsicht« in – wenn es dann soweit sein sollte – »leider unabweisliche Notwendigkeiten« oder auch »tragische Verstrickungen« der Politik, sondern leistet sich ungerührt die Interpretation, dieser immer friedlicher werdende Bürgerprotest sei irgendwie schon auf dem besten Weg zum Sozialismus. So bestätigen Fortschrittsmenschen ihren Übergang zu einer Vorstellung von Sozialismus, der mit dem Ideal des Friedens zusammenfällt. Für den Klassenkampf scheint ihnen das »Modell« bzw. der »Kriegsschauplatz Deutschland« keine Gründe mehr zu liefern.

Von der allzu fordernd klingenden, weil noch Mißtrauen enthaltenden Parole »Frieden durch Politik« ist die Friedensbewegung abgekommen – auf ihrer großen Demonstration im Sommer ’82 hat sie »Frieden statt Politik« zur Schau getragen. Während in den Bonner Amtsgebäuden die NATO-Führer Zeugnis davon ablegten, was sie unter »Friedenssicherung« verstehen – Falkland war gerade abgewickelt, Israel traf gerade die Vorbereitungen zur Invasion im Libanon –, nämlich die Vorkriegs-Konkurrenz der Waffen in Richtung auf einen Sieg fortzusetzen, gefielen sich 250 000 Demonstranten in der Zurschaustellung ihrer Harmlosigkeit. Ganz bewußt verwarfen sie Parolen und Argumente gegen den in der bundesdeutschen Hauptstadt anwesenden Kriegsrat – und waren wieder einmal ganz einfach für »den Frieden«. Mit diesem »menschlichen« und alle »häßlichen Töne« vermeidenden Auftreten erniedrigt sich die bundesdeutsche Friedensbewegung wie ihre Vorläufer in vergangenen Vorkriegszeiten zur Begleitmusik der Kriegsvorbereitung – und im Kabinett wird die Freiheit des Regierens nach den selbstgewählten »Sachzwängen« in vollen Zügen genossen, unbeeinträchtigt durch den Kampf um die Macht, der in der Demokratie zu den guten, weil institutionalisierten Sitten gehört.

Eine Schranke findet die politische Gewalt der BRD also höchstens in ihrer Geschäftsgrundlage, im amerikanisch buchstabierten NATO-Vorbehalt, der im verstandenen Auftrag zur Beteiligung am Aufrüstungsprogramm des Westens, der zweiten Heimat jedes guten Deutschen, nur halb erfüllt ist. Die andere Abteilung des Vorbehalts erstreckt sich auf die Bewegungsfreiheit der deutschen Wirtschaft, die in Sachen Erdgas-Röhren, Stahl und EG-Markt den Akkumulationsbedürfnissen der USA sowie deren politischen Zielsetzungen nun immer öfter in die Quere kommt. Die einschlägigen Klarstellungen des Erlaubten und Verbotenen erinnern deutsche Politiker zwar wieder nachdrücklich daran, wem sie – wie damals in Nachkriegszeiten – ihre Souveränität zu danken haben. Nun – in Vorkriegszeiten – an ihre Rolle erinnert zu werden, daß sie einen am Imperialismus beteiligten Frontstaat regieren dürfen, wird sie aber nicht aus der Fassung bringen. Wie man sieht, sind sie gewillt und mittels der inzwischen errungenen Stellung in der Welt der Finanzen, Diplomatie und Waffen auch in der Lage, ihr Volk zur »Bewältigung der Schwierigkeiten« und »Lösung der Probleme« rücksichtslos heranzuziehen. Not, Gewalt und Moral stehen in der BRD also auf der Tagesordnung, demokratisch verordnet. Die »guten Gründe« fürs Mit-Machen, die schon immer Ideologien für Opfer waren, sollten daher nicht nur der theoretischen Kritik anheimfallen ...