III. Die Weltmächte und ihre unverbrüchliche Feindschaft

Der »freie Westen« hat sich als Militärbündnis konstituiert; von der NATO bis zum ANZUS-Pakt und mit einer Vielzahl bilateraler Bündnisverträge haben die USA sich nach ihrem Sieg im Zweiten Weltkrieg eine ganze Welt von Verbündeten geschaffen.

Aus dem Buch
1983, 2023 | 336 Seiten | 15 €  Zum Warenkorb
Gliederung

III. Die Weltmächte und ihre unverbrüchliche Feindschaft

1. Die NATO: Friedensgarantie durch die Vorbereitung des Dritten Weltkriegs

Der »freie Westen« hat sich als Militärbündnis konstituiert; von der NATO bis zum ANZUS-Pakt und mit einer Vielzahl bilateraler Bündnisverträge haben die USA sich nach ihrem Sieg im Zweiten Weltkrieg eine ganze Welt von Verbündeten geschaffen.

Von diesen Bündnissen, speziell von der NATO, hat ein anständiger Bürger des freien Westens eine gute Meinung, nämlich die, sie hätten »uns den Frieden gesichert«, insbesondere den Westdeutschen »die längste Friedenszeit ihrer Geschichte« beschert. So, wie sie genommen werden will, ist diese Vorstellung deswegen albern, weil sie als Grund für den einstweiligen Frieden gleich zwei Kriegsgründe unterstellt, ohne von diesen auch nur das Geringste wissen zu wollen: vom Gegner Sowjetunion wird angenommen, er wolle, warum auch immer, den »freien Westen« überfallen; in dieser Gewißheit bereitet die NATO ihrerseits den Krieg vor. Die angebliche Friedensgarantie durch die integrierte Militärmacht des »freien Westens« reduziert sich so der Sache nach auf die Banalität, daß die beiden Seiten den Grund für den Krieg, den sie unmittelbar gegen die andere Seite vorgesehen haben, bislang offenkundig noch nicht für eingetreten erachtet haben. Diesen Umstand der eigenen Militärmacht als ihre Leistung zugute zu halten, ist nichts als die genauso banale Manier, in bezug auf den vorgesehenen Krieg die Reinheit des eigenen Gewissens kundzutun und die Schuldfrage zu Lasten des Gegners vorab für entschieden zu erklären: im Ernstfall hat der sich nicht mehr genug gefürchtet, um seinen Angriff zu unterlassen. Kein Wunder, daß dieser begriffslose, ja zur Ahnungslosigkeit bezüglich der wirklichen Kriegsgründe fest entschlossene Moralismus der Kriegsschuldfrage bei jedem loyalen Ostbürger sein genaues Spiegelbild vorfindet: dort ist es der Warschauer Pakt, der drei Jahrzehnte lang und länger den Frieden machtvoll gerettet hat. Wer hat nun recht?

1. In einer Hinsicht ist das Kompliment an die NATO, »Kriege verhindert« zu haben, allerdings nicht bloß töricht moralisch, sondern zugleich sehr verräterisch, dann nämlich, wenn es mit dem Glückwunsch an die betroffenen Völker des »freien Westens« verbunden wird, sie hätten offenbar endlich so manche »Erbfeindschaft« begraben und sich zu friedfertigen Umgangsformen miteinander entschlossen. Die Doppelbödigkeit dieses Aufatmens liegt darin, daß es mit einem »eigentlich« rechnet: daß die Staaten des »freien Westens« offenkundig fest entschlossen sind, ihre militärischen Gewaltapparate grundsätzlich nicht gegeneinander einzusetzen, wird da als erfreuliche Errungenschaft und insoweit als Ausnahme von der weltpolitischen Regel verbucht. Realitätsnähe läßt sich dieser Betrachtungsweise tatsächlich nicht absprechen. Kriege sind schließlich auch nach Beendigung des Weltkriegs in der modernen Staatenwelt an der Tagesordnung; Forschungsinstitute zählen die seit Mitte 1945 verflossenen Wochen ohne größere »bewaffnete Auseinandersetzungen« und kommen stets auf recht geringe Zahlen. Und wo die Mächte des »freien Westens« nicht unmittelbar als Partei engagiert sind, da geben Firma und Versandort der eingesetzten Waffen, einschließlich der Lieferungen für einen zeitweiligen Spitzenbedarf an Munition, lauter liebevoll verschleierte eindeutige Hinweise darauf, wie geläufig diesen Mächten Gewalt als Mittel der Politik ist. Im Ernst erwartet auch niemand etwas anderes (selbst jene kindlich-idealistische Zutraulichkeit in eine ganz, ganz »eigentliche« Gewaltlosigkeit des politischen Geschäfts, wie sie aus einschlägigen Appellen professioneller Vertreter der Gutgläubigkeit an ihre politischen Oberen spricht, kommt ohne eine Portion Heuchelei nicht aus!), schon gar nicht die Macher aller weltpolitischen Verwicklungen, an denen immer niemand schuld sein will, und »Problemlösungen«, für die sich alle zuständig erklären. Die wissen aus und bei ihrer Praxis ja am besten, daß sie für einen Materialismus der Staatsgewalt einstehen – und mit gleichgearteten Nationalisten zu tun haben –, der andere Zwecke verfolgt und daher auch noch ganz anders zu Werke geht als Geschäftsleute in ihren Erpressungsmanövern. Staaten treten einander gegenüber als höchste Gewalten, die über das Geschehen in ihrem Herrschaftsbereich verfügen, also jedem fremden Interesse an diesem Geschehen entweder abschlägig oder genehmigend begegnen. Ihre Repräsentanten legen einigen Wert darauf, auswärtige Ansprüche auf nützliche Alternativen im eigenen Hoheitsgebiet abzulehnen; und umgekehrt liegt ihnen viel daran, selbst auf die Ausgestaltung von Politik und Ökonomie im Ausland Einfluß zu nehmen. Der formelle, ganz abstrakte Widerspruch einer Mehrzahl höchster Gewalten, die lebhaftes Interesse an allem haben, was die anderen verwalten, verfügt in der wechselseitigen Anerkennung der Souveräne über seine diplomatische Verlaufsform. Sie eröffnet als offizieller Akt den Verkehr zwischen Staaten, die es auf wechselseitige Benutzung abgesehen haben und die dabei auftretenden Gegensätze einvernehmlich abwickeln wollen. In getreuer Nachbildung des bürgerlichen Rechts im Innern eines modernen Staates – der Anerkennung von Person und Eigentum, durch die der bürgerliche Schacher und die gedeihliche Benutzung ganzer Klassen rechtsstaatlich geregelt wird – erklärt da eine Staatsgewalt, daß sie in all ihrer grundsätzlichen Betroffenheit durch die Entscheidungen einer anderen deren Souveränität nicht antasten will. Auf dieses negative Verhältnis, das ein Staat heutzutage mit -zig anderen unterhält, gründet sich der Schein eines gemütlichen Umgangs der grundsätzlich von gleich zu gleich miteinander verkehrenden Nationen. Der Glaube an diesen Schein ist freilich nicht einmal in den UNO-Gebäuden verbreitet, also dort, wo ihm einige Pflege zuteil wird. Einerseits ist es kein Geheimnis, daß es nicht auf die ideelle Allzuständigkeit jeder Republik ankommt, die diese in der Unterhaltung diplomatischer Beziehungen mit allen Staaten dieser Welt prätendiert. Der materielle Inhalt und das entsprechende Gewicht der Interessen, die eine Nation an den Affären der anderen geltend zu machen hat, sind schon von einiger Bedeutung. Danach entscheidet sich schließlich, ob einem Staat an der Mitwirkung am diplomatischen Weltzusammenhang gelegen ist, weil er die Fähigkeit besitzt, auswärtige Regierungen für sich zu funktionalisieren – oder ob ein Souverän an der Börse politischen Kredits nur mit dem einen ernstgenommenen Interesse beteiligt ist, sich überhaupt als alleinzuständige Obrigkeit zu Hause zu behaupten, und deshalb anderen zu Willen ist. Es ist eben ein gewaltiger Unterschied, ob eine Staatsgewalt zu den Machern der Weltpolitik gehört oder zu ihren Geschöpfen. Andererseits verläßt sich kein Staat auf die unwiderstehliche Wirkung der unter seiner Herrschaft entstandenen Geschäftsinteressen, von deren gelungener Durchsetzung er sich abhängig weiß. Diese Abhängigkeit faßt er als Aufgabe auf, die er im Umgang mit anderen Souveränen zu bewältigen hat, indem er sich Respekt durch seine Gewaltmittel verschafft. Damit ein Staat überhaupt seiner nationalen Geschäftswelt auswärtige Quellen zusätzlicher Bereicherung erschließen kann, muß er sich – ganz gemäß dem negativen Inhalt, der in seiner Anerkennung gegeben ist – von der kommerziellen Kalkulation seiner ökonomischen Basis unabhängig machen und einiges an Reichtum und Einsatz von Menschenmaterial »opfern«, um der Freiheit anderer Regenten auch unliebsame Bedingungen plausibel werden zu lassen. Was aus der Geschichte der Aufteilung des Erdballs unter politische Gewalten jedermann vertraut ist – die gewaltsame Eroberung fremder Ländereien und die Unterwerfung des vorfindlichen Personals schuf gedeihliche Geschäftsbeziehungen –, gilt begrifflich erst recht für den Verkehr zwischen Nationen auf dem aufgeteilten Globus: Die Souveränität einer Staatsgewalt nach außen hat ihr unmittelbares Maß in ihrer militärischen Stärke; denn da Waffengewalt das letzte, also das Mittel ist, sich den Zumutungen auswärtiger Machthaber zu widersetzen und seinerseits außenpolitische Zumutungen durchzusetzen, bemißt sich an ihr die politische Freiheit einer Nation. Ihr Reichtum taugt in dieser Hinsicht grundsätzlich nur so viel wie die Militärmacht, die der Staat sich dank seiner Wirtschaft leisten kann. Und dies ist nicht einmal ein Widerspruch: denn mit der Größe der wirtschaftlichen Potenz wachsen auch die staatlichen Mittel, die die Handlungsfreiheit im Umgang mit anderen Nationen sichern. Auf dieser Grundlage erfährt immerhin auch das auswärtige Geschäftsleben als solches seine Würdigung als Instrument staatlicher Durchsetzungsfähigkeit: Vom Standpunkt außenpolitischer Souveränität bewertet eine Staatsgewalt alle auswärtigen Geschäftsbeziehungen nicht mehr nach ihrem ökonomischen Nutzen, sondern als mögliches Gewaltmittel für sie – oder auch in den Händen eines Gegners und damit als zwar bedingte, aber je nachdem doch fühlbare Schranke ihrer Freiheit. Im Zeitalter des weltweiten Kapitalismus gibt es daher kein Geschäft, das nicht auch den strategischen Interessen der zuständigen Staatsgewalt untergeordnet, diplomatisch als Machtmittel verwendet, deswegen unter gewissen Umständen auch trotz noch so verlockender Profite preisgegeben würde – und das ist alles andere als ein Verstoß gegen die Interessen des Geschäfts. Ohne Staatsgewalt ist Kapitalismus nun einmal nicht zu machen; und daß diese in ihren weltpolitischen Kalkulationen die Geschäfte ihrer Lieblingsbürger mit Kanonenbooten und Fallschirmjägern auf eine Stufe stellt, beweist nur, daß kapitalistische Geschäftemacherei im Weltmaßstab schon gar nicht ohne ihre – als Sphäre der Politik abgetrennte – Gewaltsamkeit funktioniert. Wenn Politiker die weltwirtschaftlichen Beziehungen ihrer Nationalökonomie als Auftrag an den von ihnen verwalteten Gewaltapparat behandeln, so entsprechen sie ihrer ökonomischen Funktion als notwendige »faux frais«.

Es ist daher tatsächlich bemerkenswert, wenn gerade die mächtigsten Staaten des »freien Westens« – die weniger maßgeblichen Randstaaten der NATO nehmen sich zu Entspannungszeiten schon einmal eher die Freiheit zu einer kleinen Schlacht gegeneinander in Cypern oder der Ägäis – unter sich einen so stabilen Frieden etabliert haben. Denn damit ist ja nicht erst für den Fall eines eigentlich kriegsträchtigen Zerwürfnisses auf die Anwendung militärischer Gewalt gegen ihresgleichen Verzicht getan. Schon die Entstehung solcher Zerwürfnisse ist zwischen ihnen per Beschluß ausgeschlossen; denn ohne die ernstliche Bereitschaft, einen Kriegsgrund auch als solchen zu behandeln, sind ordentlich »gespannte Beziehungen« nicht zu haben. Nur die glaubwürdige Androhung von Gewalt erhält friedliche Beziehungen zwischen Staaten bis zu einem solchen Grad wechselseitiger oder einseitiger Schädigung aufrecht, daß schließlich die eine oder andere Seite Waffengewalt zur Durchsetzung ihrer Ansprüche anwendet. Und nicht nur das: im normalen außenpolitischen Verkehr gilt die Ansicht eines Staates über jeden beliebigen Gegenstand, auch über die geringfügigsten Streitigkeiten und deren Regelung, genau so viel, wie der Staat an Machtmitteln einsetzen kann und will und an Entschlossenheit zu jeder nötigen Gewalttätigkeit glaubhaft macht, um seiner Sicht der Dinge praktische Gültigkeit zu verschaffen. Das genau macht ja das Geschäft der Diplomatie so lebhaft und in der bekannten Weise so doppelbödig: daß da immerzu Gewalt»fragen« reinsten Wassers zur Debatte gestellt werden, und zwar in der passenden höflichen Form des Einigungsstrebens und wechselseitiger Bescheide der Staaten darüber, was sie von den erzielten Resultaten halten.

Zwischen den Bündnispartnern des »freien Westens« ist das alles nun keineswegs außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil: bei ihnen handelt es sich ja in jeder Hinsicht um die Veranstalter des Weltzusammenhangs; ihre dezidierten materiellen Interessen, die Benutzung fremder Länder und Reichtümer durch ihre Nationalökonomie und deren Macher betreffend, sind so universell, daß sie eine wirkliche Weltwirtschaft hervorbringen; und der Geltungsanspruch ihrer Souveränität reicht genauso um den ganzen Globus wie die Einsatzmöglichkeiten ihrer Machtmittel, mit denen sie diesem Anspruch Respekt verschaffen. Sie treffen daher nicht nur dort aufeinander, wo sie sich unmittelbar auf den jeweiligen Kontrahenten beziehen, sondern überall: in der ganzen Welt bekommen sie ständig miteinander als Konkurrenten um ökonomisch nützlichen politischen Einfluß zu schaffen. An allen diplomatischen Börsen sind sie die Hauptakteure, und feine Sitten herrschen zwischen ihnen auch bloß im diplomatischen Sinn. Nur steht ihr Umgang miteinander tatsächlich unter dem einen großen Vorbehalt: Krieg, also auch die Drohung damit, kommt zwischen ihnen nicht in Frage. Die Anwendung von Gewalt gegeneinander ist auf das Repertoire ökonomischer Erpressung beschränkt; dem allerdings kann sich im Rahmen der Nachkriegsordnung des Welthandels und Kapitalverkehrs kein Souverän entziehen. Für den Urheber und Hauptnutznießer der modernen Weltwirtschaft, das Land mit der Leitwährung und exportiertem Kapital in allen in Frage kommenden Staaten, sind die Mechanismen des internationalen Handels und Finanzwesens durchaus taugliche Waffen gegen jeden Staat, der seine Beteiligung daran nicht ziemlich grundsätzlich aufkündigt; mit diesem Problem hat noch kein Bündnispartner der »freien Welt« seine Führungsmacht konfrontiert. Die Souveräne des zweiten Glieds suchen sich ihrerseits über die Vorteile einer weitgehenden ökonomischen Einigung untereinander Erpressungsmittel gegeneinander zu verschaffen; all die berühmten Absonderlichkeiten der innereuropäischen Diplomatie, die Mechanismen und Errungenschaften des EG-»Einigungswerks«, geben Zeugnis von ihrem gemeinsamen Bemühen, einen Einigungszwang zu konstruieren, der sich als ergänzendes Mittel zu den nach wie vor üblichen »Handelskriegen« nutzen läßt. Und doch fehlt all diesen Erpressungsmitteln die letzte Härte; in letzter Instanz taugen sie nur so viel, wie die Konkurrenten sich an Vorteil ausrechnen, sind also nur schlechte Äquivalente für das verbotene Mittel der militärischen Drohung. Kein Wunder, daß so mancher erfolgreiche Europäer sich nach richtigen »Vereinigten Staaten von Europa« sehnt: eine gegen unbotmäßige Partner einsetzbare Bundespolizei wäre erst der vollgültige Ersatz für all die nicht durchführbaren patriotischen Scharmützel, für die das Gemeinschaftsleben eigentlich genügend Gründe schafft.

Der wirkliche Grund dafür, daß die kapitalistischen Demokratien des »freien Westens« dem Gebrauch ihrer Souveränität gegeneinander diese Schranke auferlegen, ist – jenseits aller idealistischen Faseleien über Völkerversöhnung und Friedensliebe – mit dem Verweis auf die friedenssichernde Funktion der NATO zwar nicht gemeint, ironischerweise aber tatsächlich benannt. Die Teilhaber dieses Bündnisses wollen nur einen Gegner kennen, der den Einsatz ihrer vollen militärischen Gewalt verdient, und das ist die Sowjetunion. Diese gemeinsame Feindschaft schließt die Freiheit der Verbündeten, ihre Konflikte untereinander zu regulären Kriegsgründen zu machen, prinzipiell aus; dieser einen Kriegskalkulation ordnen sie das letzte Mittel ihrer außenpolitischen Souveränität, den Gebrauch ihrer Nation als Kriegsmaschine, ein und unter; nur hier soll es sich um den Krieg handeln, den Weltkrieg, in dem die verbündeten Akteure des Weltgeschehens ihre Souveränität in Frage gestellt sehen und daher für einen Sieg aufs Spiel setzen wollen.

Daß demokratische Souveräne derart prinzipiell sämtliche Kriegsgründe, die sie füreinander in die Welt setzen oder im schädlichen Wirken ihrer Konkurrenten erblicken könnten, a priori für nichtig erachten, setzt natürlich mehr voraus als den Idealismus des (bereits zitierten) NATO-Vertragstextes, der die Unterzeichner darauf festlegt, die »Prinzipien« ihrer demokratisch-rechtlichen Staatsform zum obersten Zweck und Inhalt ihrer Staatsgewalt zu machen; und auch mit der Vision einer befriedeten Welt im Sinne des Kautskyschen »Ultra-Imperialismus« hat das Ganze herzlich wenig gemein. Praktisches Gewicht und tatsächliche Verbindlichkeit für die Kalküle der beteiligten Souveräne bekommt der im »freien Westen« durchgesetzte einzigartige Supranationalismus nationaler »Verteidigung« durch das Gewicht und die Geltung, die die anerkannte Führungsmacht des Bündnisses ihm verleiht: der »Ost-West-Gegensatz« ist ihr nationales Anliegen Nr. 1. Da der supranationale Charakter, den dieser Konflikt der USA für deren europäische Verbündete besitzt, speziell in der BRD so selbstverständlich ist, mag es nützlich sein, daran zu erinnern, daß er als die neue, alles beherrschende Richtlinie jeglicher Außenpolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erst einmal durchgesetzt sein wollte. Die USA waren so frei, alles, was sich auf der Welt so tat und tun sollte, auf ihren Beschluß zu beziehen, die Sowjetunion in ihrem mit Kriegsende erreichten »Besitzstand« festzuhalten, ihr jeden weiteren politischen Einfluß zu verwehren und ihren »Block« nach Möglichkeit zu schwächen. Nationale Zielsetzungen der alten Großmächte, speziell die Nachkriegsgestalt Europas betreffend, hatten sich – soweit sie nicht ohnehin auf der gleichen Linie lagen – dieser maßgeblichen Front unterzuordnen, wollten sie sich nicht ihrerseits die USA zum Gegner machen; umgekehrt wurden ganze Staaten, allen voran die BRD, unter den Auspizien dieser Globalstrategie ins Leben gerufen und als souveräne Sachwalter eines entsprechenden NATO-Auftrags in ein selbständiges Dasein entlassen. Zwischen der Entschlossenheit, die Konfrontation mit der Sowjetunion mitzutragen, und der Erklärung der Feindschaft des Westens dulden die USA eine dritte Position um so weniger, je größer die Macht ist, die ein Staat in das Ungleichgewicht dieses Gegensatzes einzubringen hat. Die quasi ex officio neutrale alpine Sparkasse der kapitalistischen Welt und das ebenfalls schon im Zweiten Weltkrieg unmittelbar engagierte Schweden ausgenommen, gibt es keinen Staat von Gewicht, den die USA hier hätten abseits stehen lassen – und auch in diesen Fällen ist die Himmelsrichtung ihrer »Neutralität« ebensowenig eine Frage wie bei Österreich oder der Republik Südafrika. Die Probe auf die Bündnistreue ihrer Partner haben die USA im übrigen nie zu machen brauchen. Daß die Sowjetunion sich ihrerseits der Feindschaftserklärung der USA gestellt und eine Militärmacht aufgebaut hat, der keiner der kleineren Verbündeten des freien Westens allein für sich gewachsen wäre, hat diese nicht an der Weisheit ihres Entschlusses irre werden lassen, sich als Parteigänger des amerikanischen Antisowjetismus zu bewähren. Im Gegenteil: Die Bedrohung durch die sowjetische Militärmacht, die sie sich als regionale Sachwalter des NATO-Zwecks – in einigen Fällen auch als engagierte Scharfmacher: die BRD möchte da immer noch ihre »nationale Frage« gelöst haben, und klar ist, auf wessen Kosten! – eingehandelt haben, interpretieren sie unerschütterlich als eine Gefahr, gegen die sie sich des Beistands der USA als Schutzmacht zu versichern hätten. Zweifel an dieser höchst linientreuen Auffassung ihrer geopolitischen und -strategischen »Lage« lassen die europäischen NATO-Staaten allesamt nicht zu; eher darf man an der Uneigennützigkeit des amerikanischen »Hilfsversprechens« zweifeln oder besser noch an dessen Glaubwürdigkeit: »Mehr Amis her!« ist die Parole des bündnisinternen Antiamerikanismus, an dem bisweilen sogar ein regierungsamtlicher Nationalismus sich wärmt. Der feste Wille, sich auf die von den USA gesetzte globale Alternative einzulassen und auf Seiten der USA zu deren Konditionen mitzumachen, wird durch nationalistische Nörgeleien dieser Art erst so richtig demokratisiert und zum nationalen Anliegen.

Das »Geheimnis« der westlichen »Völkerfreundschaft«, der »völkerverbindenden Kraft« demokratischer und europäischer Ideale, ist also die »pax americana«, deren Prinzip wiederum eine Feindschaftserklärung an die Sowjetunion, neben der die USA keine ähnlich existenziellen nationalen Sonderinteressen kennen noch erst recht bei ihren Verbündeten dulden. Fragt sich bloß, was eigentlich die USA an der Sowjetunion so bis zur Unversöhnlichkeit stört.

2. Glaubt man den seit Anfang 1980 mit zunehmendem Nachdruck in die Weltöffentlichkeit gesetzten westlichen »Diagnosen«, so hat die Sowjetunion insbesondere und ganz unwidersprechlich mit dem Einmarsch der Roten Armee ins verbündete Afghanistan ihren bedingungslos aggressiven Charakter bewiesen, gegen den die mächtigen Demokratien des Westens sich nicht genug schützen können, auf daß es dem Ruhrgebiet nicht genauso ergehe wie den westlichen Ausläufern des Himalaya. Gegründet wurde die NATO allerdings bereits drei Jahrzehnte früher, und auch damals war der »freie Westen« um entsprechende Beweise nicht verlegen. Daß die Sowjetunion sich aus den von ihr besetzten Gebieten am Ende des Weltkriegs genauso wenig zurückzog wie die Westalliierten aus ihren Zonen und daß sie ebenso bei der Etablierung neuer souveräner Staatsgewalten diesen die Übereinstimmung mit sowjetischen Interessen als Geschäftsgrundlage diktierte; daß die kommunistischen Partisanen in Griechenland sich nicht widerspruchslos in die Übereinkunft der Siegermächte schickten, ihr Land der westlichen Einflußsphäre zuzuschlagen; daß die sowjetische Regierung ihr Mitspracherecht über die politische Zukunft ganz Deutschlands nach der ökonomischen Eingliederung der Westzonen in die Dollarzone durch einen so hilflosen Erpressungsakt wie die Blockade Westberlins durchzusetzen suchte: das waren die damals hinreichenden Belege für die fraglose Notwendigkeit, sich vor der Sowjetunion zu Tode zu fürchten. In einer Phase, in der die Sowjetunion das Verbrechen beging, bei ihren Verbündeten gewaltsam Botmäßigkeit zu erzwingen, von Übergriffen über das eigene »Lager« hinauf aber nirgends die Rede sein konnte – das »containment« war eben tatsächlich gelungen! –, reichte der Hinweis, daß sie dazu immerhin doch in der Lage gewesen wäre, als Begründung für die Unentbehrlichkeit der NATO:

»Nur die auf ein gewaltiges Industriepotential und den Besitz der Atomwaffe gegründete Macht Amerikas konnte das überwältigende Mißverhältnis der Kräfte ausgleichen.« (NATO-Handbuch 1961)

Ein knappes Jahrzehnt später, zu Beginn der »Entspannungsära«, wurde der Sowjetunion ihre Militärmacht gleich als Gefahr für die Lösung des »Problems« zum Vorwurf gemacht, als welches die NATO die »Spaltung Europas«, also die Erstreckung sowjetischer Macht auf ihr ost- und mitteleuropäisches Vorfeld definierte:

»Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß das Bündnis bestehen bleiben wird, solange die Notwendigkeit gegeben ist, sich vor der militärischen Macht des Ostens zu schützen und Lösungen für die noch offenen politischen Probleme in Europa zu finden und zu garantieren.« (NATO-Generalsekretär Brosio 1969)

Und seit der Aufkündigung der »Entspannungspolitik« lauten die diensthabenden NATO-»Argumente«: kubanische Truppen in Angola und Äthiopien; eine sowjetische Kampfbrigade auf Kuba; Afghanistan; Polen ...

Nähme man all diese Hinweise als Gründe für die bedingungslose Feindschaftserklärung des »freien Westens« an den »Ostblock« ernst, so müßte zumindest an den neuesten Sprachregelungen auffallen, wie verräterisch und gleichzeitig wie absurd sie sind. Sollten denn wirklich bewaffnete, durch verbündete Hilfstruppen bewerkstelligte Interventionen irgendwo in der Welt als solche eine Gegnerschaft begründen, wo sie doch allemal ohne Frage ins Repertoire auch der westlichen Weltpolitik gehören? Blamiert sich nicht jedes »Argument«, das sich, um der Sowjetunion aggressive Absichten gegen die »freie Welt« und ihre mächtigen Demokratien nachsagen zu können, im zentralafrikanischen Busch und in der altweltlichen Wüstenzone auf die Suche begeben muß, um unter den gut 150 souveränen Staaten dieser Welt wenigstens drei bis fünf ausfindig zu machen, deren Regierungen sich ohne östliche Hilfe nicht an der Macht halten könnten – wo doch gleichzeitig jeder weiß, daß für die Regierungsgewalt praktisch im gesamten Rest der Welt die westliche Seite verantwortlich zeichnet, vom Frontwechsel Chinas ganz zu schweigen? Die Denker und Macher der NATO selbst sind jedenfalls die letzten, die auf ihre eigenen Propagandaparolen von der bedrohlichen Übermacht der aggressiven Sowjetunion und deren weltweiten Vormarsch hereinfielen. Ihre Lagebeurteilung lautet eher so:

»Im Unterschied zur NATO, einem Bündnis von 15 mehr oder weniger großen und hochentwickelten Industriestaaten, die außerdem zu Bündnissen oder Interessengemeinschaften mit Staaten im Westpazifik und sogar mit der VR China gefunden haben, besitzt die zum Teil noch unterentwickelte Sowjetunion mit ihren 6 kleinen WP (Warschauer Pakt)-Bundesgenossen bzw. 9 COMECON-Partnern keinen einzigen größeren und leistungsfähigen Verbündeten auf der Welt.

Die Sowjetunion ist ein größeres weltweites Engagement eingegangen, das, und zwar besonders in Afrika, auch eine Eigendynamik entwickeln dürfte. Da die Unternehmungen weit vom Heimatland und dem eigenen Hegemonialraum ohne eine gesicherte und leistungsfähige strategische Basis durchgeführt werden, haben sie den Charakter riskanten Abenteurertums. Sie werden sich zunehmend als kräftebindend und -zehrend erweisen, da fast ausnahmslos alle sowjetfreundlichen Länder Notstandsgebiete ohne besondere Leistungsfähigkeit für die Unterhaltung von modernen Streitkräften [das ist doch mal ein Kriterium!] sind.« (G. Poser, Die NATO, München 1979, S. 9 und 47, stellvertretend für viele; alle Hervorhebungen im Original)

Hoffnungsfrohe NATO-Schriftsteller versteigen sich bis zu Prognosen über einen alsbaldigen sowjetischen Zusammenbruch – und doch stört sich niemand an der gelegentlich unmittelbar daneben aufgestellten und jedenfalls als Grunddogma der »freien Welt« unbezweifelten Behauptung, die Sowjetunion wäre seit Ende des Zweiten Weltkriegs eigentlich ununterbrochen in der Offensive und schädigte und bedrohte die Partnerstaaten des »freien Westens« weltweit aufs schwerste.

Gerade in ihrer unverfrorenen Weltfremdheit ist diese Behauptung in allen ihren Abwandlungen und mit jedem ihrer »empirischen Belege« überaus verräterisch. Sie gibt klare Auskunft nicht über die Weltlage, um so eindeutiger aber über den Standpunkt, den die »freie Welt« unter Führung der USA zur Weltlage einnimmt und auch praktisch geltend macht. Offenkundig fühlen die paar verbündeten westlichen Demokratien sich grundsätzlich für nichts Geringeres als die Macht und ihren Gebrauch auf der ganzen Welt zuständig und zwar so, daß sie diese Zuständigkeit mit niemandem zu teilen bereit sind. Nichts ist ihnen selbstverständlicher, als daß noch der abgelegenste Potentat ihre Freundschaftsangebote akzeptiert, sich nach ihren Ratschlägen und Direktiven richtet, ihnen nötigenfalls mit Stützpunkten behilflich ist, Coca Cola, Dollars und GIs im eigenen Land zirkulieren läßt. Umgekehrt ist nichts ihnen so unerträglich wie gleichartige Ansprüche der Sowjetunion, selbst wenn diese unvergleichlich bescheidener dimensioniert sind; russische Soldaten sind spätestens außerhalb ihrer Heimatgarnison schon ein einziger Übergriff, russische Stützpunkte in warmen Meeren eine einzige Provokation, russische Interessen an botmäßigen Verbündeten gleichbedeutend mit Aggression, Unterstützungsaktionen für befreundete Regierungen – um solche handelt es sich immerhin in Äthiopien, Angola und sogar Afghanistan – ein nicht hinnehmbares »schlechtes Benehmen«; und Kuba, die russische Basis »vor Amerikas Haustür«, stellt sowieso ein unerträgliches rotes Ärgernis in der ansonsten sauberen westlichen Hemisphäre dar. So selbstverständlich wissen die USA und ihre Verbündeten sich auf der Welt zu Hause, daß alles ihre Sicherheitsinteressen berührt, was sich in der weiten Welt abspielt. Tatsächlich sind sie auch längst überall so engagiert, daß jeder sowjetische Versuch, wo auch immer auswärts politisch Fuß zu fassen, zum gegen sie gerichteten Vormarsch gerät und die westliche Selbstverteidigung allen Ernstes an jeder Staatsgrenze und jeder Bürgerkriegsfront beginnt, wo auch immer sie verläuft. Vom Standpunkt der errungenen Weltherrschaft aus stellt der westliche Zugriff auf die Welt sich tatsächlich als Defensive dar – und jedes gleichartige östliche Bemühen eben mangels Erfolg als Aggression. Daß noch dazu der Westen seine politische Vormundschaft nicht bloß auf Waffen, sondern überdies auf die ökonomische Benutzung fremder Länder und ihrer Herrschaft gründet, macht seine Position erst recht nicht etwa anrüchig, sondern legitimiert erst vollständig jede bewaffnete Intervention – so wie umgekehrt sowjetische Eingriffe dadurch von vornherein besonders verdächtig sind, daß sie noch nicht einmal auf einen geschäftlichen Vorteil verweisen können, der dadurch gesichert wäre. Der erfolgreiche Materialismus desavouiert eben nicht den Moralismus, mit dem er sich schmückt – in der Weltpolitik noch weniger als im bürgerlichen Leben –, sondern hat ihn exklusiv »gepachtet«. Wer sich nicht blamiert, wenn er in seinen Beschwerden über die »gestörte Weltlage« sein nationales »wir« und »unser« ganz selbstverständlich bis in die fernste Region erstreckt, weil er dafür das wirkliche weltweite »Kräfteverhältnis« auf seiner Seite hat, der setzt eben damit auch die Maßstäbe für das Weltgewissen; der agiert grundsätzlich für die Menschenrechte – und läßt seinerseits weniger handfeste moralische Instanzen wie Amnesty International oder sogar den Papst matt aussehen, wenn die sich mit Kritik an ihm vergreifen. Die Fakten sind für die herrschenden Ideen eben auch noch ein Argument !

Der Grund dafür, daß der selbstsichere Standpunkt westlicher Dominanz sich so eindeutig und so massiv gegen die Sowjetunion richtet, ist denkbar einfach – und hat mit deren inneren politischen Verhältnissen denkbar wenig zu tun. Sie stört grundsätzlich, weil sie sich seit jeher und seit den Tagen der Beendigung des Zweiten Weltkrieges dem »Angebot« einer friedlich-freundschaftlichen Oberaufsicht der USA nicht fügt. Nicht die Grenzziehung zwischen Ost und West, die Frage einer Provinz oder eines Staates hüben oder drüben, hat USA und Sowjetunion so unversöhnlich entzweit, sondern das russische Unterfangen, die eigene Frontlinie zur Schranke für die amerikanische Absicht einer Neueröffnung der internationalen Konkurrenz unter ihrer Obhut zu machen und nicht als Demarkationslinie innerhalb der schiedsrichterlichen Zuständigkeit der USA zu behandeln. Was heutzutage rückblickend als Beweis für eine – tief bedauerte! – amerikanische Vertrauensseligkeit und naive Friedfertigkeit gedeutet wird, nämlich Roosevelts Demobilisierungsplan sowie Trumans »Verzicht«, die sowjetische Macht mit der Atombombe zu zerschlagen, solange die USA noch das Monopol auf diese Waffengattung besaßen (ein imperialistischer Wunschtraum, dessen Nichtverwirklichung, ärgerlich genug vom Standpunkt dieses Wunsches aus, dann wenigstens jeden Vorwurf des Imperialismus an die USA entkräften soll!), das gehört gerade umgekehrt zur Politik einer Weltmacht, die nach ihrem Sieg überhaupt nicht mehr Partei sein will, sondern Patron und oberste Instanz einer von ihr zugelassenen Welt der Staatenkonkurrenz und des Parteienstreits. Mit ihrer praktischen Weigerung, sich dieser »pax americana« zu beugen, hat die Sowjetunion denn auch nicht mehr bloß die alte Konkurrenz der Großmächte mit neu verteilten Machtpositionen und -mitteln fortgesetzt, wie es ihre Vorstellung und Absicht gewesen sein mag, sondern sich der von den USA angestrebten »Weltordnung« widersetzt, am »Weltfrieden« als solchem versündigt und außerhalb der »Völkergemeinschaft« gestellt – so jedenfalls sahen und sehen es die USA; und mit ihrem Erfolg beim Aufbau einer »westlichen Welt«, die in der gewünschten Weise der amerikanischen Oberhoheit und dem Fungieren amerikanischen Reichtums funktional eingeordnet ist, hat ihre Sicht der Dinge sich als die praktisch maßgebliche durchgesetzt. Weltweit, oder jedenfalls unter fast allen Staaten der Welt, darunter allen, deren Macht und Reichtum zählen, haben die USA ihre politische und militärische Führerschaft als Bündnis-Partnerschaft, eine auf ihren Vorteil zugeschnittene Benutzung allen Reichtums und jeglicher Armut als »Wirtschaftsordnung« und Weltmarkt« durchgesetzt; deswegen heißt der ideologisch wie praktisch gültige Vorwurf an die Sowjetunion: sie will nicht Partner sein. Weil und in dem Maße, wie der moderne Imperialismus der USA die Souveränität der fremden Staatsgewalten prinzipiell relativiert und als relative konstituiert, das Ideal von Weltherrschaft also wahrgemacht ist, deswegen und insoweit ist die Politik der Sowjetunion nicht mehr das Konkurrenzgebaren einer Großmacht, sondern ein Aufstand gegen eine ordentliche Weltherrschaft, also Anti-Imperialismus in der ganzen negativen, abstrakten Bedeutung des Wortes: Auf ihre Ziele kommt es überhaupt nicht an – nämlich nur insofern, als sie den durchgesetzten Prinzipien widersprechen, nach denen die Souveräne dieser Welt sich gefälligst ihre Zwecke zu setzen und um deren Realisierung zu kümmern haben. Die gemeinschaftliche Macht des Westens definiert sie praktisch als Störenfried – das ist der imperialistische Begriff der Sowjetunion.

Dessen praktische Konsequenzen liegen auf der Hand; sie machen den Alltag des »Ost-West-Gegensatzes« aus. Erst angesichts der Unbotmäßigkeit der Sowjetunion, angesichts dieser aber um so härter und entschiedener, bekam die Einrichtung einer unter der Obhut der USA und zu deren Nutzen und Vorteil konkurrierenden Staatenwelt ihre polemische Zweckbestimmung, der Sowjetunion das Überleben möglichst schwer zu machen, vor allem sie von der Konkurrenz um politischen Einfluß fernzuhalten. Zur praktischen Durchsetzung des Standpunkts, von dem aus die USA die »Vereinten Nationen« gegründet hatten und auszubauen gedachten, wurde aufgrund sowjetischer Hartnäckigkeit die »Ergänzung« der UNO durch ein System von Paktorganisationen nötig: Die weltweite Einheit der Nationen unter amerikanischer Führung, das Ideal der UNO, war »zerbrochen«, die »freie« Staatenwelt hatte sich als bedingungslos feindliche »Umwelt« gegen die Sowjetunion zu bewähren. Daß dies den USA mißfiel, eine ideal funktionierende UNO ihnen lieber gewesen wäre, gilt heute als weiterer Beleg für den nicht-imperialistischen Charakter der amerikanischen Nachkriegspolitik – und beweist doch genau das Gegenteil: wie hätte den USA die Zurückweisung ihres Anspruchs auf weltweite Respektierung als Weltordnungsmacht recht sein können!

Auf der Grundlage weltumspannender Militärbündnisse haben die USA die zuerst als »Kalter Krieg« populär gewordene spezielle Diplomatie der Sowjetfeindschaft- amerikanisch: »containment« – durchgesetzt, deren Prinzipien durch die Reagan-Regierung so nachdrücklich in Erinnerung gebracht werden, als wären sie je außer Kraft getreten. Grundsätzlich werden die außenpolitischen Interessen und Angebote der Sowjetunion nicht in die Vorteilsberechnungen der anderen Souveräne einbezogen, sondern zurückgewiesen. Bündnisse mit ihr kommen nicht in Frage, schon gleich nicht für Staaten von Gewicht; entschließt ein weniger maßgeblicher Staat sich zu einem Freundschafts- oder gar Beistandspakt mit dem »Ostblock«, so kostet ihn das – bis zum Widerruf und tätiger Reue – jeden politischen Kredit im Westen. Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung um Gott und die Welt sind nicht der diplomatische Normalfall, sondern finden, wenn überhaupt, unter gehörig geltend gemachten Vorbehalten gegen die prinzipielle Verhandlungswürdigkeit der anderen Seite statt. Selbst wo nicht mehr unbedingt die Maxime von der grundsätzlichen Vertragsuntreue der »Soffjets« gilt, möchte doch jeder westliche Staat und wollen vor allem die USA bereits ihre bloße Bereitschaft zu Gesprächen als Zugeständnis gewürdigt und honoriert sehen. Bezüglich der Sowjetunion steht eben – sogar in »entspannten« Zeiten – immer wieder die Frage zur Debatte, ob sie die ihr zugestandene politische Anerkennung überhaupt verdient. Daß Staaten letztlich nur die »Sprache der Gewalt« verstehen, ist zwar auch sonst die grundlegende Lebensweisheit der Diplomatie; im Falle der Sowjetunion soll dieser Spruch aber so unmetaphorisch gelten, daß das diplomatische Geschäft mit ihr sich immerzu schon als gefährliche Nachgiebigkeit verdächtig macht; von der »Détente« haben nach dem inzwischen gültigen Urteil – das in der Sache wirklich nicht das Geringste für sich hat – »nur die Russen profitiert«. Das Verlangen nach Koexistenz wird im Westen bereits als Aufforderung zur Kapitulation aufgefaßt – in der Tat hieße das ja auch, vom Verdikt der Untragbarkeit dieses Staates abzurücken; es wurde daher mit der Gründung der NATO abschlägig beschieden, noch ehe die Sowjetunion es vorgebracht hatte. Inzwischen gelten bekanntlich schon sowjetische Angebote, die Aufnahme von »Rüstungskontrollverhandlungen« mit dem einstweiligen Stop ihrer Mittelstreckenraketenrüstung zu honorieren bzw. im Rahmen dieser Verhandlungen mit einseitiger Abrüstung dem Westen etwas von seiner Waffengattung abzuhandeln, als ziemlich unverschämter Anschlag auf die Einigkeit und Entschlossenheit des westlichen Bündnisses.

3. Außer der Sowjetunion und ihren Bündnispartnern gibt es nur wenige Staaten, die die »freie Welt« ähnlich entschieden für untragbar befunden hat; die betroffenen Regierungen haben diesen Befund meist nicht lange, die dazugehörigen Völker in manchen Fällen nur teilweise überlebt. Tatsächlich hat es in den letzten Jahren auch nurmehr der militante Islam in Iran und Libyen zu einer Staatsgewalt gebracht, die, ebenso kompromißlos wie der Revisionismus an der Macht, ihre Gefügigkeit gegenüber der imperialistischen Weltordnung und den partnerschaftlichen Verlaufsformen der darin eingerichteten Benutzungsverhältnisse aufgekündigt hat und dafür vom Westen als nicht hinzunehmende Gefahr für die zivilisierte Staatenwelt verurteilt worden ist. Gemeinsam mit der Sowjetunion dürfen solche Staaten sich als Vaterländer des »internationalen Terrorismus« beschimpfen lassen: mit dem Entzug westlicher Anerkennung bleibt, vom maßgeblichen Standpunkt aus gesehen, von ihrer Staatsgewalt eben bloß noch die Gewalt übrig. Solche Verdikte, ebenso wie die Unbefangenheit, mit der ein und dieselbe fromme Idiotie in Afghanistan als unauslöschlicher Freiheitsdurst gelobt, nebenan als blutdürstiger »Rückfall ins Mittelalter« verteufelt wird, zeigen übrigens schlagend, wie vollständig die imperialistische Schätzung eines Souveräns erhaben ist über jede Kenntnisnahme von seinen positiven politischen Zwecken und Vorhaben: die Feststellung seines Anti-Imperialismus liefert in allen Fällen die ausreichende Grundlage für die kompetente und maßgebliche Beurteilung und läßt sich für diplomatische Zwecke ebenso wie für den demokratischen Hausgebrauch allemal leicht in einen ganzen Katalog von Verbrechen gegen die »Menschenrechte« übersetzen. Solchen »Unrechtsregimen« gegenüber führen die westlichen Führungsmächte sich mitnichten als gegnerische Partei auf, sondern nehmen »schweren Herzens« die »ungeliebte« Rolle des »Weltpolizisten« auf sich, der nie anders als im Namen der Ideale und eines passend gewählten Prinzips wohlgeordneter internationaler Verhältnisse den Übeltäter »in die Schranken weist« – die innere Abteilung erledigt derweil die CIA, so gut sie kann, und allemal in der unanfechtbaren moralischen Gewißheit, mit ihrem Terror dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Das Realistische an der ideologischen Redeweise vom »Weltpolizisten« ist dabei der Umstand, daß die USA und ihre Verbündeten in solchen Fällen tatsächlich nicht ernstlich die reale Gefährdung ihrer weltpolitischen Position abschätzen und abwehren – was hätte die geballte Macht dieser Nationen denn da zu fürchten! –, sondern schon den praktischen Zweifel an ihrer universellen und unwidersprechlichen Entscheidungsmacht und ‑kompetenz: die Unbotmäßigkeit einer fremden Staatsgewalt verfolgen.

Es ist nicht die Abwägung einer Notlage, auch nicht immer die Berechnung eines geschäftlichen Nutzens und noch nicht einmal immer die Kalkulation eines strategischen Vorteils, die die US-Regierung zum Gebrauch von »Gewalt als Mittel der Politik« schreiten lassen. Sie spielt die Frage der Interpretation einer sowjetischen Brigade auf Kuba als Kampf- oder Ausbildungseinheit zum Grundsatzproblem der Weltpolitik hoch – und auch wieder herunter; sie bremst den Einsatzeifer der CIA und der Republik Südafrika gegen eine unliebsame, nicht anerkannte Regierung in Angola – um ein Jahr darauf beider Geschöpf und Kampftruppe gegen die MPLA, der Unita, Waffen zu versprechen und durch südafrikanische Soldaten gleich bis mitten nach Angola hinein liefern zu lassen; sie zögert lange Zeit, einen am Ende erfolgreichen, bedingungslos verurteilten Aufstand in Nicaragua militärisch niederzuwalzen, duldet die neue Regierung unter explizitem Vorbehalt – und organisiert gleich drei Nachbarstaaten zur schlagkräftigen Militärmacht, die sich zuerst gegen Partisanen in Salvador bewährt; sie plaziert Seemanöver ihrer Mittelmeerflotte mitten in ein von Libyen beanspruchtes Gebiet, stimmt diese Aktion zeitlich mit ägyptischen Heeresmanövern an der libyschen Grenze ab, treibt den geplanten und planmäßigen »Test« auf Libyens Militanz mit dem Abschuß feindlicher Abfangjäger bis zur weltöffentlichen Blamage des islamischen Anti-Imperialismus voran und tut dann ganz gelassen kund, man hätte einen Sieg ausgerechnet für das goldene Prinzip der »Freiheit der Meere« errungen; bis dieses Buch einem Leser in die Hände fällt, wird die Liste noch um etliche Positionen länger sein. Und stets beweisen die USA mit ihrem Eingreifen einerseits die Freiheit, mit der sie über die Wichtigkeit von Ereignissen auf der Welt befinden, andererseits die Bedingungslosigkeit des Respekts, auf dem sie als Weltmacht in sämtlichen Angelegenheiten bestehen. Der Materialismus der amerikanischen Weltpolitik: Fähigkeit und Wille zu freier geschäftlicher Benutzung der gesamten Staatenwelt, ist allemal der Ausgangspunkt. In den Kalkulationen der zuständigen Regierung, und besonders deutlich eben, wenn diese eine – in der Regel blutige – Machtdemonstration für angezeigt hält, übersetzt er sich aber in einen Idealismus der nationalen Ehre, der in seiner Abstraktheit und Empfindlichkeit lächerlich wäre – wo er von Machthabern minderen Ranges beansprucht wird, ist er das auch! –, entspräche er nicht so genau der Universalität und der Wucht des weltpolitischen Materialismus, aus dem er sich ableitet und dem er dient und nützt. Die Freiheit, sich allem Weltgeschehen gegenüber den Standpunkt des verletzten Ehrgefühls leisten und alles daran messen zu können, macht die bemerkenswerte Bequemlichkeit der politischen Oberaufsicht der USA über die Staatenwelt aus.

Nebenher klärt sich damit auf, weshalb ein amerikanischer Präsident schwerlich zu dumm oder ungeschickt und sein Bewußtsein gar nicht falsch genug sein kann, um seinen so ungeheuer »schweren«, »einsamen« usw. Job sachgerecht zu erledigen. Dafür genügt nämlich völlig die Gewißheit, daß er sich nichts gefallen zu lassen braucht, und der Wille, sich auch nichts gefallen zu lassen. Damit hat er zwar noch nicht jeden Erfolg in der Tasche – auch amerikanische Präsidenten können politisch »scheitern«: wenn sie ihre Stärke nicht skrupellos genug nutzen! –, auf alle Fälle aber den entscheidenden Punkt getroffen. Die Stärke der Nation, gegen deren Zwecke kein anderer Souverän mit seinen Anliegen Recht behält, macht die Gleichung von Erfolg und Eitelkeit in beiden Richtungen gültig. Ein so wohl fundiertes Ehrgefühl wie das eines amerikanischen Präsidenten ist eben nicht das unglückliche Bewußtsein der Schwäche, sondern die Selbstverständlichkeit des imperialistischen Erfolgs und kann, als Spiegelbild der Freiheit amerikanischen Verfügens, auch deren adäquater Leitfaden sein. Von seinen Verbündeten, die diese Gleichung durchaus zu spüren kriegen – sie beschweren sich dann über »mangelnde amerikanische Sensibilität« und kühlen ihren Ärger mit abschätzigen Kommentaren zum Bildungsstand ihrer vorgesetzten Kollegen –, wird einem amerikanischen Präsidenten im Ernst auch gar nichts anderes abverlangt: die Forderung Nummer eins an ihn heißt »Leadership«, und deren Brutalitäten werden regierungsamtlich noch allemal als die begrüßenswerte Tugend der Klarheit und Entschiedenheit verdolmetscht. Schon gar nicht braucht er sich, wenn er die Arroganz der Macht zur Regierungsmaxime auch im Innern macht, vor Wählern in acht zu nehmen, die »Number One« für den Begriff ihrer Nation halten; die nichts lieber mögen als »the flag«; die keine Hemmungen haben, als Vergeltung für 50 in Teheran festgesetzte Volksgenossen »Nuke Iran« zu fordern, und vorsorglich selber demonstrierende Perser verprügeln; die keinen Vorbehalt kennen gegen die ihnen aufgeherrschte Gleichung von Erfolg und Recht, Erfolg und persönlicher Ehre, Erfolg und Frömmigkeit; für die der »pursuit of happiness« allen Ernstes erste patriotische Pflicht ist, die also ihren Nationalismus im Konkurrieren praktisch werden lassen. Auch der Imperialismus der USA hätte schließlich nicht die Freiheit zu jeder Rücksichtslosigkeit nach außen, wenn seine demokratischen Untertanen sie ihm nicht verschaffen würden: durch bedingungslosen Fleiß und eine Loyalität, die die innenpolitischen Brutalitäten der Staatsgewalt unerschütterlich als Sorge um die eigene Freiheit interpretiert.

4. Was der Sowjetunion die fortdauernde Feindschaftserklärung der USA und ihrer Verbündeten eingetragen hat, das war und ist ihre Weigerung, die eigene Macht in den Dienst der von den USA angestrebten demokratischen Neuordnung der Staatenwelt zu stellen; zum Hauptfeind, der mit seiner Unbotmäßigkeit den einzigen wirklichen Weltkriegsgrund schafft und gegen den daher die gesamte übrige Staatenwelt zu mobilisieren ist, hat sie es durch den Aufbau einer Militärmacht gebracht, dank derer sie diese Feindschaftserklärung bis heute durchgestanden hat, ohne sich der »pax americana« zu beugen. Das härteste NATO-»Argument« für Angriffswillen und Gefährlichkeit der Sowjetunion besteht bekanntlich in dem Hinweis, sie hätte schließlich – und wozu wohl? – weit mehr und größere Waffen, als zu bloßer Verteidigung notwendig – ein »Argument« von wahrhaft atemberaubender Dreistigkeit: man soll es ja akzeptieren neben der NATO-Ideologie von der unabdingbaren Verteidigungsnotwendigkeit eines »ungefähren militärischen Gleichgewichts«. Die Weisheit, daß Angriff die beste Verteidigung sei, ist eben eine sehr moralische: sie gilt nach Bedarf. Auf alle Fälle gilt der Sowjetunion gegenüber allein schon der Hinweis auf ihren Waffenbesitz als schlagender Vorwurf; und das sagt alles über den Standpunkt des westlichen Urteils. Für zulässig erachtet die »freie Welt« die Bewaffnung fremder Souveräne bloß dann und in dem Maße, wenn und wie sie diese – »zur Erfüllung legitimer Verteidigungsbedürfnisse« – konzediert. Deutlicher als mit diesem Anspruch, über Umfang und Schlagkraft anderer Staatsgewalten zu befinden, ist der Standpunkt schlechthin überlegener Weltmacht kaum geltend zu machen. Und genau mit diesem Anspruch scheitern die USA an der Sowjetunion: sie nimmt sich hier jede Freiheit heraus.

Sie scheitern damit im übrigen nur an der Sowjetunion. Alle übrigen Nationen, die sich eine auch nur näherungsweise vergleichbare Militärmacht überhaupt leisten könnten, haben die USA sich zu Verbündeten gemacht, und zwar zu so »verläßlichen«, daß deren Aufrüstung ihnen nie als mögliche Konkurrenz, sondern nur in einer Hinsicht bedenklich erscheint – das allerdings immerzu –: Im Verhältnis zum gemeinsam festgelegten einzigen Kriegsgrund, der Existenz der »Supermacht« Sowjetunion, ist sie allemal zu gering. Allen anderen Staaten gegenüber haben die USA sowieso das imperialistische Ideal wahrgemacht, jederzeit an jedem beliebigen Ort schlechterdings überlegen zu sein. Mit der Atombombe und ihrer Fähigkeit, diese im Bedarfsfall überall sofort zum Einsatz bringen zu können, haben die USA sich tatsächlich das der Universalität und Unbedingtheit ihres Machtanspruchs angemessene militärische Mittel geschaffen. Der Unsicherheit und Unberechenbarkeit des Erfolgs auf dem Schlachtfeld, wo trotz aller Fortschritte die Kategorie des »Kriegsglücks« noch zählt, sind sie mit dieser Waffe prinzipiell enthoben. Ihr Einsatz realisiert unmittelbar den Einsatzzweck eines modernen Militärs: durch Vernichtung gegnerischer Machtmittel, Reichtum und Volk eingeschlossen, den widerspenstigen Willen einer fremden Staatsgewalt zu brechen und bedingungslos gefügig zu machen. Allerdings hat der Besitz dieser Waffe die übrigen militärischen Machtmittel, die seither »konventionell« heißen, und deren Perfektionierung keineswegs überflüssig gemacht. Denn zwar entbindet der abstrakte Zweck moderner Kriege, die Freiheit feindlicher Souveräne zu vernichten, das dafür angewandte Mittel der Zerstörung von allen Schranken und Vorbehalten bezüglich späterer Benutzung, erst recht von so kriegskrämerischen Gesichtspunkten wie dem einer zu machenden Beute; schon der »konventionelle« und erst recht der in Japan bereits geführte atomare Bombenkrieg geben deutlichsten Aufschluß darüber, daß das moderne Kriegsziel »bedingungslose Kapitulation« heißt und diesem Ziel das Rezept »verbrannte Erde« am besten angemessen ist. Andererseits sind damit die Gesichtspunkte der materiellen Benutzung der Welt doch keineswegs außer Kraft gesetzt. Gerade das bedingungslose Ehrgefühl einer Weltmacht erfüllt sich keineswegs in der Alternative von Botmäßigkeit oder totaler Auslöschung, sondern in der Freiheit zu jeder beliebigen Erpressung. Bedingungslose Kapitulation sieht eben in jedem Konfliktfall anders aus, und es sind jeweils andere Mittel die dafür adäquaten. Dadurch, daß die bedingungslose Kapitulation als eigentlicher und auch durchsetzbarer Kriegszweck mit der Atomwaffe allemal sichergestellt ist, sind jedoch für alle »Kriegsszenarios« minderer Güte die Maßstäbe gesetzt: Wenn schon nicht durch atomare Vernichtung, so muß um so mehr für die Gewißheit einer zweckentsprechend totalen »konventionellen« Niederlage des Gegners gesorgt sein. Gerade weil sie im Grunde die ideale und totale Waffe ist, hebt die Atombombe militärische Gewalt in anderen Formen nicht auf, sondern schafft die Freiheit, jedes Mittel nach Belieben einsetzen zu können, nämlich ohne auf seinen Erfolg letztlich angewiesen zu sein, und setzt genau damit die Gewalt in allen je erdachten Formen, vom Bajonett eines »Green Beret« bis zu den raffiniertesten Kampfgasen und den dicksten Schlachtkreuzern, erst richtig frei. Gerade der Vietnamkrieg war ein jahrelanges Beispiel dafür, daß für die atomare Weltmacht USA ein »konventionelles« Schlachtfeld allemal ein Schlachtfeld »unter Vorbehalt« ist, nämlich ohne daß die amerikanische Militärmacht dort wirklich bedingungslos gefordert wäre; es war insoweit daher geradezu ein Experimentierfeld für eine nahezu unendliche Vielfalt von Mitteln, den Grad der Zerstörung exakt nach dem jeweils aktuell gewünschten politischen Zweck einzurichten. Diese indirekte »Anwendung« der Atombombe hat die bekannten auserlesenen Brutalitäten dieses Krieges hervorgebracht – bis hin zu dem Höhepunkt, daß Unterhändler Kissinger während seiner Pariser »Friedensverhandlungen« quasi stündlich die für seinen momentanen Verhandlungszweck optimale Bombenmenge auf Hanoi und Haiphong »abrufen« konnte.

Diese Freiheit der USA wäre schrankenlos – und vielleicht hätten sie auch noch den Vietnamkrieg ähnlich wie die Schlacht um Japan 1945 mit der »humanitären Geste« abgeschlossen, dem »endlosen Leid der Bevölkerung« durch zwei bis fünf Atombomben ein schnelleres Ende zu bereiten und »amerikanisches Leben zu schonen« (dies die gängige Rechtfertigung für Hiroshima und Nagasaki) –, hätte das russische Militär sich nicht seinerseits diese Waffe und die entsprechenden Transportmittel besorgt. Es hat damit den USA genau die alte Kriegskalkulation, alle »Unwägbarkeiten« der »Entwicklung auf dem Schlachtfeld« eingeschlossen und die Existenz der eigenen Souveränität selber in Frage stellend, »aufgezwungen«, von der die USA sich gerade allen anderen Staaten gegenüber freigemacht hatten. Von der Position des überlegenen Schiedsrichters sahen die USA sich wieder zur Partei reduziert, im Gegensatz gegen die sowjetische Atommacht nämlich, und vor die »Notwendigkeit« gestellt, einen Krieg ohne vorentschiedenen Ausgang zu planen: den »Weltkrieg« – dessen Begriff eben nicht die Anzahl der Beteiligten ist, sondern die prinzipielle Infragestellung der »Weltordnung«; und heute spielt sich eine solche Konkurrenz der Waffen von vornherein auf dem Niveau des atomaren »Schlagabtauschs« ab.

5. In der amerikanischen Weltkriegskalkulation und -planung kommt das Kriterium der bedingungslosen Kapitulation, an dem die USA den ihnen als Weltmacht »zustehenden« militärischen Erfolg allein zu messen bereit sind, zu ganz neuen Ehren. Maßstab ihrer strategischen Überlegungen ist von vornherein nicht ein Begriff realer Gefährdung, der die geliebte amerikanische Heimat ausgesetzt wäre. Sie beziehen sich erstens auf die mögliche Gefährdung, zweitens der von ihnen durchgesetzten und gehüteten Einrichtung der Welt – und sind entsprechend maßlos. Die Wahrheit, daß der amerikanische Reichtum praktisch alle Staaten der Welt außerhalb des »Ostblocks« zu seiner Heimat gemacht hat und die amerikanische Macht alle Weltgegenden als ihre Machtmittel zu benutzen versteht, übersetzt sich in dieser Kalkulation in lauter Notwendigkeiten eines globalen Krieges: Allen Ernstes verdolmetschen US-Strategen sich die Weltmachtansprüche ihrer Nation mit der Vorstellung ihres Kontinents als einer »Weltinsel«, die als solche nur in Freiheit überleben könnte, wenn sie die »Herzlandmacht« Sowjetunion von den als amerikanische »Gegenküste« definierten Rändern der alten Kontinente Europa und Asien sowie aus dem fast als deren Anhängsel betrachteten afrikanischen Kontinent fernhält. Und diese sehr frei und souverän eingebildete geopolitische »Notlage« der USA bemißt sich von diesem Standpunkt aus eben nicht an den tatsächlich ausmachbaren Vorhaben des vorgestellten Gegners, sondern wird auf die nackte Tatsache bezogen, daß es die Sowjetunion als Widerpart überhaupt gibt, und dementsprechend als unbedingt und unermeßlich aufgefaßt. Für die amerikanische Weltkriegsplanung geht es um nichts Geringeres als darum, die mögliche Gefahr auszuschalten, die allein in der Existenz einer unbotmäßigen, militärisch standhaltenden fremden Staatsmacht liegt: diese ganz abstrakte, prinzipielle »Gefahr« ist für sie der Weltkriegsfall. »Verteidigung« bekommt so für die USA ganz logischerweise den höchst ungemütlichen Inhalt, die Sowjetunion als Kontrahenten auszuschalten und wieder zur nationalen Figur unter anderen innerhalb der »pax americana« zu reduzieren; »Selbstschutz« heißt ganz selbstverständlich: Negation der Ausnahme, die die Sowjetunion darstellt; Aufhebung der »zweiten Welt«, die das »sozialistische Lager« sein will.

Für die Militärmacht des »freien Westens« folgt aus dieser Weltkriegsidee eine Aufgabe, die unter dem NATO-Firmennamen »Abschreckung« als Prinzip erst einmal schlicht das Ideal wiedergibt, die russische Militärgewalt bereits wieder unter amerikanische Oberhoheit gebeugt zu haben: jeder denkbaren Militäraktion des Gegners schlagartig so machtvoll entgegenzutreten, daß der realistische Schaden für den Gegner allemal höher ist als jeder von ihm allenfalls erhoffte Vorteil. Diese Anforderung ans eigene Militär ist keineswegs aus der Vorstellung abgeleitet, der Feind würde seine Kriege um den Staatsschatz von Österreich oder den Genuß freier Verfügung über den Hamburger Hafen anzetteln; sie rechnet im Gegenteil mit der Entschlossenheit der Sowjetunion, unter bestimmten Bedingungen alle ökonomischen Vorteilsrechnungen aufzugeben – schließlich ist die Sowjetunion der letzte Staat, der durchs Kriegführen reicher würde! – und für die Durchsetzung ihrer Souveränität die äußersten Opfer zu bringen. Deren Vernichtung soll also die westliche Militärmacht im Ernstfall garantieren können – wahrhaftig kein anspruchsloses Ziel, aber noch längst nicht das ganze. Man sollte der westlichen Verteidigungs»doktrin« nämlich auch nicht die Fahrlässigkeit unterstellen, sie nähme ihrerseits für den »Vorteil« einer erfolgreichen Zurückweisung jedes militärischen Durchsetzungswillens der Sowjetunion eine Schädigung in Kauf, die die Durchsetzungsfähigkeit der alliierten Staatsgewalten unmöglich oder auch nur zweifelhaft machen würde. Zum Ideal der »Abschreckung«, auf das die NATO sich festgelegt hat, gehört logischerweise eine gewisse Einseitigkeit: dem Gegner militärisch so entgegenzutreten, daß der dadurch realisierte eigene Vorteil, der Erfolg über ihn, allemal größer ist als der allenfalls zu befürchtende Schaden. Das ganze Konzept der »Abschreckung« enthält so überhaupt nichts anderes als die triviale Maxime, die seit jeher für Kriegsvorbereitungen aller Art maßgeblich war, nämlich daß man ihn gewinnen will; jetzt allerdings mit einem Kriterium für den angestrebten Sieg, der den Zeiten des modernen Imperialismus angepaßt ist: die Souveränität der feindlichen Staatsmacht als solche zu vernichten.

Man hätte also wirklich nicht erst die von der Reagan-Regierung wieder in alter Frische in Umlauf gesetzten Klarstellungen abzuwarten brauchen, um auf die ebenso banale wie brutale Wahrheit der NATO-»Abschreckungsdoktrin« zu stoßen. Zumal ja nicht bloß diese »Doktrin« jede wünschbare Auskunft über die Ernsthaftigkeit des westlichen Siegeswillens gibt, sondern erst recht die Praxis der Kriegsplanung und -vorbereitung zu keinerlei diesbezüglichen Zweifeln je Anlaß gegeben hat. Deren Kriterium jedenfalls ist eindeutig: Nachdem der Feind sich die Kapazitäten für einen vernichtenden atomaren »Zweitschlag« zugelegt und damit den entscheidenden strategischen Vorteil eines westlichen Atomwaffenmonopols zunichte gemacht hat – das Ideal nämlich, mit dem einseitigen Einsatz dieser Waffen den äußersten Kriegszweck unmittelbar zu realisieren –, steht die Inszenierung eines die Atomwaffen mit umfassenden Kriegsschauplatzes an, auf dem sich nach klassischem Muster Sieg und Niederlage entscheiden. Sicher, ein Gefechtsfeld dieser Art hat seine Tücken; denn eigentlich sind Atomwaffen für die Logik einer regulären Schlacht zu wuchtig: sie waren ja gerade das verwirklichte Ideal der Emanzipation vom Kampf ums schließliche »Kriegsglück«. Das war und ist aber noch lange kein Grund für die – von Friedensforschern und Amateur-Strategen nach dem falschen Motto: »Die Waffe macht den Krieg!« gepflegte – törichte Hoffnung, mit Atomwaffen wäre ein regulärer Kampf um Sieg und Niederlage gar nicht mehr zu machen, weil im allgemeinen Inferno dieser Unterschied abhanden käme. In der zivilisierten Welt von heute sind Probleme schließlich dazu da, gelöst zu werden; schon gleich, wenn die fünfzehn mächtigsten und reichsten Nationen der Welt dafür zusammenwirken. Das strategische und taktische Ziel war ja von Anfang an klar: Wenn Atomwaffen die Dimensionen des herkömmlichen Schlachtfeldes sprengen, dann muß man eben ein für sie geeignetes Schlachtfeld erfinden und dem Gegner als Stätte der Entscheidung aufzwingen.

Genau für dieses schöne Ziel ist, wie inzwischen jeder weiß oder wissen könnte, mit der Entwicklung der Neutronenbombe auf der einen Seite, von Pershing II und Cruise Missiles auf der anderen Wesentliches geleistet. Letztere sind die einstweilen – und von allen Geheimentwicklungen einmal abgesehen – fortschrittlichsten militärischen Instrumente, um die Idee einer atomaren Kriegführung, die nicht unmittelbar die gesamte Oberfläche und Bevölkerung des feindlichen Staates vernichtet, Wirklichkeit werden zu lassen. Vermittels ihrer extremen Zielgenauigkeit können diese Apparate ein begrenztes atomares Schlachtfeld herauspräparieren und praktisch zurechtdefinieren, auf dem Sieg und Niederlage durchaus deutlich geschieden bleiben. In logischer Ergänzung dazu kommt gleichzeitig das Gefechtsfeld der alten, »klassischen« Machart, wo es eine Front und Abwehrstellungen gibt und zu dem noch regulär hinmarschiert oder -gefahren wird, zu neuen Ehren. Das paradoxe Ideal, die Logik des mit Sieg und Niederlage endenden Gefechts »alter« Machart mit dem Vorteil der Atomwaffe, die das Hin und Her der Schlacht überwindet und den Sieg garantiert, zu verbinden, wird hier mit sinnreich zu Geschossen verkleinerten Atomwaffen seiner Verwirklichung nähergebracht. Eine andere »Perversion des Denkens« als dieses Atomkriegsideal ist an jener berüchtigten »atomaren Gefechtsfeldwaffe mit verminderter Druck- und Hitzewirkung« jedenfalls kaum auszumachen. Ausgerechnet die auch von Militärs und Politikern geteilte Abneigung gegen eine »atomare Selbstvernichtung der Menschheit«, im Klartext also: gegen einen Krieg ohne eindeutige Siegeschancen, wird so zum Motor für die Konstruktion und praktische Vorbereitung einer größtmöglichen Vielfalt von »Kriegsszenarios«, innerhalb derer man den Feind zu einer letzten Entscheidung zwingen können möchte. Die Vielzahl von Optionen für jeden erdenklichen »Ernstfall« wird damit zum entscheidenden Zweck der Aufrüstung: von der Bundeswehr bis zum letzten chinesischen Soldaten, der sich zum Ussuri in Marsch setzen läßt, und von entmotteten Weltkrieg-II-Schlachtschiffen der US-Navy bis hin zu den weniger wissenschaftlichen Gerätschaften, die »Space Shuttle« in den Weltraum transportiert, geht es um die Freiheit, an der sich für die USA ihre wirkliche militärische Weltmacht entscheidet: die Freiheit, den Gegner dort zu stellen, wo man ihn haben will, ihm Kriege jeder Sorte und jeden Ausmaßes antragen und aufzwingen zu können und selber nie in eine gleichartige Zwangslage zu geraten.

In dieser Freiheit liegt denn auch die strategische Wahrheit des über lange Zeit speziell in Europa liebevoll gepflegten Ideals eines »militärischen Gleichgewichts«: der Wille, der Sowjetunion in keiner Hinsicht unterlegen zu sein, macht militärisch bloß Sinn als die Kehrseite der festen Absicht, Alternativen vorauszuhaben. Es ist daher kein »Mißbrauch« des »Gleichgewichtsprinzips«, sondern liegt in der Logik seines Erfinders, daß es gar nicht genügend »Gleichgewichte« zur Sowjetunion geben kann: neben dem »strategischen« der USA ein »eurostrategisches« bei den westeuropäischen NATO-Partnern, ein westpazifisches in Japan und Korea, am besten noch ein innerasiatisches zwischen Sowjetunion und China – gerade so, als wäre die sowjetische Militärmacht mehrfach, nämlich für jeden ihrer neu eröffneten »gleichgewichtigen« Kontrahenten erneut vorhanden. Erst so wird die »Abschreckung« völlig »glaubwürdig«; freilich auf Kosten der für den internen Gebrauch damit verknüpften Ideologie der »Kriegsverhinderung«. An die haben die Praktiker der westlichen Militärpolitik allerdings ohnehin nie geglaubt. Daß sie inzwischen mit der Produktion und Dislozierung von punktgenauen Mittelstreckenraketen und Neutronengranaten den Übergang vom Aufrüsten zur Gefechtsklarheit ihrer Militärmacht vollziehen – dies der militärische Inhalt des »Endes der Entspannung« –, zeigt deutlich genug, mit welchen Wirkungen ihrer »Gleichgewichts«-Politik sie rechnen.

2. Die Sowjetunion: »Archipel Gulag«, »Sozialimperialismus« oder »Weltfriedensmacht«?

1. Daß auch die sowjetische Politik auf einer strategischen Betrachtung der Welt gründet, läßt sich nicht bestreiten. Die Einschätzung des eigenen Landes, seiner natürlichen Ausstattung und der sowjetischen Völkerscharen im Hinblick auf einen Krieg ist sämtlichen Zentralkomitees im Kreml geläufig gewesen – und in der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs können russische Staatsmänner sogar darauf verweisen, daß ihre militärischen Kalkulationen ihren defensiven Charakter sowie ihre Bestimmung, nicht nur staatliche Interessen, sondern auch den Schutz des Volkes im Auge zu haben, schon einmal unter Beweis gestellt haben. Dennoch genießt die Sowjetunion als Militärmacht keineswegs die moralische Anerkennung, die sie als Bollwerk im Kampf gegen faschistische Eroberungsabsichten für sich reklamiert. Die Notwendigkeit dieses Staates, seit seiner Gründung mit Waffengewalt seine Wiederabschaffung zu verhindern, wollen westlich inspirierte Freunde einer friedlich geordneten Welt einfach nicht gelten lassen. Wer ihnen die außenpolitischen Zwecke der Sowjetunion auch nur andeutungsweise klarmachen will, setzt sich sofort dem Verdacht aus, um Verständnis zu werben für einen Staat, dessen Anliegen nicht einmal in ihrer elementaren Form, der puren Selbstbehauptung, so etwas darstellen wie politische Interessen, denen ein politisch kundiger Weltbürger dieselbe »natürliche« Existenzberechtigung zugesteht wie denen seiner politischen Führung. Und dies hat mit den rationellen Gründen, die sich gegen die Verwendung des Militärs in der und für die Außenpolitik des Kreml ins Feld führen lassen, herzlich wenig zu tun. Da wird ja keineswegs der Gebrauch der außenpolitischen Handlungsfreiheit kritisiert, die sich die Sowjetunion mit ihrer waffentechnischen Aufholjagd verschafft hat: der Versuch, sich sehr ungemütliche politische Herrschaften zu Partnern zu machen und jeden auswärtigen Nationalismus »Sozialismus« zu taufen, wenn er nur der »Weltfriedensmacht« diplomatisch gewogen ist. Ein solcher Einwand schlösse nämlich die Gegnerschaft gegen die einschlägigen Praktiken des freien Westens nicht aus! Das russische Vorgehen erfährt allein dadurch seine Verurteilung, daß es in Konkurrenz zur westlichen Art tritt, völkerfreundschaftliche Bande zu knüpfen. Daß der Einmarsch in Afghanistan das »Gleichgewicht« störe, welches sich durch die Allgegenwart westlichen »Einflusses« definiert, geht da lässig als Argument durch, dem die Beschwörung des Gütesiegels freiheitlicher Weltpolitik auf dem Fuße folgt: Der Export russischer Interessen ist keiner, den eine Demokratie veranstaltet! Diese dem NATO-Vertrag abgelauschte Unterscheidung zwischen guten, weil demokratischen Nationen zu verdankenden Auswärtsspielen von Kommerz und Luftwaffe und schlechten Besuchsreisen undemokratisch entsandter Panzer könnte einen fast zu der dummen Wiederholung der bürgerlichen Spruchweisheit veranlassen, mit der ansonsten mißbilligte Umgangsformen von Individuen wie Staaten miteinander kommentiert werden: »Der Zweck heiligt die Mittel«! Denn was wird mit dem Maßstab »Demokratie« eigentlich schön und erträglich an einem Bombardement in Vietnam, an einem Einmarsch in Angola und einem Luftangriff auf Bagdad? Die Lüge des Arguments »Demokratie« ist freilich viel gründlicher inszeniert, als daß man ihr mit dem Hinweis begegnen könnte: das mag ja ein feiner Zweck sein, die Menschheit mit Demokratie zu beglücken, wenn ihm keine Gewalttat den Dienst als Mittel versagt! Die Generalabsolution, die jedem imperialistischen Siegeszug des Geldes und der Waffen mit dem Verweis erteilt wird, er werde immerhin im Namen einer freiheitlichen Grundordnung vollzogen, beruft sich auf die demokratische Abwicklung von Herrschaft, als wäre sie ein Zweck, für den man schweren Herzens auch mit schwerem Gerät auffahren müsse. Daß dies nicht der Fall ist, läßt sich durch einfaches Nachzählen der Demokratien ermitteln, die sich in der Staatenwelt finden, welche sich des Einflusses der NATO erfreuen. Und wo frei, gleich und geheim gewählt werden darf, weil es das Gesetz so befiehlt und das Militär gewöhnlich nur für äußere Aufgaben und nicht für die innere Ruhe des Staates zuständig ist – wo das Volk also nach einer erzdemokratischen Kennzeichnung der Unterwerfungsbereitschaft »reif« ist –, umschreibt das Markenzeichen »Demokratie« keineswegs Verhältnisse, die durch Abwesenheit von Gewalt, Armut und Elend glänzen. Wenn das gemeint wäre, so würde sich die amerikanische Demokratie mit ihren Millionen Paupers, ihren Negern und mexikanischen Grenzgängern an der bescheidenen Solidität des Lebens in den Sowjetrepubliken noch allemal blamieren! Und ob die individuelle Unterdrückung »des einzelnen« Russen, der seine fünfzig Jahre vor sich hinarbeitet, einen Krieg mitmacht und übersteht, um dann mit kyrillischen Buchstaben auf seinem Grabstein unter der Erde zu landen, unerträglicher ist als ein amerikanischer Lebenswandel unter dem Schutz der Nationalgarde, die Studenten und Streikende zum sozialen Frieden auf amerikanisch überredet, ist auch nur für Leute ausgemacht, die in ihren Lobhudeleien auf die Freiheit ihre Freiheit erkennen und in katholischen Dissidenten ihre Gesinnungsgenossen.

Die obligatorische Würdigung der Sowjetunion in ihrer weltpolitischen Rolle, die ihr mit dem Doppelbeschluß »undemokratisch = gefährlich« jede Rüstungsmaßnahme als Aggression, jedes Angebot als diplomatisches Betrugsmanöver und ihre Präsenz im Ostblock und anderswo als imperialistische Knechtung echter Völker zur Last legt, zeugt in ihren armseligen und scheinheiligen Argumenten nur von einem: von der Bequemlichkeit im ideologischen Umgang mit einer Nation, die man als Feind ausgemacht hat. Der Anti-Kommunismus ist eben die negative und inhaltslose Lehre von der unbezweifelbaren Verwerflichkeit einer Staatsmacht, die wegen ihrer Unbrauchbarkeit als »Partner« stört und deswegen sogar den tautologischen Vorwurf der »Gewalt-Herrschaft« über sich ergehen lassen darf. Die Zielsetzungen der sowjetischen Politik brauchen keines Blickes gewürdigt zu werden, weil sie von den Parteigängern der Freiheit längst im Willen zur Unterdrückung, in der Fesselung der Individualität und in der teuflisch-bolschewistischen Sucht nach Macht geortet worden sind. Zwar blüht dieser Unsinn in den ihm eigenen Sprachregelungen, in Reinkultur also, »nur« im ZDF-Magazin und den Kraftsprüchen historisch denkender Christen und amerikanischer Spitzenpolitiker so ungeniert vor sich hin, daß ihn bedächtigere Zeitgenossen als »zu plump« ablehnen. Doch »subtil«, nämlich als ständige Verpflichtung demokratisch-nationalistischer Politik, hat er seine Gültigkeit in den Paradiesen der freien Meinungsäußerung nie verloren. Ohne eine vorsorglich abgelieferte Treueerklärung zu »unserem« System, also ohne die Anerkennung des »Arguments«: »Geh‘ doch rüber!«, ohne das Bekenntnis zur vergleichsweisen Unerheblichkeit des eigenen Einwands gegen die demokratischen Herren hierzulande ist Kritik nicht opportun; bleibt die mit Blick auf die Sowjetunion geübte Selbstzensur aus, darf man der mit vollem Recht nach östlichen Bräuchen durchgeführten Zensur sicher sein, die dann im Namen der Freiheit ad personam exekutiert wird.

Der westdeutschen Linken ist zu bescheinigen, daß sie diese Lektion nicht nur begriffen, sondern auch stets gründlich beherzigt hat. In ihren Versuchen, ihre sozialistischen »Perspektiven« populär zu machen – was das Gegenteil einer rationalen Überzeugung der Opfer von Staat und Kapital darstellt, sich per Klassenkampf die lebenslange Erfahrung zu ersparen, als Mittel in Fabrik, Kaserne und schließlich im Krieg zu dienen und damit unzufrieden sein zu dürfen –, haben sie immer betont, keine Russen zu sein. In der Annahme, ihre Adressaten seien letztlich nur wegen des schlechten Vorbilds drüben so schwer für den Sozialismus zu gewinnen, war ihnen die Klage über den eigenen Mißerfolg durchaus als Argument geläufig, das – übersetzt in: Wir möchten einen echten Sozialismus einführen, nicht den der östlichen Supermacht! – den Nationalismus der in die NATO-Demokratie befohlenen »deutschen Arbeiter« auf seine Kosten kommen ließ. Inzwischen stellen die Reste dieser Linken, nicht einmal die wegen ihrer Sympathie für die UdSSR einstmals »berüchtigte« DKP mag da noch eine Ausnahme machen, die Aktivisten einer »Friedensbewegung«. Und die will in konsequentem Verständnis für den vorgefundenen Nationalismus und Freiheitsdrang des Publikums vor der Arroganz der – ihrer Überlegenheit sehr sicheren – NATO-Macht nur unter Vorbehalt erschrecken; brav betont sie, daß sie die SS 20 genauso wenig leiden kann wie jene amtierenden Experten, die damit die Unerläßlichkeit einer für die Sowjetunion ausreichenden atomaren Vernichtungskapazität in Westeuropa rechtfertigen. In der freien öffentlichen Meinung des Westens geht in Sachen Sowjetunion keine Auffassung durch, die nicht eine eindeutige Parteinahme gegen sie erkennen läßt – mindestens unter dem Rechtstitel einer gleichmäßigen Verurteilung von Ost und West: solche Ausgewogenheit ist schon längst einvernehmlich auseinanderdividiert in die genehme und daher seriöse Abteilung, in der das kritische Urteil sich mit der offiziellen Sprachregelung deckt und seine ganze Wucht entfalten darf, und in die andere, die je nach Bedarf als ehrlich gemeinte, aber naive »Schwarmgeisterei« oder als bedenklicher Erfolg einer »vom Kreml angezettelten demagogischen Propagandakampagne« rubriziert wird. Traurig zu sehen, daß sich, was in der BRD »sozialistische Linke« heißt, da lückenlos einfügt, sogar mit besonderem Eifer. In diesen Kreisen hat man die möglichst energische Verurteilung des »realen Sozialismus« und seiner Streitkräfte sogar als willkommenes Beweismittel für die Seriosität des eigenen Anti-Kapitalismus entdeckt. Die so um Anerkennung angebettelte bürgerliche Öffentlichkeit notiert das gelassen als ersten Schritt zurück in die demokratische Normalität: Wer wegen Kritik an auswärtiger Herrschaft Verständnis für das Mitmachen im eigenen Land entwickelt, weiß schließlich, was sich gehört. Und spätestens drei bis vier vom östlichen Feind verbrochene Untaten in den »Satellitenstaaten« lassen ihn, bei entsprechender Zubereitung durch die freie und demokratische Öffentlichkeit, zu der Überzeugung gelangen, daß »Sozialismus ohne Demokratie unmöglich« ist. Deswegen bescheidet er sich dann vorläufig, aber gerne mit der realen »Demokratie mit Kapitalismus« ...

Sachkundig will dieser perfekt durchgesetzte Kriegsmoralismus sich – sogar da, wo er NATO-kritisch auftritt – nur in einer Hinsicht machen, nämlich ausgerechnet in Angelegenheiten der militärischen Strategie. Dabei teilt er einerseits die berufsmäßige Borniertheit des demokratischen Uniformträgers, der sich um Grund und Zweck staatlicher Gewaltaktionen nicht kümmert, sondern dem antizipierten Tötungsauftrag seiner Nation – zusammen mit seinem unverwüstlich guten Gewissen – als gehorsamer Beamter die Aufgabe entnimmt, alternative Schlachten mit einer möglichst günstigen Relation zwischen Vernichtungserfolgen und Verlustrisiken vorzubereiten – wobei das meiste schon mit der vertrauten Maxime »Nicht kleckern: Klotzen!« erledigt ist – und auf Befehl durchzustehen, auch wenn das Kampfgeschehen sich weniger günstig als vorgesehen entwickelt. Dem moralischen Urteil gerät die fachliche strategische Abwägung, wie dem Gegner optimal zu begegnen, zuvorzukommen und der Sieg am sichersten zu erreichen sei, allerdings andererseits zu einer Spekulation über die heiße Frage, wer in Ansehung aller Ausstattungsmerkmale des »Kriegstheaters« als der Hauptschuldige auszumachen sei – bzw., weil diese Frage ohnehin nicht zu entscheiden ist und bloß in fester Absicht überhaupt gestellt wird: inwiefern der feststehende Bösewicht aufgrund des geplanten Schlachtablaufs als der Hauptschuldige dingfest gemacht werden kann. Die eine, bedingungslos kampfbereite Mehrheitsfraktion im zulässigen demokratischen Meinungsstreit ist mit ihrer prätendierten Sachkenntnis an nichts als an Belegen für eine »unerträgliche«, möglichst noch für eine rapide wachsende Überlegenheit der sowjetischen Militärmacht und ihre entsprechend unendliche Gefährlichkeit interessiert; daß ihre Schreckensgemälde oft genug die Frage provozieren müßten, weshalb die Rote Armee dann eigentlich noch nicht längst vor Brüssel steht, läßt sie kalt. Ebensowenig läßt diese Mehrheitsmeinung sich irritieren, sieht sich vielmehr gleich doppelt bestätigt, wenn das fachkundig errechnete Mißverhältnis zwischen russischer Offensiv- und westlicher Defensivstreitmacht an einem Tag auf 1 : 4 und am nächsten auf 1 : 8 beziffert wird; und ungerührt hält sie an beiden Ideologien zur westlichen Aufrüstung fest, wie offensichtlich auch immer diese miteinander in Konflikt geraten: Das Versprechen des amerikanischen Präsidenten, zum Zwecke eines »Sicherheitsvorsprungs« die Sowjetunion »totzurüsten«, und das 1,5-Billionen-Dollar-Programm, mit dem dieses Versprechen wahrgemacht werden soll, verdolmetscht man sich da je nachdem als ein höchst defensives Ringen um die Abwendung westlicher Erpreßbarkeit – gerade so, als ließen Genscher, Schmidt oder Kohl, Mitterrand und Thatcher auch nur die geringsten einschlägigen Symptome erkennen; oder aber man übernimmt die militärische Kalkulation, nach der dem Feind nur mit einem siegreich zu führenden Krieg wirksam zu drohen ist, und verklärt den Kampf um Überlegenheit zur allerendgültigsten Friedenssicherung – vielleicht hat irgendein sprachgewaltiger Interpret dieser Ideologie bis zum Erscheinungsdatum des vorliegenden Buches schon die Parole vom »Gleichgewichtsvorsprung« in Umlauf gesetzt: sie wäre der »Nachrüstung« kongenial. Die friedensbewegte Gegenseite, ob in oder außerhalb der SPD, sorgt sich angesichts jeder neuen waffentechnischen Errungenschaft der USA darum, ob damit nicht »die Atomschwelle herabgesetzt« und »der Atomkrieg wieder führbar« gemacht werde – ein in jeder Hinsicht kurioses Bedenken. Wenn nämlich die offiziellen Strategen sich um die »Führbarkeit des Atomkriegs« gesorgt haben und noch Gedanken machen, dann meinen sie keineswegs, der Einsatz ihrer Kernwaffen machte militärisch womöglich gar keinen Sinn, sondern beklagen die Schwierigkeiten, mit diesem Gerät einen gleichartig gerüsteten Gegner in eine so ausweglose Lage zu bringen, daß ihm nur noch die bedingungslose Kapitulation bleibt. Und wenn sie sich um die Überwindung dieser Schwierigkeiten kümmern, dann können sie nach derselben Logik des »Gleichgewichts des Schreckens«, die gegen sie ins Feld geführt wird, darauf verweisen, daß zum gleichgewichtigen Schrecken noch allemal dessen Realismus gehört und fremdländische Militärs nur durch eigene Siegeschancen zu beeindrucken sind – genauso wie sie selbst. Gegen die Ideologie von einem »Näherrücken« des Atomkriegs, das durch Waffenentwicklungen bewerkstelligt würde, wird inzwischen sogar schon die Wahrheit ins Feld geführt, daß schließlich nicht die Waffen selbst oder ihre Bedienungsmannschaften, schon gar nicht die Herstellerfirma und noch nicht einmal die militärischen Befehlshaber über deren Einsatz befinden, sondern die obersten demokratischen Politiker – das aber nicht im Sinne einer Hetze gegen eine Politik, die sich mit derartigen Mitteln ausstattet, sondern als Entschuldigung jeglicher Rüstungsmaßnahmen, deren Harmlosigkeit damit für bewiesen gelten soll. Und man muß schon sagen: Kriegskritiker, die sich für ihre Kritik auf das Kriegsgerät berufen und dessen Verwender vor ihm warnen, haben es nicht besser verdient.

Auf die Kriegsgründe der einen wie der anderen Seite und damit auf den wirklichen politischen Zweck der Rüstung im Osten und im Westen bezieht die Sachkunde, die heute jeder Meinung über die Sowjetunion und ihre Feindschaft zum »freien Westen« abverlangt ist, sich also nicht. Darüber Bescheid wissen zu wollen, würde sich auch schlecht vertragen mit dem moralischen Beschluß, entweder im Namen der »Bedrohung des Westens« einseitige oder im Namen der »drohenden Kriegsgefahr« ausgewogene Verurteilungen über die Kriegsvorbereitungen der Sowjetunion auszusprechen. Und das nicht einmal bloß aus dem allgemeinen Grund, daß der in strategische Debatten eingekleidete Moralismus einer vorweggenommenen Kriegsschuldfrage allemal etwas anderes ist als die Analyse weltpolitischer Zwecke eines Staates. Wie wenig erhellend erst recht im Falle der Sowjetunion die, sei es einseitige oder ausgewogene, Überzeugung ist, sie sei mindestens genauso schlimm wie ihr westlicher Kontrahent, kann schon das bloße Gedankenexperiment verdeutlichen, dieses »genauso« allein in der Vorstellung einmal wirklich Gestalt annehmen zu lassen. Was wäre auf der Welt wohl fällig, wenn eine den USA ebenbürtige und gleichgeartete Weltmacht ihrerseits den eigenen Rubel nicht bloß aus dem Diktat der Konvertibilität herausgehalten, sondern allen Handelspartnern vermittels einer frei festgesetzten Rubel-Gold-Parität als Maßstab ihrer nationalen Währungen und Grundlage ihrer nationalen Zirkulation auferlegt hätte? Wenn sie mit gleicher Wucht den Geschäftsvorteil ihres nationalen Kapitals zur Geschäftsgrundlage ganzer Staaten gemacht hätte? Wenn sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit, und weil sie es für das Gedeihen ihrer Nationalökonomie zu benötigen beschlossen hat, die Bodenschätze in aller Welt, vom arabischen Erdöl bis zum katangischen Kupfer, als ihre angestammte Interessenssphäre reklamieren würde? Wenn sie, genauso wie die USA bezüglich Afghanistans, ihrerseits die »ordnungsstiftenden« Eingriffe der USA in jedem mittelamerikanischen Land als beleidigenden Angriff gegen »uns« definiert hätte? Wenn sie für alle diese Unternehmungen ihrerseits alle anderen wichtigen und reichen Nationen auf Bündnistreue verpflichtet und mit einem weltweiten Netz von Bündnissystemen ein »Containment« ihres Gegners auf dem nordamerikanischen Subkontinent durchgesetzt hätte? Wenn sie sich weltweit als letzte quasi-polizeiliche Instanz aufspielen würde? Usw. usw. Wahrlich, im Vergleich zur Konkurrenz zweier imperialistischer Weltmächte von amerikanischem Kaliber nimmt sich der »Ost-West-Gegensatz« von heute matt aus. Da gibt es ja glatt noch Regierungen, deren Sturz die USA offen betreiben und die gleichzeitig in den USA ihren wichtigsten Erdölkunden haben; kubanische Truppen stützen ein im Westen verteufeltes Regime, das sein Land nach Kräften in eine Tomatenplantage für den westeuropäischen Winter verwandelt; feindliche Staatshandelskaufleute betteln im Westen um günstige Handelsverträge, die Gewährung der Meistbegünstigungsklausel und die Stundung von Krediten. Solange derlei Kuriositäten zum Alltag des Imperialismus gehören, ist der große Krach immerhin noch eine Frage der Zeit – der Zeit, die die USA noch brauchen, um mit einer Sowjetunion, die sich das alles nicht mehr leisten kann und will, aus einer »Position der Stärke« zu verhandeln.

Die wohlfeilen ausgewogenen Analogieschlüsse auf einen »Imperialismus« der Sowjetunion taugen für einen Begriff der Weltpolitik dieser Nation und der Weltlage genausowenig wie der Glaube an die bedingungslose Eroberungswut des »roten Zarenreiches«.

2. Wenn sowjetische Politiker die ökonomischen Interessen ihrer Staatsmacht nach außen vertreten, dann repräsentieren sie – im Unterschied zu ihren westlichen Kollegen- nicht die nationale Zusammenfassung privater Geschäftsanliegen. Der realsozialistische Staat verläßt sich nicht auf die wirtschaftliche Effizienz, die im Westen durch die Scheidung von Kapital und Arbeit zustandekommt und durch die wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen des Staates konjunkturgemäß befördert wird. Sein »System« hat schließlich die Zwänge und Erfordernisse der Kapitalakkumulation außer Kraft gesetzt und duldet nicht das Geschäft von »Charaktermasken«, die ihre Freiheit und »persönliche Initiative« auf die erfolgreiche Benützung der Lohnarbeit verwenden, welche sie zu Liebhabern des Marktes werden läßt.

Daß dennoch weder ein idyllisches Arbeiterparadies noch die programmatisch anvisierte Beschämung des kapitalistischen Wachstums mit seinen als »Systemschwächen« verurteilten Krisen und Härten zustandegekommen ist, liegt an der Art und Weise, wie »drüben« von Staats wegen die gesellschaftliche Produktion – und in ihrem Gefolge die Verteilung und Konsumtion – organisiert ist. Da »plant« der Staat, indem er den Betrieben einen Gewinn als Maß ihres Erfolgs vorschreibt, der im Unterschied zum gleichnamigen Kriterium betriebswirtschaftlicher Rentabilität im Westen jedoch dem Staat zur Verfügung steht. Als Posten eines staatlich verwalteten abstrakten Reichtums soll er den Fortschritten der Produktivität wie dem Wohlstand der Massen zugutekommen, was zum mit Marx- und Engelszungen beschworenen Widerspruch zwischen »Akkumulation und Konsumtion« auch im Sozialismus führt. Neben Betrieben, die in Befolgung der staatlichen Auflagen Überschüsse in unzweckmäßiger Form produzieren, gibt es andere, die einen offenkundigen Mißerfolg in Sachen Rentabilität vermelden – und der auf seine »Planung« stolze Staat schreibt den Mangel ebenso fort, wie er die »Leistungen« der in Recheneinheiten prächtig gedeihenden Betriebe honoriert. Mit seinem Prämienwesen führt er seinen Nutzen als Bedingung für alle Wohltaten in die Ökonomie seiner Gesellschaft ein und gebietet Sparsamkeit auch dort, wo sie der Entwicklung der geliebten Produktivkräfte unmittelbar zuwiderläuft. Während im verhaßten und überwundenen Kapitalismus Kosten jeden Ausmaßes fällig sind, wenn sie nur die richtige Relation zum Überschuß ergeben, kennt der reale Sozialismus gesamtgesellschaftliche Sparsamkeit als Zweck, ganz als wären in ihm die bürgerlichen Ideologien Wahrheit geworden. Der Arbeitslohn erfreut sich auch in dieser alternativen Volkswirtschaft einer Kalkulation als Kostengröße, und die Erhaltung der Arbeitskraft – die ironischerweise als die Produktivkraft gefeiert wird – findet unter der »Planung und Leitung« des idealen Arbeiter- und Bauernstaates zwar statt, nimmt aber recht kärgliche Züge an. Bisweilen scheitert ihre ordnungsgemäße Abwicklung nicht einmal an der Zahlungsfähigkeit des Entlohnten, sondern am Mangel an Käuflichem. Die sozialistischen Errungenschaften beschränken sich auf das Notwendige; Wohnung, Gesundheitswesen und Ausbildung sind wie der Arbeitsplatz selbst fester Bestandteil staatlicher Fürsorge, doch liefert der Staat den Beweis, daß die Fährnisse kapitalistischer Konkurrenz und Krisen beseitigt sind, durchaus auf Kosten der geliebten Arbeiterklasse. Wie den Kredit setzt der Staat nämlich auch die Preise als »Hebel« für die Akkumulation des ihm disponiblen Reichtums ein, eröffnet nicht nur unter seinen Betrieben, sondern auch zwischen den »Werktätigen« einen sozialistischen Wettbewerb, in dem Pflichterfüllung und Leistung die Tugend des sozialistischen Menschen ausmachen und der Lohn dieser Tugend eher in Anerkennung denn in Genüssen entgolten wird. Der herausragende Einsatz für den Sozialismus schlägt sich nicht einmal bei »Helden der Arbeit« in materiellem Vorteil nieder, zum Luxus der Bedürfnisbefriedigung, des schönen Lebens zugelassen zu werden – dergleichen ist im Osten die Ausnahme, die eher über spezielle Einsätze in Staatsangelegenheiten zustandekommt.

Freilich stört es schon seit geraumer Zeit die Parteivorstände der östlichen Arbeiterparteien, daß nicht nur die kompensatorischen Ideale eines gesicherten und guten Lebens der arbeitenden Klasse auf der Strecke bleiben, sondern auch die staatlich organisierte Armut nicht die Früchte zeitigt, die ihr »System« im ständig besprochenen Vergleich mit dem Westen gut aussehen lassen. In regelmäßigem Turnus inszenieren sie ökonomische Reformen, in denen sie mit einem erheblichen Aufwand an Moral und Gewalt die Fehler ihrer Untertanen – der leitenden wie der betroffenen – zu korrigieren suchen. Auf der einen Seite bemängeln sie die Bilanzierungsschwindel prämienbeflissener Betriebsführungen, die sich Techniken ersinnen, aus den staatlichen Normen- und Kennziffernvorschriften durch den Schein von Leistung ihr Geschäft zu machen. Andererseits ist den Sachwaltern der »volkswirtschaftlichen Effizienz« im Sozialismus die Anstachelung des Leistungswillens gerade der geliebten Arbeiterklasse ein staatliches Herzensanliegen, wobei es ihnen keineswegs peinlich ist, in jeder Kampagne einzugestehen, daß sie sich im Gegensatz zu ihren »sozialistischen Bürgern« befinden und genausowenig wie ihre westlichen Kollegen ohne moralische Verpflichtung aufs Allgemeinwohl, ohne ökonomische Erpressung und Androhung von ordnungsstiftender Gewalt auskommen. In Stilblüten der folgenden Art:

»Das Planungssystem muß sichern, daß die als Gesamtwille der sozialistischen Gesellschaft beschlossenen Planaufgaben zur optimalen Entwicklung der Volkswirtschaft jedes Teilsystem bis zum Betrieb zu sachkundigem, ideenreichem, eigenverantwortlichem Handeln zwingen, das den volkswirtschaftlichen Aufgaben und Interessen entspricht und gleichzeitig mit ihren kollektiven und persönlichen und moralischen Interessen übereinstimmt ... unter schöpferischer, demokratischer Mitwirkung der Werktätigen und der Führungsorgane aller Ebenen ... die Vorschläge des gesamten Volkes ... in bewußter Unterordnung unter die Gesamtinteressen ...«

faßt sich die politische Anstrengung der Regierenden im realen Sozialismus zusammen, die letzten »Hebel« der sozialistischen Akkumulation zur Anwendung zu bringen; und so sehr man sich hierzulande in albernen Witzen über die geringen Erträge der Ausbeutung hinter dem »eisernen Vorhang« mokiert, so lässig man über den »sozialistischen Wettbewerb« als einen matten und ineffektiven Versuch herzieht, das kapitalistische Geschäftsleben mitsamt den ihm eigentümlichen Brutalitäten zu kopieren, so wenig will man bemerken, daß eine solche Ökonomie des Imperialismus gar nicht fähig ist. Da kommt es nämlich zu keinen Überschüssen, die als Ware oder Kredit im Ausland profitable Verwendung zu erzielen imstande sind. Ein grenzüberschreitender Materialismus dieser Art ist den Nationalökonomien des an die Macht gelangten Revisionismus – so der Taufname dieser sozialstaatlich-volkswirtschaftlichen Uminterpretation des Kommunismus – fremd: Weder liegt er in den staatlich festgesetzten ökonomischen Zwecken dieses »Systems«, noch verfügen die Staatsbetriebe im realen Sozialismus über dermaßen expandierende Überschüsse, daß ihnen die ganze Welt als Betätigungssphäre gerade recht ist. Umgekehrt hat die Sowjetunion im Interesse des geplanten »sozialistischen Aufbaus«, also zugunsten einer exklusiven Nutzung der nationalen ökonomischen Potenzen durch die zur Volksbeglückung entschlossene Staatsgewalt, ihre Wirtschaft ausländischer Benutzung radikal entzogen; auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat sie dem amerikanischen Versuch widerstanden, in den von ihr beherrschten Staaten Osteuropas und möglichst auch bei ihr eine »normal« funktionierende Geld-, also eine Kapitalzirkulation in Gang zu setzen – wenn auch mit der verharmlosenden Denunziation der amerikanischen Währungs- und Wiederaufbaukredite als wenig handfester »Trugbilder« von Reichtum. Auch in dieser Richtung hat die Staatsgewalt ein Monopol auf außenwirtschaftliche Beziehungen und geht diese nur ein, soweit sie auf diesem Wege einen Bedarf zu decken gedenkt, der nicht aus einer freien Wahl des besseren Geschäfts entspringt, sondern der Kompensation eingestandener Mängel dient. Dieser Charakter des auswärtigen Handels macht sich in Art, Umfang und Zahlungsmodus der Geschäfte recht deutlich bemerkbar. Die Sowjetunion hat die Schaffung und Benutzung ökonomischer Abhängigkeiten durch geschäftstüchtige Kapitale anfangs unterbunden, hält sie noch heute in Schranken und setzt sich deswegen seit jeher dem erbosten Vorwurf aus, sie würde entgegen allen friedfertigen Gepflogenheiten des weltweiten Handels und Wandels das internationale Geschäftsleben durch ihr Autarkiestreben – politisieren!

Als erstes ist also der negative Befund festzuhalten: Was die materielle Grundlage der Staatsgewalt angeht, so ist die Sowjetunion samt ihrem Staatenblock weder Subjekt eines konkurrierenden noch Geschöpf des herrschenden Imperialismus.

Ein weltpolitischer Idealismus, womöglich ein solcher der »Weltrevolution«, bestimmt die Außenpolitik der Sowjetunion allerdings genausowenig – allen christdemokratischen Gerüchten zum Trotz, die die eigene Kreuzzugsgesinnung nicht für die Ideologie, sondern den Grund westlicher Sowjetfeindlichkeit halten wollen und dem Gegner gerne den gleichen Fanatismus mit umgekehrten Vorzeichen ankreiden möchten. Jede kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion und erst recht außerhalb des »Ostblocks« hat so ihre Erfahrungen mit der kaltschnäuzigen Manier ihrer herrschenden Genossen, die Solidarität mit der proletarischen Opposition andernorts dem Wunsch nach guten oder wenigstens mit Anstand geregelten Beziehungen zu den politischen Herren der jeweiligen Länder unterzuordnen; nicht wenige haben daraus ja sogar schon den Schluß gezogen, sich ihrerseits, und nun durchaus auch gegen die regierungsamtlichen Anliegen der Sowjetunion, auf den Standpunkt der Sorgen ihrer nationalen Herrschaft zu stellen und den Patriotismus zum höchsten proletarischen Anliegen zu erklären – unter dem Präfix »Euro-« ist aus diesem Abgang des Revisionismus in den Nationalismus inzwischen schon die herrschende Linie geworden. Statt durch die im Westen ideologisch herbeigefürchtete revolutionäre Subversion – nicht einmal der normale staatliche Geheimdienst kann der CIA das Wasser reichen, was das Schüren von Aufruhr und das Inszenieren von Umstürzen betrifft! – ist das sowjetische Auftreten nach außen durch den Konservatismus einer revisionistischen Staatsgewalt bestimmt, die sich die revolutionäre Parole von der Abschaffung staatlicher Herrschaft durch die »Diktatur des Proletariats« längst zu dem Eigenlob zurechtgelegt hat, als »Staat des ganzen Volkes« die gar nicht mehr vorläufige Endstation im »Entwicklungsgang« der »sozialistischen Übergangsgesellschaft« zu sein.

3. Von einer nationalen Zwecksetzung, die der Staatenwelt einen entsprechenden zweckbestimmten Zusammenhang aufnötigen, ein weltweites Herrschaftssystem als notwendiges Mittel dafür hervorbringen würde, kann bei der Sowjetunion nicht die Rede sein. Ihre Politik gegenüber dem Rest der Welt ist von dem Anliegen bestimmt, die Realisierung des ökonomischen und politischen Programms im eigenen Herrschaftsbereich durch keinerlei auswärtige Verpflichtungen zu gefährden – und auch nicht durch ausländische Interessen gefährden zu lassen. Der Grund für sie, überhaupt Außenpolitik zu betreiben, liegt nicht in den Zwecken des »realen Sozialismus«, sondern in dem Herrschaftszusammenhang der Staatenwelt, innerhalb derer er Gestalt annehmen soll. Weil die »völkerverbindenden« Machenschaften des florierenden westlichen Geschäftslebens »künstliche« Schranken nicht dulden, die dazugehörigen politischen Instanzen einer auswärtigen Herrschaft Souveränität nur bedingt, nämlich nach Maßgabe ihrer Zweckdienlichkeit für »die Weltwirtschaft« und deren Macher zuerkennen, ist dem Revisionismus an der Macht seine Selbstzufriedenheit verwehrt und die Notwendigkeit auferlegt, sich um die auswärtige Staatenwelt als das zu kümmern, was sie in bezug auf ihn ist: ein einziger Angriff auf seine praktische Weigerung, Land und Leute für den weltweiten Geschäftsverkehr des Kapitals bereitzustellen. Eben weil sie die Anerkennung ihrer Autonomie nicht mit ihrer Nützlichkeit für den Imperialismus erkauft, sondern im Gegenteil mit der Aufkündigung jeder Bereitschaft, sich benutzen zu lassen, aufs Spiel gesetzt hat, war die Sowjetunion von Beginn ihrer Existenz an gezwungen, die internationale Respektierung ihrer Existenz zu erzwingen: gegen die aus Westeuropa unterstützte »weiße« Konterrevolution, gegen Hitlers Überfall, gegen die Kriegsdrohung, die die USA ihr mit dem Aufbau ihres weltweiten Systems von Militärbündnissen zugestellt hat. So dient der Auf- und Ausbau eines unter allen Umständen und gegen jede Bedrohung respekterheischenden militärischen Gewaltapparats der Sowjetunion nicht der weltweiten »Defensive« wie den imperialistischen Mächten: der Absicherung ökonomischer Vorteile aus fremden Nationen; die Rote Armee ist selber die materielle Grundlage dafür, überhaupt als souveränes Subjekt auftreten und außenpolitische Aktivitäten aufnehmen zu können. Auch diese sind ihrem Grunde und ihrer Substanz nach nichts anderes als Kriegsdiplomatie: sie gehorchen dem überaus abstrakten, bloß negativen Zweck der nationalen Selbstbehauptung. Und so sehr der »freie Westen« diesen Standpunkt ideologisch für sich reklamiert, wo immer er seine Interessen in Gefahr sieht, für so gefährlich, anmaßend, ja – ausgerechnet! – egoistisch befindet er ihn, sobald die Sowjetunion ihn eben nicht bloß zur ideologischen Rechtfertigung respektabler imperialistischer Zwecke, sondern praktisch einnimmt.

4. Es ist geradezu von ironischer Folgerichtigkeit, daß ausgerechnet die vom Faschismus angezettelte weltweite Konkurrenz der Waffen der Sowjetunion den ersten und einzigen bedeutenden Erfolg ihrer Politik der Selbstbehauptung und -sicherung ermöglicht hat. Der globale Eroberungsfeldzug des einzigen alternativen Imperialismus des Jahrhunderts, eben der faschistischen »Bodenpolitik«, die eine deutsche Weltmacht durch eine Eroberung wirtschaftlicher Mittel erst und wieder herzustellen suchte, weil dem Reich durch die Siegermächte des ersten großen Waffenganges der imperialistische Erfolg verwehrt wurde, führte die Gegner in ein Militärbündnis, verschaffte so der Sowjetunion ihre zeitweilige Anerkennung als Mitkämpfer und mit dem Sieg die einmalige und rasch widerrufene Gelegenheit, als Befreiungs- und »legitime« Besatzungsmacht sich ein Vorfeld botmäßiger »Satelliten« zu schaffen. Mit Revolution hatte die Einrichtung des »Ostblocks« genausowenig zu tun wie mit Imperialismus; das rein negative Interesse der Sowjetunion, sich Sicherheiten gegen eine erneute Infragestellung ihrer Existenz zu schaffen, ist an den »Schwächen« des östlichen Bündnisses nur zu deutlich abzulesen. Dem Materialismus der ihr verbündeten Staatsgewalten – und auf den kommt es im »realen Sozialismus« zwar in anderer Weise, aber genauso sehr an wie in den kapitalistischen Demokratien und den Geschöpfen ihres Imperialismus – hat die Sowjetunion eben deswegen so arg wenig zu bieten, weil ihre eigene Ökonomie weder darauf aus noch dazu geschaffen ist, deren Herrschaftssphäre geschäftlich auszunutzen; die Tauschgeschäfte im RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) vermitteln nicht die Akkumulation von Kapital, weder auf beiden noch auch nur auf einer Seite, sondern lassen die Abpressung knapper Güter mit verlorenen Zuschüssen abwechseln; Preise sind bei den im Ostblock getätigten Geschäften nie das selbstverständliche Mittel des Gewinns, sondern erfüllen stets die Funktion der Entschädigung – sie messen die Not statt den Überschuß. Da kompensieren verbündete Staaten die Mängel ihrer nationalen Wirtschaft, und nicht selten besteht diese Kompensation darin, daß um der Kontinuität der Produktion willen notwendige Güter außer Landes geschafft werden. Schon gar nicht ermächtigt das Bündnis mit der Sowjetunion deren Partner zu jenen weltweiten Machenschaften, in denen der Imperialismus der »Satelliten« der USA seine Geschäftsgrundlage, deren demokratischer Nationalismus seine Befriedigung findet. Zählen kann die Sowjetunion einzig auf den Umstand, daß der Selbstbehauptungswille der ihr verbundenen revisionistischen Parteien im Innern wie nach außen materiell auf die »Hilfe« sowjetischer Machtmittel angewiesen ist – verglichen mit dem Materialismus imperialistischer Abhängigkeit ein wenig überzeugendes »Argument«, dessen praktische Geltung, siehe Polen, rasch in Verfall gerät, wenn eine Regierung sich einmal auf Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen als die leistungsfähigere ökonomische Basis ihrer Herrschaft eingelassen hat und dann vom westlichen Ausland die politische und ökonomische Rechnung präsentiert bekommt.

Immerhin ist es der Sowjetunion mit der Bildung ihres sozialistischen Lagers, vor allem aber mit dem zwar stets verspäteten, aber noch wirksamen Nachziehen in der atomaren Bewaffnung gelungen, sich gegen den »Kalten Krieg« des Westens mit seinen keineswegs bloß theoretischen Kalkulationen auf einen ökonomischen Zusammenbruch, auf Volksaufstände und auf einen glatten Blitzsieg zu behaupten. Und aus diesem Erfolg hat die sowjetische Politik den fatalen Fehlschluß gezogen, auch ihr müsse es doch möglich sein, sich fortan zu ihrem Vorteil der innerhalb des imperialistischen Machtbereichs geltenden Methoden nationaler Selbstbehauptung zu bedienen. Der sowjetische Entschluß, von der »Theorie der Unvermeidbarkeit des Krieges« ab- und zu einer »Politik der friedlichen Koexistenz« überzugehen – eine Entscheidung, die immerhin das Zerwürfnis mit dem größten und einzigen eigenständigen Verbündeten, der Volksrepublik China, mit ausgelöst hat! –, läßt sich nur mit viel böswilliger Parteilichkeit als großangelegte taktische Finte und arglistiges Täuschungsmanöver interpretieren. Was dieser bösartigen Deutung immer wieder als Beleg dient, ist ausgerechnet der Umstand, daß ein imperialistischer Zweck in dieser Wendung der sowjetischen Außenpolitik gerade nicht auszumachen ist – Grund genug für einen am Imperialismus geschulten Verstand, eine ganz besonders perfide Berechnung zu unterstellen. Tatsächlich verfolgt die Sowjetunion damit genau den inhaltslosen, defensiven Zweck, den die bürgerliche Politologie zum Inhalt jeglicher Weltpolitik erklärt: Sicherheitspolitik in der ganzen negativen Bedeutung des Wortes – die nichts zu tun hat mit dem moralischen Freispruch, den der bürgerliche Sachverstand unter diesem Titel jeder von ihm geschätzten Staatsgewalt zugesteht, der Sowjetunion aber konsequent vorenthält. Im Gegensatz zu den imperialistischen Staaten, denen nichts geläufiger ist als die Notwendigkeit, die Realisierung ihrer weltweiten Interessen mit genauso weltweit schlagkräftiger Waffengewalt zu sichern, weil sie jede Ausnahme als mögliche Gefahr und jede mögliche Gefahr als sichere Gegnerschaft kalkulieren, ist die Relativität von Frieden und Anerkennung der revisionistischen Staatsgewalt ein Ärgernis, das im Namen der Ideale dieses Zustandes: zugunsten der Idee vom Frieden als »höchstem Gut«, zu überwinden ist. Die materielle Berechnung, die auf sowjetischer Seite hinter ihren »Koexistenz«-Angeboten und Aufforderungen zu einem gesicherten Frieden steht: der Wunsch, die Rüstungslasten loszuwerden, die die spärlichen Erfolge der »bewußten Anwendung des Wertgesetzes« stets zunichte machten – dieses Stück materieller Berechnung ist dementsprechend, recht ärmlich, verglichen mit der Wucht des Reichtums, die der Westen hinter den von ihm inszenierten Weltfrieden unter immerwährendem Kriegsvorbehalt zu setzen vermag.

Sowjetische Außenpolitik besteht seither in dem von einem in jeder Hinsicht defensiven Egoismus diktierten Bemühen, mit der Feindschaft des imperialistischen Staatensystems erstens effektiver und zweitens billiger zu Rande zu kommen. Gegen den Inhalt aller zwischenstaatlichen Beziehungen ökonomischer, politischer und militärischer Benutzung und Erpressung ergreift sie mit aller Entschiedenheit die Partei der geregelten, politische Anerkennung als Mittel einschließenden friedlichen Form dieser Beziehungen und bemüht sich beständig um methodische Bekenntnisse zur zweifelsfreien Vorteilhaftigkeit der »vielfältigen Formen friedlicher internationaler Zusammenarbeit«, wo diplomatische Anerkennung und die damit operierenden Weisen des zwischenstaatlichen Verkehrs für dessen maßgebliche Subjekte in Wirklichkeit doch bloß als Mittel für ganz anders geartete Vorteile respektabel sind. Ohne vom Realismus ihrer militärischen Macht Abstriche zu machen, praktiziert sie in ihrer Diplomatie mit allem Eifer einen Idealismus der Weltordnung, um der ganz materialistischen Feindseligkeit des Westens beizukommen – wobei »Idealismus« hier nicht die Güte und Harmlosigkeit der sowjetischen Staatsgewalt meint, eine moralische Höherwertigkeit, den Verzicht auf unsaubere Mittel und dergleichen, sondern das spezielle Mißverhältnis zwischen dem Zweck und den Mitteln dieser Politik: ihren »Fehler«, sich mit den Verfahrensweisen der »pax americana« gegen deren Inhalt, eine imperialistisch geordnete Staatenwelt, behaupten zu wollen.

Entsprechend widersprüchlich legt der regierende Revisionismus sich die Weltlage theoretisch zurecht: Den eigenen Erfahrungen, speziell mit dem Imperialismus des Dritten Reiches, entnimmt er einerseits die Überzeugung von der Aggressivität bürgerlicher Herrschaft, identifiziert diese allerdings mit den spezifischen Verfahrensweisen jenes alternativen, eben faschistischen Imperialismus, der seine weltherrschaftlichen Zwecke auf dem Wege der Eroberung, also der Vernichtung, nicht der bedingten Zulassung und Benutzung souveräner Staatsgewalten verfolgt hat; deswegen erklärt er sich den demokratischen Imperialismus andererseits als ein bloß andersartiges »sozialökonomisches und politisches- Ordnungssystem«, mit dem sich doch friedlich »koexistieren« und sogar ideell konkurrieren lassen müßte.

5. Der illusionäre Charakter dieses Anti-Imperialismus rächt sich bitter. Daß der Wunsch nach friedlicher Koexistenz zweier Welten das sehr einseitige Anliegen derjenigen Seite ist, der die andere sehr frei ihre Feindschaft erklärt hat, nämlich Sache des nationalen Egoismus der Sowjetunion, das läßt der westliche »Gesprächspartner« den östlichen Antragsteller aufs Härteste spüren. Er behandelt das als überparteiliches Anliegen vorgebrachte Ansuchen um ein anerkanntes Existenzrecht praktisch als das, was es von seinem Standpunkt aus ist: als parteiliche Angelegenheit, als Interesse bloß der Sowjetunion; er behandelt es als Gegenposition zur eigenen Entschlossenheit, die »Spaltung« Berlins, Deutschlands, Europas und überhaupt der Welt nicht gelten zu lassen. So ergibt sich in der Welt der Diplomatie das schöne Bild, daß die imperialistischen Staaten beständig die Verhandlungswürdigkeit der Sowjetunion in Zweifel ziehen und sich bereits mit ihrer bloßen Verhandlungsbereitschaft teuer machen – und die Sowjetunion geht genau darauf ein, indem sie beständig für die Methoden zwischenstaatlicher Verständigung eintritt, um das Stattfinden von Verhandlungen wirbt und »kämpft« und »Gipfeltreffen« als Erfolg verbucht, egal was dort nicht oder gegen ihre Bewegungsfreiheit an bestimmten Punkten vereinbart worden ist. Und gerade diese diplomatische Unterlegenheit der Sowjetunion gibt jedem Christdemokraten, Sozialliberalen und amerikanischen Senator nach Belieben Gelegenheit, schon jeden Verhandlungswillen der eigenen Seite je nachdem als teuer zu bezahlendes Zugeständnis zu preisen oder als unverantwortliches Schwächezeichen anzugreifen – immer unter Berufung auf sowjetische Stimmen!

Noch härter schlägt dieselbe Logik in der Sphäre der materiellen, militärischen Konfrontation der beiden »Lager« zu. Die Entschlossenheit des Westens, eine »abgespaltene« zweite Welt nicht hinzunehmen, wird schließlich in die Tat umgesetzt mit einem Ausbau militärischer Zwangsmittel, der darauf berechnet ist, das materielle Fundament für den Willen des revisionistischen Staates, eine Ausnahme von der »Herrschaft der Millionäre über die Millionen« darzustellen: seine Militärmacht zu zerstören; daß dies das Bemühen um einen Vorsprung an »Optionen« bedeutet, also um die nötigen Mittel, um dem Feind das vorteilhafteste »Kriegsszenario« aufzwingen zu können, wurde bereits ausgeführt. Auf Erfolg kann ein solches Programm des »Totrüstens« – was zunächst einmal keine ökonomische Angelegenheit ist: die Spekulation auf für den Gegner unerträgliche ökonomische Lasten setzt ja die »Tödlichkeit« eines überlegenen Waffenarsenals für die Souveränität des Feindes voraus! – allerdings nur dann zählen, wenn der Gegner die militärische Lage nach denselben Kriterien beurteilt, also, aus welchen Gründen auch immer, sich nicht auf den garantierten Schaden verläßt, den er seinerseits dem Angreifer bereiten kann, sondern das Mitziehen in jeder Unterabteilung moderner Ausgestaltung von immer neuen »Szenarios« für unerläßlich hält. Und genau darauf läßt die Sowjetunion sich ein: nicht weil sie den Westen besiegen wollte – von sich aus kennt die revisionistische Herrschaft im Osten, wie gesagt, keinen derartigen Zweck! –, sondern in der Hoffnung, durch die Zurückweisung jeder westlichen Drohung mit gleichartigem Gerät, durch das unerbittliche Mithalten in der Rüstung, den Westen doch schließlich zur Aufgabe seiner Feindschaft zwingen zu können. Nichts belegt deutlicher diesen negativen Zweck des Wettrüstens vom sowjetischen Standpunkt als die Angeberei, mit der die führenden Männer ihre einschlägigen Erfolge der Welt bekanntgeben: Wo die imperialistischen Demokratien, ganz wie es sich für Demokratien mit imperialistischen Zwecken gehört, die Schlagkraft ihrer Waffen beständig bemängeln, eben weil sie den gewünschten Erfolg nicht unmittelbar hergeben, also unter dem extremen Maßstab des garantierten Sieges härteste Selbstkritik üben, da preisen russische Militärs und Politiker ihre notorisch »ruhmreiche« Wehrmacht, setzen selber noch Übertreibungen der Schlagkraft und Zielgenauigkeit ihres Waffenarsenals in die Welt und beeilen sich, wann immer der Westen einen größeren Fortschritt in seiner Waffentechnologie meldet, ihrerseits zu versichern: »Das können wir auch!« Wieder wird von den Ideologen des Westens der Sowjetunion genau die Prahlerei mit der angeblichen, der möglichen – und schließlich auch der wirklichen militärischen Potenz ihrer Roten Armee aufs Sündenkonto geschrieben und als Zeichen für aggressive Absichten gewertet, die in ihrem stolzen »wir auch!« doch gerade einen ganz andersgearteten Zweck erkennen läßt: eben den Wunsch, doch eines Tages den westlichen Gegner von der Aussichtslosigkeit seines Strebens nach militärischer Überlegenheit überzeugen, ihm die unwiderrufliche Anerkennung des Existenzrechts der Sowjetunion und entsprechend friedliche Umgangsformen abtrotzen zu können: das ist der Zweck militärischer Gleichgewichtspolitik von sowjetischem Standpunkt!

Die Folgelasten dieser Politik sehen so aus, daß der geplante stürmische Aufbau des Kommunismus schon deshalb nie stattfindet, weil die Finanzierung des Militärapparats für die revisionistische Wirtschaft reinen Abzug vom Mehrprodukt bedeutet. Weder akkumuliert in der Rüstungsproduktion ein Kapital, das sich, auch wenn der Staat seine Gewinne realisiert und damit seinen Kredit strapaziert, über den Export doch auch national und für die Stärkung des staatlichen Kreditzeichens nützlich macht, noch wirkt der Rüstungssektor als Hebel des »technischen Fortschritts« auch für andere Zweige. Umgekehrt behindert der laufende Abzug von Investitionsmitteln, Arbeitskräften und Produktionsmaterialien für eine Rüstungswirtschaft, die die Leistungsfähigkeit einer tatsächlich nach dem Bedürfnis geplanten Ökonomie beweist, das Wachstum aller zivilen Sektoren in der Sowjetunion wie in ihren Bündnisstaaten. Revisionistische Politiker erkennen darin aber mitnichten die notwendige Untauglichkeit ihrer Rüstungsanstrengungen für ihren damit verfolgten Zweck, die USA zur Aufgabe ihrer Feindschaft zu bewegen; noch werden sie durch die Entschlossenheit der USA, der Sowjetunion kein wirkliches militärisches »Gleichziehen« zu gestatten, an diesem Zweck irre. Im Gegenteil: Nur um so engagierter kommen sie diplomatisch darauf zurück und prostituieren sich – nach imperialistischen Maßstäben – mit einer Abrüstungsofferte und Verständigungsbettelei nach der anderen, die den Westen allemal nur in der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges bestärken. Zumal für diesen das Ärgernis der Existenz eines »sozialistischen Lagers« durch dessen Aufrüstung ja nicht zum unwiderruflichen und deswegen hinzunehmenden Faktum geworden ist, sondern um so mehr und erst recht zur unerträglichen Provokation, was in der Sprachregelung des Bündnisses »Gefahr« heißt. So zielen die diplomatischen Anstrengungen der sowjetischen Westpolitik inzwischen nurmehr auf das sehr fadenscheinige und bedingungsweise Moment von Sicherheit, das im bloßen Stattfinden von Verhandlungen liegt, auch wo einseitige sowjetische Abrüstung als einzig in Frage kommendes Verhandlungsziel längst festliegt.

So erweist die Politik der »friedlichen Koexistenz« sich für die Sowjetunion in jeder Hinsicht, politisch wie militärisch, als ein Teufelskreis, zu dem die Regenten des »Blocks« aber keine Alternative in Betracht ziehen wollen; um so mehr wird sie ihnen als perfide weltpolitische Machenschaft ausgelegt. Sich selbst sieht umgekehrt der imperialistische Westen genau dort am hoffnungslosesten in der Defensive, wo seine politischen Macher die Widersprüchlichkeit des sowjetischen Koexistenzbegehrens sehr souverän für das Diktat von vorab zu erfüllenden Vorbedingungen benutzen. In einer Welt unter der Herrschaft des Imperialismus ist weltgeschichtliche Gerechtigkeit eben auch eine sehr einseitige Sache.

6. Derselbe Widerspruch einer Konkurrenz gegen den Imperialismus in der Absicht, sich mit ihm als anerkannt ebenbürtige Macht zu arrangieren, kennzeichnet die sowjetische Außenpolitik gegenüber dritten Ländern. Sicher ist es das Endziel der Sowjetunion, mit einem stets wachsenden »sozialistischen Lager« die Vorherrschaft der USA zu brechen und dafür möglichst viele Länder ihrem Machtbereich einzugliedern. Sie läßt dabei aber einen dem Imperialismus durchaus fremden »Realismus« der Unterlegenheit walten; wirklich über die Waffenstillstandslinien des Zweiten Weltkriegs hinausgewachsen ist ihr »Block« allenfalls um die »Problemfälle« Kuba, Vietnam und Afghanistan; dafür ist innerhalb des »Blocks« mancher »Satellit« auf eine Distanz gegangen, die innerhalb des westlichen Bündnisses kaum toleriert würde – ganz zu schweigen vom »Verlust« des Bündnispartners China. Gemessen an der amerikanischen Weltherrschaft gilt den sowjetischen Politikern schon jede Regierung als Gewinn, die nicht eindeutig und endgültig auf Botmäßigkeit gegenüber den USA festgelegt ist; ganz unabhängig davon, wie sie sich ansonsten und vor allem ihrem eigenen Volk gegenüber aufführt. So hat das wahre »Vaterland aller Werktätigen« zahlreiche – wenn auch selten sehr dauerhafte – Völkerfreundschaften mit Militärdiktaturen, Monarchen und sonstigen blutrünstigen Geschöpfen des Imperialismus geschlossen und unterhält gute Beziehungen zu Staaten, die zu Hause die Kommunisten, einschließlich ihrer moskautreuen Fraktionen, abschlachten lassen. Vor allem aber ist sie in der Phase der Liquidierung der alten Kolonialreiche als entschiedenster Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit aufgetreten, wiederum ganz unbekümmert darum, wo die unabhängigen nationalen Souveräne die materielle Basis ihrer Macht haben und welcher Inhalt ihrer freien Selbstbestimmung damit von allem Anfang an vorgegeben ist; mit der paradoxen, aber eben sehr folgerichtigen Konsequenz, daß der »freie Westen« sich beständig über die Widerspenstigkeit von Regierungen beklagt, die tatsächlich nichts anderes als den als Außenhandel und Schuldendienst deklarierten Abtransport der Naturschätze ihres Herrschaftsgebietes verwalten, während die Sowjetunion den »sozialistischen Fortschritt« auf der Welt preist, sobald ein autonomer Machthaber seine Staatsideologie vorträgt, nach der eine autochthone Herrschaft per se eine gute Herrschaft ist. Wieder einmal können dann westliche Scharfmacher östliche Stimmen als Beleg für ihre Schreckensgemälde vom unaufhaltsamen Fortschritt der Sowjetmacht auf dem Globus zitieren.

Dabei ist der Sowjetunion bei ihren Freunden noch nicht einmal ein nationaler Antiamerikanismus unbedingt und in jeder Form recht. Auch da achtet sie immer auf die andere Seite ihrer weltpolitischen Kalkulation: sich den USA als eine Macht zu beweisen, um die sie bei der Ausgestaltung ihres Zugriffs auf die Staatenwelt nicht herumkommen. Das hat der »Weltfriedensmacht« einige Kollisionen mit dem so benützten Nationalismus ihrer souveränen Partner eingebracht; umgekehrt haben einige Völker und Befreiungsbewegungen dafür bitter bezahlen müssen. So hat die Sowjetunion den Nordvietnamesen in ihrem Krieg gegen die USA und deren südvietnamesische Gorillas Waffen- und sonstige Hilfe geleistet, ohne die sie ihren Kampf um nationale Emanzipation sehr bald hätten aufgeben können, und sich so einen verläßlichen Verbündeten geschaffen. Auf eine rasche Beendigung des Krieges war ihre Unterstützung aber auch nicht berechnet; und das Risiko, die amerikanische Schlächterei durch ein massives Ultimatum zu unterbinden, ist die Sowjetunion schon gar nicht eingegangen. Übergeordneter Gesichtspunkt ihrer Hilfe war eben die praktische Klarstellung an die Adresse der USA, daß diese bei der imperialistischen Neusortierung der Staatenwelt im Zuge der Entkolonialisierung um eine gewisse Rücksichtnahme auf das »sozialistische Lager« nicht herumkommen. So erfuhren die sowjetischen Diplomaten dank des vietnamesischen Nationalismus die Genugtuung, sich von ihrem amerikanischen Gegner als Partner für die Einleitung einer »Entspannungsära« anerkannt zu sehen und von der Macht quasi ins Vertrauen gezogen zu werden, die gleichzeitig Nordvietnam »in die Steinzeit zurückbombte«. Der so errungene Respekt des Westens ist rasch verflogen; an der Methode der sowjetischen Weltpolitik, sich ihn zu verschaffen, laborieren die Vietnamesen bis heute. In anderen Fällen hat umgekehrt der Nationalismus befreundeter Staaten die Vorteilsrechnungen durchkreuzt, die die Sowjetunion mit ihm und seiner bedingten Unterstützung angestellt hatte. Der Grund des politischen Zerwürfnisses mit der VR China liegt keineswegs in der chinesischen Einsicht, daß die Politik der »friedlichen Koexistenz« mit Kommunismus und Weltrevolution nichts zu tun hat, sondern in den auf die »Koexistenz«-Politik berechneten Schranken der sowjetischen Unterstützung des chinesischen Nationalismus, gegen die die Parteiführung in ihrer Abrechnung mit dem, was sie unter »Revisionismus« verstand, mit ihrer Theorie der beiden bösen Supermächte als der ersten von drei Welten auf dem Globus polemisierte:

»Wir wollen die Führer der KPdSU fragen: Haben die mehr als 100 Staaten in der Welt mit insgesamt über drei Milliarden Menschen etwa gar kein Recht, ihr Schicksal selbst zu bestimmen? Müssen sie sich alle untertänigst den Anordnungen der beiden ›Riesen‹, der beiden ›großen Mächte‹, Sowjetunion und USA unterwerfen? Ist dieser anmaßende Unsinn von euch nicht Ausdruck des reinsten Großmachtchauvinismus, der reinen Machtpolitik? ... Das einzige Land, das die Führer der KPdSU respektieren, sind die USA. Um der sowjetisch-amerikanischen Zusammenarbeit willen scheuen die Führer der KPdSU nicht vor Verrat an den wahren Verbündeten des Sowjetvolks ... zurück.« (Die Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung, Beijing 1965)

Der ärgste »Verrat« war bezeichnenderweise die sowjetische Weigerung, China an der atomaren Aufrüstung teilhaben zu lassen; und ausgerechnet das hat mit »Großmachtchauvinismus« – ein inhaltsleeres Ziel, das es so überhaupt nicht gibt, auch nicht bei der Sowjetunion – gar nichts weiter zu tun. Es ist »verantwortungsvolle« Weltpolitik vom sowjetischen Standpunkt, die dieser Weigerung zugrunde liegt. Der Beweis des guten Willens und der Verständigungsbereitschaft, erbracht dadurch, daß man den eigenen Hauptverbündeten nicht bedenkenlos aufrüstete, sollte die USA zu der Gegenleistung bewegen, ihrerseits Rücksicht zu nehmen und insbesondere auf die atomare Bewaffnung der BRD zu verzichten. Der chinesische Wille zu voller, militärisch fundierter nationaler Unabhängigkeit an der Seite der Sowjetunion wurde zugunsten des beabsichtigten Deals mit den USA enttäuscht. Das bekannte Resultat ist von bitterer Ironie für die Sowjetunion: Die USA haben sich dadurch überhaupt nicht beeindrucken, schon gar nicht von ihrer Aufrüstungspolitik abbringen lassen; womöglich war ausgerechnet das noch ein weiteres Argument für den Entschluß der chinesischen Führung, für den Ausbau der materiellen Grundlage ihrer Staatsmacht fortan auf die »Hilfe« der in Bündnis- und Rüstungsfragen hemmungslosen Weltmacht Nr. 1 zu setzen.

Ganz ähnlich und nach derselben Logik vollzog sich der Übergang Ägyptens aus dem sowjetischen ins amerikanische Lager: Für ihr Anliegen, Ägypten durch einen Sieg über Israel zur maßgeblichen Macht des arabischen Raums zu machen, fanden dessen Führer Unterstützung nur bei der Sowjetunion – dort aber eben nicht genug, um wirklich ans Ziel zu gelangen. Die Sowjets hatten ihre Rüstungslieferungen absichtsvoll zu gering bemessen, um einen ägyptischen Sieg zu ermöglichen, und daher auch alles versucht, um ihren Partner 1973 von seinem kriegerischen Unternehmen zurückzuhalten; alles mit dem Ziel, sich die Anerkennung als mitentscheidender Kontrahent der USA zu erringen. Stattdessen lernten Ägyptens regierende Nationalisten die imperialistische Lektion, daß es sich für die eigenen großarabischen Ambitionen nicht lohnt, Freund der Sowjetunion zu sein – dafür aber um so mehr, den USA zu Diensten zu sein: Israel und seine militärischen Erfolge waren und sind ja die eindrucksvollsten Beweise der Freiheit, die ein treuer Vasall der USA sich in der Region ungestraft und unbehindert herausnehmen darf und auch sich herauszunehmen militärisch in der Lage ist. Nicht erst seit der Zerstörung des Bagdader Atomreaktors durch die israelische Luftwaffe scheint derselbe Nachhilfeunterricht über die weltweiten Macht- und Herrschaftsverhältnisse sogar im so furchterregend »radikalen« Irak anzuschlagen.

Die Bestrebungen der Sowjetunion, sich ähnlich wie die imperialistischen Mächte unter den souveränen Gewalthabern der Staatenwelt dadurch Freunde zu schaffen, daß sie deren politischen Ambitionen zu einer militärischen Macht verhilft und so den Nationalismus aufstrebender Potentaten an sich bindet, wurden so immer wieder zunichte gemacht durch ihre weltpolitische Generallinie, den Feind auf diese Weise zur Koexistenz zwingen zu wollen. Erst recht fehlt es ihrer weltweiten Suche nach Bundesgenossen an den ökonomischen Mitteln, fremde Machthaber durch die radikale Benutzung ihrer Ländereien und Untertanen an den Früchten des weltweiten Funktionierens kapitalistischer Reichtumsproduktion zu beteiligen und sie so unter Ausnutzung des Materialismus ihrer Souveränität zuverlässig an sich zu binden. Auch dafür ist Vietnam wieder das drastischste Beispiel: Zwar liefern sämtliche RGW-Staaten Hilfsgüter und erhalten damit die Nation überhaupt aufrecht; eine für die vietnamesische Staatsgewalt effektive Sonderung von unproduktivem Elend, produktiver Armut und verfügbarem Überschuß, wie die »freie Welt« sie gleich nebenan zustandebringt, und sei es durch die Inszenierung eines devisenträchtigen Sex-Tourismus, wird damit aber nicht hergestellt. So dankbar deswegen die zuständige Regierung die Geschenke ihrer Bruderländer entgegennimmt – angesichts des amerikanischen Beschlusses, Vietnam weiter als Feind zu behandeln, hat sie da ja auch keine Wahl! –, so sehr ist sie doch auf eine gewisse diplomatische Distanz zu ihnen bedacht, um ihre Gesuche um westliche Kredite nicht von vornherein um jegliche Erfolgsaussichten zu bringen – und sieht sich doch nur immer wieder mit der Klarstellung konfrontiert, daß der Westen sich seine freie Entscheidung darüber vorbehält, inwieweit er Vietnam als einen gesondert ausnutzbaren Staat betrachten und behandeln oder unter seine Feindschaft gegen die Sowjetunion subsumieren und für diese zur Last machen will. Nach demselben Muster statten auch andere »Nationale Befreiungsbewegungen«, sobald sie dank sowjetischer Militärhilfe an die Macht gekommen sind, ihren tiefen Dank in der Weise ab, daß sie sich nach soliden Einnahmequellen ihrer Souveränität umsehen, die »Entwicklung« ihres Landes in die bewährten Hände kapitalistischer Interessenten legen und sich dementsprechend skrupellos um die Verbesserung ihrer diplomatischen Beziehungen zu den USA und zur EG bemühen. Die nichtmilitärische »Entwicklungshilfe« der Sowjetunion ist bescheiden, eben weil es sich dabei für sie – im Unterschied zu kapitalistischen Kreditgebern – um Hilfe im wahrsten Sinne des Wortes: um gar nicht lohnende Geschenke handelt; und selbst wo diese die Größe von ganzen Stahl- oder Röhrenwerken annehmen, ersetzen sie doch nicht, was der Westen ganz ohne Unkosten und sogar zu seinem höchst einseitigen Vorteil zu »bieten« hat: die Unterwerfung unter den »Weltmarkt«, die hemmungslose, bei entsprechendem Einsatz von Reichtum durchaus ergiebige Vernutzung der vorhandenen natürlichen Reichtümer durchs Kapital, also eine den Umständen entsprechend ordentliche Ausbeutung. Ganz ohne Skrupel verhökert die indische Regierung ein mächtiges Symbol der russisch-indischen Freundschaft, ein von der Sowjetunion geschenktes Turbinenwerk, an die Firma Siemens, die sich besser aufs Gewinnemachen versteht. Und sogar die engsten und festesten Bundesgenossen im »Ostblock« suchen seit geraumer Zeit die materiellen Grundlagen ihrer nationalen Staatsmacht im Westgeschäft zu verbessern.

Die »Angebote«, mit denen die Sowjetunion mögliche Bündnispartner umwirbt, liegen denn auch seit jeher eher – und verlagern sich immer mehr – in den luftigeren Sphären der »Völkerfreundschaft«. Den »Wettkampf der Systeme« haben die Erfinder der »Koexistenz«-Politik sich von Anfang an als Leistungsvergleich à la Grand Prix de la Chanson gedacht: als Kundgabe sozialistischer Errungenschaften in Glanzdruck an Politiker und Diplomaten aus aller Herren Länder; mit denen hätte man dann die Völker für die Sache des Sozialismus gewonnen – dies eine Nutzanwendung der revisionistischen Illusion über »nationale Unabhängigkeit«, wonach die Politiker einer »befreiten« Nation nicht die Herrschaft über ihr Volk repräsentierten, sondern dessen tiefste Wünsche und Regungen! –, und über die ganze Welt würde ein Aufschrei gehen: So etwas wollen wir auch! Nachdem der Imperialismus die materiellen und militärischen Konditionen dieses »friedlichen Wettstreits« so hart gestaltet hat, daß der Aufbau eines derart hinreißenden Sozialstaats auf der Strecke geblieben ist, sucht die Sowjetunion ihren Konkurrenzerfolg weniger im »Ein- und Überholen« des Westens und mehr in der puren Demonstration nationaler Leistungsfähigkeit mit Hilfe sämtlicher Idiotien und Scheußlichkeiten des wissenschaftlichen, sportlichen, kulturellen etc. Lebens, von Olympia und Volkstanz bis zum Mondauto und Hegelkongressen – und landet doch auch dort Erfolge von höchst begrenzter Durchschlagskraft. Denn die Öffentlichkeit, die diese Sorte Reklame überhaupt zur Kenntnis nimmt, weiß allemal zu unterscheiden zwischen kulturstaatlichem Quark, der die überlegene ökonomische und politische Macht einer Nation symbolisiert, und dem, der im Bereich der Ideologie solche Macht fingieren soll; und erst recht gibt die regierungsamtliche Einteilung der Welt in Freund und Feind dem Publikumsgeschmack sichere Kriterien an die Hand: Sowjetische Glanztaten im Sinne des »Es gibt viel zu tun; packen wir’s an!« sind erlogen oder mit mangelnder Freiheit erkauft, Fußball und Eishockey schematisch, die Goldmedaillen durch Sportsklaven im Staatsdienst entwürdigt, die wissenschaftlichen Leistungen zu eindimensional, und die Kultur taugt grundsätzlich nur in dem Maße, wie ihre Träger als Dissidenten in Erscheinung treten oder sich in den Westen absetzen: Geflohene Balletteusen sind die besten! Es ist nun einmal ein Widerspruch, wenn eine fremde Herrschaft sich einem Volk als die bessere, weil effektivere Herrschaft vorstellt: wie soll denn da etwas anderes wachsen als der Nationalismus – und die Begeisterung, wenn die Symbolfiguren oder die Repräsentanten der eigenen Herrschaft es denen der anderen »mal richtig zeigen« und »heimzahlen«?

Unschlagbar, immerhin, war die Sowjetunion über Jahre hin auf dem Feld diplomatischer Freundschaftserklärungen, nachdrücklicher Friedensdeklarationen, vorwärtsweisender UNO-Beschlüsse usw. Außer nutzlosen Abstimmungssiegen, Konferenzen und dergleichen hat ihr das aber auch nichts eingebracht. Der so gepflegte Idealismus wahrer Souveränität blamiert sich noch allemal vor deren praktischen Anliegen. Und wo die Sowjetunion selber die Ideale nationaler Unabhängigkeit Ideale sein läßt und sich praktisch für die Erhaltung der »Völkerfreundschaft« zwischen ihr und einer auswärtigen Regierung engagiert, da trifft deren moralische Wucht sie gleich mit doppelter Stärke. Denn während der demokratische Kapitalismus sich in seinem Umgang mit auswärtiger Herrschaft erst einmal auf den »stummen Zwang« der ökonomischen Erpressung verlassen kann und deren friedliches Gelingen durch Waffengewalt »bloß« abzusichern braucht, da fallen bei der Sowjetunion, gerade weil sie keine imperialistischen Zwecke verfolgt, Waffenhilfe und politischer Einfluß so ziemlich zusammen; ausgerechnet unter Kriegsbedingungen erreicht die sowjetische Freundschaft ihren Höhepunkt, und über andere handfeste Garantien als die ruhmreiche sowjetische Militärmacht verfügt sie kaum. Und eben das schlägt nach genau den Kriterien nationaler Unabhängigkeit, als deren Anwalt die Sowjetunion sich eine weltweite Gefolgschaft von Souveränen schaffen will, in der moralischen Konkurrenz um die sauberste Weste durchaus negativ zu Buche.

In jeder Hinsicht, in der der Revisionismus an der Macht sich auf die Konkurrenz mit dem Imperialismus einläßt, tut er das also zu seinem Schaden. Ob ökonomisch oder militärisch, im Kampf um eine Gefolgschaft souveräner Staaten wie um internationales Renommé, ob in puncto Ehre oder Moral, stets beugt er sich den Kriterien, die der Imperialismus in allen diesen Abteilungen für den nationalen Erfolg gesetzt hat – denn dies: die Regeln für die Betätigung souveräner Herrschaft überall auf dem Globus durchzusetzen, ist der imperialistische Erfolg der USA. Überall steht die Sowjetunion mit ihrem Idealismus imperialistischer Verkehrsformen gegen deren praktischen und da eben sehr einseitigen Inhalt und Zweck auf verlorenem Posten – und findet sich allemal in letzter Instanz zurückverwiesen auf ihren Ausgangspunkt: die Selbstbehauptung mit militärischer Gewalt. Wie zum Hohn erntet sie wegen ihrer defensiven Stellung in der Welt zusätzlich zum mangelnden Erfolg auch noch den Vorwurf, der Erz-Störenfried der wohlgeordneten Welt und ihre Hauptgefahr zu sein; und wie aus Ironie geben ihre eigenen defensiven Schönfärbereien der Weltlage diesem Vorwurf immerzu Recht – ganz zu Unrecht. Wirklich der passendste Hauptfeind, den die imperialistische Welt sich wünschen kann!

3. Die »Entspannungsära«: Von Vietnam zu Afghanistan

Mitten in der letzten, blutigsten Phase des amerikanischen Vietnamkriegs verzeichnete die »Entspannungspolitik« zwischen Ost und West ihre ersten Erfolge: Mit dem Zugeständnis von Rüstungskontrollverhandlungen und einer besseren diplomatischen Behandlung ihres Hauptfeindes gingen die USA auf die jahrelangen Angebote der sowjetischen Koexistenzpolitiker ein. Ein bemerkenswerter Kontrast zum afghanischen »Abenteuer« der Roten Armee, das nach westlich-demokratischer Sprachregelung den »Entspannungsprozeß« »blockiert« oder sogar schon beendet hat.

1. Das Ende des Vietnamkriegs gilt bis heute als Niederlage der USA von beinahe welthistorischen Ausmaßen. Träfe dieses Urteil zu, so dürfte es wohl kaum je in der Weltgeschichte einen Sieg gegeben haben, der für den »Gewinner« verheerender, für den »Verlierer« belangloser gewesen wäre. Die antiimperialistischen Hoffnungen jedenfalls, die die Linke der westlichen Welt einst an den »Sieg im Volkskrieg« geknüpft hat, haben sich nicht bloß nicht erfüllt, sondern mit der chinesischen Fortsetzung des Vietnamkriegs gründlich zerschlagen. Umgekehrt waren die proimperialistischen Sorgen um ein amerikanisches Vietnam-»Trauma« und eine dadurch womöglich innenpolitisch eingeschränkte »Handlungsfreiheit« der Weltmacht Nr. 1 bei der Beaufsichtigung und Kontrolle der Staatenwelt schon immer albern und blamieren sich endgültig und vollständig an der neuen imperialistischen Entschlossenheit der Reagan-Administration.

Tatsächlich haben die USA ihr vietnamesisches Engagement ohne militärische Not – wann und inwiefern wäre ihre Souveränität je bedroht gewesen? –, aus eigenem Beschluß beendet; und durch die brutale Demonstration ihrer physischen wie moralischen Fähigkeit zu beliebiger Eskalation des Krieges, die abschließende Verwüstung Nordvietnams durch strategische Bomberflotten, haben sie diese ihre Freiheit noch ausführlich unterstrichen. Ganz offenkundig haben die amerikanischen Regierungen selber der Aufrechterhaltung eines prowestlichen Südvietnam keine weltpolitisch irgendwie entscheidende Bedeutung mehr beigemessen – auch wenn getrost unterstellt werden darf, daß eine südvietnamesische Bundesrepublik ihnen am liebsten gewesen wäre; man sollte den Kriegsausgang daher auch nicht an diesem Zweck messen. In welchem umfassenderen Interesse den USA an einer kollaborierenden Herrschaft in Saigon gelegen war, das haben ihre führenden Politiker schließlich selbst auf ihre unnachahmliche amerikanische Art der Welt als »Theorie« mitgeteilt. Mit der »Deutung« der ostasiatischen Staaten als »Dominosteine«, die, fiele nur ein erster, allesamt dem »sozialistischen Lager« anheimfallen müßten, wurde, deutlich genug, die gesamte im Bereich der alten Kolonialherrschaften entstandene bzw. noch im Entstehen begriffene Staatenwelt als Gegenstand der weltpolitischen Auseinandersetzung bezeichnet, die die USA in Vietnam zu führen beschlossen hatten. An dieser Stelle, wo eine Fortsetzung der kommunistischen Nachkriegserfolge sich abzeichnete und die Sowjetunion sich immerhin die Freiheit herausnahm, weit außerhalb ihrer Besatzungszonen als Garantiemacht einer auswärtigen Staatsgewalt und eines sie begründenden Friedensvertrages aufzutreten, ging es für die USA um weit mehr als den Zugriff auf einen Erdenwinkel, in dem noch nicht mal das einst von linken Vietnamkriegskritikern vermutete Erdöl aus dem Küstenschelf zu holen ist. Ihnen ging es um nichts Geringeres als die Durchsetzung ihres imperialistischen Prinzips: unabhängige Nationalstaaten zu schaffen, deren Unabhängigkeit nicht gegen die USA zu »mißbrauchen« war, sondern ein Bollwerk darzustellen hatte gegen jedes weitere Vordringen des Weltkommunismus – der reichte seinerzeit immerhin ziemlich »monolithisch« von Thüringen bis Nordkorea und hatte mit dem Sieg der Mao-Truppen in China seinen zweiten Triumph nach der Oktoberrevolution errungen. Und dieses Grundgesetz der modernen Staatenwelt haben die USA – zum Unglück Vietnams – dort auch tatsächlich durchgekämpft; bis zu dem Erfolg, daß am Ende mit Vietnam kein »Dominostein» mehr auf dem Spiel stand und der seinerzeitige Kriegsminister sich über die Gewalttätigkeit der eigenen Nation selber nicht genug wundern konnte:

»Das Bild, das die größte Supermacht der Welt bietet: wöchentlich tötet sie 1000 Zivilisten oder verletzt sie schwer, und das bei dem Versuch, eine winzige rückständige Nation zur Unterwerfung unter ein Anliegen zu zwingen, dessen Wert völlig dahinsteht – das ist wahrlich nicht sehr einnehmend.« (McNamara im Mai 1968, lt. Pentagon Papers, S. 580; eigene Übersetzung)

Die Liquidierung aller alten Kolonialreiche war praktisch abgeschlossen, und zwar ohne daß irgendwo anders noch einmal eine Ausweitung des Ostblocks zur Entscheidung gestanden hätte. Der »freie Westen« war nicht zur »Insel« auf einem ihm feindlichen Globus geworden; das »sozialistische Lager«, auch mit seinen beiden »Erfolgen« in Kuba und Indochina und erst recht nach dem Bruch zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China, war eine strategische »Insel« dieser Art geblieben.

Und nicht nur das. Mit seiner militärischen Unterstützung Nordvietnams und seiner diplomatischen Handhabung des Kriegsgeschehens hat der sowjetische Antiimperialismus sich für die USA kalkulierbar gemacht – das ist zwar nicht gleichbedeutend mit Harmlosigkeit, aber ein ziemlich entscheidender Schritt hin zur Einordnung in die »pax americana«. Schon der Entschluß der USA, unter offener Mißachtung des Abkommens von 1954 eine souveräne Regierung in Südvietnam zu installieren, war die praktische Probe auf den Grundsatz gewesen, daß weltpolitische Vereinbarungen ohne amerikanischen Segen nichts wert sind und die »Anmaßung« der Sowjetunion, als Garantiemacht internationaler Verhältnisse aufzutreten, in der harten Welt der imperialistischen Tatsachen nichts zählt. Ebenso war jeder amerikanische Fortschritt in der Ausweitung und Verschärfung des Krieges ein praktischer Test, ob und wie die sowjetische Garantiemacht – und nebenher die selbsternannte »Schutzmacht« China – ihre Versprechungen gegen die USA wahr machen würde. In beiden Punkten fiel das Ergebnis im Sinne des Veranstalters aus. Die Sowjetunion trat den USA keineswegs mit einer Macht und einem Nachdruck entgegen, die geeignet oder auch nur darauf berechnet gewesen wären, ihrer Garantie für ein ungeteiltes Vietnam Geltung zu verschaffen oder den Krieg der USA zu verhindern oder zu beenden. Ihre Hilfe war gerade so bemessen, daß sie den Krieg für die USA lang und teuer machte – ungeachtet dessen, daß er zuallererst und vor allem für die Vietnamesen teuer und blutig wurde. Sie bewährte sich als antiimperialistischer Gegner der USA – aber als einer, der deren Imperialismus nicht zu gefährden, zu bekämpfen oder auch nur entscheidend zu behindern gedachte, sondern genau soweit schwächen wollte, daß an der Beachtung und Anerkennung seiner eigenen weltpolitischen Bedeutung kein Weg mehr vorbeiführte. Mit ihrem jederzeit betont »maßvollen« Engagement in und für Vietnam brachte die Sowjetunion das Kunststück fertig, dem amerikanischen Imperialismus eine Rücksichtnahme auf gewisse eigene Machtansprüche aufzuzwingen und gleichzeitig die Drohung und Gefahr zu relativieren, die die USA in ihren Machtansprüchen erblickten. Vom amerikanischen Standpunkt aus war und ist die Selbstbehauptung des sowjetischen Antiimperialismus selbstverständlich ein Ärgernis und sogar ein Mißerfolg – gemessen an dem höchst unbescheidenen Endziel, die Sowjetunion weltpolitisch vollständig matt zu setzen, zur Unerheblichkeit zu verurteilen und als Gegner auszuschalten. Die Art der sowjetischen Selbstbehauptung eröffnete aber immerhin die Chance, die damit verbundenen Ansprüche auf weltweiten Einfluß andersherum zu neutralisieren: durch ihre Anerkennung unter der von der feindlichen Seite selbst angebotenen Bedingung, dem amerikanischen Zugriff auf die Welt praktisch nicht gefährlich werden zu wollen.

Mit dem Entschluß der Nixon-Regierung, diese Chance auszuprobieren, nachdem der »Kalte Krieg« zu keinen besseren Resultaten geführt hatte, war die »Entspannungsära« angebrochen.

2. Zweck einer nationalen Außenpolitik kann »Entspannung« nie und nimmer sein. Zumindest setzt ein solches »Ziel« ja allerlei konfliktträchtige Verwicklung mit anderen Staaten voraus. Und sowenig derartige Affären ihren Grund und Inhalt in einer schieren »Gemeinheit« haben können, in der abstrakten Absicht eines Staates, andere Staaten zu behelligen – ein solcher Idealismus der Bosheit, wie er beispielsweise in der Rede von der »Aggressivität« gewisser Nationen unterstellt ist, kommt in der Staatenwelt nicht vor: dafür sind Souveräne zu materialistisch! –, sowenig kann das positive Interesse, das Staaten aneinander haben, seinem Grund und Inhalt nach in dem Willen bestehen, möglichst wenige oder überhaupt keine Gegensätze zu anderen Staaten aufkommen zu lassen – dann könnten sie einander ja gleich in Ruhe lassen. Auch wenn ihre Untertanen bisweilen dafürhalten sollen oder sogar glauben, daß die Staatsgewalten ihren diplomatischen Umgang miteinander in genau dieser Absicht, also um seiner selbst willen pflegen, so ist doch gleichzeitig jedermann klar, und den Praktikern der Weltpolitik zuallererst, daß die mehr oder weniger gewaltsamen Verkehrsformen souveräner Regierungen vom Stand ihrer sehr materiellen Interessen aneinander abhängig sind und nicht umgekehrt.

Am ehesten ähnelt noch die Weltpolitik der Sowjetunion solchen falschen Abstraktionen, wie sie mit dem als Vorwurf gemeinten Pleonasmus »Machtpolitik« oder mit der lobenden idealistischen Phrase »Friedenspolitik« als maßgebliche Zwecke im weltpolitischen Geschäft ausgegeben werden; denn im Vergleich zu den weltweiten Interessen kapitalistischer Staaten ist sie tatsächlich durch einen Mangel an ökonomischem Inhalt gekennzeichnet, also – ausgerechnet! – vergleichsweise unmaterialistisch. Selbst in diesem Fall geben aber nicht die Methoden, deren die sowjetische Staatsgewalt sich zu ihrer Selbstbehauptung bedient – »Frieden«, »Macht«, »Entspannung« usw. –, den Grund und Inhalt der Außenpolitik her, sondern die Zwecke revisionistischer Herrschaft und der materielle ökonomische und politische Gegensatz, der damit zu dem Interesse der kapitalistischen Demokratien an einer total benutzbaren und entsprechend herrschaftlich geordneten Welt eröffnet ist. Erst recht gilt das für die Weltpolitik imperialistischer Souveräne. Deren Wirken nach außen unter das Attribut »Entspannung« oder »Frieden« zu subsumieren, ist ein genauso lächerlicher moralischer Idealismus wie ihre Kennzeichnung als »Kriegs-« oder »Aggressionspolitik«. Die Methoden, mit denen ein Staat die Um- und Ausgestaltung auswärtiger Nationen und Länder zur erweiterten ökonomischen und politischen Grundlage seiner souveränen Macht betreibt, werden da ideologisch verkehrt in ein Lob bzw. einen Tadel des »guten« bzw. »bösen« Inhalts und Zwecks seiner Politik.

Tatsächlicher Gegenstand des als »Entspannungsära« firmierenden Abschnitts in der Geschichte des »Ost-West-Konflikts« ist ein diplomatisches Handelsgeschäft, das, wie spätestens an seinem heutigen Resultat ersichtlich, andere Zwecke verfolgt hat als die abstrakte Negation zwischenstaatlicher Gegensätze – anderenfalls wäre ja ganz unerfindlich, wo die stets von neuem und weiterhin abzubauenden »Spannungen« zwischen Staaten, die sich allesamt deren Beseitigung verschrieben hätten, denn eigentlich herkommen. Dieses »Geschäft« besteht in der Verallgemeinerung des Verhältnisses, das die sowjetischen Koexistenzpolitiker ihren westlichen Kontrahenten eben in den Jahren des Vietnamkriegs mit allen Mitteln angetragen hatten. Gestützt und unter Berufung auf ihre militärische Macht, die ihr bei aller westlichen Überlegenheit doch eine gewisse Überlebensgarantie bot und sogar die Einmischung in alle möglichen Kleinkriege des Imperialismus erlaubte, verlangte die Sowjetunion eine Beendigung des »Kalten Krieges«, der westlichen Politik formeller und ausdrücklicher Nicht-Respektierung sowjetischer Macht, und positiv eine Behandlung als Verhandlungspartner, mit dem die USA sich über alle wichtigen Weltaffären ins Benehmen und womöglich ins Einvernehmen zu setzen haben sollten. Diese – mit dem Ende der »Entspannung« wieder ganz aktuelle – sowjetische Forderung war und ist darin hoffnungslos widersprüchlich, daß sie die Nicht-Gleichrangigkeit, die Anerkennungsbedürftigkeit der eigenen Macht als anerkannte Geschäftsgrundlage unterstellt und doch durch die zu treffenden Vereinbarungen beseitigt sehen möchte. Gewissermaßen methodisch macht die Sowjetunion da ihre eigene Geschäftsfähigkeit als Weltmacht zum Verhandlungs- und Geschäftsartikel; und das macht die Schwächlichkeit ihrer »Entspannungs«forderung aus – wie auch zugleich den Grund dafür, daß eben dieser defensive Anspruch auf universelle Berücksichtigung ausgerechnet als besondere Unverschämtheit aufgenommen wurde und wird. Wenn daher die westliche Seite darauf einging, dann von vornherein unter der – dieser Forderung exakt angemessenen! – Prämisse, daß es also nicht darum ging, mit der Sowjetunion von gleich zu gleich zu bestimmten Kompromissen zu gelangen, sondern ihr für die eigene Bereitschaft, von gleich zu gleich zu unterhandeln, einen Preis abzuverlangen. Und dieser Preis stand mit der Grundlage des ganzen Deals ebenfalls schon fest: Wenn es der Sowjetunion um ihre Anerkennung als weltweit respektable Macht ging und geht, dann ist es nur logisch, daß der Westen ihr dafür den Verzicht abverlangt, die beanspruchte und zugestandene politisch-militärische Gleichrangigkeit und weltweite Zuständigkeit souverän zu benützen.

Im Bereich der Weltdiplomatie ist mit dem Entschluß zur »Entspannungspolitik« dementsprechend nicht mehr und nicht weniger eingeführt worden als ein neuer und sehr viel offensiver zu handhabender Gesichtspunkt und Rechtstitel, unter dem der »freie Westen« dem »sozialistischen Lager« jede weltpolitische Handlungsfreiheit bestreitet. Wo immer eine dritt‑ bis fünftrangige Regierung den Versuch unternimmt, von der »Rivalität der Großmächte« zu profitieren, erst recht, wo noch die letzten Überreste des Kolonialismus zu liquidieren sind oder Revolten eine etablierte Staatsgewalt gefährden, wo immer also die strategischen Kalkulationen von USA und Sowjetunion gegeneinanderstehen, da nimmt der Westen sich die Freiheit heraus, die gegnerische Position nicht bloß direkt mit der eigenen zu konfrontieren, sondern unter Berufung auf das gemeinsame Interesse an »Entspannung« mit der Drohung zurückzuweisen, dieses hohe Gut würde so in Gefahr gebracht.

Gewiß versteht die sowjetische Seite sich auf dem Feld der Propaganda auf das gleiche Verfahren, ihrem nationalen Egoismus eine höhere Weihe zu verleihen; und für die praktische Entscheidung von Konflikten taugt die »Entspannung« als imaginäre Berufungsinstanz ohnehin nichts. Ihren diplomatischen Wert hat sie dennoch, und zwar ganz nach imperialistischer Logik für die Seite, die über die besseren Mittel verfügt, Streitfragen praktisch für sich zu entscheiden. So untauglich die Erinnerung an die »Grundsätze der Entspannung« für die unterlegene Seite ist, in solchen Fällen sogar bloß deren Schwäche peinlich kenntlich macht, so nützlich ist sie als Rechtstitel des Erfolgs. Es ist das ganz natürliche »Privileg« der stärkeren Seite, daß ihre »Sorgen« um »die Entspannung« automatisch die Qualität der härtesten Drohung besitzen, nämlich das Zugeständnis formeller Respektierung des anderen mit allen praktischen Konsequenzen zu widerrufen, und dabei zugleich die andere Seite daran zu erinnern, wie sehr dieser an der Aufrechterhaltung eines auch bloß formellen Einvernehmens gelegen sein müßte. Und wenn man auch sonst nichts über das weltweite Kräfteverhältnis zwischen Ost und West wüßte, sein aktueller Stand ließe sich sehr genau an der Freiheit und Unbefangenheit ablesen, mit der der Westen bei jeder Gelegenheit mit dem Hinweis auf eine »Gefahr für die Entspannung« zur Stelle ist, mit deren »Ende« droht und sogar explizit von der Sowjetunion »weltpolitisches Wohlverhalten« als selbstverständliche Voraussetzung für weiterhin »entspannte« Beziehungen einklagt. Tatsächlich gewonnen hat die sowjetische als die eingestandenermaßen schwächere Seite die prekäre, jederzeit widerrufliche und daher als diplomatisches Druckmittel bestens verwendbare, immerhin aber ausgesprochene Anerkennung als »Partner« in der Aufteilung und herrschaftlichen Beaufsichtigung der Staatenwelt sowie unter diesem Vorzeichen die Teilnahme an mancher internationalen Konferenz – deren Streitfragen derweil auf ganz anderer Ebene durch die USA geregelt werden: die jüngere Geschichte des »Nahost-Konflikts« bietet dafür das schlagende Beispiel.

3. Entgegen allen anderslautenden Gerüchten war die »Entspannungsära« ein Jahrzehnt massivster Aufrüstung – und zwar keineswegs bloß oder auch nur in erster Linie der Roten Armee: Immerhin hat die Bundeswehr unter Mithilfe der nationalen Rüstungsindustrie in dieser Zeit ihre Position als zweitstärkste »konventionelle« Streitmacht der nichtkommunistischen Welt gefestigt, was aber gar nichts heißt neben amerikanischen Errungenschaften wie Atomraketen mit punktgenau treffenden Sprengköpfen, Neutronenbomben fürs Gefechtsfeld, Cruise Missiles, perfekten Radarüberwachungs- und -leitsystemen für den eigenen Auf- und Vormarsch (AWACS) ..., um nur die populärsten unter den bekanntgemachten militärtechnologischen Durchbrüchen zu nennen. Und man müßte den mit so viel »Verantwortung« beladenen Führern der maßgeblichen Staatenwelt schon ein hohes Maß an Schizophrenie zutrauen, um die »Entspannungsphase« und die in ihr bewerkstelligten Fortschritte in Sachen Kriegsvorbereitung für einen Widerspruch zu halten.

Tatsächlich geht es in der »großen Politik« so schizophren nicht zu; eher schon sehr zielstrebig. Die »Rüstungskontrollverhandlungen« jedenfalls, das so hoch geschätzte Herzstück des »Entspannungsprozesses« , tragen ihren Namen zu Recht: wechselseitig kontrollierte Rüstung stand hier zur Debatte. Und daß diese Kontrollverhandlungen zumindest der amerikanischen Aufrüstung außerordentliche qualitative Fortschritte erlaubten, lag von Anfang an in der Logik und in der westlichen Absicht beim Mitmachen der »Entspannungspolitik«.

Immerhin war die amerikanische Militärmacht gegen Ende der sechziger Jahre mit dem Tatbestand konfrontiert, daß ihr sowjetischer Gegner den »Kalten Krieg« nicht bloß durchgestanden hatte, sondern erstmals ihr Heimatland, die intakte strategische Basis, dank derer die USA zwei Weltkriege für sich hatten entscheiden können, mit Atomraketen bedrohen konnte. Dieser Umstand, eigentlich belanglos vom Standpunkt der Ideologie der »Abschreckung« und der »Kriegsverhinderung durch Gleichgewicht«, wurde von den USA ganz unideologisch als schwerer Schlag für die Glaubwürdigkeit ihrer Vernichtungsdrohung genommen, auf der das Konzept des »Kalten Krieges« beruhte. Die Sicherheit, in letzter Instanz die Sowjetunion besiegen zu können, bestand nicht mehr; und damit war vom Standpunkt amerikanischer Weltmacht aus die Welt und der Weltfriede unsicher geworden.

Der militärische Weg, den die USA eingeschlagen haben, um ihre verlorengegangene (Sieges-!)Sicherheit wiederherzustellen, ist an den einschlägigen Resultaten der »Entspannungsära« abzulesen. Die mit der Existenz einer sowjetischen Bedrohung des amerikanischen Kontinents ganz selbstverständlich sich einstellende Idee eines »Entwaffnungsschlages« wurde und wird nach Kräften aus dem Himmel der strategischen Ideale auf den Boden der technisch machbaren Tatsachen herabgeholt. Der ebenso und aus demselben Grund einleuchtende Gedanke, der Sowjetunion vom Boden anderer Staaten aus einen in der Anlage »begrenzten«, in den strategischen Wirkungen auf den Feind endgültigen Atomkrieg antragen zu können, wird mit Hilfe von NATO- sowie alten und neuen ostasiatischen Verbündeten zielstrebig realisiert – ganz zu schweigen von den Gerätschaften, für deren Transport in den Weltraum das Wunderding »Space Shuttle« vorgesehen ist: An dem Apparat wird auch gleich die Kunst einer metergenauen Rückkehr auf die Erdoberfläche geübt. Zwischen konventioneller Rüstung und atomarem Letztschlag wurden jede Menge »Lücken«, also zusätzliche Eskalationsstufen und »Kriegsszenarios«, entdeckt und so aufgefüllt, daß dabei ein deutlicher Vorsprung bei den bis zur Haubitzengröße handhabbar gemachten Atomwaffen heraussprang. Inzwischen üben NATO-Manöver heute die nahtlose Abfolge vom Infanteriefeuer bis zum »big bang« hin und wieder zurück; und die alternativen Prozentzahlen des »unvermeidlichen« Verlusts an Land und Leuten, die um eines Sieges willen noch in Kauf zu nehmen sind, sind längst ausgerechnet.

Dieser Weg zu einer strategischen Überlegenheit auf neuem Niveau war allerdings zurückzulegen angesichts eines Gegners, dem ein wirksamer Angriff auf das Gebiet der USA fürs erste nicht zuverlässig zu verwehren war und der seinerseits nicht ohne Erfolg daran arbeitete, sein Land nach Möglichkeit gegen amerikanische Schläge zu sichern. Zuvor, in den goldenen Zeiten des »Kalten Krieges«, hatten die USA um der diplomatischen Ächtung ihres Hauptfeindes willen noch leichten Herzens darauf verzichten können, sich mit diplomatischen Mitteln Sicherheiten über dessen Pläne und Reaktionen auf eigene Rüstungsoffensiven zu verschaffen; solange die USA selbst in Sicherheit waren, konnte der Gegner machen, was er wollte: er war der amerikanischen Mißachtung gewiß. Dieser Verzicht auf jede diplomatisch sichergestellte Berechenbarkeit der Sowjetunion erwies sich nun, unter der Bedingung der Verletzbarkeit der eigenen heimatlichen Basis, als eine Gefahr: Es war ja noch nicht einmal ausgemacht, wie »der Kreml« auf zufällige Unfreundlichkeiten der eigenen Kriegsschiffe in weit entfernten Weltmeeren oder auf einen Fehlalarm reagieren würde – um wieviel weniger, ob er den anstehenden Aufrüstungsmaßnahmen des Westens zusehen, ihren Erfolg nicht so oder so, solange von seinem Standpunkt aus dazu noch Zeit wäre, zu vereiteln suchen würde. Gerade um die Gegnerschaft gegen das »sozialistische Lager« und dessen tödliche Bedrohung nicht bloß aufrechterhalten, sondern einigermaßen gesichert eskalieren zu können, erwies es sich als unerläßlich, sich mit dem Gegner über den Verlauf dieser Eskalation ins Benehmen zu setzen. Der Installierung des »Roten Telefons«, Symbol dieser neuen Notwendigkeit, folgten gemäß eben dieser Logik Vereinbarungen über die friedliche Beilegung unfriedlicher Zwischenfälle, wie sie zwischen universal operierenden Militärapparaten allemal vorkommen müssen. Daß dann in den ersten SALT-Verhandlungen Einigkeit vor allem über die Begrenzung von Abwehrsystemen gegen Interkontinentalraketen erzielt wurde, ist vom maßgeblichen Standpunkt der US-Strategie aus überhaupt kein Widersinn, sondern Resultat der Sorge, der Gegner könnte die eigenen Vernichtungsmittel unwirksam machen, noch ehe ihre geplante Vervielfachung und Perfektionierung gelungen wäre. Sehr grundsätzlich wurde da über den gemeinsamen Willen, um den und mit dem Ausbau der jeweiligen eigenen Offensivmacht zu konkurrieren, Einigkeit erzielt; ein genereller »Freibrief« für die Seite, die da eine verlorengegangene Sicherheit wiederherzustellen hatte und durch die Entwicklung einer überlegenen Waffentechnik wiederherzustellen gedachte. Wiederum sehr folgerichtig schafften die USA sich mit SALT II durch die Beschränkung des quantitativen Zuwachses der interkontinentalen Raketensysteme die Notwendigkeit vom Hals, womöglich im Ausbau einer Waffengattung mithalten zu müssen, mit der der entscheidende Durchbruch zur Wiedergewinnung echter Siegesgewißheit ohnehin nicht zu erreichen war; umgekehrt waren ihnen eben damit hemmungslose Aktivitäten auf dem viel aussichtsreicheren Gebiet der technischen Perfektionierung sowie der Waffensysteme unterhalb des durch SALT  II erfaßten Niveaus zugestanden, mit denen wohl die Sowjetunion, nicht aber das amerikanische Mutterland zu verwüsten ist.

Bei all dem erwies die Sowjetunion sich zwar nicht als nachgiebig, wohl aber als willfährig in dem einen entscheidenden Punkt: ihre Reaktionen auf das amerikanische Überlegenheitsstreben kalkulierbar zu machen und ihm auf diese Weise die nötigen Sicherheiten zuzugestehen. Nicht als ob sie sich über die »wahren« Absichten der USA getäuscht hätte: sie hatte ihre »guten Gründe«, auf eine einvernehmliche Rüstungskontrolle zu drängen. Diese allerdings begründeten eine weniger erfolgreiche Verhandlungsposition. Die sowjetische Berechnung ging dahin, mit der durch angestrengtes Rüsten errungenen Anerkennung durch die USA als prinzipiell gleichrangige Atommacht das Stadium der permanenten Infragestellung ihrer Existenz zu überwinden und sich damit auch ihre Rüstungslasten erleichtern zu können. Diese Kalkulation, defensiv schon ihrer Natur nach – soweit die revisionistische Herrschaft im Osten überhaupt noch auf eine Beseitigung des Kapitalismus setzt, erhofft sie diese von dessen eigener Fäulnis und einer gerechten Entscheidung der Völker der Welt für den menschheitlichen Fortschritt –, war zum einen durch die Überlegenheit und die entsprechende Bedrohlichkeit der USA, zum anderen durch die ökonomischen Härten diktiert, die der Beschluß, militärisch dagegenzuhalten, für die Aufbauplanung der sozialistischen Staatsführung mit sich brachte. Einem Gegner gegenüber, der beide Probleme nicht bzw. von einem entgegengesetzten Standpunkt aus hatte: als »Problem« des optimalen Einsatzes des für Militärzwecke verfügbaren Reichtums und einer offensiven »Sicherheits«-Strategie, begründete diese Vorteilsrechnung allerdings ein hohes Maß an Erpreßbarkeit, das von den USA mit der stets einseitigen Drohung, die Verhandlungen gänzlich scheitern zu lassen, auch weidlich ausgenutzt wurde. Und deswegen fiel die Einigung auch allemal so aus, daß sich für die Sowjetunion damit genau die Notwendigkeiten erneuerten, denen sie hatte entgehen wollen: Für die stärkere Partei war die erzielte Einigung allemal eine taugliche Grundlage für verschärfte, zielstrebigere Anstrengungen, die formell zugestandene einstweilige Sicherheit der Sowjetunion praktisch zu untergraben. Deren Führung hat daraus allerdings bis heute stets von neuem die Konsequenz abgeleitet, den »Rüstungswettlauf« bis in die letzten neu erfundenen Waffengattungen hinein mitzumachen – und erst recht auf neue Kontroll- und Begrenzungsverhandlungen zu setzen.

4. Vom Standpunkt der Sowjetunion aus hätte der »Entspannungsprozeß« ohne Zweifel unablässig fortdauern können: er war für sie die Art und Weise, sich in ihrer Unterlegenheit einzurichten. Um so klarer, daß für den Westen diese Sorte Politik »scheitern« mußte: ihre Aufkündigung ist in ihrer Logik eingeschlossen.

In Sachen diplomatischer Absicherung ihrer auf Siegesgewißheit abgestellten Kriegsvorbereitungen kamen die USA rascher und grundsätzlicher ans Ziel, als die derart erfolgreiche Carter-Regierung selbst es realisiert hat: Schon in den Angelegenheiten von SALT II erwies der Vertrag sich als überflüssig für seinen Zweck; die Sowjetunion hat die Annullierung der amerikanischen Unterschrift hingenommen. Dieser Erfolg wiederum ist den USA Grund genug, das Verhältnis von Verhandlung und angestrebtem Verhandlungsergebnis vollends auf den Kopf zu stellen; SALT III beginnt mit der »Nachrüstung« Europas zu einem für sich genommen bereits strategisch »gleichgewichtigen« Gegner der Sowjetunion; auf dieser Grundlage, die für nicht mehr verhandlungsfähig deklariert wird, noch ehe sie voll realisiert ist, werden dem Feind Verhandlungen angeboten – über den Abbau seiner »SS 20«. Dieses Angebot enthüllt seine Großzügigkeit seit den ersten Begegnungen in Genf nicht nur durch die Voraussetzung einer beschlossenen »Nachrüstung« Europas. Angesichts des offen ausgesprochenen westlichen Wunsches nach einem »westlichen Regierungssystem« in Polen, der Fortschritte in Sachen vormilitärischer Auflösung des Ostblocks also, steht für die USA die Dringlichkeit des weltweiten Aufrüstungsprogramms außer Frage – in Gesprächen mit der Sowjetunion folglich auch gar nicht zur Disposition. Nach einem Jahrzehnt »entspannten« Umgangs mit der Sowjetunion erscheint den USA ihre Position offenkundig stark genug, um explizit an die Realisierung des Zwecks heranzugehen, um dessentwillen sie sich die formelle Respektierung der sowjetischen Macht ja überhaupt bloß auferlegt hatten: die praktische Liquidierung der gegnerischen Ansprüche auf gesicherte Selbstbehauptung. Die Wucht dieser höchst folgerichtigen neuen Offensive richtet sich erst recht gegen weltpolitische Ambitionen der Sowjetunion: Jeder ihrer Versuche, irgendwo in der Welt einigen Einfluß neu- oder zurückzugewinnen, wird ihr als Verletzung der Geschäftsgrundlage vorgerechnet, auf der ihr eine friedliche Behandlung überhaupt nur gewährt worden war. Unter dem Motto »Entspannung ist unteilbar« klagen die USA militär- wie weltpolitisch die beabsichtigten Resultate ihrer »Entspannungspolitik« ein, und zwar mit der Drohung, andernfalls sei jegliche »Entspannung« zu Ende. Daß diese Drohung weitaus bedrohlicher ist als der einstige »Kalte Krieg«, ist dabei der solideste Vorteil, den die USA aus ihrer »Entspannungspolitik« ziehen können.

Dieser Erpressung allerdings, die aus all den gelungenen Erpressungsmanövern der »Entspannungsära« den zusammenfassenden Erfolg herausziehen will, kann die Sowjetunion sich schwerlich beugen; schließlich wird ihr damit, kaum beschönigt, nichts Geringeres abverlangt als die weltpolitische Selbstaufgabe. Für sie hat sich eben mit allen »entspannungsfreundlichen« »Zugeständnissen« des Westens noch stets die Notwendigkeit erneuert und verschärft, ihre Gewalt als Mittel für ihre Selbstbehauptung als Weltmacht auszubauen und einzusetzen; und das in steigendem Maße mit dem Fortschritt der westlichen »Entspannungs«-Offensiven. Jeder derartige Akt jedoch, so sehr er für die Sowjetunion eine – ungeliebte – Notwendigkeit der »Entspannungspolitik« des Westens darstellt, ist für diesen Grund genug, das drohende, vorläufige oder endgültige »Scheitern der Entspannung« auszurufen.

Daß »Afghanistan« und »SS 20-Raketen« hier zu den entscheidenden westlichen »Prüfsteinen« östlicher Nachgiebigkeit geworden sind, ist einerseits zufällig. Schließlich waren bereits die Konjunktur der Carterschen Menschenrechtskampagne sowie die von ihm vom Zaun gebrochene Empörung über eine angebliche Kampfbrigade der Roten Armee auf Kuba deutliche Hinweise darauf, daß die US-Regierung es sich stets vorbehält zu definieren, mit welchen Aktivitäten die Sowjetunion die ihr zugestandenen Freiheiten überschreitet und das formelle Einvernehmen mit dem Westen aufs Spiel setzt. Vielleicht ist manchem Leser auch noch die Überraschung erinnerlich, mit der die zweitrangigen Führer des »freien Westens« den souveränen Entschluß ihres amerikanischen Häuptlings quittiert haben, ausgerechnet den Truppeneinmarsch in Afghanistan zum alles entscheidenden russischen Sündenfall zu deklarieren. Der NATO-Beschluß, Westeuropa mit Raketen von strategischer Bedeutung, aber »bloß« mittlerer Reichweite aufzurüsten, ist ohnehin älter als jene Weihnachtsüberraschung und auch als die modernisierten sowjetischen Mittelstreckenraketen. Man darf sich also sicher sein, daß jede andere Gewaltmaßnahme und jede andere Waffengattung der Sowjetunion einem amerikanischen Präsidenten einen genauso ausreichenden Anlaß geliefert hätte, um den weltpolitischen Fortschritt von den einvernehmlichen Erpressungsmanövern der »Entspannungsära« zur Aufkündigung des Einvernehmens zu bewerkstelligen; dieser Übergang selbst war auf alle Fälle fällig.

Ein Zufall ist es andererseits nicht, daß die Sowjetunion aus den Fortschritten der »Entspannungspolitik« ihrerseits den praktischen Schluß gezogen hat, das Land eines durch islamische Aufständische von innen her bedrohten Verbündeten militärisch mit Beschlag zu belegen sowie ihre gegen Westeuropa gerichteten Atomraketen zu modernisieren, und daß ausgerechnet dies zum Anlaß und Gegenstand der westlichen Abrechnung geworden ist. Mit ihrer eurostrategischen »Vorrüstung« zieht die Sowjetunion ihre »sicherheitspolitische« Konsequenz aus der Tatsache, daß ihr jenseits ihrer Westgrenze immerhin die massivste Truppen- und Waffenkonzentration, und zwar auch das größte Arsenal an taktischen Atomwaffen, gegenübersteht, die überhaupt auf der weiten Welt anzutreffen ist; auf alle Fälle mindestens dazu geeignet, mehr oder weniger ihr gesamtes Militärpotential im Ernstfall zu binden. Überdies konnte den sowjetischen Politikern schwerlich verborgen bleiben, auf was für waffentechnische Fortschritte die USA ihre SALT-»Zugeständnisse« berechnet hatten; spätestens der berühmte NATO-Doppelbeschluß über eine europäische Atomwaffe, die dem Ideal eines Entwaffnungsschlags so nahe kommt wie nur möglich, schaffte da letzte Klarheit. Daß sie ihrem imperialistischen Gegner auch hier wieder ebenbürtig sein will, das angebotene spezielle »Kriegsszenario« akzeptiert und mit ihrer Rüstung dessen Erfordernissen ihrerseits nachkommt, sollte zumindest der nicht der Sowjetunion zum Vorwurf machen, der die Bundeswehr und die hierzulande stationierten Atomwaffen für einen – wenn auch vielleicht mißlungenen – Kriegsverhinderungsapparat hält.

Mit ihrer militärischen Präsenz in Afghanistan zieht die Sowjetunion wieder einmal die Konsequenz aus ihrer strategischen Defensive, was ihr von kundigen westlichen Beobachtern in der Rede vom sowjetischen »Abenteuer Afghanistan« Häme, aber nie Verständnis einbringt. Die beliebte Verwechslung von »defensiv« mit »gut, harmlos und friedliebend« läßt man sich im Interesse des Lobs der eigenen »Verteidigung« nicht von der feindlichen Weltmacht dementieren. Eher entschließt man sich zu Lügen über freiheitsdurstige Afghanis, deren zutiefst menschliche Sehnsüchte ein russischer Bär nur allzu gerne erstickt. Dieser sieht sich denn auch seit den Glanzzeiten der »Entspannungspolitik« dem festen westlichen Beschluß gegenüber, einen sowjetischen Kampf um weitere Verbündete auf der Welt nicht zu dulden und die paar »Freundschaften«, zu denen der regierende Revisionismus es in der Staatenwelt gebracht hat, keineswegs als unveränderliche weltpolitische Gegebenheit hinzunehmen; daß die Aufzählung der diesbezüglichen sowjetischen Todsünden allemal so kurz gerät – Angola, Äthiopien, Jemen und ...? –, hat schließlich ihren Gebrauch als Katalog nicht hinnehmbarer Übergriffe nie verhindert. Ungefähr seit derselben Zeit sieht die Sowjetunion sich an ihrer Südostgrenze einem feindseligen Ex-Verbündeten gegenüber, der alles tut und sogar den sowjetischen Schützling Vietnam mit Krieg überzieht, um sich dem Westen als verläßlicher Vorposten gegen die sowjetische Kontinentalmacht anzudienen. Der islamisch revolutionierte Iran mag der Sowjetunion zwar nicht feindseliger oder gefährlicher sein als das Persien des Schah; schlechter kalkulierbar ist er auf jeden Fall. Und daß die USA die Festsetzung ihres Teheraner Botschaftspersonals zum Anlaß nahmen, gleich den wichtigsten Teil des Indischen Ozeans mit einer kriegsstarken Flotte in Beschlag zu nehmen, durfte die sowjetische Führung durchaus zu Recht auf sich und jeden Versuch von ihrer Seite beziehen, ihre regionalen Machtpositionen zu stärken oder auch nur den Verlust an Sicherheiten an ihrer Grenze zu kompensieren. Daß sie sich in dieser Situation ihren letzten wackligen Verbündeten an ihrer Südgrenze als strategisches Vorfeld gesichert hat und dafür einige Schlächtereien inszeniert, sollte zumindest der ihr nicht vorwerfen, der die gleichen Krieger Allahs im Iran für Fanatiker, in Afghanistan für Freiheitskämpfer hält.

Der Frieden, Freiheit und Menschenrechte über alles schätzende Westen jedenfalls beweist und realisiert mit seinen Geld- und Waffenlieferungen an jedermann, der sich in Afghanistan mit einem blutigen Partisanenkrieg gegen die russischen Besetzer ein elendes Leben verdienen will, sein souveränes weltpolitisches Interesse, die wechselseitige Schlächterei in Afghanistan möglichst blutig und dauerhaft zu gestalten; ein Zweck, für den die religiöse Idiotie der Eingeborenen hervorragend zu benutzen ist. In der Wirkung auf die Landesbewohner gleicht dieses Interesse auffällig der einstigen Berechnung der Sowjetunion, sich durch ihre Unterstützung Vietnams die weltpolitische Berücksichtigung durch die USA zu erzwingen und für eine entsprechend lange Kriegsführung zu sorgen; seinem Grund und Inhalt nach ist es jener Kalkulation ziemlich genau konträr. Die »freie Welt« hat Afghanistan längst als gute Gelegenheit entdeckt, um ihre Beziehungen zu manchen mehr oder weniger benachbarten Staaten durchgreifend zu bereinigen und einiges an aktiver Sowjetfeindschaft zu mobilisieren und zu organisieren; vor allem aber als Chance, die Sowjetunion in eine Zwangslage zu manövrieren, die ihr nur höchst unangenehme Alternativen läßt: Entweder sie handelt sich durch einen vom Westen fast nach Belieben zu intensivierenden Dauerkrieg statt der erstrebten Sicherung eine dauerhafte und zunehmende Gefährdung ihrer Südgrenze ein – ein Problem, das die USA in Indochina niemals hatten; oder sie beugt sich in einer Angelegenheit, die sie zur Kernfrage ihrer Selbstbehauptung in Zentralasien gemacht hat, einem »internationalen« Diktat – ebenfalls eine Aussicht, mit der die USA in Vietnam nie auch nur von fern konfrontiert waren. So kommt die »Entspannung« an ihr wohlverdientes, ganz und gar logisches Ende!

Und inzwischen zeichnet sich in Polen die »Chance« ab, der Sowjetunion ein ähnlich gelagertes, aber ungleich brisanteres Dilemma zu bereiten – diesmal ausgelöst durch einen Arbeiteraufstand, der sich an der zivilisierten Idiotie eines katholischen Nationalismus orientiert und deswegen für den Westen so überaus brauchbar wird. Abgesehen davon, daß die polnische Frage nicht mehr am Rand des sowjetischen Machtbereichs gestellt wird, sondern mitten drin.

5. Eines allerdings weiß man auch in den Hauptstädten des freien Westens. Die Verwandlung eines Aufstandes im Machtbereich der Sowjetunion in eine gelungene Offensive gegen die andere Großmacht bedarf einiger »Sicherheitsanstrengungen«. Was aus Afghanistan und all den anderen »Fällen« wird, läuft ja wegen der Rechte, die da widereinander stehen, noch allemal auf eine Entscheidung durch Gewalt hinaus. Dieser Konsequenz der Einschränkung, welche der Westen seinem östlichen Gegner überall, wo es geht, zuteil werden läßt, trägt die NATO Rechnung. Und zwar durch ein Programm der Aufrüstung, das die »Probleme« mit den zahlreicheren und besseren militärischen »Optionen« für den Ernstfall sehr eindeutig zu entscheiden vermag. Mit der ziemlich unmißverständlichen Parole des »Totrüstens« ist von seiten der USA die Linie freiheitlicher Politik angegeben worden. Einer Parole, die gerne idealistisch mißverstanden wird, nämlich in dem Sinne, daß die bloße Beschaffung des überlegenen Kriegsgeräts bereits den Effekt eines erfolgreichen Einsatzes verbürgen würde. Diese Sorte statistisch ermittelter Überlegenheit, also »Friedenssicherung«, findet zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt jedoch ebensowenig statt wie zwischen Argentinien und England. Und die liebliche Vorstellung, daß die Sowjetunion dem Zwang zu weiterer Aufrüstung quasi ökonomisch erliegen müßte, rechnet auch gar nicht damit, daß beim erklärten Feind ausgerechnet wegen Geldmangel die Entwicklung und Aufstellung neuer Waffen unterbleibt. Sie zielt auf eine Konkurrenz in Rüstungsdingen, der das sowjetische Sicherheitssystem in absehbarer Zeit nicht mehr gewachsen sein soll, so daß sich dessen Zerschlagung abwickeln läßt. Diese Entschlossenheit, die in strategischen Kalkulationen längst die dabei anfallenden Verluste auf der eigenen Seite einbezieht und minimiert, liegt den Beschlüssen der USA und der NATO-Staaten zugrunde, in denen sie eine funktionell abgestimmte Aufstockung ihres Arsenals einleiten.

Das gewünschte Ergebnis der eigenen Aufrüstung definiert die westliche Seite sehr unbefangen: Ihr diplomatischer Umgang mit dem Gegner ist eine einzige große Abrüstungs-Initiative unter dem wohlklingenden Titel Null-Lösung. Unter zynischer Inanspruchnahme aller Idealismen einer Friedensbewegung, die der Rüstung die Verantwortung für die Kriegsgefahr aufbürdet, erklärt die amerikanische Regierung sich unzufrieden mit den früher getroffenen Vereinbarungen über gewisse Grenzen der Aufrüstung. Statt dessen will sie die Vermehrung ihrer militärischen Machtmittel mit dem Ziel vorantreiben, die sowjetische Seite zu »ernsthafter« Abrüstungsbereitschaft zu zwingen – ein schönes Zeugnis für den berechnenden Umgang mit dem Idealismus, der die Abrüstungsforderungen einer überlegenen Weltmacht mit der Bereitschaft zu teilweiser Selbstentwaffnung verwechseln möchte. Logischerweise werden in den unter diesen Prämissen eröffneten Verhandlungen noch nicht vorhandene »eurostrategische« Waffen der USA gegen die erneuerte Mittelstreckenraketenmacht der Sowjetunion aufgerechnet und eine Reduzierung der strategischen Atomwaffen auf beiden Seiten gefordert, die nicht einmal zum Schein auf »Ausgewogenheit« berechnet, sondern auf das amerikanische Ideal bezogen ist, das »Fenster der Verwundbarkeit« des Staatsgebiets der USA zu »schließen«, also der Sowjetunion die Fähigkeit zur »Abschreckung« von ihrer Seite her vollends zu nehmen. Daß die amerikanische Regierung mit der Erfüllung dieser ihrer Forderungen selber nicht rechnet, nimmt ihrem Verhandlungswillen nichts von seiner »Ernsthaftigkeit« – gibt allerdings Auskunft über den von den USA gewollten Gegenstand und Zweck ihrer Verhandlungen. Sie präsentieren dem Gegner, der Form nach einvernehmlich, das feststehende Ziel der beschlossenen amerikanischen Aufrüstung als die unverrückbare Absicht, eine militärische Gleichrangigkeit und daraus abgeleitete weltpolitische Bewegungsfreiheit der Sowjetunion nicht zu dulden und zu unterbinden; sie zielen nicht auf Kompromisse über bestimmte und begrenzte Streitfragen, sondern übermitteln per Abrüstungsvorschlag eine vorweggenommene Kapitulationsaufforderung und sind damit die angemessene, sachgerechte diplomatische Durchführung der NATO-Politik des »Totrüstens«.

Geht die sowjetische Seite darauf in der für normale Diplomatie üblichen Weise ein, nimmt die amerikanischen »Vorschläge« als zwar erpresserische, aber immerhin verhandelbare »Maximalposition« und antwortet darauf mit Abrüstungsangeboten, welche eine partielle Rücknahme ihrer Drohungen einschließen; zeigt sie also, daß ihr NATO-»Raketen aus Papier« mehr Eindruck machen als dem Westen ihre SS 20-»Raketen aus Stahl« – ein Vergleich, mit dem Bundeskanzler Kohl ausgerechnet auf die angebliche Schwäche der westlichen Position hinweisen wollte –, dann sieht sie sich mit Zurückweisungen konfrontiert, die den Bereich diplomatischer Geschäftsgepflogenheiten verlassen. Ihre Verhandlungsbereitschaft wird als bloßes Propagandamanöver abgeschmettert, das nicht mehr verdiene als eine – sich offen als solche erklärende – Gegenpropaganda. Die westliche Abrüstungsforderung wird mit dem Dementi des Scheins vorgetragen, sie wäre ein Angebot zum Kompromiß. Das ganze Angebot läuft auf Beseitigung der SS 20-Drohung hinaus, und jeder Versuch der östlichen Seite, mit dieser Drohung dem Westen etwas abzuringen, wird als »nicht konstruktiv« definiert. Und die Nicht-Erfüllung der eigenen Forderung gilt als »Beweis« für die Gerechtigkeit der eigenen, unumstößlichen Vorhaben.

4. Der Osthandel: Zersetzende Geschäfte mit dem Feind

1. Sein Zugeständnis, den Machtbereich der Sowjetunion einstweilen als gegeben hinzunehmen und nicht beständig mit den massivsten diplomatischen Fragezeichen zu versehen, hat der »freie Westen« sich nicht bloß hinsichtlich der letzten Fragen imperialistischer Weltpolitik mit einem weitgehenden sowjetischen Verzicht darauf, ihre anerkannte Weltmacht hinderlich oder gar feindlich gegen die westlichen Interessen in aller Welt zu betätigen, bezahlen lassen. Speziell die europäischen NATO-Verbündeten, die BRD an der Spitze, haben der Sowjetunion für diplomatische Konzessionen an ihr Bemühen um anerkannte Grenzen für ihren Machtbereich einen zweiten, zusätzlichen Preis diktiert. Von der Sowjetunion ging das Unternehmen aus, im Rahmen einer Quasi-Friedens-»Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« die westlichen Kontrahenten zu einer formellen, offiziellen Respektbezeugung vor den innereuropäischen Nachkriegsgrenzen zu bewegen, namentlich die BRD zu einer formellen Anerkennung der Existenz der DDR sowie der polnischen Westgrenze; einem Respekt, der zu den elementaren Selbstverständlichkeiten des internationalen Verkehrs gehört, der Sowjetunion aber noch lange nicht zugestanden worden war. Und das ließen die friedliebenden Mächte der »freien Welt« ihren Gegner spüren, daß er das Interesse an einer »Normalisierung« der beiderseitigen Beziehungen angemeldet – und damit praktisch die Schwäche seiner Position eingestanden hatte. Ihren formellen Respekterweis vor den Grenzen des sowjetischen Machtbereichs knüpften sie an eine Bedingung, in der ihre imperialistischen Ansprüche auf ein bequemer handhabbares Osteuropa sich aufs Beste mit der dazugehörigen moralischen Heuchelei trafen. In »Korb III« des schließlich verabschiedeten Vertragswerks erkennt die Sowjetunion die Verbindlichkeit der »Menschenrechte« für jede in Europa ausgeübte souveräne Herrschaft an – und damit einen Maßstab, der sich einzig und allein gegen sie richtet. Die Manier, die Selbstverständlichkeiten einer unangefochtenen Herrschaft in einen Katalog von prinzipiellen Erlaubnissen ans Individuum zu fassen – denen die nötigen Kautelen logischerweise auf dem Fuße folgen –, dieses paradoxe Idealbild einer ihren Untertanen nützlichen Gewalt paßt nun einmal erstklassig zum bürgerlichen Klassenstaat, der den Machern wie dem Menschenmaterial seiner nationalen Ökonomie ganz gerecht und gleichmäßig in ihren jeweiligen Anliegen zur Seite steht, also in rechter Proportion für die Notwendigkeiten der Armut wie für die Ansprüche des produktiven Reichtums sorgt. Es paßt aber ein für allemal nicht zu einer revisionistischen Herrschaft, die ihr Volk beglückt und zufriedengestellt haben will, indem sie sich selbst zum alleinigen Veranstalter und Nutznießer einer dem Kapitalismus nachempfundenen Ausbeutung macht. Genau hier liegt der ganze Unterschied zwischen den Verfahrensweisen einer Staatsgewalt, die ihre Massen für einen so ertragreichen Gegensatz gegen das akkumulationswillige Eigentum einer anderen gesellschaftlichen Klasse funktionalisiert, die ebenso ihrer Hoheit untersteht, und den Modalitäten einer Herrschaft, die selber der alleinige Kontrahent ihres Volkes sein will. Da nützt es den regierenden Revisionisten im Osten auch nichts, daß sie die Kritik der »Menschenrechte« durch den Anspruch ersetzen, sie hätten in den alternativen Idealen ihrer Herrschaft – die »Entfaltung des Menschen im Kollektiv« läßt sich nicht weniger schön ausmalen als die großzügige Erlaubnis, sich zur praktischen Unterwerfung eine ganz eigene »freie Meinung« zu halten! – deren »Wesensgehalt« erst so richtig wahrgemacht. Im Gegenteil: die Realität der Ausbeutung geht mit dem Idealismus einer eigentlich viel besseren Welt lässig zusammen; der Anspruch, die Welt der Ideale wäre wirklich geworden, blamiert sich notwendig. So hat eine demokratische Staatsgewalt keinen Verlust an »Glaubwürdigkeit« zu befürchten, wenn sie sich und ihren Verbündeten jede Einschränkung und Aufhebung der »Menschenrechte« gestattet, sobald deren Wahrnehmung nicht mehr eindeutig in den Beweis konstruktiver Gesinnung und bedingungsloser Harmlosigkeit mündet, sondern von den demokratischen oder auch schon nicht mehr demokratischen Machthabern als verfassungswidrige Gefährdung ihres Machtbesitzes verstanden wird. Gegen einen Feind gewendet, der seine andersgearteten Herrschaftspraktiken als die wahre Einlösung sämtlicher angeblicher Verheißungen der »Menschenrechte« ausgibt und gefeiert haben will, wird der heuchlerische Idealismus der demokratischen Gewalt nicht einmal dann verdächtig, wenn er sich stolz zu seiner imperialistischen Stoßrichtung bekennt und ausdrücklich als »Menschenrechtswaffe« Verwendung findet.

Daß die Sowjetunion in der historischen »Schlußakte von Helsinki« alle Ideale bürgerlicher Herrschaft unterzeichnet hat, zu deren »Verteidigung« sich die NATO zusammengetan haben will, hat ihr nicht bloß in der moralischen Buchführung der »Weltöffentlichkeit« – ohnehin im »freien Westen« zu Hause und für jede ideologische Rechtfertigung der nie preisgegebenen Kampfansage an das östliche »System« empfänglich – die fälligen Minuspunkte eingetragen. Dem »freien Westen« leistet der ominöse »Korb III« noch weit bessere Dienste: als Freibrief, um beständig unter Berufung auf die russische Unterschrift eine massive politische Zuständigkeit für alles politische Geschehen innerhalb des sowjetischen Machtbereichs anzumelden und geltend zu machen. So hat sich zum einen allerhand an praktischer Einmischung eingebürgert. Da läßt sich etwa einiger Einfluß nehmen auf den internen Umgang mit Oppositionellen, deren Angriffen auf ihr Staatswesen Schützenhilfe geben und somit etwas für die Vermehrung von Unzufriedenheit im Ostblock tun – ob dann die herausgeputzten Dissidenten, allzusehr ermuntert durch westliches Echo, im Gefängnis landen oder nicht (vielleicht »bloß« ihren Beruf verlieren . . .), beides ist nicht ungünstig. Die »menschlichen Erleichterungen« im Aus- und Einreiseverkehr, einschließlich größerer Freizügigkeit für Journalisten, fördern eine Sorte Systemvergleich, dem es zwar schwerfällt, den Traum von einem Leben im Wohlstand westlich des »Eisernen Vorhangs« zu verifizieren – der praktische Test bringt noch allemal an den Tag, daß die goldene Freiheit mit Abwesenheit von Elend und Gewalt nichts zu tun hat! –, dafür aber um so leichter, das Eigenlob der »sozialistischen Errungenschaften« im Osten zu desavouieren.

Vor allem aber, und jenseits aller moralischen und praktischen Punktsiege über den sowjetischen »Totalitarismus«, hat der Westen mit »Korb III« der »Schlußakte« einen diplomatischen Positionsvorteil gewonnen. Seit Helsinki ist es kein »Revanchismus« und keine »Einmischung in fremde Angelegenheiten« mehr, wenn westliche Politiker sich als Berufungsinstanz für Sowjetbürger, also als Oberaufseher über deren Obrigkeit aufspielen und so, als wäre das zwischen feindlichen Staaten das Selbstverständlichste von der Welt, ein Recht zur Einflußnahme auf den Gang der sowjetischen Herrschaft reklamieren. Jede imperialistische Unbescheidenheit von westlicher Seite verfügt in der »Schlußakte« über einen – wie auch immer fiktiven – Rechtstitel, der es verbietet, sie politisch als das zu behandeln, was sie ist, nämlich ein imperialistischer Anspruch, vielmehr noch dazu die östliche Seite unter den Zwang zur Rechtfertigung setzt. Die diplomatische Infragestellung der sowjetischen Souveränität, die die Sowjetunion dem Westen abhandeln wollte, hat über das Einvernehmen zwischen Ost und West nicht etwa ihr Ende, sondern eine neue Verlaufsform gefunden, die gegenüber den Verfahrensweisen des »Kalten Krieges« einen bedeutenden Vorteil aufweist: Bei allen seinen Forderungen kann der Westen sich auf das aktenkundige sowjetische Interesse an »Entspannung« berufen. So wird der Beweis sowjetischer Nachgiebigkeit zum Instrument westlicher Unnachgiebigkeit.

2. Die »Menschenrechte«, die da von an Gewaltmitteln nicht armen Staaten im Namen »des« Menschen postuliert werden, sind die politischen Ideale der kapitalistischen Benutzung eines eigentumslosen Menschenmaterials, daher auch Hinweise auf die wirklichen Freiheiten des kapitalistischen Eigentums. Als Gegenstand west-östlicher Einigung bilden sie deshalb logischerweise einen Zusatz zu Vereinbarungen, die darauf zielen, die Gegnerschaft zwischen den Vertragspartnern um ein Verhältnis wechselseitiger ökonomischer Benutzung zu bereichern – ein Verhältnis, von dem von Anfang an feststeht, daß seine maßgeblichen Bedingungen durchs Kapital gesetzt werden. Seine Bewegungsfreiheit unter den so »hinderlichen« Bedingungen des »realen Sozialismus« ist denn auch das umfänglichste Thema der »Helsinki-Schlußakte«.

Auf die Idee, im »freien Westen« gewisse »Normative« sozialistischer »Planung und Leitung« einzuführen oder auch nur – analog zu den tatsächlich vereinbarten Regeln für den Fall einer »Störung des Marktgleichgewichts« – Garantien zu verlangen, daß der neu eröffnete erweiterte Handelsverkehr sich den Bedürfnissen des RGW und der Wirtschaftspläne seiner Mitgliedsländer anzupassen hätte, sind dabei noch nicht einmal die sowjetischen Unterhändler gekommen. Deren Position war und ist eben nicht die von Repräsentanten eines Überflusses, die die Möglichkeiten einer fremden Ökonomie, mit ihrer Zahlungsfähigkeit und ihrer Produktivkraft der Akkumulation des eigenen nationalen Reichtums von Nutzen zu sein, frei inspizieren, kritisch würdigen und zu ihren Konditionen wahrnehmen. Umgekehrt: einen Reichtum solcher Art findet die Sowjetunion bei ihren westlichen Gegnern vor – und sucht dessen Interesse auf sich zu ziehen.

Ihr Beweggrund dafür ist zum einen ein ökonomischer – und zwar der denkbar schlechteste, aus dem heraus ein Staat sich überhaupt zur Teilnahme am kapitalistischen Welthandel entschließen kann: eine Situation des Mangels. In ihrem Wunsch nach »beiderseits nützlichen« Handelsbeziehungen meldet die östliche »Planwirtschaft« einen sehr eindeutigen Bedarf nach Produktivkräften an: von eben der Produktionsweise, der sie stets eine angebliche Unfähigkeit zu effektiver Entwicklung der Produktivität zum Vorwurf gemacht hatten, erwarten sich die Planer und Leiter der »wissenschaftlich-technischen Revolution« Hilfe für den eigenen Fortschritt in Gestalt von käuflicher Maschinerie aller Art! Die vom revisionistischen Staat in die Hand genommene »Verwirklichung des Wertgesetzes« bringt die Akkumulation staatlichen Reichtums nicht hervor, auf die es deren Hüter abgesehen haben. So üben sie Selbstkritik – und verfallen ausgerechnet auf die Sphäre der härtesten Konkurrenz und der einseitigsten Geschäftemacherei, in der nur der Erfolgreiche Erfolgsaussichten hat, als Ausweg, um die Ausnutzung ihrer nationalen Arbeitskraft gedeihlicher zu gestalten; gerade so, als wäre der »Weltmarkt« ein Wundermittel, um die Resultate einer unproduktiven Ausbeutung schnell und lohnend in Mittel für eine produktivere zu verwandeln.

Ähnlich illusionärer Natur ist der zweite, politische Zweck, den die Sowjetunion mit der Aufnahme und Pflege guter Geschäftsbeziehungen zum Westen meint realisieren zu können. Die matten Drohungen der jüngsten Zeit an die Adresse der BRD, ihr könnten womöglich im Falle allzu weit getriebener politischer Botmäßigkeit gegenüber den USA lohnende Geschäfte entgehen, ebenso wie die gleichzeitige Hofierung westlicher Industrieller als der letzten, schon aus Eigennutz verläßlichen Garanten guter Ost-West-Beziehungen verraten die Ernsthaftigkeit der sowjetischen Hoffnungen auf all die segensreichen politischen Konsequenzen, die die Ideologie vom »allseits nützlichen Welthandel« und seiner notorischen Friedlichkeit der weltweiten Geschäftemacherei zuschreibt – und verraten zugleich die Hoffnungslosigkeit eines derartigen Kalküls. In der Gelassenheit, mit der westlicherseits derartige Drohungen ignoriert und östliche Avancen ausgenutzt werden, bekommt die Sowjetunion die imperialistische Wahrheit zu spüren, die sie immerzu nicht wahrhaben will: daß die Idiotie von den friedensfördernden Wirkungen des weltweiten Handels das Ideal gelungener Erpressung ist – einer solchen nämlich, die den Kontrahenten mit vormilitärischen Mitteln nach Belieben fertigmacht –, und daher das Gegenteil von einem Argument, mit dem die schwächere, auf funktionierende Beziehungen angewiesene Seite der anderen, stärkeren Seite Eindruck machen könnte.

Mit genau umgekehrten Voraussetzungen und daher auch auf der ganzen Linie zu seinen Konditionen ist der »freie Westen« auf das ihm angetragene Ostgeschäft eingestiegen. Für die westlichen Staatsmänner und ihre Geschäftsleute war und blieb der Osthandel zum einen immer eine Sache des lohnend erweiterten Geschäfts: Keine Not hat ihnen diktiert, gegen Autofabriken und Chemieanlagen der DDR Kühlschränke, den Polen Kohle, der Sowjetunion Erdgas und Wodka abzukaufen, sondern die freie, über die Ver- und Einkaufsmöglichkeiten in der ganzen Welt orientierte Begutachtung der östlichen Wünsche und der »sozialistisch« erstellten Güterwelt unter dem Gesichtspunkt lohnender Vermarktung der eigenen wie der angebotenen fremden Produkte – lohnend für westliches Kapital! Von diesem werden die Kalkulationen angestellt, die darüber entscheiden, ob überhaupt und zu welchen Preisen, mit wieviel Krediten zu welchen Zinssätzen usw. ein Handel zustande kommt; seine Akkumulation ist die Geschäftsbedingung. Und auf dieser soliden geschäftlichen Grundlage war und blieb der Osthandel für die westliche Seite stets zweitens ein sehr zielstrebig gehandhabtes Geschäft mit dem Gegner. Die Embargolisten aus der Zeit des »Kalten Krieges«, die noch allerlei Kleinkram des zivilen Bedarfs als »strategisch relevant« mit Ausfuhrverbot belegen, sind prinzipiell noch immer in Kraft und werden von den USA nach Bedarf auch immer wieder in Erinnerung gebracht und erneuert; nicht einmal amerikanische Farmer sind davor sicher, gelegentlich ein paar Millionen Tonnen Weizen auf Halde liegen zu haben, weil ausgerechnet damit ein Exempel statuiert werden soll. Der Standpunkt, daß es den Osten bei aller geschäftlichen Ausnutzung vor allem nach wie vor zu behindern gilt, ist aber keineswegs nur dort präsent, wo ein Handelsgeschäft unterbunden oder zum Zwecke der »Bestrafung« storniert wird. Die Drohung, den gesamten schönen Handelsverkehr sterben zu lassen, wenn die Sowjetunion nicht den westlichen Ansprüchen an »weltpolitisches Wohlverhalten« genügt, ist gerade den westeuropäischen Politikern geläufig, die sich so gerne über amerikanische Bevormundung in Fragen der »Entspannung« und des Ostgeschäfts beschweren. Gegen amerikanische Beschwerden über eine »Arbeitsteilung« im westlichen Bündnis, bei der die Schutzmacht USA für die Behinderung und Bedrohung der Sowjetunion zuständig sei, während die BRD unter dieser Prämisse unbekümmert und selbstsüchtig ins Geschäft mit ihr einsteige, können die politischen Repräsentanten des engagierten Reichtums sogar den Hinweis ins Feld führen, gerade dank seiner üppigen Entwicklung stelle das Ostgeschäft die schärfste vormilitärische Waffe dar, die die NATO sich nur wünschen könne.

Und dieser Hinweis ist weit mehr als bündnisinterne Heuchelei, wie der Streit um Polen aufs deutlichste zeigt. So ungleich die ökonomischen Voraussetzungen des Ost-West-Geschäfts auf den beiden engagierten Seiten, so eindeutig sind erst recht die ökonomischen wie auch – deswegen – seine politischen Konsequenzen.

3. Die Ökonomie des Osthandels weist einige Besonderheiten auf, die sich dem Umstand verdanken, daß die »Staatshandelsländer« nicht für den Weltmarkt produzieren, weil umgekehrt ihre Akkumulation nicht auf dem regelmäßigen Kauf und Verkauf von Produktions- und Konsumtionsmitteln außerhalb ihres Herrschaftsbereichs beruht. Die »Arbeitsteilung« innerhalb des RGW ist auch nicht Resultat der Konkurrenz, sondern von Kalkulationen bezüglich des funktionellen Beitrags der einzelnen Nationen zur wirtschaftlichen Potenz des Bündnisses. In ihren Wirtschaftsbeziehungen mit anderen Staaten verschaffen die Volksrepubliken mit realsozialistischer »Planwirtschaft« sich eben nicht einige zusätzliche Aufträge, billige Ware und dergleichen, sondern eine Aufgabe, nach der sie Teile ihrer nationalen Produktion einzurichten haben. Entsprechend sind ihre Währungen Verrechnungseinheiten innerhalb des Blocks, die zwar allemal zu dem taugen, was in der kapitalistischen Welt dem Geld gelingt: auch drüben geht die Trennung des Reichtums von seinen Produzenten über Löhne und Preise, also mit Hilfe der Papierzettel vonstatten; als nationales Kreditgeld gelangen sie aber kaum zu internationalen Ehren. Mittel des internationalen Handels sind sie nie geworden, weil sie von ihren Schöpfern nur als Kredit vorgesehen sind, den die Staatsgewalt sich selbst einräumt, nicht aber als Geschäftsmittel eines Privateigentums, das weltweit seine Mehrung betreibt. Auf ihr Verhältnis zur Geldware Gold wird daher auch kein Wert gelegt – eben darauf aber achten die Akteure des Weltmarkts sehr genau, weil sie wissen, daß internationale Geschäfte nur dann welche sind, wenn sie in konvertibler Währung, und möglichst »harter« dazu, abgewickelt werden. So entstand mit dem Neubeginn ost-westlicher Wirtschaftsbeziehungen keinerlei Interesse, in den Besitz von Sloty, DDR-Mark oder Rubel zu gelangen. Dem Ost-Geld blieb damit zwar das Schicksal erspart, zum Objekt von Devisenspekulationen auf ausländischen Geldmärkten entwürdigt zu werden; für seine glücklichen Besitzer entstand jedoch das Problem, sich genau das beschaffen zu müssen, was der Revisionismus mit seiner Machtergreifung fortschrittlich überwunden haben wollte: ein als Geschäftsmittel international taugliches und anerkanntes Geld. Die Devisenbeschaffung, die in kapitalistischen Ländern zu den selbstverständlichen Geschäftsbedingungen gehört, weil sie zum Geschäft dazugehört – über den Geldhandel spielt sich schließlich die Konkurrenz um die Preise ausländischer Waren ab –, wird für die realsozialistischen Länder zur ersten Schranke bei der Beschaffung der begehrten Güter. Während in der Konkurrenz der Kapitale das Exportgeschäft des einen die Importe des anderen ermöglicht und der Staat noch nicht einmal mit dem Ideal einer ausgeglichenen Handels- oder Zahlungsbilanz ernst zu machen braucht, entdeckt der Inhaber des Außenhandelsmonopols bei seinem ersten Gang als Käufer auf den »Weltmarkt«, daß seine Ökonomie ihm zunächst einmal gar nicht die Mittel zur Verfügung stellt, die er dafür benötigt. Er will sich am internationalen Geschäft beteiligen, um seine ökonomischen Vorhaben zu fördern – und noch ehe der erste derartige Erfolg sich abzeichnet, muß er die Erwirtschaftung von Devisen als neue, zusätzliche Aufgabe in seine ohnehin zu wenig ertragreichen ökonomischen Unternehmungen einbauen.

Und diese Aufgabe ist von anderem Kaliber, als was den sozialistischen Staaten von ihrer bündnisinternen »Arbeitsteilung« her als Anspruch einer auswärtigen Ökonomie vertraut ist. Damit westliche »Industrienationen« östliche Ware für kaufenswert erachten, braucht eine osteuropäische »Planwirtschaft« sich zwar nicht mit den im Reich der kapitalistischen Konkurrenz durchgesetzten Maßstäben der Kostpreiskalkulation vertraut zu machen; die zuständigen Planungsinstanzen kommen ganz gewiß zuallerletzt auf die Idee, die staatlich festgelegten Währungsparitäten zwischen sozialistischem und kapitalistischem Kreditgeld als Datum zu nehmen, an dem die Rentabilität der geplanten Mehrwertproduktion sich sinnvollerweise messen könnte. Geltend macht dieser Maßstab sich aber schon, nämlich im Umfang der Produktionskapazitäten, die die östlichen Planer und Leiter der Aufgabe umwidmen müssen, mit Gütern zu im Westen konkurrenzfähigen Preisen dennoch das benötigte Quantum Devisen zu ergattern. Dabei ist es noch nicht einmal damit getan, daß ein ansehnlicher Teil der Produktion auf die Bahn geht und gen Westen rollt. Auch als Gebrauchswert kann eine sozialistische Ware sich eingestandenermaßen nicht so ohne weiteres mit den Erzeugnissen messen, die den kapitalistischen Markt bevölkern; und sei es nur deswegen, weil dieser das nötige Quantum Ramsch aus noch weit billigeren Quellen bezieht. Seit den ersten Tagen des ost-westlichen Warenverkehrs haben deshalb die östlichen Westexperten Abteilungen eingerichtet, die spezielle Qualitätsware für den Export in das Reich der kapitalistischen Freiheit herstellen: Diese Produkte werden säuberlich vom Ausschuß, der der eigenen Bevölkerung erhalten bleibt, getrennt und gestempelt, was Arbeitsplätze schafft und die Produktivität nicht wenig senkt. Aber selbst die gutwillige »Lösung« solcher »Probleme« – die ihre Wirkung beim eigenen Volk ganz sicher nicht verfehlt! – macht die Partner aus dem Westen nicht unbedingt den westwirtschaftlichen Anliegen des »Ostblocks« geneigt. Nicht zufällig ist selbst in die »Schlußakte von Helsinki« die schöne Vorschrift hineingeraten, daß auswärtiger Handel zu allem, aber keinesfalls zu »Marktstörungen« oder gar zu einer »Marktzerrüttung« führen dürfe; den Klartext lesen die westlichen Handelspartner ihren Kameraden drüben mit Zollpolitik und Kontingentierungsbestimmungen vor.

So werden einer Wirtschaft, die überschüssige Produkte gerade nicht hervorbringt, um eben diesem Mangel abzuhelfen, in ansehnlichem Umfang Produktivkräfte entzogen – in der Hoffnung auf die künftige Wirksamkeit der damit bezahlten Produktivkraft aus der Werkstatt kapitalistischer Ausbeutung. Ein Dilemma, zu dessen Lösung so schöne Erfindungen wie Intershops und Tuzex-Läden, Zwangsumtauschsätze für Touristen und Verwandtenbesucher usw. nicht allzuviel ausrichten. Daß kein »Ostblock«-Land mit der Produktion für Devisen seinen Importbedürfnissen hinterherkommt – die wachsen nämlich ihrerseits ganz beträchtlich mit den Erfordernissen des Exports von Qualitätsware! –, ist daher eine bleibende Gelegenheit für die kapitalistische Geschäftswelt, ihre Großzügigkeit zu beweisen und dem so ehrlich bemühten Handelspartner mit Krediten auszuhelfen. Nicht nur im Falle Polens hat derlei »Hilfe« sich inzwischen auf elfstellige Dollarbeträge aufsummiert – und das, ohne daß jene extra reaktionären Besorgnisse, man kreditierte auf diese Weise den Sowjets doch nur indirekt ihre Aufrüstung, mehr als ideologische Beachtung gefunden hätten. Tatsächlich ist es nämlich erstens auch für östliche Staaten keineswegs billig, sich des kapitalistischen Kreditwesens zu »bedienen«, und offenbar auch überhaupt nicht lohnend; die Belastung der so vorbehaltlos weltoffen gewordenen »Planwirtschaften« durch Exportnotwendigkeiten steigt jedenfalls rascher, als die auf Pump importierten Produktivkräfte das gewünschte segensreiche Werk tun. Zweitens pflegen größere internationale Kredittransaktionen zu einer Angelegenheit staatlicher Garantien auf seiten des imperialistischen Partners zu werden; und der läßt sich eine solche erstklassige Gelegenheit, durch die Praxis und die Konditionen der Kreditvergabe nicht nur ökonomischen Nutzen für sich und allerlei wirtschaftliche »Sachzwänge« für seinen Kontrahenten zu stiften, sondern auch politischen Schaden anzurichten, natürlich nicht entgehen. Da werden Tauschgeschäfte wie Kredit gegen Aussiedler, Swing gegen Menschenrechte, Zinsstundung und Umschuldung gegen Gewerkschaftsrecht vereinbart, von denen sich der alte Marx bei seiner eindimensionalen Warenanalyse auch noch nichts träumen ließ.

Abhilfe von solchen Drangsalen schienen der Sowjetunion die Produkte zu schaffen, an deren Qualität nicht einmal die verwöhnten Agenturen des »freien Westens« Anstoß nehmen und von denen sie gar nicht genug kriegen können: die Rohstoffe, deren reichliches Vorhandensein in der sowjetischen Heimaterde einst die Idee eines sozialistischen Aufbaus ohne Störung durch einen unabweisbaren Zwang zum Außenhandel realisierbar gemacht hatte. Insbesondere der Export von Erdöl und Erdgas ist so zum devisenträchtigsten Zweig des sowjetischen Westhandels geworden; freilich auch nicht ohne die Härten imperialistischer Partnerschaft einmal mehr klargestellt zu bekommen. Auch hier ist es nämlich der Wirtschaft des Ostens nicht förderlich, die Lieferung zu Lasten der eigenen Versorgung gehen zu lassen, also die Milderung der Schuldenlast mit zusätzlichen Störungen der eigenen Produktion zu bewerkstelligen. Für die Steigerung der Förderung des sowjetischen Exportschlagers Nr. 1 ebenso wie für seinen Transport bedarf es wieder genau der Leistungen der eigenen Industrie, deren Fehlen die Wirtschafts- und Politkommissare erst auf die Effizienz westlicher »Technologie« scharf gemacht hatte. So stellt sich immer wieder heraus, daß die Sowjetunion, größter Röhrenproduzent der Welt, den Bedarf nicht zu decken vermag, der mit den vereinbarten oder gewünschten Gas- und Öllieferungen entsteht. Was sowjetischerseits als endlich einmal lohnendes Geschäft geplant ist, wird so doch wieder zu einem jener Kompensationsgeschäfte, die im Westen so gerne beklagt und getätigt werden: Der Energieexport dient nun auf Jahre hinaus der Abzahlung der Röhrenkontingente (inklusive Zinsen) aus dem Westen; der macht damit erstens ein feines Geschäft und sieht sich zweitens in der glücklichen Lage, mit einem Embargo die künftige Energieversorgung der Sowjetunion selbst in Frage stellen zu können. Ganz zu schweigen von den ohnehin vorhandenen Schwierigkeiten, den zusätzlichen Bedarf durch die weitere Erschließung und Exploitation der »unermeßlich reichen«, leider aber eben sehr abgelegenen Vorkommen zu decken; Schwierigkeiten, die bereits zu mancherlei Angeboten seitens der Sowjetunion geführt haben, die spezielles Bohrgerät gerne bezahlen würde, es aber aus politischen Erwägungen von den Amis nicht kriegt.

Als noch wirkungsvoller hat sich der Osthandel, der die ökonomischen Ziele des »sozialistischen Aufbaus« zunichte macht und dem Westen als Hebel für eine praktische Kritik der revisionistischen Herrschaft dient, dort erwiesen, wo die Verwalter des »Wertgesetzes« sich unter dem Druck außenwirtschaftlicher »Sachzwänge« auf den Lehrsatz vom natürlichen Gegensatz zwischen Akkumulation und Konsumtion besonnen haben und ihre Zahlungsfähigkeit im Welthandel durch den Export von Lebensmitteln sicherzustellen suchen. Da wird manches Produkt mit einem deutschen Etikett versehen, das es in den einheimischen Läden nicht oder nicht in ausreichender Menge zu kaufen gibt; und wenn dann umgekehrt USA und EG mit Lebensmittellieferungen »einspringen« – womöglich sogar zu Vorzugszinsen! –, dann war das Ganze keineswegs absurd, sondern für den Westen gleich doppelt und dreifach von Nutzen. Wie von selbst schafft die gelungene Benützung des feindlichen Lagers die schönsten Anlässe, um die politische Infragestellung seiner Souveränität in ganz neuer Schärfe auf die Tagesordnung zu setzen.

4. Der kleine Widerspruch, daß der »freie Westen« bei der Ausnutzung der östlichen Ökonomie auf brave Arbeiter genauso setzt wie seine Geschäftspartner aus der Führung von Arbeiterparteien, daß er andererseits für den inneren Zersetzungsprozeß der feindlichen Herrschaft ungehorsame, der Knechtschaft überdrüssige Bürger drüben schätzt, ist für einen imperialistischen Staat und seine Weltbürger keine große Belastung. Beides gilt ihnen als Dienst, der der Sache der Freiheit geleistet wird, und zwar nebeneinander und nacheinander. Manche demokratische Zeitung beschwört auf den vorderen Seiten die mit Füßen getretenen Menschenrechte und beschwert sich über den östlichen Despotismus, während der Wirtschaftsteil ganz »vorurteilsfrei« darüber Auskunft gibt, daß »eine stärkere Bereitschaft zur Mehrschichtarbeit, fehlende Streikmöglichkeiten und übliche längere Arbeitszeiten« durchaus als Empfehlung für den Osten gelten können – in den Augen sozialstaatsgeschädigter Unternehmer in »arbeitsintensiven« Branchen, die beim Gebrauch slawischen Personals bis zu 30 % Lohnkosten sparen können, wobei der staatliche Vermieter sogar noch gewinnt, wenn er die ortsüblichen Niedriglöhne zahlt. Auch von der »Stabilität«, die eine sichere Kalkulation erlaube, ist da recht häufig die Rede – woran zu sehen ist, daß sich Ost und West längst über viel mehr einig geworden sind als über den Tausch von diversen Waren. Sie haben auch schon zu gewissen »Lösungen« der »Probleme« gefunden, die der Tausch für beide Seiten so mit sich bringt.

Die westlichen Marktwirtschaftler, die jeden östlichen Exportartikel dreimal daraufhin überprüfen, ob er denn auch wirklich »in die Landschaft paßt«, beklagen die »geringe Leistungsfähigkeit« der östlichen »Exportwirtschaft«, sind also der Auffassung, daß die von ihnen eingegangenen Geschäftsbeziehungen noch viel ertragreicher gestaltet werden könnten. So weisen sie ihre Partner im Osten darauf hin, daß Kompensationsgeschäfte die Verschuldung zwar nicht steigern, aber auch nichts für ihren Abbau leisten. Drüben ist man aufgrund des praktischen Drucks, der solchen Hinweisen zugrunde liegt, auch schon zu der Überzeugung gelangt, daß die Begleichung des »Technologietransfers« mit langfristigen, also die Kreditierung verteuernden Lieferverträgen über Konserven, Berufskleidung und selbst Erdgas nicht das Wahre sein kann. So beugen sich die Länder des »Ostblocks« dem an die imperialistischen Praktiken in »Entwicklungsländern« gemahnenden Angebot, doch auch den Artikel für das Ost-West-Geschäft zur Verfügung zu stellen, über den sie als Arbeiterstaaten so reichlich verfügen: die Arbeitskräfte, die – richtig angewandt und mit dem rechten Zwang zu besserer »Arbeitsmoral« ausgestattet – Wunder wirken können und mit ihren Produkten, wenn sie vom westlichen Geschäftsmann bestimmt werden, ganz gewiß richtig liegen. Die Staaten des realen Sozialismus, die sich als die praktisch gewordene Befreiung des Proletariats vom Joch des Kapitals feiern, wetteifern inzwischen darum, am »technologischen Fortschritt« teilzunehmen, indem sie in »Kooperationsabkommen« der verschiedensten Art ihre gefügigen und sehr brauchbaren Arbeiter an den Segnungen des Kapitals teilhaben lassen. Unter dem irreführenden Titel »Lohnveredelung« – der Lohn wird nämlich nicht veredelt! – findet eine Renaissance des Verlagssystems aus der Frühzeit des Kapitalismus im internationalen Maßstab statt. Die Lieferung von Maschinen und ganzen Fabriken setzt die »Planwirtschaft« instand, erwünschte Halb- und Fertigprodukte zu liefern; und für diese langfristige Chance, in der Devisenfrage zu Rande zu kommen sowie am fortgeschrittenen »know how« des Westens teilzuhaben, steuert der sozialistische Staat Räumlichkeiten, Rohstoffe und Personal bei. Der Abschluß derartiger Geschäfte macht deutlich, wie wenig der weltpolitische Gegensatz zum Imperialismus mit einer praktischen Kritik kapitalistischer Ausbeutung zu tun zu haben braucht – weswegen dieser Gegensatz umgekehrt sehr bequem von den westlichen Partnern betätigt wird, die so unverhohlen zur praktischen Kritik und Revision aller revisionistischen Errungenschaften auf dem Feld der Ökonomie eingeladen sind und in jedem laufenden Vertrag eine Handhabe für die Erpressung ökonomischer und politischer Zugeständnisse besitzen. Ganze Abteilungen der Produktion in den realsozialistischen Ländern sind inzwischen auf die Kalkulation eingerichtet, die westliche Marktstrategen eigens für sie aufgemacht haben. In deren fachmännischen Kommentaren tauchen solche Branchen auf als arbeits-, rohstoff-, energie- und umweltintensive Produktionszweige, und die »drüben« haben alle Hände voll zu tun, um die Abkommen zu erfüllen und die verlangten Liefergarantien mit ihrem übrigen ökonomischen Programm zu vereinbaren. Denn die drohenden Vorbehalte der kapitalistischen Partner, die mit der ständigen Klage einhergehen, daß »die bewährteste Form des internationalen Technologietransfers«, die Direktinvestition, noch immer auf »ideologische Vorbehalte« stoße, begleiten jedes Projekt. Die Sorge, eine östliche Regierung könnte sich einmal in typisch kommunistischer Manier eine Lizenzfabrik einfach unter den Nagel reißen, ist bis heute noch nicht aufgekommen; im Gegenteil, die sozialistischen Partner gelten als äußerst zuverlässig. Das einmalig günstige Zusammentreffen ihrer freien Kalkulation mit dem Profit auf der einen, der ökonomischen Not der Länder mit »Planwirtschaft« auf der anderen Seite erlaubt den Anlegern, immer bessere Bedingungen auszuhandeln, so die Unterwerfung einer ihren Interessen eigentlich hinderlichen Produktionsweise voranzutreiben – und damit auf deren Auflösung hinzuwirken.

Das politische Bündnis der revisionistischen Staaten bleibt von dieser zunehmenden Funktionalisierung ihrer Ökonomie durch und für westliche Interessen nicht unberührt. Nicht nur mit ihren eigenen nationalen Vorstellungen von einem »sozialistischen Aufbau« kommen die Planer drüben in dem Maße in Konflikt, wie sie ihre »Planwirtschaft« zum Zwischenglied in den ausgreifenden Kalkulationen westlicher Kapitale machen. Abstriche zugunsten devisenträchtiger Geschäftszweige fallen ihnen gewiß nicht zuletzt bei den Aufgaben ein, die ihrer Nationalökonomie im Rahmen des RGW zugewiesen sind. Die Sowjetunion selbst geht da mit Beispielen der Art voran, daß sie ihre Energievorräte lieber an zahlungskräftige Westkunden verkauft, als ihre Bundesgenossen damit zu beliefern, die immer so wenig zum gemeinsamen Fortschritt beisteuern. Und diese setzen bei der Erfüllung ihrer diversen außenwirtschaftlichen Verpflichtungen ebenso ihre Prioritäten – was das interessierte imperialistische Ausland allerdings noch keineswegs zufriedenstellt. In der Gewißheit, daß die Souveräne des gegnerischen Blocks die ökonomische Grundlage ihrer Macht schon längst nicht mehr voll unter ihrer eigenen oder gemeinschaftlichen Kontrolle haben, sondern zu ansehnlichen Teilen bereits im »Entgegenkommen« westlicher Wirtschaftsmanager und -politiker, bestehen die Diplomaten des Imperialismus auf merklichen Modifikationen auch der außenpolitischen Prioritäten ihrer östlichen Partner – als Bedingung für weiteres »Entgegenkommen« in Angelegenheiten der gewünschten ökonomischen Umorientierung auf den Westen. Unterschiedliche Grade der »Annäherung« an die EG und den IWF, diplomatische Distanzierungsakte bezüglich weltpolitischer Manöver der Sowjetunion usw. führen entsprechende Differenzierungen in der westlichen Bereitschaft zu jenem Engagement herbei, auf das östliche Politiker so scharf sind – und umgekehrt. Das Streben nach »politischer Unabhängigkeit« inmitten des Warschauer Pakts, das sich z. B. auch im Empfang einer chinesischen Delegation dokumentieren kann, wird da ebenso durch Geschäftsabschlüsse »belohnt« wie die Einräumung besonders freundlicher Anlagekonditionen. Der gesamte »Ostblock« wird inzwischen nach solchen Gesichtspunkten sortiert: Die CSSR ist weder willens noch ökonomisch in der Lage, sich mit Hilfe einer bedeutenden »Ausdehnung des Westexports« zum Erfüllungsgehilfen westeuropäischer Investitionsstrategen zu machen; daher wird bedauernd konstatiert: »Der militärische Eingriff der Sowjetunion im August 1968 unterbrach eine Entwicklung, die das Land politisch und wirtschaftlich zu einem Vorreiter der Entspannungspolitik und der Ost-West-Beziehungen hätte werden lassen können.« Dafür gilt gegenwärtig Rumänien als »Vorreiter«, was mit Leistungen der verschiedensten Art zusammenhängt: von der bekannten rumänischen Chinesenfreundschaft über die – in einem NATO-Land unvorstellbare – höchstoffizielle Kritik an den Militärlasten bis hin zum »Vertrag über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen« aus dem Jahre 1979, dem ersten Abkommen dieser Art, das »die BRD mit einem Staatshandelsland vereinbart hat«. Ungarn ist zwar politisch nicht übermäßig aufmüpfig, pflegt aber schon seit längerem eine derart »exportorientierte Wirtschaftspolitik«, daß das Land sein flottes Handelsbilanzdefizit inzwischen mit der Erlaubnis von Direktinvestitionen ausländischen Kapitals bekämpft, von der Betreuung durch die Kreditlinien des IWF ganz zu schweigen; auch das schafft Sympathien. Und Polen ist bereits ein ganzes Kapitel für sich.

Das »entspannungsfördernde« Ost-West-Geschäft ist so zu einem einzigen praktischen Beweis geworden, daß der Osten in jeder Hinsicht besser daran getan hätte, eine Planwirtschaft zu machen statt einen Staatssozialismus, der sich den Gesetzen des Weltmarkts entsprechend zurichtet, weil er sich ausgerechnet über ihn sanieren will. Den »Weltmarkt« benützt eben keine Nation für sich, ohne sich zur Manövriermasse seiner Gestalter zu machen – es sei denn, sie wäre denen in jeder Hinsicht gewachsen. Und den rein geschäftsmäßigen Prinzipien des »Weltmarkts« widerspricht es überhaupt nicht, wenn die in Handel und Wandel hergestellten Abhängigkeiten dem zusätzlichen Kriterium der politischen Einflußnahme unterworfen und als Hebel zur Relativierung auswärtiger Souveränität benutzt werden – schon gar nicht im Fall der Weltmacht Nr. 2 und ihrer »Satelliten«. Je erfolgreicher die kapitalistische Benutzung der realsozialistischen Ökonomien auf deren Zerstörung hinwirkt, um so weniger ist sie zu haben ohne eine Erpressung, die sich der geschaffenen ökonomischen »Sachzwänge« sehr bewußt als eines bloß vor-militärischen Druckmittels bedient. Wäre der Osthandel nicht ohnehin von Anfang an ein Geschäft gewesen, das die NATO sich leistet – man hätte glatt vom Standpunkt des erfolgreichen Osthandels aus die NATO erfinden müssen.

5. Kein Widerspruch zur Logik des Ost-Geschäfts, sondern die Ausnutzung einer der dadurch eröffneten Chancen für die westliche Weltordnungspolitik ist daher noch der schließliche Übergang zum Wirtschaftskrieg gegen die Sowjetunion, der auf Basis der geschaffenen ökonomischen Abhängigkeiten das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Benutzung und politischer Feindschaft endgültig »richtigstellt« – zu Lasten des Geschäfts, zugunsten des Erfolgs seiner politischen Prinzipien.

Die allgemeine Entscheidung für diesen Fortschritt hat der »Weltwirtschaftsgipfel« im Juni 1982 in Versailles mit dem folgenden, allgemein als wenig spektakulär eingeschätzten Beschluß gefällt:

»Wir sind übereingekommen, gegenüber der UdSSR und Osteuropa ein vernünftiges und nuanciertes Vorgehen einzuschlagen in Einklang mit unseren politischen und sicherheitspolitischen Interessen.

Hierzu gehört das Vorgehen in drei Schlüsselbereichen: Erstens werden unsere Vertreter im Anschluß an die internationalen Erörterungen vom Januar bei der Verbesserung des Systems für die Kontrolle der Ausfuhr strategischer Güter in diese Länder und der nationalen Durchsetzung von Sicherheitskontrollen zusammenarbeiten. Zweitens werden wir in der OECD Informationen über alle Aspekte unserer Wirtschafts-, Handels- und Finanzbeziehungen mit der Sowjetunion und Osteuropa austauschen. Drittens sind wir unter Berücksichtigung der bestehenden wirtschaftlichen und finanziellen Erwägungen übereingekommen, Finanzbeziehungen mit der UdSSR und anderen osteuropäischen Staaten vorsichtig zu handhaben, um sicherzustellen, daß sie auf einer gesunden wirtschaftlichen Basis gestaltet werden, einschließlich der Notwendigkeit kommerzieller Vernunft auch bei einer Begrenzung der Ausfuhrkredite. Die Entwicklung der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen unterliegt einer regelmäßigen nachträglichen Kontrolle.«

Der quasi selbstkritische Entschluß, in den Wirtschaftsbeziehungen zum »Ostblock« fortan »kommerzielle Vernunft« walten zu lassen – gerade so, als hätte es daran vorher gefehlt! –, enthält als seine stillschweigende Voraussetzung und gibt damit kund, daß die Bedingungen für eine »vernünftige« und »vorsichtige« west-östliche Geschäftstätigkeit gründlich revidiert worden sind. Die ökonomischen und politischen Sachwalter des Kreditüberbaus an die Notwendigkeit einer »gesunden wirtschaftlichen Basis« zu erinnern, heißt ja nicht, etwa einen Kampf gegen spekulativen Leichtsinn zu eröffnen, den es im Ostgeschäft auf westlicher Seite gewiß zu allerletzt gegeben hat. Daß die Kreditlinien, die westliche Geschäftsleute ihren östlichen »Partnern« einräumen, deren internationale Zahlungsfähigkeit so ausweiten, daß sie sie gefährden, war den Fachleuten und Praktikern, die immer nur ungern auf den östlichen Wunsch nach Kompensationsgeschäften eingegangen sind, doch nie ein Geheimnis – und aus gutem Grund nie ein Problem. Denn schon im normalen kapitalistischen Geschäftsverkehr, erst recht zwischen kapitalistischen Nationen – und schon gleich, wenn sich Schulden in Milliardenhöhe akkumulieren – werden Kredite nach allen Regeln der »kommerziellen Vernunft« nicht gegeben, damit sie nach pünktlicher Rückzahlung und Verzinsung wieder aus der Welt verschwinden. Schließlich sollen mit Krediten erweiterte Geschäfte in Gang gesetzt werden. Solange die gelingen, gebietet die »wirtschaftliche Vernunft« dem Gläubiger, mit seinen Krediten in diesem Geschäft drinzubleiben. Und dieses Gebot gilt allemal, wenn ein ganzer Staat sich verschuldet und seine Ökonomie vom Kredit anderer Nationen abhängig macht. Damit begibt dieser Staat sich nämlich auf den Weg, mit Land und Untertanen zu einem einzigen Großprojekt für fremdländische Investoren zu werden: zur dauerhaften Anlagesphäre. Die unmittelbare geschäftliche Nutzung einer Herrschaftssphäre und ihrer Leute bietet da die Gewähr für die wirtschaftliche »Gesundheit« auswärtiger Kredite in ziemlich beliebiger Höhe: Wie sollte eine Volkswirtschaft ihre Kreditwürdigkeit für westliche Geschäftsleute verlieren, wenn die selber dabei sind, diese Volkswirtschaft zur Unterabteilung ihrer eigenen Unternehmungen zu machen? Eben das soll nun allerdings fürs Ostgeschäft und die entsprechende Herrichtung der Länder des »realen Sozialismus« nicht gelten: So lautet die Botschaft, die der Versailler Weltwirtschaftsgipfel unter »Drittens« an seine Geschäftswelt gerichtet hat. Dieser ist kein (bloß) quantitativer Maßstab gesetzt, wenn von den Chefs ihrer Länder auf eine »vernünftige« »Begrenzung der Ausfuhrkredite« gedrungen wird, sondern eine prinzipielle Betrachtungsweise: der Abschied von der Kalkulation mit dem Ostblock als kapitalistische Anlagesphäre vorgeschrieben; Die Kredite schrumpfen damit ganz von selbst auf das Maß, in dem die Gläubiger mit einer nicht durch Kredit ausgeweiteten Zahlungsfähigkeit ihrer Schuldner rechnen. Mehr noch: Die »kommerziell« einzig »vernünftige« Parole lautet unter dieser neuen Voraussetzung, sich an den Schuldnerländern nach Kräften schadlos zu halten; denn wenn es einmal nicht mehr um die Ausweitung der »realsozialistischen« Staatsschulden im Westen geht, dann steht ja tatsächlich deren Begleichung an und damit eine ganz neue, sonst nur aus Konkursverfahren bekannte Konkurrenz der Kreditgeber. Sehr logisch fügt sich so der unter »Zweitens« mitgeteilte Beschluß ein, diese Konkurrenz nicht einfach über die Ausplünderung des jeweiligen Schuldnerstaates abzuwickeln, sondern zugleich untereinander in dieser Frage »in Fühlung« zu bleiben.

Der Zweck des Ganzen ist unter »Erstens« sowie mit dem Verweis auf die »politischen und sicherheitspolitischen Interessen« der Gipfelstaaten deutlich genug – und doch erst nur zur Hälfte angegeben. Hinreichender Grund dafür, nicht länger auf eine über den Kreditüberbau voranschreitende Subsumtion der östlichen Planwirtschaften unter den Akkumulationsprozeß westlicher Kapitale zu setzen, ist die mit dem bloßen Verweis auf Polen hinreichend belegte Tatsache, daß der feindliche Block trotz allem nicht gewillt ist, die politische Identität aufzugeben, um derentwillen die NATO ihn zum Feind und Sicherheitsrisiko Nr. 1 erklärt hat. Gelogen ist es allerdings, wenn der Beschlußtext so tut, als ginge es bei der neu erweckten sicherheitspolitischen »Vorsicht« bloß um das unschuldige Anliegen, dem Feind nicht auch noch die technischen Möglichkeiten und ökonomischen Mittel für eine erfolgreiche Fortführung seiner Gegnerschaft zu überlassen bzw. zu beschaffen, noch dazu auf Pump.

Volkswirtschaften, deren Subsumtion unter die Erfordernisse und Forderungen erfolgreicher Kreditgeschäfte des Auslands mit ihnen schon so weit fortgeschritten ist wie im Falle der meisten »Ostblock-Länder, mit der Aussicht auf die – und das heißt in diesem Geschäftszweig: mit der – Beendigung ihres Kredits zu konfrontieren, bedeutet nicht das Ende der »Hilfe«, sondern läuft auf die Lahmlegung ganzer Branchen, eine der Plünderung der letzten Reserven gleichkommende Erpressung mit der drohenden Zerstörung der gesamten Nationalökonomie und einer schweren Schädigung des gesamten gegnerischen Wirtschaftsbündnisses hinaus. Dies um so mehr, als es sich bei den für kreditunwürdig erklärten Schuldnern nicht um kapitalistische Unternehmungen handelt, deren Schädigung nach allen Regeln der Krise und ihrer Bewältigung über Konkurs und Kapitalentwertung zum Ruin der Arbeiter und zur Neueröffnung des Geschäfts unter geänderten Konditionen führt, sondern um eine »Planwirtschaft«, die ihre Betriebe auf die Erfüllung festgelegter Ertragsziele verpflichtet, davon auch abhängig macht und so die ruinöse Verallgemeinerung jeder von außen bewirkten Schädigung garantiert.

Daß die Teilnehmer des Weltwirtschaftsgipfels in Versailles sich über diese Wirkungen ihres Beschlusses getäuscht, die Ideologie vom Kredit als Hilfe ausgerechnet im Falle der Sowjetunion und ihrer Verbündeten ernstlich geglaubt haben sollten, ist kaum anzunehmen. Dem amerikanischen Präsidenten jedenfalls muß die Schädigung der Sowjetunion als Zweck des Beschlusses klar genug gewesen sein; mit dem Verbot, Bohr- und Transportgerätschaften für die Realisierung der Erdgaslieferkontrakte der Sowjetunion mit Westeuropa und Japan zu liefern, Patente und Lizenzen dafür zu nutzen, hat er den folgerichtig nächsten Schlag gegen die internationale Zahlungsfähigkeit des »realsozialistischen« Gegners geführt. Und die Beschwerden der betroffenen Partner, die USA handelten damit gegen die Vereinbarungen von Versailles, lassen nichts von der enttäuschten Gutgläubigkeit naiver Freunde erkennen – dafür um so mehr diplomatische Heuchelei vom Standpunkt der geschädigten Erfüllungsgehilfen, die zum wenigsten auf einer allmählichen Liquidierung ihres Ostgeschäfts ohne allzu große Abschreibungsverluste bestehen. Die Dummheit der »Argumente«, die in dem anschließenden bündnisinternen Streit um Berechtigung und Nutzen von über die neue Kreditpolitik hinausgehenden Boykottmaßnahmen des Westens ausgetauscht wurden – die amerikanischen Getreideverkäufe an die Sowjetunion, von westeuropäischen Politikern und Kommentatoren als verräterische Inkonsequenz im harten Kurs der US-Regierung gerügt, werden von amerikanischer Seite mit dem Verweis auf den Schaden gerechtfertigt, der dem Feind aus einem direkten Geldabfluß für bloß konsumtive Zwecke erwüchse; mit der umgedrehten Rechnung, die Sowjetunion hätte kaum eine Chance, ihrer Deviseneinnahmen aus dem Erdgas-Röhren-Geschäft mit Westeuropa und Japan recht froh zu werden, wird seitens der europäischen Partner das Festhalten an diesem Unternehmen begründet, das eine letzte Chance auf eine reguläre Schadloshaltung für die von Verfall bedrohten Milliardenkredite an den »Ostblock« bietet –, bezeugt denn auch deutlich genug, daß es dabei in der Sache um nichts anderes geht als um unterschiedliche Strategien und die entsprechende Verteilung der Unkosten eines schrittweise eskalierten Wirtschaftskriegs gegen das feindliche Bündnis. Unterdessen bemüht sich die Sowjetunion um die selbständige Fertigung der nötigen Turbinen und Röhren, weil sie mit dem Schlimmsten rechnen muß. Und die Streitigkeiten unter den westlichen Partnern gehen munter weiter, bis ihr Gegenstand zur allgemeinen Selbstverständlichkeit geworden ist und die nächste Eskalation in der Hauptsache vereinbart wird – deren Durchsetzung erfolgt dann über erneute Zwistigkeiten. Von den Chancen des Osthandels redet dann niemand mehr.

5. Polen: Eine Fallstudie über die Segnungen von Osthandel und »Entspannung«

1. Hätten die polnischen Arbeiter bei ihrem Aufstand gegen ihre revisionistische Staatsgewalt konsequent auf ihren Lebensstandard geachtet, sie hätten sich auf alle Fälle eines erspart: die berechnenden Sympathien der »freien Welt«. Sie hätten ja glatt einige ziemlich prompte Umstellungen in Sachen Export von Lebensmitteln und Kohle durchsetzen müssen; um die Planung ihrer Wirtschaft, einschließlich des hartnäckigsten Refugiums kleinbäuerisch-vorkapitalistischer Warenproduktion, des Agrarsektors, wären sie nicht herumgekommen; sie hätten praktisch ernst machen müssen mit dem Spruch, den nun ausgerechnet die politischen Repräsentanten eben jenes Kapitals im Munde führen, deren Krediten die polnische Staatsführung sich so bedingungslos verpflichtet weiß: die Polen wären »selbst in der Lage, mit ihren« – eben: mit ihren »Problemen fertigzuwerden«. In praktischer Nutzanwendung mancher guter Ratschläge Lenins hätten sie sich so, notgedrungen, der materiellen Grundlage eben jener Staatsgewalt bemächtigt, die Land und Leute so komplett politisch an den Osten, ökonomisch an den »freien Westen« verpfändet hat und nie ein Problem damit hatte, beiden Verpflichtungen abwechselnd und gleichzeitig gerecht zu werden – unter Einsatz ihres Proletariats als Manövriermasse. Nicht nur dem »Ostblock« wäre ein ausnutzbares Volk abhanden gekommen; auch im »freien Westen« hätten sehr rasch die auch jetzt schon immer mal wieder laut gewordenen Beschwerden über eine zu große »Streiklust« der Polen und eine deswegen zu geringe Zuverlässigkeit der polnischen Geschäftspartner die begeisterte Kampfberichterstattung von den Gottesdiensten an der Streikfront abgelöst. Die Care-Pakete westlicher »Hilfsorganisationen« – bei denen man immer so aufpassen muß, daß keine polnischen Billigkonserven aus dem Supermarkt dazwischengeraten – wären weder nötig noch willkommen gewesen; aufgeklärte polnische Grenzbeamte hätten sie gleich an die rührenden westdeutschen Großbanken umadressiert – drum wären sie auch gar nicht erst abgeschickt worden. Kurzum: Es wäre eine Revolution daraus geworden! Ein Exempel für jenen »Dritten Weg«, der auf gar keinen Fall und von keiner Seite erlaubt ist, weil er die stillschweigende, bei aller Ungleichgewichtigkeit doch einvernehmliche »Arbeitsteilung« zwischen dem Imperialismus und seinem in jeder Hinsicht so passenden Hauptfeind in der Benutzung der Welt angreifen würde.

In Wirklichkeit haben die polnischen Arbeiter mit ihrem Aufstand zu ihrem Schaden ein weiteres Beispiel dafür geliefert, wie wenig verbreitet der Materialismus gerade unter den Opfern von Ausbeutung und Staatsgewalt ist – im Gegensatz zu denen, die die drückende Verantwortung für das Gelingen von Gewalt und Ausbeutung tragen. Materielle Not bei gleichzeitiger ausgiebiger Benutzung ihrer Arbeitskraft in den Kohlengruben, Werften, Traktorfabriken usw. der Nation – es ist ja keineswegs so, daß es Polen an Produktionsmitteln fehlte: irgendwo stehen ja die Sachen herum, die das Land zur zehntgrößten »Industrienation« der UNO-Statistik machen! – war ihnen nicht mehr und nicht weniger als ein Anlaß, ihren moralischen Nationalismus gegen die eigene Regierung und deren offizielle auswärtige Garantiemacht zu mobilisieren. Als guten Katholiken, die es für den zweitgrößten Ehrentitel der Jungfrau Maria halten, die insgeheime »Königin Polens« zu sein, ist diesen Volksgenossen die Unterscheidung zwischen der staatlichen Gestalt und einer eingebildeten »wahren Natur« ihrer Nation geläufig und die in jedem halbwegs intakten Nationalstaat strikt verbotene Vorstellung vertraut, es gäbe einen Auftrag und ein Recht des polnischen Volkes über den politischen Programmen der Staatsgewalt – die schon allein deswegen den Geruch der »Fremdherrschaft« nie ganz los wird. Vom Standpunkt dieser Ideologie aus wird ein Mangel an wichtigen Volksnahrungsmitteln ohne Zweifel etwas sehr Ehrwürdiges, nämlich ein Beweismittel für das Versagen der Regierung vor dem Ideal eines besseren, weil wahren, weil ganz nationalen und ganz frommen Polen, und eine Revolte dagegen ebenfalls etwas höchst Würdevolles, nämlich ein Kampf um die tiefere Bedeutung von Schweinefleisch und Mastgänsen. Vom Standpunkt der zu beseitigenden Not aus betrachtet ist diese national-moralische Verklärung eines materiellen Anliegens allerdings höchst fatal; denn fortan dreht sich der Streit mit der Staatsgewalt sehr folgerichtig nicht mehr um ihre Beseitigung, sondern um ihre Interpretation. Schon im Kampf um ihre Zulassung als autonome Gewerkschaft ist es der aufständischen Arbeiterbewegung um nichts so sehr gegangen wie um Eingeständnisse von Fehlern und Verfehlungen auf Regierungs- und Parteiseite, um die Entlarvung und Entfernung von der Unfähigkeit und Korruption verdächtigen Figuren; durchaus handfest und radikal wurde im Namen des wahren nationalen Heils die Schuldfrage bezüglich der gegenwärtigen Kalamitäten gestellt und entschieden. Und darin hat die revisionistische Staatsführung, obwohl gerade dazu gezwungen, mit der Legalisierung der »Solidarität« ihre Lebenslüge von der praktisch hergestellten Einigkeit von Arbeitsvolk und sozialistischer Obrigkeit offiziell in Wort und Tat zu widerrufen, ihre Chance wahrgenommen. Das offenherzige Zugeständnis von jeder Menge »Mißwirtschaft«, die Preisgabe verhaßter Prominenz, die beschleunigte Zirkulation von höheren Partei- und Staatsämtern, das alles erbrachte den »Beweis«, daß Schuld und Sühne eine Sache, die ökonomischen »Sachzwänge« eine andere sind – allerdings so, daß die letzteren, die von den Sachwaltern der polnischen Ökonomie geschaffenen Notwendigkeiten, als unbedingt zu würdigende Tatsachen stehenblieben. Die rebellischen Arbeiter bekamen ihre Siegesfeier, einschließlich der nötigen Denkmäler für die Opfer, die alle großartigen »Freiheitsrechte« kosten, gleich im Anschluß an die Zulassung ihrer Gewerkschaft; sie bekamen sie in Form eines Hoheitsaktes, zu dem die Staatsführung zufrieden vermerken konnte, daß die »Zwischenfälle« ausblieben, auf die westliche Kamerateams so sehnsüchtig warteten; und sie honorierten diese »Selbstdemütigung« ihrer Obrigkeit mit sehr viel Verständnis dafür, daß die Akkumulation nationalen Reichtums inmitten des RGW und mit einem riesigen Schuldenberg aus dem so segensreichen Westgeschäft kostspielige Konzessionen an die Arbeiter verbietet, im Gegenteil mehr denn je durch den Angriff auf die Konsumtion des »werktätigen Volkes« zu bewerkstelligen sei. Die Alternativvorschläge, die der Gewerkschaftsführung dazu einfielen, blamierten sich nicht bloß durch ihre komplette Ahnungslosigkeit bezüglich der Voraussetzungen und Verlaufsformen beider Sorten Ausbeutung (»Wir wollen aus Polen ein zweites Japan machen!«), sondern waren überdies alle in der Voraussetzung mit der Regierung einig, daß bis auf weiteres um mehr Arbeit und größeren Mangel nicht herumzukommen sei, um Ruf und Rang Polens wieder zu festigen.

Dieses Einverständnis zum Schaden der Arbeiterklasse bedeutete andererseits keineswegs einen Friedensschluß zwischen der revisionistischen Staatsgewalt und ihrer ganz und gar systemwidrigen Opposition. Im Gegenteil: Eben weil der Streit um die bessere Sachwaltung der Interessen der polnischen Nation geführt wurde, und zwar zwischen einer Regierung, die ihre Macht der Tatsache verdankt, daß die polnische Souveränität ganz wesentlich auf einem sowjetischen Machtspruch sowie dem westlichen Interesse an einem regierenden Geschäftspartner beruht, und einer Opposition, die die gleichzeitige Abhängigkeit der polnischen Staatsgewalt von ihren Untertanen zur Geltung bringt, war sein Prinzip ein wechselseitiges Mißtrauen, das durch keinen denkbaren Kompromiß auszuräumen war. Und weil es der Gewerkschaft um das Freiheitsrecht ging, sich als Sprecher des polnischen Volkes anerkannterweise Geltung zu verschaffen, war auch von ihrer Seite her garantiert, daß die materiellen Anlässe für Unzufriedenheit und Aufruhr sich immer wieder erneuerten: auch sie hätte es ja, und zwar über alle »Flügel« hinweg, für einen Mißbrauch der ihr zugestandenen Freiheit gehalten, wenn sie diese kompromißlos zugunsten des proletarischen Lebensstandards benutzt hätte, und legte größten Wert einzig darauf, daß die Regierung vor jeder Maßnahme zur »Sanierung« Polens ihre Zustimmung einholte. Es war ein Kampf ohne klar definiertes Ziel, weder ein kompromißfähiger noch ein kompromißloser, den die »Solidarität« führte; oder anders: Der Streit selbst, die beständige formelle Infragestellung und Relativierung der Souveränität ihrer Regierung, das dauernde Neu-Aufwerfen der »Machtfrage“ in ihrer ganzen Abstraktheit war einziger Inhalt der Kämpfe, die die Gewerkschaft im ganzen Land ununterbrochen führte und die von Anfang an die gewaltsame »Rettung der Nation«, womöglich durch einen sowjetischen Einmarsch, auf die Tagesordnung setzten.

Dabei sollte man einem Gerücht allerdings keinen Glauben schenken, nämlich dem, es ginge bei all dem um eine von der Basis her ins Werk gesetzte, rundherum gelungene polnische Demokratie. Gewiß, um Freiheiten ist es einem katholisch-gewerkschaftlichen Aufruhr schon zu tun – in der ganzen negativen Bedeutung dieser Angelegenheit: Materialistisch will man nicht sein, auch wo man eine bessere Fleischversorgung und billigere Tabakwaren fordert, sondern ernsthaft gefragt werden, ob man die nationale Notwendigkeit des Fleischmangels und der Tabakbesteuerung auch autonom akzeptiert; Stolz und Anspruch auf Gerechtigkeit, nicht einfach Wohlergehen sind Grund und Zweck dieser Rebellion, die sich deswegen auch so leicht für die klassischen Ideale der bürgerlich-demokratischen Volkssouveränität gewinnen ließ. Bloß: Seit wann wäre das denn ein Merkmal durchgesetzter Demokratie, daß ein Volk seiner Regierung ständig mit seinem Mißtrauen in die Quere kommt, sämtliche legalen Personalentscheidungen über die betriebliche wie zivile Verwaltung effektiv kontrolliert und jederzeit zurückweisen können will, einseitige und tendenziöse offizielle Berichterstattung über wichtige Gewerkschaftsangelegenheiten mit einem Druckerstreik quittiert, die wichtigsten Herrschaftsmechanismen zur Disposition gestellt haben will? Der Parteitag der PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) Mitte 1981 wurde als unglaublicher Sprung von Kommunisten ins kalte Wasser innerparteilicher Demokratie kommentiert; bloß: seit wann wäre es denn beispielsweise auf den Parteitagen der demokratischen Parteien Westdeutschlands üblich, daß die Parteiführung durch das Kräfteverhältnis der verschiedenen Fraktionen nicht durchblickt und noch nicht einmal vorher feststeht, wer zum neuen Vorsitzenden gewählt wird? Seit wann werden denn Korruptionsvorwürfe gegen führende Staatsmänner und leitende Funktionäre einer staatstragenden Partei von einer freien demokratischen Öffentlichkeit nicht bloß kolportiert – schon das geschieht in liberalen bundesdeutschen Zeitungen nie ohne die ernste Mahnung, daraus dürfte aber um Gottes willen keine Unzufriedenheit entstehen, und der eigentliche Skandal sei die Gefahr, daß daraus ein Argument für »Staatsverdrossenheit« gemacht werden könnte! –, sondern bis zur »Bestrafung der Verantwortlichen« unerbittlich weiterverfolgt? Was wäre in einer Demokratie wie der bundesdeutschen denn fällig, wenn eine Gewerkschaft eigene Sendezeit im Fernsehen beanspruchen und ihrerseits die offiziellen Berichterstatter ausschließen würde; wenn Gerichtsurteile oder Regierungsverordnungen unter Streikdrohung zurückgewiesen würden; wenn auf Gewerkschaftstagen die Forderung nach Freilassung erklärter und »rechtskräftig verurteilter« Staatsfeinde laut würde? Schon ein Bruchteil des Widerstandes, den die »Solidarität« gegen die polnische Regierung praktizierte, hätte in einer funktionierenden Demokratie im Nu die Ausrufung des inneren Notstandes zur Folge gehabt – in Polen gab die aus ebenso guten Nationalisten zusammengesetzte Regierung teils nach, startete andererseits ihrerseits Offensiven gegen die Machtpositionen der autonomen Gewerkschaft, ließ sich also in einer Art nationaler Kumpanei mit ihrem Gegner in einer Situation, die in westlichen Ländern viel eher einem verantwortungsbewußten Offizierscorps den Plan eines Staatsstreichs zur Rettung der Nation eingegeben hätte, auf ein beständiges Hin und Her von Erpressung und Gegenerpressung mit ihrem oppositionellen Volk ein.

2. Daß unter westlichen Beobachtern der polnische Daueraufstand als ein Um-sich-Greifen demokratischer Verkehrsformen im Staat interpretiert wurde, hatte denn auch meist handfestere Gründe als eine sachgerechte »Lageanalyse«. Vater des Gedankens war der westliche Beschluß, die Schwierigkeiten, die die aufsässigen Polen ihrer Obrigkeit bereiteten, als weltpolitischen Hebel für die Sache der imperialistischen Demokratie zu benutzen. Die Auffassung, durch ausländische Kredite würde eine revisionistische Planwirtschaft in ihren Zielsetzungen gefördert, einst von rechtsdemokratischer Seite mit Hinweis auf die angebliche Erleichterung östlicher Aufrüstungsprogramme als erbitterter Vorwurf gegen das Geschäft ›Aussiedler gegen Leihkapital‹ vorgebracht, hat sich noch selten so massiv und offenkundig blamiert wie im Fall der Volksrepublik Polen. Für deren Nationalökonomie sind über 40 Milliarden Dollar Westschulden eine Last, deren pünktliche Verzinsung, geschweige denn vertragsgemäße Tilgung nur noch durch neue Schulden zu bewältigen ist. Nach den Kriterien des internationalen Geschäftsverkehrs wäre hier eigentlich längst eine durchgreifende »Sanierung« nach IWF-Richtlinien fällig, die Fortentwicklung eines Landes von einem Kreditnehmer, der es auch mit partiell modernisierten Produktivkräften nicht zu einer effektiven Ausbeutung seiner Arbeiterklasse bringt, zur freien Anlagesphäre für Kapitale, die die werktätige Bevölkerung, einschließlich des rückständigen Bauernstandes, einmal gründlich aufmischen, in nützliche und unbrauchbare Fraktionen auseinandersortieren und aus der gesteigerten Armut einen unverhältnismäßig mehr gesteigerten akkumulationsfähigen Reichtum abpressen. Genau da stößt die ökonomische Logik allerdings auf die Schranke der politischen Zuständigkeiten. Polen ist nicht zu behandeln wie ein slawisches »Entwicklungsland«; selbst wenn eine polnische Regierung der ehemaligen sozialistischen Brudernation China auf diesem Weg folgen wollte, stünde hier der Anspruch der Sowjetunion im Weg, die Staatsgewalt in Polen für sich als Bündnispartner zu erhalten und nicht (vollends) zum politischen Sachwalter westlicher Geschäfte werden zu lassen.

Umgekehrt läuft das nun allerdings: Der polnische Schuldenberg ist per se eine weltpolitische Größe ersten Ranges. Einfach dadurch, daß die herrschenden weltpolitischen Zuständigkeiten seiner ökonomisch eigentlich »sachgerechten« Behandlung widersprechen, stellt er auch andersherum die definitive Zugehörigkeit Polens zum »sozialistischen Lager« materiell in Frage. Mit ihrer »großzügigen« Kreditierung der polnischen Staatswirtschaft haben die imperialistischen Nationen tatsächlich in einem solchen Umfang ihren Reichtum zur Grundlage jenes Staates und seiner Ökonomie gemacht, daß deren weitergehende, auch politisch unwiderrufliche Funktionalisierung für eine gründliche westliche »Kapitalhilfe« eigentlich ansteht. Die Konsequenzen der Verhinderung dieses Übergangs sind entsprechend verheerend. Geradezu wie in einer kapitalistischen Krise, wo die Zahlungsunfähigkeit an einem Punkt die einer anschwellenden Zahl kreditsuchender und kreditierter Unternehmen nach sich zieht, bis die Produktion selbst an den Rand des Erliegens gerät, zieht in Polen der Mangel an Produktionsmitteln in dem einen Betrieb die Unverwendbarkeit der Produkte anderer, das Zurückgehen des Exports ein Ausbleiben unabdingbarer Importe und verschärften Mangel an Produktionsmitteln nach sich; bloß: während eine kapitalistische Krise die Startchance für die potentesten Kapitale ist, führt die Auflösung des staatlichen Wirtschaftsplans in Polen in gerader Richtung auf einen ökonomischen Zusammenbruch zu: den seltenen Zustand, daß vorhandene Produktionsmittel und Arbeitskräfte überhaupt nicht mehr zweckdienlich nach Maßgabe der nach wie vor herrschenden Zwecksetzungen zusammenzubringen sind. Die Gläubigerstaaten und ihre engagierten Geschäftsbanken behandeln Polen demgemäß wie einen Konkursbetrieb, lassen die Regierung ihr Geschäftsgebaren im Innern und ihre Geschäftsverbindungen nach außen rückhaltlos offenlegen – und nehmen mit der größten Kaltschnäuzigkeit, gewissermaßen als den hauptverantwortlichen Gesellschafter eines Bankrotteurs, die Sowjetunion als ökonomischen Bürgen der polnischen Zahlungsfähigkeit ins Visier. Ihre fortdauernde politische Zuständigkeit für die Zwecke und Vorhaben der polnischen Staatsgewalt muß die Sowjetunion sich so dadurch erkaufen, daß sie – allenfalls der Form nach noch als Kredit, in Wahrheit als auf immer verlorenen Zuschuß – mit ihren ohnehin viel zu knappen Devisenbeständen für jene Zahlungsverpflichtungen Polens einsteht, zu deren Stundung die westlichen Gläubiger sich nicht bereitfinden; daß sie mit massiven Hilfen aus ihren ohnehin zu knappen Lebensmittelbeständen die Fortführung des polnischen Agrarexports zur Begleichung fälliger Zinsen und Tilgungsraten ermöglicht; desgleichen mit Energielieferungen den Kohleexport usw. Und das alles noch nicht einmal mit dem Effekt, daß sie sich dadurch wenigstens die materielle Zuständigkeit für das ökonomische Schicksal ihres Bündnispartners zurückkauft, sondern nur, um die Präsentation der fälligen »Konkursrechnung« eine Zeitlang aufzuschieben – daß die polnische Nationalökonomie in absehbarer Zeit auch mit noch so starker sowjetischer Hilfe ihrem Schuldenberg gewachsen sein könnte, kann keiner der Beteiligten ernsthaft annehmen. So bleibt garantiert, daß allein der ganz geschäftsmäßig kalkulierte und bewerkstelligte ökonomische Vorteil westlicher Kapitale – Zinsen und Tilgungsraten werden ja nicht gestrichen, und westliche Kaufleute und Abnehmer setzen die höchst rentablen Geschäfte mit Billigkohle und Billignahrungsmitteln aus polnischen Landen so lange fort, bis es plötzlich unmöglich gemacht wird! – gleichzeitig eine politische Infragestellung und eine massive ökonomische Schädigung der sowjetischen Macht in ihrem osteuropäischen Zuständigkeitsbereich bewirkt; und die Kredite zur Umschuldung der polnischen Verpflichtungen tun ihre Wirkung als »Hilfe« für bleibende Instabilität.

3. Da die Politiker aus den Reihen der Partei eine Wiederherstellung des untertänigen Vertrauens zu ihren Regierungsfiguren nicht zustande brachten, haben die Militärs die »Konsequenz« gezogen und das Machtmonopol einer polnischen Regierung gesichert. Durch ihre Gewalt haben sie dem Machtkampf zwischen Staatspartei und Gewerkschaft, der zur Dauereinrichtung geworden war, ein vorläufiges Ende bereitet. Mit der Präsenz von Soldaten und Waffen an allen Ecken und Enden, durch die Internierung von Oppositionellen und die exemplarische Bestrafung von »Rädelsführern« ist es dem General Jaruzelski und den Seinen gelungen, für »Ruhe und Ordnung« zu sorgen. Die für die Parteien des realen Sozialismus so unverzichtbare »führende Rolle in Staat und Gesellschaft« ist damit an das Machtinstrument des Staates übergegangen; die Untertanen wurden unmittelbarer Gewaltanwendung ausgesetzt und erhielten das trostlose Versprechen von oben, daß ihnen das Diktat des Militärs genau in dem Maße erspart würde, wie sie es durch ihren Gehorsam überflüssig machten.

Mit diesem Schritt erklärten die Militärs den Versuch für gescheitert, über Ämterrotation und Zugeständnisse von allerlei Reformen das unbotmäßige Volk zu befrieden; einen Versuch, der zudem in Moskau nur Zweifel weckte an der Verläßlichkeit der polnischen Parteiführung. Sie reagierten damit auch auf die ökonomischen Störungen, die das Produktions- und Verteilungsgefüge so gut wie zum Erliegen brachten. Mit dem Hinweis auf einen drohenden russischen Einmarsch, der eine echt polnische Souveränität auf absehbare Zeit hinfällig machen würde, legitimierte Jaruzelski den Ausnahmezustand ebenso wie mit der Not des Volkes, die er dem »Chaos« zuschrieb, dem ein Ende bereitet werden müsse.

So sollte ausgerechnet durch das Kriegsrecht dem sowjetischen Sicherheitsbedürfnis und dem aufständischen Patriotismus Genüge getan werden; ausgerechnet die Unterdrückung sollte als Gewähr für künftige Versorgung mit dem längst nicht mehr vorhandenen Notwendigen wirksam werden! Warum aus diesem Vorhaben nichts geworden ist, dafür aber aus Polen ein »weltpolitischer Krisenfall« und »Konfliktherd«, ist angesichts der Beteiligten nicht schwer auszumachen.

Zunächst einmal leidet die Betörung des eigenen Volkes durch die Ausrufung des Ausnahmezustandes einigermaßen darunter, daß das Volk unter dem Kriegsrecht leidet und nichts mehr darf. Überzeugend ist daher auch nicht der Verweis darauf, daß immerhin ein General des eigenen Militärs, also ein Pole, den Zwang verabreicht – spätestens seine erste diplomatische Begegnung mit der sowjetischen Regierung gilt als Beweis dafür, daß er den Einmarsch der allen Patrioten so verhaßten Schutzmacht nicht verhindert, sondern ersetzt hat. Als Statthalter der Gewalt gilt er, deren Wirken er überflüssig zu machen vorgibt.

Damit ist auch schon sein Scheitern in Sachen »Erneuerung« vorgezeichnet. Denn im Unterschied zu den Militärdiktaturen der freien Welt ist das Programm der »polnischen Rettung« per Gewalt angewiesen auf das Mitmachen des Volkes, und zwar auf ein Mitmachen durch Leistung. Es ist eben nicht damit getan, daß Polizei und Justiz für die Festsetzung von Oppositionellen sorgen – der polnische Staat beruht nämlich auf der ökonomischen Benutzung seines Volkes, von dessen Mehrprodukt er seinen Unterhalt wie den bescheidenen der Leute abhängig macht. Während so manche lateinamerikanische Diktatur Land und Leute den Bedürfnissen auswärtigen Kapitals und den dazugehörigen politischen Interessen unterwirft und dabei auf ein Gutteil ihrer Untertanen »verzichten« kann, was ihren Einsatz und ihre Erhaltung als Arbeitskräfte angeht; während solche Militärregimes für die von ihnen gesicherte Ordnung in ihren nationalen Armenhäusern wie für ihre strategischen Dienste von demokratischen Wirtschafts- und Militärmächten Kredit und Waffen erhalten, ist Polen eine Nation, die von der in ihr stattfindenden Reichtumsvermehrung lebt. Auf der Grundlage seiner Produktion ist Polen sowohl Partner des RGW als auch des osthandelnden Westens. Und um die Brauchbarkeit dieser Grundlage ist es den Militärs zu tun, wenn sie zur »wirtschaftlichen Reform« aufrufen. Für notwendig befinden sie den geregelten Gang des Arbeitslebens in ihrem Land, weil anders keine der außenwirtschaftlichen Verpflichtungen einzuhalten ist und mit dem Stocken der internationalen Beziehungen umgekehrt einiges an Mitteln fehlt, um auch nur die elementarste Versorgung der einheimischen Betriebe zu gewährleisten. Für die Unlösbarkeit dieses Zirkels steht mit äußerst gutem Gewissen der freie Westen ein, von dessen Wohlwollen das Gelingen des Notstandsprogramms nach Jahren gedeihlichen »friedlichen Austausches« abhängt. Denn die außenhandelsbeflissene Verwendung von Konsumtionsmitteln – die als »Versorgungskrise« den materialistischen Anlaß des Volkszorns lieferte – und Bodenschätzen und die »Modernisierung« der polnischen Produktion durch Importe aus dem Westen haben eben dafür gesorgt, daß Polen auf westliche Kredite ebenso angewiesen ist wie auf die Einfuhr von Maschinenteilen und Werkstoffen. Da es die erforderlichen Produktionsmittel nicht bezahlen kann und bereits über eine ansehnliche Schuldenlast verfügt, sieht sich das Land mit den Berechnungen seiner westlichen Partner von gestern konfrontiert, die sich gewaschen haben.

Mit der geballten Freiheitsliebe von Menschenrechtskämpfern beobachten westliche Pressemannschaften den vergeblichen Versuch, den der General da zur Rettung der Nation unternimmt: ein Militärregime geht das von ihm geschundene Volk um vertrauensvolle Zusammenarbeit an, eine »Junta« heischt nach Zustimmung und Mitwirkung in Sachen nationaler Eintracht! Seit den ersten Tagen des Kriegsrechts weiß der oberste Kriegsrechtsherr samt seinen Getreuen öffentlich, daß ohne die »Solidarität« – und das sind viele – kein Staat zu machen geht, keine »Erneuerung« läuft; so daß für den Fall, daß mit ihr auch nichts geht, die Konsequenz ihrer Ausschaltung in Aussicht steht. Um die Gewerkschaft wird geworben mit dem Angebot, ihre Politik werde gemacht soweit wie möglich – falls sie das zugestandene Existenzrecht nicht dazu mißbrauchen würde, Streikaktionen zu unternehmen, »die die Wirtschaft schwächen oder ausschließlich politische Ziele verfolgen«. Alle nur erdenklichen Konstruktionen werden vorgeschlagen, um eine konstruktive Beteiligung von Leuten herbeizuführen, die der Kirche und Gewerkschaft verbunden sind. Regimefeindliche Demonstrationen werden zumeist »tolerant« behandelt, selbst wenn sie nicht einmal den – in Demokratien übrigens gar nicht harmlosen – Anmeldepflichten und Auflagen nachkommen. Westliche Journalisten dürfen über Techniken und Personal der Zensur kilometerlange Filmstreifen drehen, die dann im Ausland mit empörtem Tonfall als Belege für das »bedrückende Klima« vorgezeigt werden. In bezug auf die Zustände in den Internierungslagern tun sich die Verfasser von Schreckensnachrichten offensichtlich schwer, den angestrebten KZ-Effekt zu erzielen. Schach und Halma spielende Gefangene – die zwar alles andere nicht dürfen – sind nämlich mit der prinzipiellen Wucht der Kritik, auf die es so sehr ankommt, kaum zu vereinbaren. Die Vorführung polnischen Unrechts soll ja immerhin die jedermann einsichtige »Begründung« für die praktischen Schritte liefern, durch die die Sachwalter der Freiheit ihr eigentümliches Interesse an Polen geltend machen.

4. Und das liegt nun einmal nicht in der selbstgenügsamen Beschwörung des Gefühls des Mit-Leidens, wie es Ronald Reagan in einer »Polen-Tag« genannten Gemeinschafts-Show mit Frank Sinatra und Helmut Schmidt so vortrefflich demonstrierte. So wie die ersten Tage des Arbeiteraufstandes als Erfolg der eigenen Sache im Lager des weltpolitischen Gegners gefeiert wurden – was schon damals nicht zu verwechseln war mit einer Meldung über den Erfolg polnischer Arbeiter –, galt es nun, die Destabilisierung Polens in die größtmögliche Schädigung zu überführen. Der Kredit, um den polnische Emissäre im Westen nachsuchten, wurde mit dem Hinweis auf das Militärregime ausgeschlagen. Dem Osten wurde beschieden, das nötige Geld zur Tilgung der Schulden zusammenzukratzen; und aus dem Anspruch, die Sowjetunion hätte für ihren ruinierten »Satelliten« zu haften, wurde das Recht auf» Bestrafung der Sowjetunion“.

Einer Beteiligung an der »Rettung Polens«, wie sie General Jaruzelski im Auge hat, wollen sich westliche Regierungen auf keinen Fall schuldig machen. Was ihnen bei verbündeten Nationen so locker gelingt – die Mahnung zu einer »Rückkehr zur Demokratie«, die Hoffnung auf des Volkes »Reife« für dieselbe, die »Vorsicht« bei Repressionen, die doch allemal das gebeutelte Volk nur noch härter treffen würden –, scheint ihnen im Falle Polens nicht am Platze. Hier weiß man den Gegensatz von Volk und Staat zu würdigen. Einerseits hat man in den weltwirtschaftsbeflissenen Kreisen der EG durchaus Vorstellungen darüber auf Lager, wie aus Polen eine dauerhafte Anlagesphäre zu machen wäre – eben nach dem Muster anderer verschuldeter Staaten, deren Bilanzen den Übergang zur Betreuung ihrer Wirtschaft durchs kapitalkräftige Ausland eröffnen. Andererseits lassen sich dieselben Leute von ihren Perspektiven durch amerikanische Bedenken genauso schnell wieder abbringen, wie sie ihre Pläne vom Einbau Polens in die Kreditlinien des IWF kundgetan haben. Der diesbezügliche Antrag, von Polen selbst gestellt, wurde abschlägig beschieden – eine echte »Öffnung« des Landes schließt eben eine andere Sorte Regierung ein, die der Freiheit des Kapitals keine Hindernisse in den Weg legt und sich von den Verpflichtungen innerhalb östlicher Bündnisse lossagt. Also lautet der Beschluß: »Keine Kooperation mit dem Militärregime!«, und der angerichtete Schaden ist erheblich.

Von einem insolventen Land, das im ersten Geschäftsjahr unter dem Militärregime um die 10 Milliarden Dollar für den Schuldendienst an den Westen zu entrichten hat, zu verlangen, es möge die für die bloße Kontinuität seiner Produktion notwendigen Importe bar bezahlen, gilt da plötzlich als enorm vernünftig. Die Umschuldung der fälligen Zahlungen wird »in Schwebe gehalten«, die Gewährung neuer staatlicher Kredite oder Bürgschaften für nicht opportun erachtet. Aufgrund solcher politischer Maßgabe schließt der legendäre Spürsinn der Bankiers auf ein ungewöhnlich hohes Risiko; man »verzichtet« auf die Vergabe von Überbrückungskrediten. Zur Behinderung der Produktion für Exporte, deren Erlös man zugleich einfordert, kommt es nicht nur in Branchen der polnischen Industrie, die auf den Kauf von Rohstoffen, Halbfertigwaren und Ersatzteilen angewiesen sind; an der Versorgung mit Futtergetreide wird ebenso gedreht wie an den Fischereirechten – und daß die Ernährung und Gesundheit der Bevölkerung darunter leidet, wird keineswegs verschwiegen in den Medien der freien Presse. Die Veröffentlichung des zielstrebig erzeugten Elends soll ja als gutes Argument dafür gelten, daß Bundesbürger Päckchen nach Polen schicken und den Mut der Verzweiflung am Leben halten; der darf den Geschenken westlicher Untertanen ebenso entnommen werden wie die Botschaft, daß es sich lohnt, so wie im Westen regiert zu werden. Zufrieden stellen die professionellen Heuchler der freien Welt fest, daß die Botschaft ankommt und den ungeliebten Herrschaften drüben effektiv jede Möglichkeit genommen wird, ihr edles Volk mit einem »Gulaschkommunismus« zu bestechen – ein »Angebot«, es von seiner Arbeit leben zu lassen, wie recht und schlecht auch immer, kann der General nicht unterbreiten.

Die Entwicklung Polens zum kostspieligsten Schadensfall in der Geschichte des realen Sozialismus, ausgelöst durch einen patriotischen Arbeiteraufstand und vollstreckt durch dessen konsequente Ausnutzung auf seiten des freien Westens, ist inzwischen zum bleibenden Bestandteil des Ost-West-Gegensatzes geworden. Kein Ansinnen der Sowjetunion im Streit der Großmächte wird von den USA mehr respektiert, kein Angebot in anderen Konfliktpunkten mehr »gewürdigt« ohne den diplomatischen Hinweis auf Polen. Erstens hätten sich die Russen nicht einzumischen, zweitens sei jedes Entgegenkommen sowie die Fortsetzung von Verhandlungen und Geschäften aus vergangenen Tagen der »Entspannung« an die Aufhebung des Kriegsrechts in Polen gebunden. Die Erfüllung dieser Forderung hat deren Urheber dann auch in keiner Weise befriedigt, sondern maßlos enttäuscht; zumal die Liquidierung der »Solidarität« ohne die erhoffte Neubelebung des Aufstandes über die Bühne gegangen ist.

Dennoch will der gesamten freien Presse nicht auffallen, was sich da zwischen Ost und West abspielt – auf das Gedankenexperiment, was wohl los wäre, würde sich die Sowjetunion eine ähnliche Politik mit dem Hinweis auf die im Amt befindliche Klientel des CIA leisten, kommt eben nicht so leicht jemand, der weiß, wie sich die Aufgaben der Weltpolitik (Friedenssicherung und Wohlverhalten) zu verteilen haben!

Vielmehr bewundert man höchstförmlich den Entschluß der Weltmacht Nr. 1, sich für Polen zuständig zu erklären und endlich das »Recht« der Weltmacht Nr. 2 auf einen Block zu bestreiten. Das »Blockdenken« kommt per Diskussion in den Ruf, überholt zu sein; kein maßgeblicher Politiker in Europa und den USA versäumt es, sich über die Ergebnisse von Jalta zweifelnd-kritisch zu Wort zu melden, und sekundiert von zahlreichen Prominenten der schreibenden Zunft polemisieren sie gegen die »Unveränderbarkeit« von Grenzen. Dabei ist ihnen sehr wohl bewußt, daß sie Polen zum potentiellen casus belli erklären und einen Beitrag zur weltpolitischen Perspektive der achtziger Jahre liefern, die im Zeichen der »Sicherheit« – durch Aufrüstung – steht...

6. Zwei Kriege des Sommers 1982

Von der Aufrüstung der NATO behaupten ihre Liebhaber, sie würde mit ihren, d.h. »unseren« Interessen auch »den Frieden« sichern. Diese Leistung pflegen sie auch ohne Bedenken mit den nun fast vier Jahrzehnten Weltfrieden seit dem Zweiten Weltkrieg zu belegen. Ein Beleg ist dieses Verfahren schon – aber nur dafür, daß Tatsachen offenbar nicht geeignet sind, Ideologien zu entkräften oder gar ihre Preisgabe zu bewirken. Denn Kriege haben während der fraglichen Zeit reichlich und in verschiedensten Größenordnungen stattgefunden, und Waffen wie Soldaten von Partnerstaaten der NATO waren auch ausgiebig beteiligt. Neben der Führungsmacht USA haben sich durchaus auch die Staaten der zweiten und dritten Garnitur des Potentials an Gewalt bedient, das sie im Rahmen des Bündnisses und seines Hauptanliegens anhäufen durften oder zur Verfügung gestellt bekamen. Neben Korea- und Vietnam-Krieg gab es da die Einsätze von England und Frankreich immer dann und dort, wo die speziellen nationalen Interessen auf die Erhaltung einer kolonialen Dependance zielten, und selbst Griechenland und die Türkei waren nur aufgrund ihrer NATO-Zugehörigkeit in der Lage, sich wegen ihrer speziellen Anliegen in Sachen Zypern einen Krieg zu liefern. Von den vielen Stellvertreterkriegen in der »Dritten Welt« ganz zu schweigen. Heute, da unter der Losung der »Kriegsgefahr« die NATO-Strategen in jeder Ecke der Welt die ihnen genehmen Staaten mit den Mitteln ausstatten, die ihnen für die Erfüllung einer regionalen militärischen Aufgabe dienlich sind, floriert nicht nur das Kriegsgeschäft; die Möglichkeiten des internationalen Waffenhandels, der die Nationen unterschiedlichster Bedeutung in der Weltwirtschaftsordnung mit Gewaltmitteln versieht, werden von deren Politikern auch immer für die besonderen Vorhaben genutzt, die sie für ihre Nation als zuträglich erachten.

1. Argentinien, ein Staat, der an den Idealen der Demokratie gemessen der westlichen Welt kaum zur Ehre gereicht, hat nicht nur als nützlicher Handelspartner das dauerhafte Interesse der NATO-Mächte auf seiner Seite gehabt. Die USA haben die regierenden Militärs auch für wert befunden, mehr zu sein als ein Staat mit Export und Import, Schulden und Inflation, eine Anlagesphäre mit ganz viel Ordnung im Innern, was so manchen Oppositionellen das Leben gekostet hat. Im Zuge der antikommunistischen Formierung der Staaten, die vom freien Westen als »Entwicklungsländer« gehandelt werden, hat die »Waffenhilfe« Vorrang vor der »Kapitalhilfe« erhalten – und Argentinien wurde zu einem Bollwerk gegen die »kommunistische Subversion« in Lateinamerika ausersehen. Die argentinische Regierung hat diesen Auftrag wahrgenommen und sich auch prompt für die Beilegung der zu Carters Zeiten angezettelten Menschenrechtsvorbehalte erkenntlich gezeigt. Mit der Ausbildung und militärischen Unterstützung salvadorianischer Regierungstruppen wie nicaraguanischer Regierungsgegner hat sie die ihr zuerkannte weltpolitische Nützlichkeit wahrgenommen und die Rolle einer südamerikanischen Ordnungsmacht übernommen. Als solche hat das argentinische Militär die Freiheiten des internationalen Waffenhandels über die Bedürfnisse der Bekämpfung innerer Feinde und der »Sicherung der Grenzen« hinaus für sich zu nutzen gewußt – und, im Sinne seiner offensichtlichen Bedeutung in der maßgeblichen Staatenwelt, einen Krieg angezettelt. Den alten nationalen Anspruch auf die Malvinas haben die Staatslenker Argentiniens zu einem Recht erhoben, indem sie Gewalt einsetzten; freilich nicht ohne auf die Duldung und die Anerkennung der militärisch gesetzten Fakten durch die USA zu spekulieren. Sollte sich eine den USA treu verbündete Macht nicht auch einmal das herausnehmen dürfen, was anderen Nationen zugestanden wird: die Bündnisverpflichtungen als Garantie für die selbstbestimmte Größe der eigenen Nation zu behandeln?

Das Pech Argentiniens bei seiner Aktion bestand allerdings bei dieser Kalkulation darin, daß es nicht, wie etwa Israel oder Südafrika oder die traditionellen Westmächte bei den meisten ihrer kriegerischen Unternehmungen, auf einen Kontrahenten gestoßen ist, der NATO-offiziell schon halb oder ganz zum Feind der Freiheit gestempelt war. Mit England stand ihm eine NATO-Großmacht gegenüber, die in ganz anderen strategischen Größen ihre nationalen Interessen in der atlantischen Gemeinschaft verwirklicht. Ein solcher Staat läßt seine Souveränität, sein Hoheitsrecht nicht einfach in Frage stellen, sondern setzt sich mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln zur Wehr. Wie es sich in der heutigen Diplomatie gehört, vollzogen britische Soldaten einen Akt der Wiederherstellung gebrochenen Völkerrechts, als sie dafür sorgten, daß auf den Falkland-Inseln wieder die britische Flagge weht. In bezug auf diese hohe Aufgabe ist auch kein Wort der Kritik laut geworden; denn das Prinzip des Respekts gegenüber den Interessen einer Nation, des dazugehörigen Rechts, diese Interessen zu verteidigen, und des Einsatzes von militärischer Gewalt hierfür ist sakrosankt. Daß dieses Prinzip von politischen Führern sämtlicher Staaten, je nach den Interessen, die sie zu verteidigen haben, in die Tat umgesetzt wird und Krieg bedeutet – das wollte allerdings die demokratische Öffentlichkeit dem »Konflikt« nicht entnehmen. Vielmehr verstieg sie sich in allerlei fachmännisch-bedenklichen Kommentaren zu der Mutmaßung, daß dieser Krieg jetzt und aus diesem Anlaß einerseits »unnötig« und deswegen andererseits auch ein Beleg für das »Versagen der Politik« sei. Diese seltsame Manier, ein offensichtliches Werk politischer Entscheidungen für die mißlungene »Suche nach Lösungen« anzusehen, gerät um so mehr zur Rechtfertigung, je mehr Argumente für die »Distanzierung« vom Geschehen zusammengetragen werden.

Da wollten die kundigen Beobachter der Szene die argentinische Besetzung der Inseln mit der Not der Regierung erklären, von »innenpolitischen Schwierigkeiten« abzulenken. Man wagt gar nicht zu fragen, welche Sorte »Unzufriedenheit« oder gar »Opposition« da vorliegt, wenn sie ein Militärregime dadurch beschwichtigen kann, daß es seinem Volk einen Krieg oder – in den ersten Tagen – die Eroberung eines Fleckens Territorium beschert! Doch der demokratisch geschulten Interpretationskunst scheint in einem Punkt Genüge getan zu sein – die Vorstellung aus demokratisch regierten Breiten, die Herrschaften in der Regierung müßten sich an den Ansprüchen ihrer Untertanen orientieren oder gar beschränken, war ausgeplaudert und auf ein Militärregime übertragen, das sich gerade ein paar Monate lang in der blutigen Niederschlagung jedes alternativen Nationalismus bewährt hatte.

Kaum war die britische Flotte in Marsch gesetzt, setzte bei denselben Leuten die Frage nach dem Nutzen erneut ein, diesmal mit Blick auf England. Und siehe da, das »öde Eiland« wurde nicht für wert befunden, Krieg zu führen. Für »sinnvolle Kriege« sieht der friedenspolitische Sachverstand lohnende Objekte vor! Deshalb eröffnete sich die Entdeckung, daß es bei der britannischen Heerfahrt »nur« um die »Ehre der Nation« gehen könne, nicht aber – ganz als ob das einen Krieg so richtig »sinnvoll« mache – um materiellen Gewinn. Politiker und Journalisten, die ansonsten auf die intakte Handlungsfreiheit einer Regierung nichts kommen lassen, weil sie in ihr die Bedingung für die Betätigung aller ihnen heiligen Interessen »der« Gesellschaft feiern, vermissen plötzlich einen in Pfund und Dollar zu beziffernden ökonomischen Dienst, wenn geschossen wird! Daß sich in der »Ehre der Nation« sämtliche Interessen zusammenfassen, für die eine souveräne Gewalt den Weg bereitet, die sie »verteidigt« und auf deren »Sicherheit« sie ihre Untertanen verpflichtet, wird da glatt vergessen! Wo die Staatsgewalt für die »Ehre der Nation« eintritt und ein Ereignis zum Grund erklärt, sie zu »retten« oder »wiederherzustellen«, emanzipiert sie sich eben von den Nutzenkalkülen, die im übrigen von den Kritikern bei den Kosten der Bundeswehr auch nicht eröffnet werden! Und das nicht, weil der höchsten Gewalt dieses Kriterium für das gesellschaftlich Nützliche fremd wäre, sondern gerade umgekehrt: Weil sie diesem Kriterium Gültigkeit verschaffen, dem geschäftsmäßigen Nutzenkalkül der eigenen nationalen »Wirtschaftssubjekte« zum Erfolg verhelfen will und dafür sich selber als Bedingung weiß und erweisen will, deswegen läßt sie die entsprechenden Rechnungen für sich nicht gelten. Als Voraussetzung und Sachwalter jedes Materialismus, so wie ihre Gesellschaft ihn kennt und wie sie ihn anerkennt, beansprucht und praktiziert eine moderne souveräne Staatsgewalt einen Materialismus, der nicht von der bestimmten und begrenzten Natur ist wie die geläufigen Geschäftsinteressen, sondern schrankenlos – und das auf sehr zweckmäßige Weise. Im Inneren geht einer solchen Staatsgewalt nichts über ihr Gewaltmonopol; dessen Respektierung fordert sie, dessen Verletzung ahndet sie ganz jenseits jeder Rentabilität; gerade so behauptet sie ihre »Hoheit«, d. h. ihre schrankenlose Zuständigkeit und damit den nötigen »Freiraum« fürs Geschäftemachen. Nach außen sorgt ein rechtsstaatlicher Souverän sich ebensowenig um das Ergattern von Reichtümern; vulgärmaterialistische Kalkulationen, die einem modernen Staat einen Krieg um Öl zutrauen und deswegen einen Krieg um öde Felsen für nicht lohnend und deswegen unverständlich befinden, gehen da fehl. Das Recht auf Gebiete, Personen, Interessen etc., das ist der harte Inhalt von Souveränität; und die leistet ihren Dienst für die herrschenden Interessen ihrer Gesellschaft im Verkehr mit auswärtigen Partnern gerade durch die Unbedingtheit, durch die um die Bedeutung eines strittigen Gegenstandes unbekümmerte Radikalität, mit der sie ihre Rechtstitel verficht. Was hätte die britische Staatsgewalt denn in ihrem zähen »Kleinkrieg« in Nordirland zu gewinnen? Oder, um näherliegende Beispiele zu nennen: Wofür lohnt sich der Aufwand einer deutsch-deutschen Grenzkommission, die ihren Auftrag, zu entscheiden, wo in der Elbe der »Eiserne Vorhang« verläuft, erstens als Friedenstat größeren Kalibers feiert und zweitens zur Dauerbeschäftigung ausbaut – und inwiefern wäre dieses Problem anders beschaffen als die iranisch-irakische Streitfrage um die Aufteilung des Schatt-el-Arab? Welchen Gewinn zieht die Bundesrepublik aus der – in der NATO-Aufrechnung gerechterweise als »Verteidigungslast« aufgelisteten – kostspieligen Subventionierung West-Berlins – außer eben genau dem, einen Rechtstitel ihrer Souveränität, einen ganz prinzipiellen imperialistischen Anspruch ganz jenseits aller Kriterien von Gewinn und Verlust, aufrechtzuerhalten? Für Zwecke dieser Art hat dann auch ohne Wenn und Aber der Reichtum der Nation einzustehen, dem die Staatsgewalt so und nur so dient; dafür ist er dann auch da und wird in der großzügigsten Weise verpulvert. Denn es gilt ja: Was wäre das schönste Geschäft, wenn die Gewalt, ohne die es nie zustande käme und dem Privateigentum Früchte tragen könnte, sich nicht bedingungslos Respekt verschafft?! Klar ist andererseits, daß nationaler Reichtum erst einmal in gehöriger Masse da sein muß, damit die staatliche Gewalt sich in ihrem Agieren von deren Gesetzen so emanzipieren kann, daß sie sich absolut setzt und damit den Erfolg des nationalen Geschäftslebens wiederum bestmöglich fördert. So bedingen Souveränität und Reichtum sich wechselseitig – jene ist so frei, wie dieser erfolgreich, und dessen Erfolg so sicher, wie jene davon unabhängig. Und so groß wie beides ist – die »Ehre der Nation«!

Freilich wurde auch das Geheimnis der »Verständnislosigkeit« offen ausgeplaudert: nachdem der Nutzen nicht so recht ermittelt werden konnte, erhob sich prompt die Frage, wer denn dann der Nutznießer des Krieges sei. Wenn zwei der NATO verbundene Staaten ihre Soldaten einen Krieg führen und ihn von ihrem Volk bezahlen lassen, dann muß ja der lachende Dritte Iwan heißen. Also waren mitten im Krieg weniger Kritik, dafür aber sehr viel Sorge um den Weltfrieden und Verdächtigungen aller Art angebracht. Ob denn die britischen Verbündeten mit ihrer Flotte nichts Besseres zu tun hätten, als sie aus ihrem eigentlichen Aufgabenbereich innerhalb der gemeinsamen Strategie gegen den Osten abzuziehen? Die Sowjetunion wurde höchstpersönlich davor gewarnt, »mehr Einfluß« auf Lateinamerika und auf die Gewässer der Nordsee auszuüben. Und je mehr Leichen zu vermelden waren, desto beruhigter wurde die »Gefahr« einer Ausweitung zum weltweiten Konfliktfall verworfen, nachdem man sie immer wieder beschworen hatte. So sicher ist man sich in NATO-Kreisen über die unvermeidliche Antwort, die man den Russen bei einem »Fehlverhalten« erteilen würde. So selbstverständlich ist demokratischen Strategen die »Nichteinmischungspflicht« der anderen Weltmacht während eines Krieges, den befreundete Parteien gerade abwickeln. So unverfroren erteilen die Anwälte und Richter von »Frieden in Freiheit« Erlaubnisse und Verbote in Sachen Weltpolitik!

Eines jedoch garantieren die während eines echten Krieges in Umlauf gebrachten interessierten Betrachtungen dieser Art: daß die täglich gemeldeten Beschlüsse der direkt Beteiligten, weil »Verantwortlichen«, ebenso wie die der befreundeten Regierungen immerzu eine verbindliche Deutung zugeordnet bekommen, eine Interpretation, welche die Rechtschaffenheit der Subjekte der Weltgeschichte in vollem Licht erstrahlen läßt. Zuerst war das Ganze ein »Konflikt«, dieser entwickelte dann seine »Eigengesetzlichkeit«, schlug bisweilen ins »Tragische« um. Das Militär »verselbständigte« sich gegenüber der Politik, welche darüber vor lauter Unschuld glänzte und in Hunderten von Gesprächen und Communiqués mitten in die Kämpfe hinein um eine »friedliche Lösung« bemüht war. So konnte sich jeder lesende und fernsehende Untertan ständig davon überzeugen, daß Diplomatie und Gewalt ungefähr das Gegenteil voneinander sind – also auch davon, daß diesen Krieg niemand gewollt und zu verantworten hat außer dem Verlierer, daß Waffen für den Frieden da sind, daß die »Theorie« der Abschreckung und des Gleichgewichts nach wie vor gilt. Nur das eine brauchte niemand zu lernen: daß justament nach diesem Muster Kriege ablaufen, daß auch der Ost-West-Gegensatz nichts anderes darstellt als einen Streit zwischen Staaten und ihren Bündnissen um Rechte, den Einfluß wie die Interessen, die sie sich anmaßen und mit Hilfe von rücksichtslosem Einsatz von Geld und Gewalt »erworben« haben. Wobei allerdings nicht zu übersehen ist, daß sich auf der Seite des freien Westens viel mehr Rechte angehäuft haben, beansprucht werden und sehr ultimativ an die Adresse des Ostblocks formuliert werden.

2. Mit der Aufforderung an die Sowjetunion, sich samt dem ihm befreundeten Syrien herauszuhalten, wurde auch ein weiterer Krieg einer freiheitlichen Nation eingeleitet. Kaum waren israelische Soldaten in den Libanon aufgebrochen, um die Losung »Frieden für Galiläa« auf ihre Weise wahrzumachen, erging der diplomatische Rat an den weltpolitischen Gegner. Gewissermaßen als Test auf die unter Dauerverdacht stehende »Friedensliebe« des Kreml wurde verkündet, wie wenig sich die Weltmacht Nr. 2 herauszunehmen hat im Nahen Osten, wenn der freie Westen oder eine ihm zugetane Macht eine »Lösung« anstrebt.

Während die Zurückhaltung Syriens fast nach Wunsch ausfiel – ganz konnte der frühzeitig ausgehandelte separate Waffenstillstand die Erledigung einiger Raketenstellungen und etlicher Flugzeuge nebst Besatzung bei den kurzen Kämpfen im Bekaa-Tal nicht verhindern –, während die Sowjetunion weder militärisch drohte noch Ernst machte, sondern Washington ersuchte, seinen Schützling Israel zu bremsen, erlaubte sich dieser Staat Israel die blutige Demonstration seiner »Lösung des Nah-Ost-Problems«. Auf den Falkland-Inseln, wo das argentinische Militär den Versuch unternommen hatte, durch die Besetzung »neue Fakten« zu schaffen, deren Anerkennung die des argentinischen Anspruchs auf die Inseln gewesen wäre, zeigte sich die Diplomatie »außerstande«, eine »Vermittlung« zur Verhinderung des Krieges zuwege zu bringen. Nach einer Woche kriegerischer Großtaten Israels und ebenfalls »gescheiterter diplomatischer Bemühungen» durfte man einem ARD-Kommentar folgende tröstliche Weisheit entnehmen:

Der Krieg bietet die Chance für eine Neuordnung der Verhältnisse im Nahen Osten. Dadurch wird das israelische Vorgehen nicht gerechtfertigt. Aber die arabischen Staaten werden mit den geschaffenen Realitäten leben müssen.

Seltsam, wie in einem Fall eine »Verletzung des Völkerrechts« nicht hingenommen werden kann und die »geschaffenen Realitäten« durch einen Krieg revidiert werden müssen – und wie das Zerstörungswerk Israels im Libanon in den Rang einer Chance für »eine Neuordnung« erhoben wird! Daß seit der Gründung des Staates Israel dieser das Recht hat, sich zu verteidigen, und daß dieses Recht den militärischen Vormarsch einschließt, bildet die feste Grundlage für die westliche Beurteilung noch jeder Kriegshandlung im Nahen Osten. Daß Israel »von Feinden umgeben« ist, die seine territoriale Integrität und das Leben seiner Bürger ständig bedrohen, ist über drei Jahrzehnte hinweg Konsens geblieben – auch wenn dieser Staat während der Geschichte seiner dauernden Infragestellung um einiges größer geworden ist. Jede von Israel definierte Bedrohung ist zwar kurze Zeit nach ihrer offiziellen Bekanntgabe durch mehr oder minder »blitzartige« Einsätze beseitigt worden, aber das prinzipiell zugestandene Recht auf die freie Wahl sämtlicher militärischer Mittel hat ebensowenig wie die Bereitstellung dieser Mittel je eine Infragestellung erleiden müssen. Über sämtliche militärischen Aktionen hinweg hat sich ein Interesse des westlichen Auslands am Staate Israel erhalten, das wie in keinem anderen Fall mit den Anliegen des Staates Israel zusammenfällt. Und die bundesdeutsche Variante, von einer objektiven Beurteilung schon allein wegen der Judenverfolgung im »Dritten Reich« Abstand zu nehmen – nach dem Motto; »auch wenn es etwas zu kritisieren gäbe, sind ›wir‹ dazu nicht befugt!« –, krönt nur die theoretische wie praktische Parteinahme für das »Lebensrecht« dieses Staates, das in so offensichtlicher Weise mit seiner Expansion exekutiert wird.

Unter dem Titel »Noch immer keine Nah-Ost-Lösung« werden sämtliche Erfolge Israels begutachtet, und der damit angedeutete »Mißerfolg« in bezug auf ein irgendwie geartetes friedliches Miteinander der Staaten im Nahen Osten einer eigenartigen Kritik unterzogen: In der näheren und weiteren Umgebung, auch »arabische Welt« genannt, gibt es immer noch Staaten und Völker, die sich nicht als Partner und Freunde Israels verstehen; allen voran die Palästinenser! Zwar weiß jedermann, daß aus diesem Volk mit der Gründung von Israel nach dem Zweiten Weltkrieg schlicht und einfach Vertriebene gemacht worden sind, Flüchtlinge, die seitdem in aller Nah-Ost-Herren Länder unter Bedingungen zu leben haben, die wohl selbst einem wohlsituierten und problembewußten Journalisten der Süddeutschen Zeitung den Gebrauch von Gewalt zum Zwecke des Überlebens ratsam erscheinen ließen. Zwar könnte jedermann wissen, daß der Anspruch der Israelis auf jenen Flecken Heimat mit gar nicht feinen Methoden – nicht nur Menachem Begin bekennt sich zu seiner Vergangenheit als Terrorist – geltend gemacht wurde, als die Gegend noch Protektorat war; daß das »Argument« der historischen Herkunft aus dem Lande Jesu manchen Germanen zur Revision sämtlicher Ergebnisse der Völkerwanderung »berechtigen« würde; daß die Staatsgründung eben auch keine Sache des Rechts, sondern der Gewalt gewesen ist, an der die westlichen Siegermächte des Weltkriegs eben Interesse hatten – die Sowjetunion anerkannte Israel übrigens ziemlich schnell. Aber dergleichen zählt nicht, wenn es darum geht, im Namen eines »Rechts auf Heimat« den Staat der Juden sehr grundsätzlich für gut und zu jeder Kriegserklärung berechtigt zu erklären.

Daß Israel dazu berechtigt ist und auch über die Mittel verfügt, liegt allerdings nicht an Repräsentanten der freiheitlich-demokratischen Öffentlichkeit, die, wie die Süddeutsche Zeitung Mitte Juni, als in Beirut noch einige Rechnungen offen waren, wieder einmal gewisse Halbheiten im israelischen Vorgehen festzustellen vermochten:

»Israels militärische Brillanz wird jedoch durch seine politische Kurzsichtigkeit bei weitem aufgewogen. Noch bevor Syrien durch seine Verluste in eine ausweglose Position geraten konnte, drängte Moskau auf beiden Seiten auf eine Beendigung des Konflikts: Mit politischen Drohungen bewog es die USA, von Israel die Einstellung der Kämpfe zu verlangen. Gleichzeitig zwang es den Bündnispartner in Damaskus, auf eine schnelle Feuereinstellung einzugehen und dazu die Hinnahme der israelischen Bedingungen in Aussicht zu stellen ...

Auch wenn Verteidigungsminister Sharon nach dem Eintritt der Waffenruhe am Freitag behauptete, daß Israel alle seine militärischen Ziele erreicht habe, so dürfte ihm doch das Kriegsende zu schnell gekommen sein... Der Sieg reicht zur Einführung der angestrebten ›neuen Ordnung‹ im Libanon nicht aus... Auch die beabsichtigte ›militärische Lösung‹ des Palästinenserproblems ist mißlungen... Vor allem konnte die PLO-Führung trotz Fortsetzung des Bombardements von Beirut am Samstag und Sonntag nicht ›eliminiert‹ werden.« (Süddeutsche Zeitung, 14.6.1982)

Wie ein Vergleich mit den inzwischen »geschaffenen Realitäten« zeigt, muß dem guten Mann mit seinen kaum mehr zu überbietenden Bedenken (»Endlösung gescheitert!«) acht Wochen später ein Stein vom Herzen gefallen sein. Er hat nämlich, guten Willen vorausgesetzt, einiges lernen können, was er bis dahin und in den Nahost-Kriegen vergangener Tage versäumt hat: Erstens hat sich Israels »militärische Brillanz« noch reichlich an der Stadt Beirut bewähren dürfen, ohne Behelligung durch eine Erpressung der USA, die ihrerseits auf »Drängen Moskaus« ihrem Schützling vor Ort irgend etwas hätten abverlangen müssen. Zweitens hat sich Damaskus zwar zur »Hinnahme der israelischen Bedingungen« bequemen lassen, was aber ebenfalls die Produktion von libanesischen und palästinensischen Opfern keineswegs behindert hat. Drittens durfte Verteidiger Sharon Wochen später, angesichts von Resten Überlebender in West-Beirut – denen nach Belieben Granaten serviert und das Wasser abgesperrt wurde –, verkünden, daß die »Palästinenser aus Beirut verschwinden, so oder so«. Und die von keinerlei praktischen Schritten gestörten diplomatischen Äußerungen des Präsidenten Reagan, er werde »ungeduldig«, wurden zwar von Herrn Habib in das »Krisengebiet« übermittelt, aber von Begin fristgemäß mit der frohen Losung beantwortet, daß »Juden ihre Knie nur vor Gott beugen« – was niemand anders verstand, als es gemeint war: die »militärische Lösung« wird zu Ende gebracht! Viertens gibt es natürlich eine »neue Ordnung« im Libanon, und zwar unter reger Anteilnahme israelischer Truppen, die schon wissen werden, warum ein Dutzend Feuerpausen nichts zur Schonung auch nur eines Palästinensers beigetragen hat. Fünftens waren die Vorschläge zum »freiwilligen Abzug« der Eingekesselten allesamt darauf berechnet, daß entweder die Betroffenen oder ihre möglichen »Gastgeber« nein sagen würden – zumal bei letzteren in der Mehrzahl längst ein freundschaftliches Verhältnis zum Westen mehr zählt als die Unterstützung der PLO-Kämpfer.

Erst auf amerikanischen Druck wurde der Wille zum Abtransport waffenfähiger Palästinenser als vorhanden erkannt – und deren nach den letzten Bombardierungen Beiruts rasch ausgeführte Verschiffung wurde als politisch-moralischer Erfolg der PLO verbucht. Ganz als ob das Mitleid und die fälligen Gespräche mit Arafat & Co eine einzige Aufwertung der Opfer Israels, also auch seiner Gegner wären! Sechstens sorgte ein anschließendes Massaker in nunmehr unverteidigten palästinensischen Flüchtlingslagern, über dessen »Duldung« durch die israelische Regierung hinterher eine rege demokratische Kommissions- und Gutachtertätigkeit einsetzte, dafür, daß auch wirklich keine der zuvor von der israelischen Armee den Nachbarn erteilten »Lektionen« in Vergessenheit geriet.

Denn soviel hat mancher arabische Staat in vergangenen Auseinandersetzungen mit Israel erfahren müssen: daß es sich für ihn nicht lohnt, ein Feind Israels und damit des geballten Wirtschafts- und Kriegspotentials des freien Westens zu sein, die Palästinenser zu unterstützen gegen diesen ihren Feind – mit der Gastfreundschaft in den Flüchtlingslagern war ohnehin nie übermäßig viel los – und sie als Vorkämpfer einer panarabischen Sache mit Hilfe Moskaus zu allerlei Anschlägen zu ermutigen. Einer nach dem anderen dieser Potentaten hat sich in seinem eigenen Interesse von der »arabischen Solidarität« und von Moskau verabschiedet und damit dokumentiert, wie berechnend die Liebe zum »palästinensischen Brudervolk« gewesen ist. Solange noch Hoffnung bestand, durch die Ermutigung – finanziell wie militärisch zehrte ja die Logistik der Palästinenser immer von der Versorgung durch die »Ölstaaten« – der Palästinenser zum Kampf gegen Israel eine ständige Vorhut für das Programm, »die Juden ins Meer zu jagen«, zu erhalten; solange also die Benützung der Not, ums Überleben kämpfen zu müssen, für das Ideal einer arabischen Großmacht nützlich und erfolgversprechend erschien, galt es als arabische Staatstugend, offiziell als Feind Israels aufzutreten. Mit den Lektionen in Sachen Öl und der einschlägigen »Abhängigkeit«, unmittelbar jedoch aufgrund ihrer »Kriegserfahrungen« haben diese Anwälte der arabischen Sache ihren Kurs in Richtung Friedensnobelpreis, Awacs und westeuropäische Friedenswaffen geändert – und in einen Krieg wegen der Palästinenser tritt heute nicht einmal mehr Syrien oder Libyen ein.

Insofern treibt dieser Staat Israel tatsächlich die »Nah-Ost-Lösung« voran, die in den schönfärberischen Reden von »Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes« versus »Anerkennung des Existenzrechts Israels« immer für so ungemein schwierig befunden wird. Denn das läßt sich kaum übersehen, daß der Staat Israel »existiert« und manches Recht genießt, andererseits den Palästinensern das Überleben nicht gestattet wird und ihre Bemühungen um einen eigenen Staat prinzipiell dem »Terrorismus« zugeschlagen werden. Dem Gebrauch von Gewalt, die auf Anerkennung als politische Souveränität berechnet ist und von Arafat ausgerechnet bei den Schutzmächten Israels als eine unheimlich gerechte Sache vertreten wird, widerfährt die Verurteilung seitens der maßgeblichen Weltsortierer, die nur und immerzu den Maßstab des eigenen und etablierten Interesses in Anschlag bringen: »Israel in Notwehr begriffen, Palästinenser Terroristen!«

Dieser Maßstab heißt, praktisch angewandt, einiges mehr als moralische Parteinahme für Israel. Dieser Staat wäre, auf sich gestellt, kaum in der Lage, einer »feindlichen Umwelt« zu trotzen. Er entbehrt nicht nur einer wirtschaftlichen Basis, der Grundlage einer Produktion von Reichtum, die ihm die Mittel dafür sicherstellen würde, als dauernde Kriegserklärung an seine arabischen Nachbarstaaten und vor allen Dingen als Verfolger und Richter der mit seiner Gründung zu Heimatvertriebenen abgestempelten Palästinenser auftreten zu können. Nicht einmal beabsichtigt war je dergleichen, auch wenn findige Intellektuelle in den Kibbuzim bisweilen »Sozialismus« und im Zwangskollektivismus der Wehrdörfer ein fröhliches und zukunftsweisendes Gemeinschaftsleben ausmachen. Der Staat Israel nimmt sich mit dem ihm zugestandenen Recht, als Anwalt des freien Westens in einer »ostblockverdächtigen« arabischen Welt auf seine Durchsetzung achten zu dürfen, seit seinem Bestehen auch die großzügig gewährten finanziellen und militärischen Mittel – und tut darin seine Pflicht. Daß er im Gebrauch der ihm eröffneten Freiheit bisweilen so rücksichtslos verfährt, daß die Tagesordnung westlicher Nahost-Diplomatie etwas durcheinandergerät, hat noch nie dazu geführt, daß Israel im Stich gelassen wurde. Denn die von seinem Militär »geschaffenen Realitäten« haben per saldo stets eine neue und verbesserte Tagesordnung ergeben. Die »Verstimmungen« und berechneten diplomatischen Heucheleien laufen gewöhnlich auch zur selben Stunde wie der Nachschub an Gerät nach Tel Aviv aus.

Im Falle Israels freilich ist eines auffällig. Da geht ein Staat nicht dazu über, mitten im NATO-gesicherten Weltfrieden seine Sonderinteressen auch einmal – gewissermaßen bei einer »günstigen Gelegenheit« – vor die wohlerworbenen Rechte und Pflichten der imperialistischen Arbeitsteilung zu stellen. Hier fällt die pure Selbstbehauptung, gegen jeden auch nur möglichen Feind in der Nachbarschaft, seit der konzessionierten Staatsgründung mit dem Willen des freien Westens zusammen, in der nahöstlichen Weltgegend keine Politik zuzulassen, es sei denn, sie wäre eine zur Freiheit bekehrte. Mit dem »Recht« der Juden, nicht verfolgt zu werden und in »ihrer angestammten Heimat« einem friedlichen und gottgefälligen Tagwerk nachzugehen, hat dieser Staat herzlich wenig zu tun – immerhin ist auch in Israel für die Führung des Kriegs der Einsatz des Volkes notwendig! Aus der Tatsache, daß die Juden im Dritten Reich zu Millionen umgebracht wurden, können nur Zyniker einen Freibrief für »ihren« Staat verfertigen, selbst wie im Sommer ’82 einen Völkermord ins Programm zu nehmen. Sollte das der nachträgliche »Sinn« des so erzbürgerlichen Antisemitismus sein, daß er – über den Umweg des Glaubens der Juden, ein »auserwähltes Volk« zu sein und deshalb besonders (selbst-)gerecht in der unbefangenen Anwendung von Gewalt – einen weltpolitisch funktionalisierten Zionismus der Kritik entzieht?

3. Die hohe Kunst der Weltpolitik wird von denen, die sie betreiben, auch mitten im Krieg als eine einzige Anstrengung, »den Frieden zu sichern«, ausgegeben. Wo Staaten ihre ökonomischen Interessen und den politischen Einfluß an allen Ecken der Welt als ihr unveräußerliches Recht deklarieren, wo sie für dessen Durchsetzung von ihrer Gewalt rücksichtslosen Gebrauch machen, hat die auf Vertrauen berechnete Sprachregelung Konjunktur.

Aus jedem Waffengang wird ein »Konflikt«, dem die souveränen Staatenlenker ohnmächtig gegenüberstehen; jedes Gemetzel ist ein Beleg für das »Scheitern“ einer »politischen Lösung«, für das Versagen von Bemühungen, die allesamt auf das Gegenteil dessen zielen, was geschieht, weil es angeordnet ward. Die Politiker ringen immerzu um die Bewältigung von »Problemen« – von denen, die sie ihren Untertanen schaffen, ist nie die Rede. Stets liegen sie, rast- und ruhelos, im Kampf mit der »Unvernunft« anderer.

In jeder dieser Entschuldigungen liegt freilich auch eine Beschuldigung – und dies nicht nur von »Umständen«, sondern auch von Souveränen anderer Staaten. Eben der Staaten, die dem Interesse der eigenen Nation in die Quere kommen, deren Recht auf ihre Durchsetzung behindern. Insofern sind die Interpretationen, die Politiker von ihren Taten geben und in den Medien verbreiten lassen, nicht nur Verbrämungen der Zwecke, die da verfolgt werden, sondern auch hemmungslos ehrlich: Wer sich ständig über »Mißerfolge« und »Krisen«, »Gefahren« und »Beschränkungen« seiner besseren Vorhaben beschwert, hält seinen Einfluß für zu gering. Er huldigt dem Ideal des Kolonialismus, der Unterordnung auswärtiger Mächte, in einer Staatenwelt, die sich durch die Konkurrenz von souveränen, sich über die wechselseitige Anerkennung benützenden und schädigenden Nationen und Blöcken auszeichnet. Und er sieht sich mit der »Notwendigkeit« konfrontiert, jede Beschränkung seiner Handlungsfreiheit dieser Welt als das »Problem« aufzumachen, das seiner »Lösung« harrt. Das Verhandeln, nach dem Wort eines Bundeskanzlers besser als das Schießen, gerät da natürlich zu dessen Ersatz – und nicht erst die »begrenzten Kriege« des Sommers ’82 zeigen, wie in der »längsten Friedenszeit« seit Menschengedenken, die »uns« das »Bündnis« geschenkt hat, die »militärische« Lösung den Vorzug erhält. Dann drehen sich die Verhandlungen um die Kapitulationsbedingungen, und die Wirkung der eingesetzten Waffen wird zum Argument für – den Frieden.