I. Von den Leistungen des weltpolitischen Sachverstandes und seinen Grundlagen

In Staaten, die demokratisch mit ihren Untertanen verfahren, gehört es zur guten Sitte, daß die Regierungen den Regierten zu den Taten, die sie ihnen bescheren, auch noch eine plausible Deutung liefern und daß die so am politischen Geschäft beteiligten Bürger sich das Ihre dazu vordenken lassen und nachdenken. Das Einverständnis zwischen Staatsmännern und Volk, das sich in ordentlichen Demokratien auf diese Weise einstellt, ist deswegen sehr stabil, weil es nicht von der Überzeugungskraft, geschweige denn von der Wahrheit der von oben nach unten vermittelten Einschätzungen und Lagebeurteilungen abhängt. Es beruht auf der beiden Seiten sehr geläufigen Methode, die Abhängigkeit der Bürger von ihrem Staat als guten Grund für eine Parteinahme für ihn zu behandeln.

Aus dem Buch
1983, 2023 | 336 Seiten | 15 €  Zum Warenkorb
Gliederung

I. Von den Leistungen des weltpolitischen Sachverstandes und seinen Grundlagen

In Staaten, die demokratisch mit ihren Untertanen verfahren, gehört es zur guten Sitte, daß die Regierungen den Regierten zu den Taten, die sie ihnen bescheren, auch noch eine plausible Deutung liefern und daß die so am politischen Geschäft beteiligten Bürger sich das Ihre dazu vordenken lassen und nachdenken. Das Einverständnis zwischen Staatsmännern und Volk, das sich in ordentlichen Demokratien auf diese Weise einstellt, ist deswegen sehr stabil, weil es nicht von der Überzeugungskraft, geschweige denn von der Wahrheit der von oben nach unten vermittelten Einschätzungen und Lagebeurteilungen abhängt. Es beruht auf der beiden Seiten sehr geläufigen Methode, die Abhängigkeit der Bürger von ihrem Staat als guten Grund für eine Parteinahme für ihn zu behandeln.

1. »Unsere Interessen«

Politiker sind ständig damit beschäftigt, sie zu wahren und durchzusetzen. Sie machen sie militärisch aus an Stützpunkten von Freund und Feind, an erhaltenen, in Frage gestellten und zu schaffenden, definieren ihre Unverzichtbarkeit nach Breitengraden und messen den gesamten Globus aus, um nur das eine klarzustellen: Wo ist die Präsenz eigener Soldaten samt Gerät unverzichtbar, wo darf die Präsenz von Truppen des anderen Lagers nicht hingenommen werden. Während ein Flugzeugträger mit Sowjetstern am Bug eine »Gefahr« darstellt, dient das entsprechende Gefährt mit amerikanischem Heimathafen allemal der Verteidigung »unserer Interessen«. Und die reichen nicht nur um die ganze Welt – sie reichen auch als moralischer Ausweis für die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der Anhäufung von Rüstungspotential, dessen Wucht so gerne in Vergleichen mit Dresden und Hiroshima vorstellig gemacht wird. Dazu ist nicht einmal die leiseste Andeutung bezüglich der Beschaffenheit jener Interessen vonnöten: Das Argument liegt im »unsere« und der nachdrücklichen Behauptung, daß es sie gibt. Und daß das, was in jeder Weltgegend zu verteidigen ist, einem russischen Interesse jede moralische Würde abspricht – daß dergleichen also andere zu nichts berechtigt –, ist eben damit auch schon gesagt. Die Ausschließlichkeit ist beschlossene Sache, und als solche wird sie mitgeteilt. Wenn das, was es zu schützen gilt, nicht existent und wichtig und auch für andere von – natürlich zweifelhaftem – Interesse wäre, hätte ja auch die Drohung mit militärischer Gewalt keinen Sinn, oder? So zumindest lautet die Logik des Strategen. Und er ist auch in dem Punkt skrupellos ehrlich: Wer mehr zu verteidigen hat, braucht auch viel mehr Waffen.

In ihren politisch-diplomatischen Entdeckungsreisen wird dieselbe Logik genauso fündig. »Unser Interesse« führt da ohne große Umstände zur Anerkennung einer Regierung in fernen Landen, oder auch zur Ächtung eines Regimes. Und »Anerkennung« ist in der Diplomatie keine theoretische Kategorie – das moralische Verdikt steht da allemal für die Aufnahme von »Beziehungen«, aus denen eine fremde Regierung wie auch immer geartete Vorteile und Nachteile bei der Abwicklung ihrer Herrschaft erfährt. Mit der Aberkennung der Vertragswürdigkeit geht einher, daß auch keine Verträge geschlossen und erfüllt werden – und ein entsprechend geächteter Staat kann weder auf Maschinengewehre rechnen noch auf Kredite oder auf die geregelte Erledigung des Heringsfangs vor seiner Küste. Und weil in der praktischen Beurteilung auswärtiger Herrschaftsgestaltung der Anspruch geltend gemacht wird, das Regieren dortzulande möge entweder »unserem Interesse« gemäß ablaufen oder es habe mit Schwierigkeiten zu rechnen, pflegt diese Sorte »Einflußnahme« damit begründet zu werden, daß es sich keineswegs um die Techniken der Erpressung handelt, sondern um die Wahrung des Einflusses, auf den die eigene Nation angewiesen ist. So erscheint die Respektierung eines auswärtigen Souveräns als Folge der Nützlichkeit, die man von ihm aber erwarten darf, weil man von brauchbaren Staaten in der Welt abhängig ist: So ist »Abhängigkeit« schließlich dasselbe wie ein unverzichtbarer Nutzen, auf dessen Erstattung ein Staat unter Anwendung der ihm zu Gebote stehenden Mittel besteht. Nie käme ein demokratischer Staatsmann der Bundesrepublik darauf, seine Reisen zu gewählten wie ungewählten Staatsoberhäuptern mit dem Verdikt der »Einmischung« zu belegen, auch wenn er die erwünschten Beziehungen an noch so viele Bedingungen außen- und innenpolitischen Wohlverhaltens knüpft. Einer »Einmischung« aber machen sich diejenigen schuldig, die nicht einmal den Beweis dafür erbringen können, daß bestehende Interessen vorhanden sind; die also auch zu Recht keine Verletzung derselben monieren können, so daß ihnen gegenüber der Grundsatz der »Nicht-Einmischung« hochgehalten wird und zur Anwendung gelangt, auf den alle Souveräne dieser Welt ein Recht besitzen.

Die Logik der internationalen Diplomatie steht somit der von Strategen in nichts nach. »Unsere Interessen« gebieten und rechtfertigen Gewalt, ebensolches gilt für vor-militärische Einflußnahme – überall dort, wo es sich um eine »Einflußsphäre« handelt. Die ökonomische Besichtigung der Welt, die aller Herren Länder dem Maßstab unterwirft, ob sie über Import und Export zum Partner der heimischen Wirtschaft taugen, ob sie zu einer weitergehenden Zusammenarbeit fähig oder willens sind, die sich lohnt, vervollständigt diese Logik. Auf diesem Gebiet, wo der Materialismus der Nation in Geld beziffert wird, will allerdings die platte Gewinn- und Verlustrechnung noch weniger auf ihre höhere und tiefere Bedeutung verzichten: Das internationale Geschäft ist nicht nur nützlich, sondern auch gut. Der eigene Vorteil wird von den Repräsentanten des nationalen Wirtschaftswachstums um so mehr in den gemeinsamen Nutzen der »Partner« übersetzt, als das Interesse der fremden Nation die Höhe jener Ziffern beschränkt, auf die es ankommt. So steht gerade beim Schacher um Zölle, Lieferbedingungen, Zahlungsweisen, Kredite und Investitionen immer wieder die Klage über die Abhängigkeit an, in der man sich vom »Partner« befindet; da erscheint »unser Interesse« umstandslos als »Ohnmacht«, die durch die mächtige Position eines Konkurrenten – der etwas zu verkaufen, zu verzollen, zu importieren und zu investieren hat – schamlos ausgenützt wird. Und die Staatenwelt wird gemäß den Konditionen, die sie sich aufherrschen läßt, sortiert. Ihr Umgang mit Geld, Ware und Kapital im grenzüberschreitenden Verkehr gewinnt da noch allemal die Qualität eines guten Willens zur Zusammenarbeit, einer Störung der üblichen Gepflogenheiten auf dem Weltmarkt oder – eines untragbaren Verstoßes gegen die Freiheit des internationalen Geschäfts, auf das »wir alle« angewiesen sind. Und auch solche Beurteilungen sind keine Meinung von Beobachtern des modernen Weltgetriebes, sondern die praktizierte Vernunft von Staatenlenkern, die den Weltmarkt durch ihre Entscheidungen gestalten.

Die Methode, nach der moderne Staatsmänner ihre weltpolitischen Aktionen »begründen« und durchführen, verrät nicht wenig über das Ausmaß an Freiheit, das sie als Souveräne genießen. Niemandem sonst ist es im bürgerlichen Leben gestattet, sein Interesse als Argument für die Anwendung von Gewalt geltend zu machen – den Repräsentanten eines Staates ist dergleichen selbstverständlich. Auch die Drohung mit Gewalt im Namen des Eigennutzes gegenüber anderen, die sich der »Einmischung« in die eigene »Einflußsphäre« schuldig machen, ist eine Gepflogenheit, in deren Genuß nur Volksvertreter kommen, ohne in den Verdacht zu geraten, den freien Willen und die Menschenwürde zu mißachten. Was im gesellschaftlichen Leben innerhalb ihres Staates jedem Individuum versagt ist – der Gebrauch von Gewalt zur Erreichung eines Vorteils – und von der öffentlichen Gewalt als Verbrechen verfolgt wird, gilt im Verkehr zwischen Staaten als gute politische Sitte. Und daß sie in der Verfolgung ihres nationalen Interesses, in der Mehrung des Reichtums, pflichtgemäß handeln, also die moralische Legitimation besitzen, die gesamte Staatenwelt samt ihren Völkern in ihre Berechnungen einzubeziehen, unterscheidet sie auch gewaltig von gewöhnlichen Bürgern des 20. Jahrhunderts. Staatsmänner, die jede außenpolitische Maßnahme als Reaktion auf Geschehnisse in der Welt, auf ihnen passende oder unliebsame Werke anderer darstellen, handeln in der Gewißheit, daß sie alles angeht: ihrer Zuständigkeit sind keine Grenzen gesetzt, weil die Welt das Material ihrer Souveränität ist. Deswegen sind sie auch von allem, was andere tun und lassen, betroffen.

2. »Wir«

Das alles hat mit privatem Eigennutz nichts zu tun. Wenn die Repräsentanten einer Nation von »politischem Gewicht« wie Erpresser zu Werke gehen und Gewalt als das ihnen zustehende Mittel handhaben, dann erstreckt sich ihre Zuständigkeit auf den politischen und ökonomischen Erfolg des Staates, dem sie vorstehen; und dasselbe gilt für ihre Betroffenheit im Falle von Mißerfolgen, auch wenn es zur guten Sitte gehört, das persönliche »Schicksal« mit dem Gelingen auch der außenpolitischen Amtsgeschäfte zu »verknüpfen«. Die Demokratien des freien Westens – und von ihrem Gebaren in der Weltpolitik ist bisher die Rede – haben nun einmal mit den in Diktaturen noch üblichen Bräuchen aufgeräumt, ihre erfolglosen Führer nicht nur aus dem Amt, sondern auch aus dem Leben zu befördern. Wenn ein deutscher Kanzler von Gipfeltreffen aller Art mit unliebsamen Maßnahmen des mehr oder minder befreundeten Auslands zurückkehrt, dann mag schon das demokratische Verlangen nach einem Regierungswechsel laut werden; er wird sich aber bei der Bekanntgabe seiner »Reaktion« hüten, sein persönliches Wohlergehen zum Maßstab der »Lage« und der »fälligen Entscheidungen« zu erheben. Mit dem Pluralis maiestatis hat es schon eine eigene Bewandtnis.

Angenommen, der führende Mann einer führenden demokratischen Nation beschließt wegen »unserer Interessen« samt seinem Kabinett, daß wir im Verein mit unseren amerikanischen Freunden aufrüsten müssen, so macht er gar kein großes Geheimnis daraus, daß nach der Verkündung des Beschlusses seine Zuständigkeit erledigt ist und seine Betroffenheit durch die gefährliche Weltlage, die tiefe Sorge, die ihn erfüllt, eine Frage der Selbstdarstellung wird. Er verbreitet sogar öffentlich nicht nur die Gründe für seine Entscheidung, sondern auch deren Konsequenzen: Das Kriegsgerät will erstens bezahlt sein und zweitens bedient. Und damit hat auch das Volk, von dem alle Macht ausgeht, seine Rolle in der Militärpolitik zugewiesen bekommen. Für die Bezahlung steht es im Rahmen eines »Sparhaushalts« gerade, durch den sich die Regierung einerseits Auslagen in dem Bereich erspart, in dem sie unter dem Titel »Sozialstaat« die Lohnabhängigen Woche für Woche zum Sparen für die Wechselfälle der Lohnarbeit verpflichtet. Andererseits setzt derselbe »Haushalt« neue Bedingungen fest, was das Wachstum »der Wirtschaft« betrifft. Auch hier, bei den wirtschaftspolitischen Richtlinien, ist auf Seiten der Staatsverantwortlichen nirgends ein Anflug von privater Gewinnsucht zu bemerken. Sie bemühen sich lediglich und ganz besonders wegen ihrer außenpolitischen Aufgaben um den Geschäftsgang innerhalb ihrer Nation. Die Argumente, welche die Herren Minister stündlich in den Medien vorzubringen Gelegenheit bekommen, sind sehr sachlich: Sie bekräftigen nämlich im Namen der Betroffenen das nationale »wir«! Der erste Betroffene ist der Staat selbst – und von dessen Wohlergehen sind gerade und vor allem Rentner, Arbeitslose und Inflationsgeschädigte, die »sozial Schwachen« eben, abhängig. Beweis: Stünde es um die Staatsfinanzen besser, müßte die Regierung die »sozialen Leistungen« nicht kürzen. Schöner und demokratischer lassen sich die Interessen der Geschädigten nicht mit den Bedürfnissen der Instanz zusammenschließen, die gerade die Schädigung ins Werk setzt!

Der zweite Betroffene ist »die deutsche Wirtschaft«, von deren Leistungskraft der Staat wiederum abhängig ist. Aber nicht nur das: seine Anstrengungen, der in seinem Hoheitsgebiet kalkulierenden privaten Geschäftswelt zum Erfolg zu verhelfen – und dafür hat der Staat durchaus etwas Geld übrig –, sind im Grunde genommen eine einzige Unterstützung der Bürger, die von ihrer Arbeit in der »deutschen Stahl- und Automobilindustrie« leben. Die Auswirkungen des »Sparprogramms« – seit 1983 gibt es an die drei Millionen Arbeitslose und auch sonst einiges an statistisch erfaßter Armut mehr – läßt niemand als Dementi dieser Botschaft gelten. Im Gegenteil: sie erfreuen sich der öffentlichen Kenntnisnahme als weiteres Problem, dessen der Staat mit seinem Finanzgebaren Herr zu werden hat. Er führt es also fort; und die Erhöhung der Mineralölsteuer, der Mehrwertsteuer, neue Freiheiten für Grundbesitzer, die dem Volk eine neue Heimat vermieten, all das läuft seit 1982 unter dem Titel »Beschäftigungsprogramm«. Ganz gleich, ob die einschlägigen Meldungen über aus dem Ausland kommende Geschäftsschädigung noch erwähnt werden oder nicht – die bundesrepublikanische Liste ist in ihrer Eintönigkeit jedem Bild-Leser genauso vertraut wie den Kennern seriöser Wirtschaftsteile –, »wir« müssen alles in unserer Macht Stehende tun, damit die Kalkulationen deutscher Unternehmen wieder aufgehen. Mit dieser Sorte Logik lassen sich aus „Sachzwängen«, die den Widrigkeiten des Weltmarktes locker zu entnehmen sind, die Opfer ableiten, die »wir alle« im eigenen Interesse auf uns nehmen müssen.

Der dritte Betroffene ist die arbeitende Mehrheit der Nation. Sie ist unter dem Titel »Lohnabhängige« ebenso zuständig für die Weltpolitik wie als »Verbraucher«, »Sparer«, »Sozialpartner«, »Nutznießer des sozialen Netzes« und als Soldat. Wenn »uns« die Russen zu verstärkten Verteidigungsanstrengungen herausfordern, wenn »uns« die Japaner den Automobilmarkt streitig machen, die Franzosen das Stahlgeschäft verhindern, die Scheichs das Öl verteuern oder die US-Regierung die Zinsen hochhält – es gibt nichts im internationalen Hin und Her, was nicht durch die Leistungen des gewöhnlichen Volkes und seine Bereitschaft zur Minderung seiner Ansprüche geregelt werden könnte und müßte. In seiner ganzen Ohnmacht gegenüber den Machenschaften des Auslands verfällt deswegen ein regierender Anhänger der Demokratie auf den einzig vernünftigen Gebrauch seiner Macht: Er hält sein Volk zum Arbeiten und Sparen an, verleiht seinem Appell die Kraft eines gültigen Gesetzes, dem sich niemand entziehen kann – und pflegt öffentlich seine Betroffenheit über die Entwicklungen in der Weltpolitik wie auf dem Weltmarkt. Er benennt Schuldige und wirft sich in die Pose eines Kenners der weltpolitischen Szenerie, an deren Verhängnissen er nie mitwirkt, wiewohl er an ihren Resultaten laboriert...

An der Offenheit, mit der Politiker das außenpolitische »wir« nach innen durchsetzen – die vorstehenden Zeilen sind schließlich fast wörtlich in jeder Stellungnahme und in jedem Kommentar aufzufinden –, ist freilich nicht die Weisheit interessant, die in einer funktionierenden Demokratie des freien Westens als Inbegriff der Kritik gefeiert wird. Daß der »kleine Mann« alles ausbaden müsse, ist eine wohlfeile Ideologie, die dem Verhältnis von Staat und Volk in der Bundesrepublik ebensowenig seine Wahrheit vorrechnet wie in einer anderen »Wirtschaftsmacht« diesseits und jenseits des Atlantiks. Die Differenzierungen, die das nationale »wir« erfährt, sooft eine Regierung nach innen auf ihm besteht und die Weltlage, also das Vorgehen anderer Nationen, als unwidersprochenen Grund heranzieht, zeugen von etwas ganz anderem. Im internationalen politischen Gewerbe spielt das gewöhnliche Volk daheim nie eine andere Rolle als die eines Mittels, auf das ein Staatsmann schon beim Antritt seiner Reisen in ferne Länder setzt, weil es verfügbar ist und ihm seine diplomatische Handlungsfreiheit im Umgang mit Freund und Feind verschafft hat. Eine politische Herrschaft, die sich ihrer Basis nicht sicher ist, die keine »leistungsfähige Wirtschaft« hinter sich weiß, die im Innern ihrer Nation die Abhängigkeit von Millionen von ihrem Arbeitsplatz nicht so effizient geregelt hat, daß sich das in ökonomischem, politischem und militärischem Gewicht niederschlägt – eine solche politische Führung würde sich jedenfalls mit ihrem Nationalismus auf jedem Wirtschaftsgipfel blamieren. Und schon gar nicht könnte sie den Zweck ihrer weltweiten Erpressungskunststücke hinterher als gemeinschaftliches Interesse der Nation verkaufen, indem sie dem Volk seine Opfer in Fabrik und Kaserne als traurige Wirkung ausländischer Machenschaften verschreibt. Denn die Argumente, mit denen ein deutscher Kanzler die Notwendigkeit vom sparsamen Umgang mit ihnen, von mehr Leistung (»Die Deutschen sind verwöhnt!«) und vom abzustellenden Mißbrauch eingezahlter Versicherungsgelder mehr ein- als ableitet, taugen nicht zur Überzeugung – geglaubt werden sie nur dann, wenn die Abhängigkeit vom Staat und von denen, die »die Wirtschaft« heißen, praktisch akzeptiert ist. Nur wenn der diesbezügliche Dienst eines Volkes unabhängig davon, ob er sich für die Betroffenen lohnt, in der schönsten Regelmäßigkeit abgewickelt wird und die politischen Vertreter des Volkes mit dem Reichtum als Verhandlungsmasse ausstattet, der ihnen die Freiheit gibt, auf die Brauchbarkeit jeder erdenklichen Sorte Ausland zu dringen; nur wenn die Zuständigkeit einer Regierung für alle Regungen auf dem Erdball in einer heimatlichen Manövriermasse gründet, kann sich ein Politiker die Unverschämtheit zulegen, die Schädigung der deutschen Interessen – »Export- und Ölabhängigkeit«, »Polen«, »Afghanistan«, »amerikanische Zinsen«, »französische Stahlsubventionen« usw. usw. – als guten Grund für die Schädigung seiner Untertanen zu propagieren, und letztere umstandslos als Weg des nationalen Erfolgs per »wir« mit politischem Sachverstand ins Werk setzen.

Es ist die Gewohnheit der Souveränität, die Politiker so ehrlich werden läßt, den Gegensatz zwischen dem außenpolitischen Erfolg der Nation und dem Interesse der ihr untergeordneten Mehrheit von Leuten, die eine leichtere Arbeit und ein besseres Leben durchaus brauchen können, auszusprechen – als schönsten Beweis für ihre Fähigkeit in der Kunst des Regierens.

3. Moderner Nationalismus

Das nationale »wir« ist klassenlos. Es vereint Staat und Volk, indem es die schiere Tatsache, daß sämtliche Bürger einer Nation ihrem Staat unterworfen sind und dieser sie seinen Erfolgskriterien gemäß behandelt, sie also auch den Konjunkturen seiner außenpolitischen Bewährung aussetzt, in einer unausweichlichen Identität der Interessen von Staat und Bürgern geltend macht. Dabei werden die Unterschiede und Gegensätze innerhalb der Nation keineswegs geleugnet, sondern immerzu hervorgehoben – allerdings nicht in der Form kritischer Stellungnahmen zur modernen Klassengesellschaft. Vielmehr in lauter affirmativen »Folgerungen« bezüglich der speziellen Dienste und Leistungen, welche die Nation wegen des Gelingens ihrer außenpolitischen Vorhaben den einen erweist und den anderen mit Recht abverlangen kann. Für die Geschäftswelt gehört sich eine Investitionsneigung und das dafür passende Klima, andere sind fürs Arbeiten, Kaufen und Sparen da.

Dieser Standpunkt des nationalen Interesses stützt sich weniger auf die Logik denn auf die Praxis der staatlichen Souveränität. Der ihm eigentümliche Zynismus erfüllt die demokratische Diskussion, in der sich die Parteien mit Unterstützung der ihnen zu- bzw. abgeneigten Medien um die Macht streiten, mit Leben. So streiten sich die Konkurrenten um die Staatsführung nicht nur zu Wahlkampfzeiten darum, wer mehr »politische Stärke« an den Tag legt. Der Vorwurf der »Führungsschwäche« wird erhoben, und damit ist gemeint, ein tauglicher Staatsmann dürfe sich von niemandem in der Welt etwas gefallen lassen und müsse seinem Volk alle Unannehmlichkeiten zeitig ins Gesicht sagen, die er ihm bereitet. Und der prinzipielle Gesichtspunkt, daß gut ist, was uns nützt, wird auf alle Regierungen und Völker dieser Welt ohne den leisesten Anflug moralischer Bedenken angewandt.

1. Aus der schlichten Tatsache, daß die nationale Währung an den Devisenbörsen hoch gehandelt wurde, ist in einem Jahr des Wahlkampfs für den seinerzeit regierenden Kanzler ein Argument für seine Wiederwahl verfertigt worden. In der »Härte der D-Mark« durfte die gesamte Nation das anschauliche Verdienst eines Mannes bestaunen, der »unser« Geld etwas wert sein läßt. Der Nachweis, daß diese Tüchtigkeit in Währungsangelegenheiten den Nutzen des gemeinen Volkes mehre, wurde über den Auslandsurlaub geführt, ganz als ob mit den fünf Pfennigen »Gewinn« beim Umtausch einer Mark in Lire die Ferien im Süden in Saus und Braus abliefen und keiner die Preissteigerungen bemerken würde. Nachdem nun aber der währungspolitische Sachverstand für das nationale Eigenlob zuständig ist, eröffnete derselbe Kanzler mit Hilfe einer verantwortungsbewußten Öffentlichkeit auch noch eine solide Kampagne der Kritik an anderen Nationen. Das Argument hieß »unsere Wirtschaft«: Diese ist extrem »exportabhängig«, und gerade eine teure D-Mark mache »unseren« ausländischen Kunden das Kaufen schwer. Also schritt der Kanzler im Namen aller Deutschen, auch derer, die ganz bestimmt nicht vom Außenhandel leben, aber eben von ihm abhängig sind, zur Besichtigung der Versager in Währungsdingen. Urplötzlich war die harte Währung eine Gefahr, freilich in Gestalt der weichen ausländischen Gelder. Die amerikanischen Freunde wurden fachmännisch ermahnt, ihre Freiheitswährung nicht verfallen zu lassen. Den Kollegen in England wurde mitgeteilt, daß sie sich die schlechte Wirtschaftslage samt Verfall des Pfundes selbst zuzuschreiben hätten: Kein Investitionsklima würden sie schaffen, solange sie den sozialen Frieden nicht in den Griff bekämen; weder die »disziplinlosen« Gewerkschaften noch die englischen Arbeiter mit ihren maßlosen Teepausen kamen an der deutschen Schelte vorbei. Den italienischen Proleten, ansonsten als Vergleichsmaßstab für deutsche Bedürfnisse sehr willkommen – »wie gut es uns geht!« –, wurden ihre Streiktage vorgerechnet. Und niemand hat in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit die Unverschämtheit angegriffen, mit der da im Namen der deutschen Wirtschaft eine stattliche Liste ihrer Schädlinge erstellt wurde und sich der nationale Standpunkt gleich noch zum Richter über die Bedürfnisse und das Wohlverhalten anderer Arbeitsvölker aufschwang. Als die »Folgerungen« des offiziellen Deutschland präsentiert wurden, die aus den »Gefahren« für unsere Wirtschaft wohl fällig wären – niedrige Lohnabschlüsse als vernünftige Reaktion auf die von Dollar, zerrütteten Partnern und steigenden Ölpreisen hervorgerufene Arbeitslosigkeit –, wollte dieser »Notwendigkeit« auch niemand widersprechen. Und schon gleich gar nicht ist einem Kenner der Wirtschaft angesichts der Ungereimtheiten in der wirtschaftspolitischen Diagnose der Zuständigen aufgefallen, was sich ein von seinem Volk anerkannter und bedienter Souverän leisten kann: einerseits den kommunismusverdächtigen Hinweis darauf, daß das Gedeihen »unserer Wirtschaft« im Gegensatz steht zum Wohlergehen derer, die mit ihrer Hände Arbeit alles in Gang halten – andererseits die Propaganda der Konkurrenz zu anderen Nationen, in der das gewöhnliche Volk sich bewähren darf.

2. Noch selbstverständlicher wird das Recht des Staates, den auswärtige Souveräne behindern, auf die Opfer seines Volkes in Sachen »Öl« vorgetragen. Jahrelang floriert nun schon die Hetze gegen die Ölscheichs, die »unsere« Energiekosten ins Unermeßliche steigern. Zwar weiß längst jeder Zeitungsleser, daß sich der Benzinpreis an der Zapfsäule unter heftiger Anteilnahme seines Fiskus erhöht; aber der eigenen Nation blieb der Vorwurf bisher erspart, aus den Lohntüten der deutschen Autofahrer einen Selbstbedienungsladen gemacht zu haben. Schließlich gesteht kein anständiger Deutscher einem arabischen Souverän das zu, worauf sonst eine am Welthandel beteiligte Nation ein unverbrüchliches Recht hat: für das, was man zu verkaufen hat, zu verlangen, was man kriegt. Zusätzlich lassen sich auch noch die »Multis« als Schuldige benennen, und das sind – wie der Name schon sagt – weniger Kapitalisten als keine einheimischen Geschäftsleute. Daß die ölexportierenden Länder mit ihren gestiegenen Anteilen am Verkaufspreis von Rohöl ihr Geschäft machen, ist aber seit einiger Zeit nicht mehr der Skandal: So widersprüchlich der Nationalismus in der Verurteilung anderer Teilnehmer am Weltmarkt vorgeht, so frei ist er auch in seinen Konjunkturen. Erstens haben die USA auf ihre Weise auf »unseren« Kanzler reagiert und »ihren« Dollar wieder teurer gemacht, so daß eine Zeitlang beim steigenden Dollar der Grund lag für die Benzinpreise (umgekehrt hat zuvor das Argument nichts hergegeben!). Zweitens ist im Zuge der weltpolitischen Konfrontation die Aufrüstung aller befreundeten Nationen modern geworden – und ausgerechnet Saudi-Arabien, wo »unser Öl« lagert, gehört zu den Freunden, die mit Waffen beliefert werden müssen. Also gebietet der weltwirtschaftliche Sachverstand, die Verurteilung der in bezug auf den Ölpreis längst vernünftig gewordenen Saudis zu relativieren, Rüstungsexporte für Arbeitsplätze zu erklären, zumal dasselbe auch schon längst für die Atomkraftwerke gilt, um die wir aus energiepolitischen Gründen – »Öl knapp« – nicht herumkommen. Ganz gleich, wie die Unterabteilungen der nationalen Begutachtung in Sachen Öl ausfallen – immer rechtfertigt die Anklage nach außen den Anspruch auf Dienste und Zumutungen daheim.

3. In einer Demokratie gehört es sich, daß das Volk, welches für die Wünsche des eigenen Staates und seiner Wirtschaft gegenüber dem Ausland geradezustehen hat, auch eine wesentliche Freiheit genießt: Es darf sich in den Machenschaften fremder Staaten lauter Gründe dafür zusammensuchen, daß es in der Gefolgschaft daheim richtig liegt. Die diesbezüglichen Angebote derer, die die Meinungsbildung zu ihrer vornehmen Pflicht erkoren haben, sind frei von Skrupeln aller Art; in der Kritik am Ausland, insbesondere an dem, mit dem solide und rentierliche Beziehungen unterhalten werden, sind Töne an der Tagesordnung, die man auf »uns« nie und nimmer anwenden lassen möchte. So sind im Falle Japans Urteile eingebürgert worden, in denen Verachtung und Respekt in ebenbürtiger Weise für das deutsche »wir« tauglich sind. Die Einwände gegen Japaner« richten sich sowohl gegen ihre Durchschlagskraft auf diversen Märkten, die »uns« genauso wichtig sind, als auch gegen die schlechte Behandlung, die sie ihrem Volk angedeihen lassen – viel mehr Arbeitstage als hierzulande, kein DGB und viel weniger Lohn. Das Kompliment an dieselbe Nation und dieselben Untertanen liest sich in deutschen Landen haargenauso: Bewundernswert das japanische Wirtschaftswunder, zumal die dahinten auch sehr viel fürs Öl ausgeben müssen, und noch bewundernswerter die Leistungs- und Verzichtsbereitschaft dieses Volkes, an dem sich – ginge es nach dem Grafen Lambsdorff – die »verwöhnten« Deutschen auf der Stelle ein Beispiel nehmen sollten. Inzwischen haben verschiedene Regierungen in trauter Eintracht mit dem DGB dafür gesorgt, daß sich gewisse Annäherungen an japanische Standards vollziehen: faktische Null-Tarifrunden, Preise und Abgaben jeder Art senken den deutschen Lohn, während die Umgestaltung von Arbeitsplätzen die Leistung hebt. VW investiert dazu noch ein wenig in Japan...

4. Als Deutscher weiß man selbstverständlich auch, was den Polen gefällt und gut für sie ist. Der Kommunismus auf alle Fälle nicht, wenngleich sich im zwischenstaatlichen Verkehr durchaus gute Geschäfte mit Leuten abschließen lassen, die ihrem Volk weder einen Lebensstandard gönnen, der hierzulande als reine »Verwöhnung« angeprangert werden muß, noch eine Freiheit. Während bei uns das Zusammenfallen von Interessen des Volkes mit dem seiner Führer eine ausgemachte Sache ist, insbesondere dann, wenn Opfer anstehen, sieht es auswärts, östlich vor allem, oft sehr anders aus. Zunächst einmal unterliegt eine polnische Regierung der Klassifizierung »Unrechtsstaat« ohne »Selbstbestimmungsrecht« des Volkes; und ein anständiger Deutscher wird an den Fakten der bundesrepublikanischen Staatsgründung ebensowenig irre in seinem Antikommunismus, den er aus dem Schatzkästlein des vorangegangenen Nationalismus bewahren durfte, wie er jedem Kritiker hierzulande die Methoden des Gehorsams und seiner Erzeugung ans Herz legt, die drüben üblich sind. Wenn dann eine Bundesregierung samt der westdeutschen Geschäftswelt eine regelrechte Polen-Politik zuwege bringt, wenn dadurch die Grenzen für Waren und Kapital geöffnet werden, so dient dies allemal einer guten Sache. Mißtrauen ist nicht der Zusammenarbeit mit diesem »Regime« entgegenzubringen, sondern ihrer Wirkung: Wird auch genug verlangt, wenn »wir« mit denen handeln? Und dürfen auch genug ausreisen in die Freiheit?

Die feste Überzeugung, daß die Schädigung eines kommunistischen Staates in der entgegenkommenden Berücksichtigung seiner Außenhandelswünsche inbegriffen zu sein hat, duldet keine Erschütterung. Schon gleich gar nicht dadurch, daß das polnische Volk vom Ost-West-Handel überhaupt nichts hat. Das bekannte Ergebnis, das die von der polnischen Regierung vollzogene Unterordnung ihrer gesamten Volkswirtschaft unter die Notwendigkeiten des Westhandels zeitigte: die zehntgrößte Wirtschaftsmacht ist pleite, das Volk leidet Not jeder Größenordnung und veranstaltet einen christlich-gewerkschaftlichen Aufstand, mit dem die Staatsmacht vorübergehend in Frage gestellt wurde und auch durch ein Jahr Kriegsrecht nicht fertig geworden ist – dieses Ergebnis wird mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Es zeigt sich für einen deutschen Beobachter nur eines: Wir sind auf dem richtigen Weg und müssen Polen die »Chance« geben, sich ganz und gar dem Westen anzuschließen, sich den Kreditlinien des IWF (Internationaler Währungsfonds) anzuvertrauen – denn das wäre der leichteste Weg zur »Hilfe«, die bis dahin der karitativen Gesinnung der westdeutschen Bevölkerung überlassen bleibt. Mitleid mit den Opfern, die die eigene Regierung auswärts schafft, ist hier genauso wie im Falle der »Entwicklungsländer« erlaubt. Der Außenminister ergänzt die Hungermeldungen mit diplomatischen Kampfansagen gegen die Sowjetunion, deren Bemühungen, Polen im eigenen Block zu behalten, einerseits eine »rasche Hilfe« erschweren, andererseits den »Weltfrieden« gefährden. Die vorläufige »Rettung Polens« durch den Einsatz des Militärs kann – da sie dem nicht stattgefundenen russischen Einmarsch gleichzusetzen ist – nicht hingenommen werden. Schließlich heißen die Rechtsanwälte des polnischen Volkes Genscher und Reagan, und ihre Kanzlei führt den Streit um die Rechte der östlichen Mandanten konsequent mit einem Aufrüstungsprogramm, das ganz gut auch ohne den Schein auskommt, es gehe um so labile und heikle Dinge wie das »Gleichgewicht«. Das Recht fordert seine Rechtsmittel, Belehrungen über deren Gebrauch gehen unterdessen täglich an die Adresse Moskaus.

Wo der national beseelte Blick über die Grenzen den Gegensatz zwischen Herrschaft und Untertanen ausmacht, geht es also keineswegs um die Beurteilung des Zwecks, den so ein Staat verfolgt – und schon gar nicht um die Gründe für den dortigen Modus der Benützung eines Volkes und um deren Verlaufsformen, zu denen die Kooperation mit dem eigenen Staat zählt. Dem bedingungslosen Bekenntnis zu den Interessen »der« Deutschen ist nur eine Sorte von Kritik zuträglich – die zweifelnde Frage nach ihrer ordentlichen Durchsetzung. So ist ausgerechnet in Sachen Polen der erfolgreiche Umgang mit einem Ostblockstaat, der den Ruin eines Volkes schneller hervorbrachte, als das die »Regimes« drüben, auf sich selbst gestellt und nicht in den menschenfreundlichen Außenhandel des Westens einbezogen, je vermocht hätten, auch unter die Rubrik »Verrat an deutschen Ansprüchen« eingeordnet worden. Und damit waren auch nicht die Ansprüche jener Mehrheit gemeint, die Woche für Woche ihre Lohntüte einteilen darf und als »Entschädigung« für ihre wenig lohnende Brauchbarkeit theoretisch über die weltpolitischen Vorzüge des Vaterlandes mitbefinden, dem sie zufällig angehört. Das Verdienst, ein Deutscher zu sein und ideell an der Geltung der Nation in der Welt zu partizipieren, scheint viel wichtiger zu sein als der Verdienst, den man für ein Leben in Freiheit – für die meisten ein Arbeitstag nach dem anderen, nebst den dazugehörigen Risiken und kompensatorischen Anstrengungen und Abgaben für einen Sozialstaat, der das Geld auch besser verwenden kann – so erhält. Dabei sind die in Umlauf gesetzten Unverschämtheiten des heutigen Nationalbewußtseins, die kosmopolitischen Begutachtungen aller Herren Länder nie um die Auskunft verlegen, daß die universale Zuständigkeit der Nation für die gewöhnlichen Bürger – sobald sie über die theoretische und wohlfeile Anmaßung hinausgeht – immer im Dienst besteht. Denn die Praxis des Vergleichs, der da ständig zugunsten der eigenen Nationalität ausfällt, besteht in der Durchsetzung des einen Staates gegen den anderen. Und an diesem Geschäft ist die Mehrheit so beteiligt, daß sie in der Bereitstellung des Reichtums ihre erste und in der Relativierung ihrer Genüsse, dessen, »was man vom Leben hat«, ihre zweite Pflicht erfüllt. Und wenn im Konkurrenzkampf der Nationen, die sich und ihre Manövriermasse an Land und Leuten gegenseitig ausnutzen wollen, für die eine Seite die Bedingungen der anderen unerträglich sind – und wer entscheidet das wohl? –, dann steht die Erledigung der letzten Pflicht an.

5. Aus den Verlautbarungen der deutschen Politiker und ihrer öffentlichen Interpreten, denen am Erfolg der ersteren sehr viel liegt – »Schaffen Sie denn das auch, Herr Minister?« ist die kritischste Frage –, geht hervor, daß es herzlich gleichgültig ist, ob jemand daran glaubt, daß in Afghanistan und Polen »unsere Freiheit« auf dem Spiel steht. Und angesichts des höchstoffiziellen Gerüchts, daß Lang- und Mittelstreckenraketen nebst Neutronenbombe den Frieden sichern und auch tatsächlich zu keinem anderen Zweck je benötigt werden, ist die Frage, wer daran glaubt, schon längst lächerlich. Schließlich wird ständig mit strategischen Argumenten für das Zeug votiert; und daß strategische Überlegungen den Sieg im Auge haben, also die Überlegenheit im Krieg – den man sich also als »Fall« denken darf –, weiß ein jeder. Er kann sich freilich den Vorkriegstest auf die Nachgiebigkeit des Gegners, der sich, weil unterlegen, der Unterlegenheit anbequemt, auch in »Friedenssicherung« übersetzen: Der Feind braucht in diesem Gedankenexperiment nur nachzugeben.

In der Versorgung einer Nation mit strategischen »Informationen«, mit Zahlenmaterial über Panzer, U-Boote und Raketen, die Freund und Feind zur Verfügung stehen, kommt zum Vorschein, wozu der Standpunkt »unseres Interesses« taugt, wenn er zur Selbstverständlichkeit geworden ist. In der westdeutschen Rüstungsdebatte, wo Argumente über die militärischen Mittel zur Sicherung besagter nationaler Interessen fallen, hat man sich längst von der Notwendigkeit emanzipiert anzugeben, was denn eigentlich geschützt wird durch Bundeswehr und NATO-Sprengköpfe. Daß dergleichen notwendig ist, will niemand bezweifeln – und wer im Verdacht steht, es zu tun, wird konsequent als Staatsfeind oder »Gegner der Freiheit« geführt. Auf der Grundlage eines allgemeinen Konsensus über das Militär als das unverzichtbare Mittel der Außenpolitik spielen sich jene demokratischen Gefechte um das Wann, Wieviel und Wozu der Aufrüstungsmaßnahmen ab, in denen sich eine Nation daran gewöhnt, »ihre Interessen« allein unter dem Gesichtspunkt deren gewaltsamer Durchsetzung ständig neu definieren zu lassen.

Die Beiträge zur Diskussion sehen entsprechend aus. Als durchaus sachlich gilt in der Bundesrepublik die Feststellung, daß »wir fest an der Seite der USA« und »im Bündnis« stehen; als zeitlos gültiger Kommentar paßt diese Mitteilung auf jedes neu eingeführte Waffensystem. Mit der Erinnerung daran, daß es diesen »unseren« Staat nur gibt, weil er den maßgeblichen Männern der USA nach dem Zweiten Weltkrieg so recht war, entledigen sich deutsche Politiker ihrer nationalen Pflicht, sich gute Gründe für ihre Beteiligung an der politischen Linie der befreundeten Großmacht auszudenken. Anderen eröffnen sie damit die großartige Alternative eines besseren Nationalismus, der »zwar« auch die Zusammenarbeit mit Amerika für einen „Grundpfeiler unserer Sicherheit« hält, aber »unsere speziellen Sicherheitsinteressen« zur Geltung bringen möchte. Für »amerikafeindlich« und »unrealistisch« erachten die beiden für den demokratischen Konkurrenzkampf wirkungsvoll inszenierten Bonner Positionen den moralischen Nationalismus kritischer Demokraten, die zu einer Friedensbewegung angetreten sind. Diese Bewegung hat sich das Verdienst erworben, die Empörung der Betroffenen (»Wir haben Angst!«) gegen die Zuständigen der deutschen Politik zu richten; sie hat die Beteiligung der BRD an der europäischen Abteilung der NATO-Aufrüstung für einen Fehler deutscher Politik erklärt, den sie mit dem Stichwort vom »Kriegsschauplatz Deutschland« kennzeichnen wollte. Und ihr Anliegen, deutsche Weltpolitik ohne die absehbaren Härten militärischen Engagements, also echte Friedenspolitik zu verlangen, ist den linken Kritikern der SPD ausgerechnet an Polen suspekt geworden. Ihr Anspruch auf mehr Unabhängigkeit deutscher Politik, das Beklagen der beschränkten deutschen Souveränität ist der Befürwortung konsequenter Einmischung gewichen. Die vielbeschworene Angst der »Menschen« um den »Frieden« hat sich in die ganz banale Angst der »Deutschen« vor den Russen aufgelöst; die »alternative Sicherheitspolitik« lehnt die letzte Konsequenz des nationalen »wir« nur noch bedingt ab – nämlich mit dem Verdacht, das in Bonn verwaltete »wir« wäre nicht autonom genug für die freie Entscheidung über den »Ernstfall«.

Der Entschluß der US-Regierung, die Konkurrenz der Waffen vor ihrer Abwicklung schon weitgehend zu entscheiden und den Osten »totzurüsten«, erfreut sich hierzulande heftiger Zustimmung. »Die Moskauer Funktionäre spüren, daß im Umgang mit Reagan die Dinge ihren Preis haben« – frohlockt eine angesehene Tageszeitung und bemüht zum hundertsten Male die Theorie von Gleichgewicht und Abschreckung. Ganz nebenbei wird die »ständige Produktion papierner Abrüstungsappelle« seitens der Sowjetunion verhöhnt und »der freie Westen« dazu aufgefordert, erst einmal »nach«zurüsten statt zu verhandeln, also die russischen Angebote zu Makulatur zu erklären. Das wiederum gibt anderen, die ebenso genau wissen, wo »unsere Interessen« liegen, und daß die Nachrüstung sein muß, Gelegenheit, auf anschließenden Verhandlungen zu bestehen. Diese Abteilung wertet prinzipiell jeden Panzer und jede Rakete bis hin zur Neutronenbombe erst einmal als »Verhandlungsposition« statt als Kriegsgerät. Rüstungsdiplomatie in erpresserischer Absicht wird da ohne weiteres als Kritik an den USA verkauft, und auf alle Fälle bestehen westdeutsche Fachleute der Politik auf einer geschmackvollen Präsentation der letzten Entscheidungen von jenseits des Teiches. Den ganzen August 1981 hindurch erwies sich die Neutronenbombe als glanzvoller Anlaß, diese »Gefechtsfeldwaffe« für den Kriegsschauplatz Europa in tiefstem Ernst vor allem in folgender Hinsicht bedenklich zu finden: 1. Sind »wir« konsultiert worden? 2. Hat es für die Bekanntgabe des Produktionsbeschlusses denn kein besseres Datum gegeben als den Jahrestag der Hiroshima-Bombe? 3. Könnte dieser Beschluß jetzt nicht den Anti-Amerikanismus in der BRD verstärken und die offizielle Verkaufsstrategie der »Friedenspolitik« unglaubwürdig machen?

Das alles geht als »kritische Diskussion« durch und wird in einem wochenlangen Hin und Her »geklärt«. Nein, wir sind nicht konsultiert worden; dies ist aber auch gar nicht nötig gewesen, da es eine interne Angelegenheit der USA ist... Im übrigen weiß doch ein jeder von uns, daß die Produktion der Neutronenwaffe, was eine bessere Bezeichnung als »-bombe« wäre, längst betrieben wird. Darüber hinaus wird sie jetzt nicht herübergeschafft – im Ernstfall dauert es aber nur wenige Stunden. Der 6. August war in der Tat ein unglückliches Datum, jedoch dem Anti-Amerikanismus ist nur durch sachliche Information beizukommen... Aus einem Schritt der Kriegsvorbereitung, der sich bereits auf Details der Gefechtsplanung positiv bezieht, wird so eine muntere Übung in Methodenfragen nationaler Politik. Eher werfen sich die um die Macht konkurrierenden und koalierenden Parteien vor, »die deutsch-amerikanischen Beziehungen« zu verschlechtern oder »die Finanzierung des Verteidigungsbeitrags der BRD« zu gefährden, als daß einer der hohen Herren einen einzigen wahren Satz über den Zweck der Neutronenbombe und die Vorhaben des Bündnisses verlauten ließe.

Und doch geben sie in ihren nationalistischen Interpretationen ständig von den Fortschritten Rechenschaft, die sie in ihrer Handlungsfreiheit erzielt haben. Von der »tiefen Sorge« um die »Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen« über die kundig errechneten Gleichgewichte der Waffenarsenale gelangen sie – im Streit darüber, wer die »nötigen Schritte« konsequenter vertritt und deswegen zum Regieren befugt sei – zu immer eindeutigeren Bekenntnissen. Was immer auch die Sowjetunion unternimmt, es gilt mittlerweile als Beleg dafür, daß »Entspannung« und »Sicherheit«, »Frieden« und »Freiheit« letztlich nur durch militärische Überlegenheit zu haben sind. Das bekam Leonid Breschnew bei seinem Besuch in Bonn im November 1981 zu spüren. Es nützte ihm gar nichts, daß er die Bereitschaft zum teilweisen Abbau der vermeintlich im Mittelpunkt westlicher Sorgen stehenden SS 20 mitbrachte. Er mußte erfahren, daß es seinen Gastgebern so ernst mit der Furcht vor dieser »Bedrohung« gar nicht ist. Als diplomatische Botschaft durfte er die Mitteilung mit nach Hause nehmen, daß die westliche Aufrüstung sich unabhängig von den vorhandenen wie unterlassenen Fortschritten östlicher Rüstung abspielt. Um dieselbe Botschaft erneut klarzustellen, hat 6 Monate darauf der amerikanische Präsident seinen Vize auf eine Werbetournee durch Europa geschickt. Dieser hat die Zurückweisung jedes sowjetischen Versuchs, mit den USA in ein diplomatisches (Ab-)Rüstungsgeschäft zu kommen, einfach als prinzipielle »Verhandlungsbereitschaft« verkauft und sie als erfreuliche »Beweglichkeit« ins Europäische übersetzen lassen. Reagan selbst kommentierte vom Weißen Haus aus die aufgeregten Anfragen nach etwaigen Kursänderungen damit, daß es sich bei den »Vorschlägen« um eine längst fällige Propagandakampagne handle und sonst nichts. Sämtliche deutschen Zeitungen haben dies tags darauf korrekt und ohne jede Empörung vermeldet. Offenbar lag den Medien der demokratischen Öffentlichkeit sehr viel daran, im Gefolge der staatlichen Beschlußfassung Abschied zu nehmen von dem so »emotional« ausgetragenen Streit um die »Nachrüstung« – um die Bürger künftig nur noch mit der Frage zu traktieren, ob in Genf »ernsthaft verhandelt« würde. In ihrer Gleichgültigkeit gegen die verhandelten Positionen ist diese Frage geeignet, jeden Fortschritt in Sachen Rüstung in ein Problem des unstreitigen guten Willens der Politiker zu übersetzen, die inzwischen das eine oder andere Gerät dislozieren und ein »Weltraumprogramm« in Aussicht stellen, natürlich zur Friedenssicherung.

Die nach innen notwendige Rücksichtslosigkeit, wie sie in den USA seit Reagan offizielles Programm ist, gilt deshalb auch als das Ideal der Politik in den »schwierigen achtziger Jahren«, vor dem sich jedermann blamiert, der ein gutes Leben dem Nationalismus mit seinen Pflichten vorzieht. Wo die Anwendung staatlicher Gewalt zur unerläßlichen Grundlage all dessen deklariert wird, was sich die Bürger leisten dürfen, zählen das gute Leben und dergleichen Ansprüche nicht mehr – da geht es ums »Überleben«, und zwar nicht um das des Volkes mit seinen kleinlichen Sorgen, sondern um das des Staates. Dessen Repräsentanten und Liebhaber erzählen zweifelnden Christen inzwischen, daß die Bergpredigt zwar für Gehorsam und Opfersinn von Untertanen tauge, keineswegs aber eine zweckmäßige Gesinnung für antisowjetische Strategie vermitteln könne. Pazifisten erfahren von allerhöchster Stelle, daß ihresgleichen den zweiten Weltkrieg provoziert hätten – Hitler hätte sich durch die Friedensliebe auswärtiger Völker hinreißen lassen. Und auch angesichts der täglich aus Übersee eintreffenden Meldungen über MX, Trident und B 1 nähern sich die dem deutschen Nationalismus verpflichteten Übersetzungen der westlichen Aufrüstung, an der man sich beteiligt, immer mehr dem Klartext, den man so lange wie möglich zu vermeiden suchte: Die Kriegsvorbereitung ist eine ausgemachte Sache, also wird bereits jetzt von allen Bürgern die Konsequenz des Nationalismus eingeklagt, die in allen vormilitärischen Formen der Auseinandersetzung mit dem Ausland angelegt ist. Daß die weltpolitischen Unternehmungen »der Russen« für uns untragbar sind, rechtfertigt inzwischen auch die westdeutsche Innenpolitik, von einer Wirtschaftspolitik neuen Typs – alle »sparen« fürs Militär – bis zu Vereidigungen von Rekruten im Fackelschein. Über den Fortschritt der »weltpolitischen Konfrontation«, auf die wir nur reagieren, unterrichten währenddessen die regelmäßig von Kanzleramt und Außenministerium in der Tagesschau verlautbarten Rundblicke auf alle Konflikte in der Welt, die immer dasselbe beweisen: daß deutsche Friedenspolitik eine immer ernstere Sache wird und – nach und nach – wegen der anderen zum Scheitern verurteilt sei, was dann die vorweggenommene Klärung der Schuldfrage für den Dritten Weltkrieg darstellt. Auch die noch wird sich von der amerikanischen Lesart unterscheiden: Wir können den Wunsch der »Amerikaner« nach Überlegenheit verstehen, angesichts der Weigerung der Sowjetunion, wesentliche Positionen kampflos zu räumen. Die Interessen des deutschen Volkes liegen …

4. Vom Imperialismus der Bundesrepublik

Wie eine Nation die Einordnung aller Herren Länder vollzieht, wie sie das gesamte Ausland in eine Skala zwischen den Extremen Freund und Feind, in bequeme, verläßliche und mißliebige Partner sortiert, verrät einiges über die Stellung dieses Staates in der Welt. Das Verfahren besteht nämlich darin, daß sämtliche Beziehungen, die mit dem Ausland unterhalten werden, eine Prüfung erfahren – und deren unerschütterlicher Maßstab ist ein sehr praktischer: Das ökonomische, politische und militärische Interesse wird je nachdem, wie ihm auswärtige Souveräne und Völker entsprechen, in deren gute und schlechte Eigenart übersetzt. Insofern gibt das bundesrepublikanische Weltbild, das alle außenpolitischen Aktionen der Regierung begleitet, sehr zuverlässig Auskunft über den Erfolg des Bemühens, andere Nationen brauchbar zu machen.

1. Ökonomisch zählt sich die BRD zu den »Wirtschafts-« oder »Industrienationen«, die sich erstens ihresgleichen, zweitens »unterentwickelten Ländern« gegenübersehen; mit den anderen Industrienationen verbindet sie ein reger Handel, der sich auf Waren aller Art erstreckt, also auch auf die Ware Kapital. Deutsche Geschäftsleute und Banken kalkulieren mit Produkten und ihren Preisen, die andere Nationalökonomien offerieren, und ziehen umgekehrt mit der größten Selbstverständlichkeit andere Länder als Käufer wie als Anlagesphäre in Betracht. Deutsche Politiker leiten daraus seit längerem das Recht ab, unter dem Titel »Europa« auf die Entscheidungen einiger Souveräne »Einfluß zu nehmen« – und in Konfliktfällen, wo diese Einflußnahme nicht reibungslos klappt, warten sie mit dem Fingerzeig auf, daß ihnen in der Ablehnung gewisser finanzieller Verpflichtungen und auch sonst Mittel zu Gebote stehen, deren Einsatz den Partnern nicht recht sein kann. Kein Monat verstreicht, ohne daß im Namen Europas irgendeiner befreundeten Nation die Rechnung aufgemacht wird darüber, was »für uns« tragbar ist und was nicht. Kaum zu übersehen, worin das flotte Auftreten der Repräsentanten dieser Republik gründet: Da ergreifen die Vertreter eines begehrten Handelspartners, eines potenten Kreditgebers und Anlegers das Wort, die wissen, daß sie Abhängigkeiten mit dem Ausland geschaffen haben, über die sich kaum ein Partner ohne Schaden hinwegsetzen kann. Stets wird in der Kundgabe all dessen, wovon »wir« abhängig sind – vom Export, von der europäischen Währungspolitik, von der Einhaltung der zu produzierenden Stahlkontingente etc. –, die banale Wahrheit offenbar, daß der unter Verwaltung bundesdeutscher Regierungen geschaffene Reichtum ein sehr wirksames Mittel darstellt, um Bedingungen für andere zu setzen. So schämt man sich auch nicht, in »Informationen zur Entwicklungspolitik« sowie in der täglich den Globus besichtigenden freien Presse den Ländern der »Dritten Welt« eine Diagnose auszustellen, die es in sich hat:

Weil ein Volk in seiner Mehrheit arm ist, kann niemand sparen. Dadurch ist kein Kapital für Investitionen vorhanden. Die Folge: es gibt zu wenig Produktionsstätten, die Produktivität ist zu gering. Dadurch gibt es zu wenig Arbeitsplätze, zu wenig Verdienstmöglichkeiten. Wo nicht verdient wird, kann der Staat keine Steuern erheben. Leere Staatskassen bedeuten: keine staatlichen Angebote an Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, mangelhafte Gesundheitsfürsorge...

Solches meinen selbstbewußte Wortführer einer »Industrienation« allen Ernstes in den Elendsgegenden des Weltmarktes vorzufinden. Aus der nützlichen Armut hierzulande, die zur fest einkalkulierten Grundlage für das Prosperieren von Kapital und Staat gemacht worden ist, entnehmen sie die Entstehung von Kapital durch das Sparen – und das Nicht-Vorhandensein dieser Mär scheint ihnen der Grund für das Fehlen all der menschenfreundlichen Entwicklungen, auf die sie ihrem Land soviel zugute halten. Mit der Logik des Vergleichs von »entwickelt«-»unterentwickelt«, der sie zu der Einsicht führt, daß die Armut der Entwicklungsländer eine schlechte Geschäftsgrundlage für die dortige Staatskasse darstellt, so daß aus dieser auch nicht die nötigen Vorkehrungen zur Beseitigung des Elends getroffen werden können, beschwören sie den »Teufelskreis der Armut«, der »uns« zur Entwicklungshilfe verpflichtet. Ganz, als ob je eine Mark Entwicklungshilfe an die notleidenden Völker adressiert worden wäre! Bei der Darlegung dieses Zweiges »unseres« weltweiten Wirkens wird dann aber schnell offenbar, daß auch Neigung mit im Spiel ist. Die Entwicklungshilfe liegt nämlich auch im Interesse der Industrienationen, nicht nur wirtschaftlich, weil ein Viertel unserer Exporte in Entwicklungsländer geht und wir einen Großteil unserer Rohstoffe von dort beziehen. Ein Ausgleich der politischen und wirtschaftlichen Interessen mit allen Entwicklungsländern dient vor allem der Sicherung des Friedens.

Auch hier gibt die Ideologie durchaus darüber Aufschluß, was an »Beziehungen« so stattfindet. Erstens wird die Sache mit dem »Teufelskreis der Armut« dahingehend korrigiert, daß der Schein entfällt, mit einem Volk, das »in seiner Mehrheit arm ist«, sei kein Geschäft zu machen. Die betreffenden Länder sind sehr wohl in den Weltmarkt einbezogen, und das nicht erst seit gestern: Wie sollten »wir« sonst auf einen Großteil »unserer Rohstoffe« von dort angewiesen sein? Mit diesem Hinweis, der sicher nicht als Verdacht bezüglich des Grundes für die Armut gemeint ist, wird zugleich der »Ausgleich« als Zweck der »Zusammenarbeit« sehr offenherzig dementiert. Immerhin bleibt »unser Interesse« als guter Grund für die Entwicklungshilfe stehen: als zuständig für die Betreuung von »Entwicklungsländern« dürfen sich »Industrienationen« allemal ausweisen, und wer wollte ihnen angesichts ihrer Abhängigkeit von Rohstoffen, welche die armen Völker partout nicht selbst anwenden können, die Entscheidungsbefugnis absprechen über alle Modalitäten des Welthandels, die sie auf ihren Wirtschaftsgipfeln aushandeln. Da gibt es in Währungsdingen und Kreditvergabe an Regierungen der »Dritten Welt« – die es ja ohne die »erste« gar nicht gäbe – manches festzulegen und zu erstreiten; der Frieden, der bei solchen Geschäftspraktiken gesichert werden soll, hat nämlich einen Inhalt, d.h. er erschöpft sich keineswegs in der Abwesenheit von Krieg. Die universale Nutznießung sämtlicher Weltgegenden bedarf einer entsprechend gelungenen Herrschaft vor Ort; und so wenig der »Frieden« durch die Unbotmäßigkeit darbender Analphabeten gefährdet ist, so »heikel« wird für die Veranstalter eines »Nord-Süd-Dialogs« die Lage, wenn sich in den politischen Garantien etwas ändert. Während »wir« unsere bisweiligen »lebenswichtigen Interessen« dort haben, stellt die »Einmischung« anderer Nationen ganz leicht eine »Gefährdung des Weltfriedens« dar—und dabei kommt es noch nicht einmal darauf an, was andere »Industrienationen« dort wollen.

Kein Wunder, daß sich der Ostblock sowohl ökonomisch wie politisch einer besonderen Betrachtungs- und Behandlungsweise erfreut. Aus der Sicht einer »Industrienation«, die bei ihren Produktionen so »exportabhängig« ist, die andererseits selbst so arm an Rohstoffen dasteht wie die BRD, daß sie ohne diesbezügliche gesicherte Importe nicht leben kann, gerät die Sowjetunion samt realsozialistischem Anhang in ein schiefes Licht: Keiner der üblichen Verkehrsformen der »Weltwirtschaft« gegenüber zeigt sie sich aufgeschlossen; in ihrem staatlichen Außenhandelsmonopol behält sie sich alle erdenklichen Handelshindernisse vor, an der Konvertibilität ihrer Währung lag ihr seit den ersten Tagen des GATT nichts mehr. Und wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – doch einmal ein Geschäft mit sich machen läßt, so nur unter ganz speziellen Bedingungen, die vermuten lassen, daß es nur ihrem einseitigen Vorteil gilt. Zwar sind diese Geschäfte inzwischen in Milliardenhöhe üblich und als »Osthandel« in die Geschichte der Entspannungspolitik eingegangen – diejenigen, die die dafür notwendigen Kredite vergeben, entscheiden sogar recht handfest über die Geschicke der polnischen und anderer Volkswirtschaften mit –, doch leiden sie allesamt an einem Mangel. Weder handelt es sich bei den abgewickelten Geschäften um Zugeständnisse von gefügigen Staatswesen, die ihren äußeren Abhängigkeiten entsprechend Dienste verrichten, wie bei den Abkommen von »armen Ländern« mit »uns«, in denen eine souveräne Staatsmacht ihre Grenzen »erkennt«, sich mit dem Ausland arrangiert und dies im Umgang mit den eigenen Untertanen beweist – am besten durch die stete Verkündigung nationalen Aufbaus und der Demokratie als Endziel. Noch bewährt sich der Osten als gleichgesinnter und den gleichen Maximen gehorchender »Partner«, der »berechenbar« – das ist die Chiffre für »ein mit seinen eigenen Kalkulationen zu überzeugender und zu erpressender Souverän« – bleibt in seinen Aktionen. Nicht einmal im Angewiesensein auf regelmäßige Deviseneinkünfte aus dem Westen will sich eine Sowjetunion zu ihrer »Abhängigkeit« bekennen; im Gegenteil, sie beharrt darauf, daß in ihrem Fall geschäftliche Kalkulation und nationales Interesse nicht in eins fallen, daß sie auch in ihren außenpolitischen Entscheidungen einem anderen Kriterium verpflichtet sei als dem Erfolg des privaten Reichtums von Bürgern, in dem jeder bürgerliche, also ordentliche Staat seine Existenzgrundlage besitzt. Kurz: die Systemfrage wird von diesen Störenfrieden eines geregelten internationalen Verkehrs ständig aufgeworfen – und wenn sie per Diplomatie und militärischem Engagement auch noch um Unterstützung durch instabile Staaten werben, also Fuß fassen wollen in der Weltpolitik, dann kann ihnen gemäß H. D. Genscher, Außenminister der BRD, ein »maßvolles weltpolitisches Verhalten« keinesfalls attestiert werden. Also ist vom Boykott der olympischen Spiele über die Aufkündigung von Handelsbeziehungen bis zur Demonstration und Herstellung militärischer Überlegenheit alles geboten, um die Zuständigkeit des Systems zu wahren, dessen Interessen in jeder Hinsicht ein Faktum sind.

2. Ein politischer Zwerg ist die Bundesrepublik schon lange nicht mehr. Mag sein, daß dieser selbstverliehene Titel in den Gründungstagen des westdeutschen Staates etwas von Wahrheit an sich gehabt hat – aber schon die ersten Tage der Adenauer-Diplomatie bestanden in sehr speziellen Kampfansagen an den Osten (»Alleinvertretungsanspruch«, Wiedervereinigung, Hallstein-Doktrin), die sich für eine »kleine Nation«, die einer Front von Siegermächten gegenübersteht, ziemlich seltsam ausnehmen. Aber zu dem Zeitpunkt, an dem die »politisch Verantwortlichen« den Schein bundesdeutscher Ohnmacht in die innenpolitische Selbstbespiegelungsdebatte warfen, ging es schon längst um die Bemäntelung all dessen, was diese Nation in der Welt anrichtet und wozu sie die rückhaltlose Unterstützung ihres Volkes reklamiert.

Die inzwischen erreichte Stellung der Bundesrepublik auf dem Weltmarkt, ihr faktischer Umgang mit allen Staaten, die Nützliches und Preiswertes zu verkaufen haben oder umgekehrt erstehen wollen, läßt in einer Hinsicht keinen Zweifel offen: Aus der Entscheidung der USA, diesen Staat zu errichten und seine Geschäfte florieren zu lassen, haben die politischen Veranstalter einiges zu machen verstanden. Unter dem tatkräftigen Einsatz des arbeitenden Teils ihres Volkes haben sie aus dem Schutz ihrer Souveränität durch die westliche Weltmacht das »Kapital geschlagen« – und zwar im wahren Sinne des Wortes –, das heute als Basis für einen schlagkräftigen politischen Überbau fungiert.

Die Bundesrepublik Deutschland ist mit ihren ökonomischen Interessen eine weltweit anerkannte Macht, so daß es niemand für anstößig befindet, wenn sie auf Wirtschaftsgipfeln die Konditionen künftigen Welthandels mitbestimmt. Daran, daß sie als NATO-Frontstaat tatkräftig an der jeweils aktuellen Variante der Feindschaftserklärung gegen die östliche Weltmacht mitwirkt, hat sich die übrige Staatenwelt längst gewöhnt – ebenso wie daran, daß befreundete Staaten der BRD mit westdeutschem Kriegsgerät – natürlich nach im Bundestag demokratisch beschlossenen Kriterien und unter gleichzeitiger Kritik an den armen Ländern, sie würden zuviel für Waffen ausgeben – versorgt werden. Und dennoch: in der öffentlichen wie gelehrten Beurteilung dieser Nation, die den gesamten Globus als brauchbares Betätigungsfeld für »unsere Interessen« behandelt, die sogar in der Benützung des anderen Systems erhebliche Erfolge verbuchen konnte und jetzt ein extra militärisches Gleichgewicht zwischen »Europa« und der UdSSR reklamiert, will niemand vom Charakter dieser universalen Zuständigkeit auch terminologisch Notiz nehmen.

3. Imperialismus also soll man das alles nicht nennen, was da unter der gar nicht bescheidenen Parole »Verantwortung für den Weltfrieden« seit Jahrzehnten vollzogen wird. Denn soviel will auch heute noch jedermann mit diesem Terminus verbinden: Streben nach Herrschaft in aller Welt, Ausbeutung fremder Völker, Anwendung von Gewalt gegen andere Souveräne – also lauter Verstöße gegen den moralischen Kodex menschenrechtlich wie völkerrechtlich informierter Demokraten. Also kann nicht sein, was nicht sein darf. Wer schlicht darauf verweist,

– daß der BRD-Staat im Innern eine Klassengesellschaft unterhält, in der keine Leistung und kein Opfer der arbeitenden Mehrheit groß genug ist, um die Mehrung privaten Reichtums zu befördern,

– daß der Staat diesen Reichtum auswärts als Hebel einsetzt, um seiner Vermehrung auch die außerhalb seines Hoheitsgebietes verfügbaren Quellen zu erschließen,

– daß diese Nation auch über die dazu nötigen Gewaltmittel verfügt und – für den Fall, daß sie als politische Drohung oder in ihrer amerikanischen Anwendung den Erfolg nicht gewährleisten – mit Krieg kalkuliert,

sieht sich mit entschuldigenden Dementis konfrontiert, die die Tatsachen des Imperialismus für dessen Überwindung erachten und die aufgeteilte und benützte Welt zum Zeugen für die Harmlosigkeit ihres Nutznießers anrufen.

5. Die theoretische Überwindung des Imperialismus

Aufgeklärten Weltbürgern sind die Tatsachen der Weltpolitik sehr gut bekannt. Sie haben sich längst daran gewöhnt, daß jede Erdgegend mit ihren Naturschätzen erschlossen ist, daß jeder Staat mit seinem Volk einen Gegenstand geschäftlicher Kalkulation darstellt. Auch wissen sie, daß ihre demokratischen Regierungen – die der Bundesrepublik hält sich da im Rahmen des Bündnisses keineswegs vornehm zurück – mit einem weltweiten Einsatz von Gewalt Sorge für das Gelingen dieser Kalkulation tragen, daß die politischen Garanten des Geschäfts also ständig mit dem Krieg rechnen. Vertraut sind ihnen auch die Opfer, welche politische und ökonomische Interessen in der großen Politik des 20. Jahrhunderts fordern. Die einschlägigen Klagen sind fester Bestandteil der öffentlichen Meinungsbildung, die Produktion von Leichen entzieht sich – in welchen Ecken der Welt sie auch gerade wieder auf einen Höhepunkt zusteuert – nur selten den TV-Kameras und den stilvollen Schilderungen der Kommentatoren.

Und doch ist es mit den Kampfansagen gegen den Imperialismus, die einmal von links seine Durchsetzung begleiteten, vorbei. Der bürgerliche Wissenschaftsbetrieb liefert zwar meterweise Statistiken und Studien über die Ordnung in der Welt und ihre Krisen – aber von den Notwendigkeiten, d. h. den ehernen Gesetzen einer durch staatliche Gewalt weltweit inszenierten Kapitalverwertung wollen Theoretiker heute bei aller wohlwollenden, klagenden und kritischen Beschäftigung mit ihren Verlaufsformen nichts wissen.

Wer heute wie weiland Lenin bei der Abfassung seines Klassikers das von Brotgelehrten verfaßte Schrifttum heranzieht, findet sich bei dem Bemühen, Klarheit über den Zusammenhang von arm und reich, Krieg und Frieden im Weltmaßstab zu gewinnen, mit wissenschaftlichen Meinungen konfrontiert, die kaum mehr als Ideologie zu bezeichnen sind. Wenn in einem Lehrbuch der Volkswirtschaft zu lesen ist:

»Internationaler Handel wird getrieben, wenn ein Land durch Außenhandel eine größere Güterversorgung erreichen kann als ohne Handel«

so handelt es sich längst nicht mehr um eine Formulierung der »Theorie der komparativen Kosten«, als die dergleichen verkauft wird. Weder von Kosten und Gewinn, und schon gar nicht von Kapital und Staat ist da die Rede, wenn die von Ricardo vertretene Lehre derzufolge im internationalen Tausch, für den sich verschiedene Nationen spezialisieren, beide Nationen (!) gewinnen können – an modernen Universitäten verballhornt wird, und zwar zu Lügen. Denn soviel geht tatsächlich aus der bloßen Anschauung der Realität von Armut und Elend in armen wie reichen Nationen, die alle flott am Weltmarkt partizipieren, hervor: daß die Güterversorgung ganz sicher nicht den Grund und Zweck des Weltmarkts abgibt.

In der Erfindung von nicht existenten Zwecken sind die sich sehr sachkundig gebenden Nationalökonomen bei ihrer Betrachtung des Weltmarkts wirklich nicht faul. Getrennt von allen wirklichen Bewegungen, die Gold und Dollar, Mark und Kreuzer durchmachen, diskutieren sie die fiktive Alternative zwischen festen und flexiblen Wechselkursen, um dann – bisweilen aus dem sehr konjunkturbedingten Anlaß eines nationalen Geschäftsrückgangs, eines Nachteils in Exportdingen etc. – der einen Möglichkeit die Leistung zuzusprechen, auf die es doch wohl ankäme: die Versorgung mit Liquidität. Und in ihrer expertenhaften Besichtigung von Zahlungsströmen und Wechselkursen, Zinsniveaus und Auslandsanlagen daraufhin, ob die beobachteten Bewegungen eine ausgeglichene Handels-, Zahlungs- oder Leistungsbilanz zuwege bringen oder irgendein unerträgliches, folgenreiches und »gefährliches« Ungleichgewicht, gestehen sie ihre Methode ein. Unabhängig davon, daß keine der auf dem Weltmarkt maßgeblichen Instanzen eine wie immer geartete Bilanz und ihren Ausgleich zum Ziel hat, unbeschadet der banalen Einsicht, daß die diversen Gleichgewichte nicht einmal miteinander vereinbar wären, ginge es jemandem um sie, ergreifen sie Partei für das Funktionieren der Weltwirtschaft. Alle Ideologien, mit denen Staatsmänner gerne ihre gelungenen oder gescheiterten Geschäfte rechtfertigen und verdolmetschen, nehmen sie bitter ernst, machen sich das konstruierte Problem zum theoretischen Anliegen, um zur Suche nach Faktoren überzugehen, die seiner Lösung entgegenstehen. Dieses Verfahren allein bürgt für das Zustandekommen von ökonomischen Diagnosen, die in konsequenter Demonstration der Sorge um den reibungslosen Ablauf des Waren-, Geld- und Kapitalverkehrs in der medizinischen Metaphorik den für die Nationalökonomie passenden Jargon gefunden haben. Aus den Konkurrenzkämpfen um den Ölpreis, den OPEC-Staaten, Ölkonzerne, die Regierungen der westlichen Länder und die Verkäufer der Endprodukte vom Benzin bis zum Plastiktütchen im Supermarkt zu ihrem Geschäftsmittel zu machen streben, ist bei allem Erfolg der beteiligten Hauptakteure in der wissenschaftlichen wie populären Publizistik eine veritable »Energiekrise« geworden. Sooft sich in Fragen des Dollarkurses eine oder mehrere europäische Zentralbanken über Nachteile der von ihnen repräsentierten Geschäftsinteressen beklagen, sind die Fachleute zur Stelle und beschwören eine »Weltwährungskrise« – selbstverständlich nicht ohne (leider nicht zu realisierende) Vorschläge zur Wiederherstellung der »Funktionsfähigkeit« des darniederliegenden IWF mit seinem empfindlichen System von Sonderziehungsrechten. Vor dem Idealismus des Gelingens schlechthin, den die beteiligten Staaten, Banken und Börsenjobber in wohlkalkulierter bis erpresserischer Absicht in die Welt setzen, geraten einem Ökonomen die Konkurrenzinteressen samt den Mitteln ihrer Durchsetzung – also das, worum es geht – zu einer einzigen Ansammlung von unvernünftigen Entscheidungen, die den liebgewonnenen »subtilen Mechanismus« in all seiner »Komplexität« außer Betrieb setzen und die »Selbstheilungskräfte« des Marktes nicht zum Zuge kommen lassen. Mit all ihrer prätendierten Kennerschaft meldet die heutige Nationalökonomie lieber ein theoretisches Sorgerecht auf den internationalen Kapitalmarkt an, als ihn zu erklären; das Bewußtsein von der »Komplexität“ der Sache und den Schwierigkeiten mit Begriffen und Definitionen läßt sie als einzige sachliche und sachkundige Art und Weise gelten, über die staatlich vermittelten Geschäftspraktiken, den Umgang mit Geld, Ware, Kredit, Kapital und Menschenmaterial zu reden.

Was den Ökonomen recht ist, erachten Fachleute der internationalen Politik nur für billig. Auch ihnen ist die Verwandlung von vorgefundenen Ideologien in wissenschaftliche »Ansätze« geläufig – so sehr, daß sie aus der offiziellen Bezeichnung gewisser Kreditpraktiken als »Entwicklungshilfe« den Zweck der »Hilfe« und das Ziel der »Entwicklung« als gesicherte Grundlage für allerlei Räsonnements über effektivere Hilfe und Alternativen der Entwicklung akzeptieren, Modelle entwerfen und die Realität des politischen Verkehrs zwischen »Industrienationen« und »Dritter Welt« keines Blickes mehr würdigen. Nach allen Regeln der Kunst, die moderne Sozialwissenschaften zur Perfektion gebracht haben – die Rede ist von der Kunst, etwas zu behaupten, den getroffenen Aussagen hypothetischen Charakter zuzusprechen und sich zu fragen, ob sich in der Realität etwas findet, das den Hypothesen entspricht –, wird da »Imperialismustheorie« betrieben. In dem Aufsatz Eine strukturelle Theorie des Imperialismus (Imperialismus und strukturelle Gewalt, hg. v. D. Senghaas, Frankfurt 1972, es 563, S. 29-104) zeigt J. Galtung in nicht endenwollenden »Reflexionen« auf, »daß zwischen der Zentralnation als ganzer und der Peripherienation als ganzer Disharmonie der Interessen besteht« (S. 38). Aber nicht etwa, um die Gegensätze zwischen den ökonomischen Bedürfnissen einer schwarzafrikanischen Regierung und bundesdeutschen Krediten auszumachen; auch nicht, um den Widerspruch zwischen den Waffenlieferungen und den Überlebensnotwendigkeiten des Volkes zu kennzeichnen, dessen Staat das Tötungsgerät in Empfang nimmt! Hier gibt sich ein engagierter Wissenschaftler seriös, indem er sich die Frage vorlegt, ob er denn nun etwas Brauchbares aufgezeigt habe. So schreitet er zu einem Dementi:

»Aber diese Art von Feststellung, auf die häufig rekurriert wird, ist äußerst irreführend, weil sie die Interessenharmonie zwischen den beiden Zentren verschleiert...«

Er zermartert sich sein Hirn mit einer »komplexen Definition« des Imperialismus:

»In unserer Zwei-Nationen-Welt kann (!) Imperialismus jetzt bestimmt werden als eine Möglichkeit (!) der Machtausübung der Nation im Zentrum über die Nation an der Peripherie...«

und bemerkt keineswegs, daß er nur noch über lauter Abstraktionen von der Welt verhandelt und das wirkliche Geschehen zu einem Gefüge von »Interaktionsstrukturen« und »Interaktionsbeziehungen« verfabelt, die in ihrer Inhaltslosigkeit nur das Bedürfnis nach der Erstellung eines Modells befriedigen, das schließlich mit Pfeilen und Kästchen vor dem Leser ersteht. Es ist eben etwas anderes, die Weltwirtschaft zur Kenntnis zu nehmen und die Gründe zu erschließen, die ihre maßgeblichen Subjekte dazu bringen, ein fröhliches Nebeneinander von Armut und Reichtum zu erzeugen, als die ökonomischen und politischen Benutzungs- und Erpressungspraktiken in die Idee einer Struktur zu übersetzen. Nur wer letzteres mit Wissenschaft verwechselt, ist in der Lage, über Beobachtungen im Irrealis Belege für die Existenz des Imperialismus finden zu wollen und sich wegen des absehbaren Scheiterns dieses Bemühens einen Auftrag für Faktenstudien zu erteilen:

»Angenommen, wir gingen nun vom entgegengesetzten Ende aus und entdeckten, daß manche Nationen im Laufe der Zeit ihre Lebensbedingungen stärker verbessern als andere und daß dieser Prozeß eine bestimmte Struktur hat, eine bestimmte Invarianz. Wie gesagt, ist das an sich noch kein Beweis für die Existenz von Imperialismus; es sollte aber den Forscher dazu veranlassen, in dieser Richtung nach Faktenmaterial zu suchen.«

Die Ergänzung einer Welt, die aus »Strukturen«, »Prozessen« und »Beziehungen« besteht (denen immerzu das Attribut »bestimmt« beigelegt wird, ganz als ob dadurch die Bestimmungslosigkeit der soziologischen Worthülsen getilgt wäre!), um Statistiken des Pro-Kopf-Einkommens aller Weltgegenden ist allerdings keine Hinwendung zur Realität, sondern deren Vortäuschung. Denn den Dollarbetrag, der da ideell einem Pakistani oder Schwarzafrikaner zum Verzehr in die Hand gedrückt wird, sieht der gute Mann sein Leben lang nicht. Und der verschämte Hinweis darauf, den moderne Theoretiker der »Unterentwicklung« stets zur Hand haben, daß die Verteilung des Bruttosozialprodukts eben eine äußerst ungleiche wäre, nimmt ihrem Konstrukt nichts von seiner Absurdität. Man muß eben erst einmal das Ziel einer Versorgung der Welt mit Lebensmitteln und -chancen als existent unterstellen, um seine Nicht-Realisierung zu beklagen und diese Klage dann als Erklärung des Imperialismus auszugeben – die wohlmeinenden Korrekturvorschläge in Sachen »Veränderung der Strukturen« erweisen sich dann ausgerechnet deshalb als undurchführbar, weil die »Realität« sie nicht zuläßt. Diejenigen Forscher, die sich als Imperialismustheoretiker an den modernen Universitäten einen Namen machen, haben im übrigen längst die »Schwierigkeit« der Veränderung mit ihren theoretischen Drangsalen und Unzulänglichkeiten zusammengebracht: auch eine Weise, die Macher des Imperialismus zu entschuldigen, indem man die eigenen, auf »Überwindung« von Ungerechtigkeiten aller Art zielenden Analysen zwar nicht der Falschheit, wohl aber der Vorläufigkeit und Unausgegorenheit bezichtigt. Darauf versteht sich D. Senghaas, der als langjähriger Leiter der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung mit der Rede von »struktureller Gewalt« und »organisierter Friedlosigkeit« die imperialistischen Praktiken und ihre Wirkungen in soziologischen Mechanismen, die walten, verankert hat, sehr gut:

»... doch gilt es, zuerst einmal das Fundament für die analytische Erfassung gegebener Tatbestände zu legen, ehe Veränderungsstrategien entwickelt werden, die, wenn sie auf unzulänglichen Analysen beruhen, sich kaum in praktisches Handeln übersetzen lassen.« (Editorisches Vorwort zu Imperialismus und strukturelle Gewalt, S. 25)

So mag sich mancher verhungernde oder in einen mit europäischen und amerikanischen Waffen angezettelten Bürgerkrieg verwickelte Afrikaner damit abfinden, daß sein Schicksal sich nicht den Taten und Leistungen gewisser Außenpolitiker verdankt, sondern dem bislang noch fehlenden »Konzept« für »symmetrisch strukturierte Hilfeleistung«!

Nie wird modernen Wissenschaftlern, die in der Befassung mit den verheerenden Wirkungen des »Weltmarkts« und der »Entwicklungspolitik« ihre Karriere machen, die offiziell angegebene Zielsetzung verdächtig. Lautet sie »Hilfe«, warnen sie vor falscher Hilfe und ersinnen Hilfsmodelle; lautet sie »Frieden«, so eröffnen sie sich das weite Feld der Friedensforschung und unterstellen den berufsmäßigen Rüstungsdiplomaten den ungebrochenen Willen zur Vermeidung von Kriegen, freilich mit gewissen Erkenntnislücken in Sachen »Kriegsgefahr«, die sie dann schließen. Dem strategischen Zynismus, der die Waffen des Feindes als Beleg für die schlechten Aussichten auf einen Sieg und damit schon auch einmal für die Überholtheit des Krieges wertet, verschaffen die Männer der Friedensforscherzunft wissenschaftliche Reputierlichkeit, indem sie die Mittel des Krieges als Grund für seine Unbrauchbarkeit ebenso in Druck geben wie als Gefahr für sein Zustandekommen. Was soll man eigentlich von Intellektuellen wie Senghaas halten, die sich fragen, »ob das Atomzeitalter das Zustandekommen einer (!) Beziehung zwischen Politik und Gewalt zuläßt«, die aber auch Gewalt »strukturell« und »den Unfrieden institutionell verankert« wissen wollen? Kann man ihnen wirklich ihren Idealismus des Friedens, an dem sie so unermüdlich herumschriftstellern, zugute halten? Oder darf man ihnen ganz ungeniert bescheinigen, daß sie mit großkalibrigen und geschichtsträchtigen Sätzen wie:

»Der Krieg als Fortsetzung der Politik ist weithin (!) sinnlos (!) geworden... Das Größenwachstum seiner Mittel führte den Ruin (!) des Krieges nach rein militärischen Begriffen schon vor Jahrzehnten herbei.« –

auf ihre Weise den Politikern zur Seite stehen, die immerzu aus der Tatsache, daß Kriege nicht Zweck, wohl aber kalkuliertes Mittel sind, ihre Friedenspolitik begründen? Die zielt nämlich auf die Nachgiebigkeit des Gegners, den heutzutage jeder kennt, beruht auf seiner Erpressung mit den militärischen Mitteln, die den Sieg garantieren – und rechtfertigt sich gerne mit den furchtbaren Wirkungen, die ein Krieg »heute« habe! Vielleicht darf man einem Friedensforscher gegenüber auch einmal klarstellen, daß er immerzu die Subjekte von Krieg und Frieden entschuldigt und als Opfer ihrer eigenen Taten hinstellt, wenn er ihnen mit wissenschaftlichem Gestus die enormen Schwierigkeiten nachempfindet, die ihrem geheuchelten Abrüstungswillen entgegenstehen:

»Rüstungskontrollpolitik mit dem Ziel einer Verminderung von Rüstungsanstrengungen kann in einem Gebilde, das konfigurativ (!) verursacht ist, nur dann erfolgreich sein, wenn sie auf eine Kombination von einer Vielfalt geplanter Maßnahmen und einer Vielzahl praktischer Schritte angelegt ist.« (D. Senghaas)

Aber auch auf die alles klärende Frage an Theoretiker, was denn einer von ihnen sämtlichen freien Regierungen unterstellten Absicht entgegenstehe, Frieden zu halten und der darbenden Bevölkerung der »Dritten Welt« zu helfen, die polnischen Arbeiter eingeschlossen; welche Sachzwänge und vertrackten Tücken des Objekts denn eigentlich dem guten Willen, der ansonsten das Kommando zur Mondfahrt, zum Bau von Atomkraftwerken und zu den komplizierten Techniken weltweiter Ausbeutung zuwege bringt, im Wege seien – auch auf solche banalen Erinnerungen an den wirklichen Lauf der Welt hat die moderne Wissenschaft schon ihre ausweichenden Antworten und tiefsinnigen, weltanschaulichen Spekulationen parat. Wenn sie einmal nicht den offiziellen Ideologien des Imperialismus die Würde eines Problems zuspricht, das in vielen »Ansätzen« einer »Lösung« zugeführt werden muß, so gibt sich die Zunft der heutigen Dichter und Denker ganz »realistisch« -und verweist auf Naturnotwendigkeiten der Geschichte – auch ein schönes Subjekt! – und des Menschen. Von Augstein und einem Psychologen der ersten Garnitur können sich bundesdeutsche Zeitungsleser gehobenen Anspruchs mitteilen lassen, daß »Aggression« und »Todestrieb« den Dritten Weltkrieg langsam aber sicher heraufbeschwören. Selbst auf diese Weise ist Zustimmung zu »problematischen« Entscheidungen erlaubt und gefragt. Philosophisch-anthropologisch läßt sich der Imperialismus eben auch leugnen. Statt seiner gibt es wieder einmal ein Schicksal, und in der Ökologie die Philosophie des Überlebens. Kriegsspielzeug gehört verboten!

6. Lenins Imperialismusschrift:
Ein aktueller, aber falscher Klassiker

Ganz anders als die akademische Wirtschaftswissenschaft und Lehre von der internationalen Politik verfährt Lenin in seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. (Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 763 ff.) Weder macht er sich zum Anwalt der Probleme, der wirklichen wie denkbaren, die den internationalen Handel und die immerzu auf Friedenserhaltung abzielende Weltpolitik heimsuchen, noch entschuldigt er die Subjekte der weltweiten Symbiose von Geschäft und Gewalt damit, daß er ihnen Unkenntnis und Versäumnisse zur Last legt bei der Bewältigung ihrer seriösen Vorhaben, für »Entwicklung« und »Frieden« zu sorgen. Er tritt von vornherein als Ankläger auf, der von guten Zwecken nichts bemerkt haben will, deren Scheitern ein Anlaß wäre zur Erfindung besserer Alternativen. Kompromißlos verurteilt er die Geschäftspraktiken, die den Weltmarkt bestimmen – und er läßt an der Vorstellung, daß die ökonomischen Sitten der Marktwirtschaft ohne Krieg zu haben seien, kein gutes Haar. Ob sich diese Kompromißlosigkeit freilich auf richtige Einsichten stützt, muß bezweifelt werden – auch wenn der russische Revolutionär nicht auf den Fehler verfallen ist, mit allen Instanzen der Weltpolitik in einen Dialog über die Erhaltung des Friedens einzutreten.

Lenin hat seine am weitesten verbreitete Schrift mitten im Ersten Weltkrieg verfaßt. Angesichts dieser Tatsache mutet sein Beweisziel einigermaßen seltsam an. Er wollte zeigen,

»daß auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege absolut unvermeidlich sind.« (S. 770)

Zu einem Zeitpunkt, als das Völkerschlachten in vollem Gange war, die Notwendigkeit des Krieges in einer theoretischen Kampfschrift darzutun, die imperialistische Gewaltanwendung mit Hilfe und auf Kosten von Millionen national- und pflichtbewußter Menschen aus dem Privateigentum zu begründen – das ist für einen Revolutionär ein gar nicht selbstverständliches Unternehmen. Denn ein solcher Nachweis wendet sich auf keinen Fall an die Betroffenen, die sich gerade sehr praktisch mit dem Töten und Sterben befassen. Er ist keine Agitation, die den Opfern des Imperialismus zeigt, was sie an verkehrtem Zeug denken und was sie zu ihrem eigenen Schaden treiben, also keine theoretische Mitteilung, die auf die Veränderung der praktischen Stellung der Klasse zielte, deren Interessen die Kommunisten durchsetzen wollen. Wie sollten auch Erörterungen darüber, wie enorm sich unter der Herrschaft des Finanzkapitals die Widersprüche des Imperialismus verschärfen, zur praktischen Anleitung eines Aufstands bei denen taugen, die jene Widersprüche gerade ausbaden?

Lenins Imperialismustheorie ist eine Streitschrift anderer Art. Sie sollte eine begründete Abrechnung mit der Politik von Parteien sein, die als Organisationen der Arbeiterbewegung ihren Frieden mit dem Klassenstaat geschlossen haben und zur Durchsetzung von dessen außenpolitischen Anliegen selbst für den Krieg eingetreten sind. Sozialdemokratische Politiker, die noch den Baseler Beschlüssen zugestimmt hatten, erwiesen sich als eifrige Verfechter der Vorhaben ihrer Nation, so daß Lenin »mit dem Gefühl tiefster Bitterkeit« 1914 schrieb:

»Die einflußreichsten sozialistischen Führer und die einflußreichsten sozialistischen Presseorgane im heutigen Europa vertreten den chauvinistisch-bürgerlichen und liberalen, keineswegs aber den sozialistischen Standpunkt.« (S. 747)

Mit seiner Analyse, die »das Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren internationalen Wechselbeziehungen« darstellen sollte, hat er sich gegen die offensichtliche Entwicklung von ehemals kommunistischen Parteien hin zu den heute üblichen Sozialdemokratien gewandt, zu Parteien, die mit Reformalternativen um die Regierung des Klassenstaats konkurrieren. Nachdem maßgebliche Theoretiker der II. Internationale ebenso wie Wissenschaftler aus dem bürgerlichen Lager die Ideologien für den linken Nationalismus bereitgestellt hatten, kam es Lenin auf die grundsätzliche Widerlegung dieser Parteigänger des Klassenstaats und seines außenpolitischen Wirkens an. Mit einer richtigen Theorie des Imperialismus wollte er klarstellen, womit es sozialistische Parteien da zu tun, was sie zu vertreten hatten und welche illusionären Zielsetzungen sie korrigieren mußten:

»Ohne die ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der politischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen.« (S. 774)

In solchen methodischen Bemerkungen, die sich nicht nur in den Vorworten häufen, besteht Lenin immerhin darauf, daß Kommunisten schon wissen müssen, wogegen sie antreten; daß politische Entscheidungen aus der Einsicht in die Gründe und Zwecke des imperialistischen Treibens zu folgen haben und nicht aus Hoffnungen und Friedensidealen. So polemisiert er gegen das Kautskysche Kompliment an die Politik kapitalistischer Nationen, sie berge die Möglichkeit friedlichen Umgangs mit dem Rest der Welt in sich; er geißelt den Abschied vom Klassenkampf und die Sorge um die bessere politische Alternative in der Außenpolitik, die für eine Partei nur konsequent ist, wenn sie die Sicherung des Friedens für einen staatlichen Auftrag hält:

»Wesentlich ist, daß Kautsky die Politik des Imperialismus von seiner Ökonomie trennt, indem er von Annexionen als einer vom Finanzkapital ›bevorzugten‹ Politik spricht und ihr eine angeblich mögliche andere bürgerliche Politik auf derselben Basis des Finanzkapitals gegenüberstellt.« (S. 842)

Darüber hinaus spricht hier Lenin auch den inhaltlichen Beweis an, den er für die Notwendigkeit gewaltsamer Übergriffe kapitalistischer Staaten führen will. Sie liegt für ihn in den ökonomischen Bewegungsgesetzen, den entscheidenden Geschäftsinteressen des »Finanzkapitals«. Diese Interessen und ihre Verlaufsformen bestimmen den Gang der internationalen Auseinandersetzungen – das Finanzkapital wirft »im buchstäblichen Sinne des Wortes seine Netze über alle Länder der Welt aus«, und es »führte auch zur direkten Aufteilung der Welt«.

Lenins Einwand gegen die Theoretiker des Opportunismus in der II. Internationale, sie würden die Politik von ihrer ökonomischen Grundlage trennen, ist der Auftakt für die Analyse des Kapitals und seines Geschäftsgebarens, in der die Politik mit ihren Zwecken erst einmal gar nicht vorkommt. Lenin verzichtet großzügig auf die Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik, und das aus der »orthodoxen« Sicherheit heraus, daß letztere ohnehin in nichts anderem besteht als in der Exekution der Geschäftsinteressen des Kapitals. Insofern gehört seine Schrift zu jener Abteilung marxistischer Theorie, die mit dem Bekenntnis zur »ökonomischen Basis«, welche alles übrige »bestimmt«, dem speziellen Gegenstand sehr konsequent aus dem Weg geht und eine verkehrte »Bestimmung« der Politik vornimmt. Wie der Zusammenhang von Profitinteresse von Kapitalisten und Außenpolitik des ideellen Gesamtkapitalisten für Lenin aussieht, geht aus den wenigen Bemerkungen über das Verhältnis von Staat und Kapital im Imperialismus hervor:

»Die Rettung liegt im Monopol – sagten die Kapitalisten und gründeten Kartelle, Syndikate und Trusts; die Rettung liegt im Monopol – sekundierten [!] die politischen Führer der Bourgeoisie und beeilten sich, die noch unverteilten Gebiete der Welt an sich zu reißen.« (S. 830)

Und auf dieser Grundlage ist das selbstkritische Bedauern im Vorwort ziemlich überflüssig – »Auf die nichtökonomische Seite der Frage werden wir nicht so eingehen können, wie sie es verdienen würde« –, denn mit der Deduktion des Imperialismus aus Monopol- und Finanzkapital ist Lenin der große Wurf gelungen, die Notwendigkeit von Annexionen und Kriegen zwischen imperialistischen Staaten als Abwicklung des Geschäfts darzustellen – und umgekehrt das internationale Geschäft für die jenseits aller staatlichen Aktionen und Mittel vollzogene Fortführung kapitalistischer Bereicherung auszugeben. Lenin behandelt den Weltmarkt samt den Verlaufsformen auswärtiger Politik auch gar nicht als Konsequenzen des kapitalistischen Privateigentums und seiner Beförderung durch den Klassenstaat, sondern als Veränderung des Kapitalismus; und der unbestreitbare Dienst des Klassenstaats für den nationalen Reichtum, den es nun einmal als Kapital gibt, erledigt sich für ihn – entsprechend dem Titel: der Imperialismus als Stadium – mit den Neuerungen, die er dem Kapital zuschreibt. Ironischerweise mündet das methodische Credo zum Marxismus – »die ökonomischen Wurzeln« hätte man zu begreifen, die »Trennung« des politischen Überbaus von der ökonomischen Grundlage sei der Fehler irriger Auffassungen – in eine handfeste Revision gerade der Marxschen Erklärung der Ökonomie. Diese Revision beginnt bei Lenin mit der Entdeckung der Monopole. Das sind ökonomische Gebilde, die sich der Konkurrenz entziehen, was ihnen durch ihr gewaltiges Ausmaß gestattet wird. Lenin beruft sich zum Zwecke der Demonstration seiner Entdeckung, daß sich der Kapitalismus grundsätzlich geändert habe – »Die Konkurrenz wandelt sich zum Monopol« –, einerseits auf Äußerungen von Marx über Konzentration und Zentralisation, andererseits zieht er durchaus ungewöhnliche Schlüsse aus der Feststellung, daß die Größe des Kapitals ein Mittel des Geschäfts darstellt. Die Bewährung in der Konkurrenz ist nämlich etwas ganz anderes als ihre Abschaffung, und daß das Monopol zum Ideal eines jeden Unternehmers wird, heißt noch lange nicht, daß dieses Ideal mit Preis- und Marktabsprachen erreicht wäre. Oder, um Lenin selbst dementieren zu lassen: die Konkurrenz (für andere, die es immerhin auch noch gibt!) wird erschwert und »das Monopol« ist eine Tendenz:

»Fast die Hälfte der Gesamtproduktion aller Betriebe des Landes liegt in den Händen eines Hundertstels der Gesamtzahl der Betriebe! Und diese dreitausend Riesenbetriebe umfassen 258 Industriezweige. Daraus erhellt, daß die Konzentration auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung sozusagen [!] von selbst dicht [!] an das Monopol heranführt. Denn einigen Dutzend Riesenbetrieben fällt es leicht, sich untereinander zu verständigen, während andererseits gerade durch das Riesenausmaß der Betriebe die Konkurrenz erschwert [!] und die Tendenz [!] zum Monopol erzeugt wird. Diese Verwandlung der Konkurrenz in das Monopol ist eine der wichtigsten Erscheinungen – wenn nicht die wichtigste – in der Ökonomik des modernen Kapitalismus ...« (S. 777)

Weder die Statistiken über die Größe von Unternehmen noch die über die Anzahl von an der Konkurrenz beteiligten Firmen beweisen den Übergang zu ihrer Abwesenheit; und noch viel weniger ist dieser Beweis mit Absprachen zwischen Konkurrenten zu führen, die sie als zeitweiliges Mittel für ihren Gewinn benützen. Das scheint auch Lenin zu wissen, weshalb er den Gegensatz von »vorübergehend« und »Grundlage« aufmacht: »Statt einer vorübergehenden Erscheinung werden die Kartelle eine der Grundlagen des gesamten Wirtschaftslebens.« (S. 780)

Aber auch noch so viele, gezählte und beim Namen genannte »monopolistische Unternehmensverbände, Kartelle, Syndikate« belegen die »Ablösung der kapitalistisch freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole« nicht, und wenn einmal die Industrieschutzzölle, das andere Mal der Freihandel als Motor der Kartellbildung herhalten müssen (S. 778), so ist explizit von einem Mittel der Konkurrenz die Rede, dem Lenin freilich wieder die »monopolistische Tendenz« entlockt. Eisern hält er an dieser Tendenz fest, und daß ihn nicht die Logik dazu beflügelt, das Zeitalter des Monopols – »der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz« (S. 838) – für angebrochen zu erklären, sondern eine eigenartige Sorte Moral, zeigen die Leistungen, die er den Monopolen nachsagt: »Riesengewinne« erzielen sie, und wenn dann doch lästige Konkurrenten das »direkte Gegenteil« hintertreiben, bedient das Monopol sich sogar des Verzichts auf Gewinn, geht zum Dumping über, durch das es »alle diejenigen abwürgt, die sich dem Monopol, seiner Willkür [!] nicht unterwerfen.« (S. 785) Immer wieder gelingt es Lenin, aus Daten der Konkurrenz die Wucht der von keinerlei zahlungsfähiger Nachfrage, von keinerlei Marktschranken behinderten Monster vor Augen zu führen: Willkür und Allmacht sind schließlich die recht unökonomischen Charakteristika der Monopole, ihre Rücksichtslosigkeit kennt keine Grenzen, Gewalt heißt ihr Motto – ganz als ob der liebe, auf »freier Konkurrenz« beruhende »Frühkapitalismus« mit seiner alten Ökonomie eine Ansammlung von Respektbezeugungen für die Menschheit gewesen wäre:

»Das Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt – das ist das Typische für die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, das ist es, was aus der Bildung allmächtiger [!] wirtschaftlicher Monopole unvermeidlich hervorgehen mußte und hervorgegangen ist.« (S. 786)

Dabei rühmt Lenin einen sehr bürgerlichen Menschen für den Terminus »Herrschaftsverhältnis«, den er ihm abnimmt, obgleich der zitierte Mann von Herrschaft einer Industrie (!) über eine andere spricht. Und diese Manier, andauernd bürgerliche Kronzeugen für seine Entdeckung des tiefgreifenden Wandels zum Monopol heranzuziehen, entspricht durchaus dem bürgerlichen und gar nicht revolutionären Gerede von den Großen, die machen, was sie wollen, dem sich ein Marxist besser nicht anschließt. Doch Lenin versteht es sehr gut, die moralische Verurteilung auf »marxistisch« vorzutragen. Nachdem er noch einmal die Konkurrenz bemüht hat, um die Gemeinheit der Monopole zu geißeln – »Um die Konkurrenz aus einer derart einträglichen Industrie auszuschalten, wenden die Monopolinhaber sogar allerlei Tricks an ...« (S. 786) –, schreitet er zum Schaden, den die Monopole anrichten, und zwar für die ganze Gesellschaft. Er nimmt die Ideologie der »Ausschaltung der Krisen durch die Kartelle« zum Anlaß, um den »chaotischen Charakter« des Kapitalismus zu verurteilen und den Hauptfeind Monopol verschärfend wirken zu lassen:

»Im Gegenteil, das Monopol, das in einigen [!] Industriezweigen entsteht, verstärkt und verschärft den chaotischen Charakter, der der ganzen kapitalistischen Produktion in ihrer Gesamtheit eigen ist.« (S. 787)

Und wer hat von diesem Schaden den Nutzen? Die Monopole selbstverständlich, zumindest wenn Konzentration dasselbe ist wie Zentralisation und die wiederum dasselbe wie Monopol: »Die Krisen – jeder Art, am häufigsten ökonomische Krisen, aber nicht diese allein – verstärken aber ihrerseits in ungeheurem Maße die Tendenz zur Konzentration und zum Monopol.« (S. 787)

So richtig verkommen deucht einen Marxisten freilich der Kapitalismus der Monopole erst dann, wenn er die historischen Pluspunkte des Kapitalismus mehrt, aber schließlich doch scheitert. Die Folge des Monopols ist

»ein gigantischer Fortschritt in der Vergesellschaftung der Produktion. Im besonderen wird auch der Prozeß der technischen Erfindungen und Vervollkommnungen vergesellschaftet. Das ist schon etwas ganz anderes als die alte freie Konkurrenz zersplitterter Unternehmer, die nichts voneinander wissen ... annähernde Berechnung der Größe des Marktes ... Die qualifizierten Arbeitskräfte werden monopolisiert, die besten Ingenieure angestellt ...« (S. 784)

Aber so richtig in den Genuß der Vergesellschaftungsfortschritte kommt die Menschheit dennoch nicht, trotz der Überwindung der Konkurrenz, die Lenin für einen Mangel des Kapitals hält und nicht für den Motor der Akkumulation und die Klage von Kapitalisten, die gerade rationalisieren! Schließlich wird zwar die Produktion vergesellschaftet, die Aneignung jedoch bleibt privat (S. 784) – und so stehen dem »gigantischen technischen Fortschritt« durchaus »Stagnation und Fäulnis« gegenüber:

»In dem Maße, wie Monopolpreise, sei es auch nur vorübergehend [!] eingeführt werden, verschwindet bis zu einem gewissen Grade [!] der Antrieb zu technischem Fortschritt ... entsteht die ökonomische Möglichkeit [!!], den technischen Fortschritt künstlich [!!!] aufzuhalten.« (S. 848)

So vollbringen die Monopole die Kunst, den Fortschritt, den sie selber organisieren, doch noch zu bremsen, laden auf die »übrige Bevölkerung« jede Menge Druck ab (S. 784), und die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus ist für die Epigonen schon zur Hälfte fertig. Jetzt ist nur noch der Vorwurf nötig, der Staat würde sich für die Monopole stark machen – statt, wie es für einen echten Klassenstaat ziemlich wäre, für die Geschundenen, sprich »Unterprivilegierten« –, und schon geht die »soziale Revolution« im Namen der »Mehrheit« als Weg zur »antimonopolistischen Demokratie« über die Ideenbühne.

So ist zwar der Imperialismus noch gar nicht vorgekommen, aber dafür wurde eine neue Kapitalismuskritik im Namen von Marx aus der Taufe gehoben. Hilfestellung leistete die seit Engels immer wieder gerne aufgelegte Platte vom gesellschaftlichen Produzieren (gut!) und vom privaten Aneignen (schlecht!). Dieser beliebte Widerspruch, der mit dem in der Warenanalyse bezeichneten Gegensatz von privater und gesellschaftlicher Arbeit herzlich wenig zu tun hat, beruht schon in seiner Urfassung auf einer hohen Meinung vom gesellschaftlichen Charakter der Produktion, für den der Kapitalismus ein dickes Plus erntet, obwohl er diese Qualität mit jeder Produktionsweise teilt. Seine gesellschaftliche Form der Produktion, die Sache mit dem Privateigentum, das den Reichtum seinen Produzenten als Kapital gegenüberstellt und sie für sich arbeiten läßt, gerät dann zur schlechten Seite des Kapitalismus, der wie alles vergänglich Ding zwei Seiten braucht. Bei Lenin wächst sich diese Dialektik – die parteilich umgedreht übrigens Soziologie heißt: »Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft«, lautet da Lehrsatz Nr 1, »Alles ist gesellschaftlich«, der Lehrsatz Nr. 2, und die fortschrittlichen Soziologen wähnen sich mit dem Anliegen, alles »gesellschaftlich betrachten zu wollen«, auch noch auf Marx’ Spuren – zu einem neuen Stadium aus. Das Monopol, das angestrebt wird, um privaten Reichtum ausschließend gegen andere zu vermehren, macht alles gesellschaftlicher – schließlich findet immer mehr Eigentum auch noch anderer für die gemeinsamen Zwecke Verwendung –, so daß die private Aneignung erst richtig zum Himmel schreit.

So ähnlich sieht es auch im Verhältnis von Unternehmer und Bankier aus. Jeder für sich ist ja schon nicht übermäßig schön; wenn sie aber verschmelzen und der eine des anderen Knecht wird – zumindest in der Ansicht eines Marxisten –, tritt der Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium. Zumindest gemäß Lenins berühmtem zweiten Merkmal, dem Finanzkapital.

Im bürgerlichen Kreditwesen entdeckt der Imperialismustheoretiker Lenin zwar auch nicht den Imperialismus, dafür aber Gelegenheiten genug, der kapitalistischen Produktionsweise eine weitere Tendenz zum Verwerflichen nachzusagen. Wie in der Abteilung »Monopol« taugen die richtigen und bisweilen explizit dem Marxschen »Kapital« entnommenen Aussagen über ökonomische Vorgänge dazu nicht: So wenig, wie sich mit Bestimmungen über Konzentration und Zentralisation die Ablösung der Konkurrenz und die neue Qualität des monopolistischen Kapitalismus dartun lassen, so schwer fällt es, mit Mitteln der Logik aus den Erklärungen des Verhältnisses von Industrie- und Geldkapital eine Epoche des Finanzkapitals anbrechen zu lassen. Deshalb kommt der Fortschritt in der moralischen Verurteilung des Kapitalismus auch über andere, eben die bekannten Beweismittel zustande:

»Die Trennung des Kapitaleigentums von der Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag des Geldkapitals lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausdehnung erreicht.« (S. 813)

Für eine neue Rolle des Bankkapitalisten und seiner »parasitären« Existenz sowie der von »Couponschneidern« gibt eine Wiedergabe von Bemerkungen zur Trennung von Geld- und Industriekapital nichts her; bei Marx ist in diesem Zusammenhang im übrigen von der Notwendigkeit der Trennung die Rede, deswegen auch von ihrer ökonomischen Funktion: Durch den Kreditüberbau, der eben im Aktienkapital die Größe des Kapitals als Konkurrenzmittel erst so richtig zum Einsatz kommen läßt, erhält das Kapital die Freiheit, sich von seiner Anlage in einer besonderen Sphäre unabhängig zu machen, womit auch seine Bindung an besondere Personen und seine Verwurzelung in einem speziellen Gewerbe abgestreift ist.

Daß Bankiers und Aktionäre von ihrem Geldkapital leben, war dagegen Marx ziemlich gleichgültig; eher schon schien ihm interessant, daß sie dies auf Kosten der Arbeiterklasse tun – und sich darin von ihren industriellen Kollegen keineswegs unterscheiden. Den moralischen Maßstab guter, weil nützlicher, »die Produktion« besorgender Kapitalisten anzulegen und damit den neuesten Stand der Ausbeutung zu kritisieren, ist nur dem Theoretiker geläufig, der den Fortschritt des Kapitalismus am »Niedergang« seiner herrschenden Klasse belegen will!

Dabei besteht die »Neuerung«, wie gesagt, erst einmal im Ausmaß einer für den Kapitalismus üblichen Sache. Lenin, der immer wieder mit dem »tiefen« und »tiefsten« Wesen des Imperialismus daherkommt, entdeckt selbiges in Statistiken und Schaubildern, die dem Leser angesichts gewaltiger Bankaktiva und der Unmengen von zirkulierenden Wertpapieren die neue Ära vor Augen führen. Das fehlende Argument für eine Bestimmung des Imperialismus gibt er, seinem Anspruch als Marxist treu, in einer dialektischen Lesehilfe: Wir haben

»ausführlich statistische Daten angeführt, die zeigen, bis zu welchem Grade das Bankkapital angewachsen ist usw. und worin eben das Umschlagen von Quantität in Qualität, das Umschlagen des hochentwickelten Kapitalismus in Imperialismus seinen Ausdruck gefunden hat.« (S. 839)

Den dritten Schlag landet er mit Stellungnahmen bürgerlicher Ökonomen, die sich die Sorgen eines Teils der Geschäftswelt zu eigen machen und ungesunde Entwicklungen beklagen – wodurch er sich mit seinen »Schlußfolgerungen« in den Besitz unumstößlicher Tatsachen gesetzt haben möchte:

»Um dem Leser eine möglichst gut fundierte Vorstellung vom Imperialismus zu geben, waren wir absichtlich bestrebt, möglichst viele Äußerungen bürgerlicher Ökonomen zu zitieren, die sich gezwungen sehen, besonders unstreitbar feststehende Tatsachen aus der neuesten Ökonomik des Kapitalismus anzuerkennen.« (S. 839)

Unter Anwendung dieser Hilfsmittel gelangt man freilich zu erstaunlichen Einsichten über Herren und Knechte innerhalb der herrschenden Klasse. Banken sind etwas anderes, als sie scheinen; und zwar sind sie das, was sie sind, recht überdimensional, woran sich ihre Macht ablesen läßt:

»Die Bank, die das Kontokorrent für bestimmte Kapitalisten führt, übt scheinbar eine rein technische, eine bloße Hilfsoperation aus ... [Nun kommt nicht etwa, wie bei Marx, der Begriff der Bank, nein:] Sobald aber diese Operation Riesendimensionen annimmt, zeigt sich, daß eine Handvoll Monopolisten sich die Handels- und Industrieoperationen der ganzen kapitalistischen Gesellschaft unterwirft, indem sie – durch die Bankverbindungen, Kontokorrente und andere Finanzoperationen – die Möglichkeit erhält, sich zunächst über die Geschäftslage der einzelnen Kapitalisten genau zu informieren, dann sie zu kontrollieren, sie durch Erweiterung oder Schmälerung, Erleichterung oder Erschwerung der Kredite zu beeinflussen und schließlich ihr Schicksal restlos zu bestimmen.« (S. 792)

Ohne den geringsten Hinweis darauf, worum es zwischen Bank und industriellem Kapital geht, wenn Kapital verliehen und mit Wertpapieren gehandelt wird, kommt die Suche nach dem Subjekt, das alles beherrscht und in seiner Allmacht für den Imperialismus verantwortlich ist, ans Ziel. Fast kriegt man Mitleid mit den netten Herren Industriellen angesichts des Molochs Finanzkapital. Die armen Burschen müssen ihre Bücher herzeigen, wenn sie ihre Kreditwürdigkeit unter Beweis stellen wollen – und nicht ihr Geschäftsgang wird mit Hilfe des Kredits befördert, sondern ihr Schicksal wird restlos bestimmt! Nicht einmal der simple Gedanke, daß auch die Bank von der Nachfrage nach Kredit »abhängig« ist und diese vom Geschäftsgang der Industrie, daß in der Konkurrenz zwischen Geld- und Industriekapital also zwei Abteilungen der herrschenden Klasse ihren ökonomischen Erfolg bewirken und um den Anteil des produzierten Gewinns streiten, kommt da auf! Der anständigen industriellen Ausbeutung von einst stehen »dunkle und schmutzige« Machenschaften der Banken von heute gegenüber, statt eines ehrbaren Zinses gibt es wieder »Wucher«, womit die ökonomische Rolle des Kredits für die kapitalistische Produktion in seine moralische Niedertracht aufgelöst wäre.

Zeitweise fragt man sich bei der Lektüre der Schrift, ob es überhaupt noch Industrielle gibt – denn die Konkurrenz zwischen Geld- und produktivem Kapital, die beiden recht gut bekommt, existiert für Lenin eigentlich gar nicht: »Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses Finanzkapitals« (S. 839). Womöglich würde er die Personalidentität von Banker und Industriellen auch als Beleg dafür nehmen, daß es die neueste Ökonomie zum Verschwinden von Kredit und Fabrik gebracht hat, und wie seine Epigonen darauf bestehen, daß sogar der arme Klassenstaat »unter der Fuchtel« des Finanzkapitals steht und sich verschulden »muß«! Aber die Beschwörung einer herrschenden Instanz, die mit ihrer Allmacht dem Rest der Gesellschaft einen fürchterlichen Tribut auferlegt, erfordert auch die Existenz von Opfern. Also gibt es ein »Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals«, eine »Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie« – ein kleiner Hinweis darauf, daß noch die häßlichsten Schmarotzer auf Opfer angewiesen sind, ebenso wie die betrügerischen Spekulanten etwas brauchen, worauf sie spekulieren können. Womit auch die Albernheit des Lehrsatzes bestätigt wäre, der den Kapitalismus nicht durch seine Produktionsweise kennzeichnet: »Für den Imperialismus ist ja gerade nicht das Industrie-, sondern das Finanzkapital charakteristisch.«

Imperialismus ist für Lenin das Geschäft der Monopole. Finanzkapitalisten haben alles unter Kontrolle, im Innern der Nation – »Deutschland wird von 300 Kapitalmagnaten regiert« – ebenso wie auswärts, wo sie sich allerdings begegnen und einen »imperialistischen Kampf zwischen den größten Monopolen um die Teilung der Welt« (S. 825) veranstalten. Also gilt der Lehrsatz, daß jedes Phänomen internationalen Handels, jeder Vertrag zwischen Staaten, jeder Krieg nur ein Beispiel für die Machenschaften der Monopole, nur ein »Kettenglied« der »Operationen des Weltfinanzkapitals« ist. Nachdem Lenin die Subjekte des Imperialismus gefunden hat, gibt er sich betont sachlich und nennt Zwecke und Mittel ihrer Taten:

»Die Kapitalisten teilen die Welt nicht etwa aus besonderer Bosheit unter sich auf, sondern weil die erreichte Stufe der Konzentration sie zwingt, diesen Weg zu beschreiten, um Profite zu erzielen; dabei wird die Teilung ›nach dem Kapital‹, ›nach der Macht‹ vorgenommen – eine andere Methode der Teilung kann es im System der Warenproduktion und des Kapitalismus nicht geben.« (S. 827)

Auf dieses Weise stellt der Imperialismus-Theoretiker klar, dass er zwar ständig mit ökonomischen und politischen Prozeduren eigner Art zu tun hat – »Kapital« und »Macht« –, jedoch die Klärung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik angesichts der für ihn offenkundigen Sachlage für pure Haarspalterei erachtet:

»Die Macht aber wechselt mit der ökonomischen und politischen Entwicklung [eine feine Entdeckung!]; um zu begreifen, was vor sich geht, muß man wissen, welche Fragen durch Machtverschiebungen entschieden werden; ob diese Verschiebungen nun ›rein‹ ökonomischer Natur oder außerökonomischer (z. B. militärischer) Art sind, ist eine nebensächliche Frage, die an den grundlegenden Anschauungen über die jüngste Epoche des Kapitalismus nichts zu ändern vermag. Die Frage nach dem Inhalt des Kampfes und der Vereinbarungen zwischen den Kapitalistenverbänden durch die Frage nach der Form des Kampfes und der Vereinbarungen [heute friedlich, morgen nicht friedlich, übermorgen wieder nicht friedlich] ersetzen, heißt zum Sophisten herabsinken.« (S. 827)

Zwar verhalten sich Geschäft, Ausbeutung und Krieg keineswegs zueinander wie Inhalt und Form, zwar sind beim Profitmachen und Kriegführen ganz andere Subjekte am Werk – doch was interessiert das schon! Dabei taugen noch nicht einmal die kolonialistischen Belege für die Gleichung Politik = Geschäft der Monopole; wenn sich Frankreich und England um die Besetzung der südlichen Sahara streiten und Deutschland die namibische Wüste als Deutsch-Südwest ergattert, wenn der englische Staat mit dem portugiesischen gute Beziehungen hat, wenn England mit Argentinien oder Ägypten Handelsbeziehungen unterhält, wenn Frankreich an Serbien Kriegsmaterial liefert – »letztlich« ist alles ein und dasselbe. Lenin läßt die Monopole nach außen ihre Geschäfte noch mitten im Krieg machen, ganz als ob ein Finanzkapital eine Eroberung »eventuell noch zu erschließender Rohstoffquellen« als Investitionsgelegenheit betrachtet und nicht der Staat die Mobilmachung verordnet! Weshalb aufrechten Verfechtern Lenins immer dann, wenn die Gleichung Krieg = Profit angegriffen wird, auch immer die Spekulation auf die fiktive Akkumulation einfällt, die ein auf Waffengänge bedachter Staat ins Werk setzt – wenn nicht gleich die Rüstungsindustrie.

Was zeigt also »die Epoche des jüngsten Kapitalismus« einem, der das Finanzkapital am Werke weiß und die politischen Führer als Sekundanten entlarvt hat? Eben dies,

»daß sich unter den Kapitalistenverbänden bestimmte Beziehungen herausbilden [das ist sehr bestimmt!] auf dem Boden der ökonomischen Aufteilung der Welt, daß sich aber [!] daneben [!!] und im Zusammenhang [welchem denn?] damit zwischen den politischen Verbänden, den Staaten, bestimmte Beziehungen [schon wieder!] herausbilden auf dem Boden der territorialen Aufteilung der Welt, des Kampfes um Kolonien, des Kampfes um das Wirtschaftsgebiet.« (S. 827)

Wer so viel Bestimmtheit als Witz des Imperialismus akzeptiert und sich die Aufteilung der Welt gleich zweimal und im Zusammenhang vorstellen kann, dem leuchten auch die historischen Vergleiche ein, die Lenin für sein Stadium anstellt:

»Für den alten Kapitalismus, mit der vollen Herrschaft der freien Konkurrenz, war der Export von Waren kennzeichnend. Für den neuesten Kapitalismus ... der Export von Kapital ...« (S. 845)

An dieser gewichtigen historischen Entwicklung interessiert der Export, also die Tatsache, daß Waren und Kapital die Grenzen überschreiten zwischen Staaten, die sich um das Geschäft kümmern, es durch ihre Gewalt eröffnen, fördern oder behindern, am allerwenigsten. Die englische Kolonialgeschichte, die nun wirklich kein Tausch von Fertigfabrikaten gegen Rohstoffe war (wer hat mit welchen Mitteln diese Rohstoffe ab- und anbauen lassen; wie hießen denn die indischen Investoren, womit wurde bezahlt!), passiert da lässig als Handel, und für die Herrschaft der Monopole erfindet Lenin Anlagekriterien, die aus »rückständigen Ländern« kapitalistische Märkte mit niedrigen Preisen werden lassen:

»In diesen rückständigen Ländern ist der Profit gewöhnlich hoch, denn es gibt dort wenig Kapital, die Bodenpreise sind verhältnismäßig nicht hoch, die Löhne niedrig und die Rohstoffe billig.« (S. 816)

Unerfindlich bei dieser Ökonomie auf dem Weltmarkt, wieso es zu sogenannten »unterentwickelten Ländern« gekommen ist, warum Kapitalisten ihre Mutterländer mit Industrie vollstellen und die billigen Arbeitskräfte Afrikas, die für 20 Pfennig pro Woche zu haben sind, noch heute nicht benützen wollen und lieber verrecken lassen! Daß die erwähnten Länder es wegen der politischen und ökonomischen Benützung durch kapitalistische Nationen gar nicht zu einem »Markt« bringen, daß mit der Zerstörung der überkommenen Produktionsweise aus einem südamerikanischen oder asiatischen Volk noch lange keine Ansammlung brauchbarer Arbeitskräfte wird, daß der Export von Kapital auch nicht »bis zu einem gewissen Grade die Entwicklung in den exportierenden [!] Ländern zu hemmen geeignet ist« (S. 818) – das alles hätte Lenin auch merken können, ohne zu erleben, wie die Konkurrenz der Monopole um die herrlichen Anlageplätze um die Konkurrenz von -zig Nationen ergänzt wird, die um Kapital- und Entwicklungshilfe nachsuchen...

Nur hätte die simple Analyse der Gepflogenheiten, die den Weltmarkt, auf dem die Nationen für die Konkurrenz des Kapitals Sorge tragen, auszeichnen, die Perspektive ziemlich vermasselt. Lenins Einfall, die auswärtigen Geschäfte des Kapitals erstens für dasselbe wie Anlagen daheim vorstellig zu machen, und zweitens für besonders günstig in der Kalkulation auszugeben, ist nur die Fortsetzung seiner Lieblingsidee, daß der Monopolkapitalismus längst in Widerspruch zu seinen eigenen Prinzipien geraten ist. Einige seiner Grundeigenschaften schlagen längst in ihr Gegenteil um, so daß man nur noch von einem »parasitären«, »faulenden und sterbenden« Kapitalismus reden kann usw. – in jedem Kapitel bemüht sich Lenin, die Verkommenheit und Überfälligkeit des Imperialismus glaubhaft zu machen. Hier, beim Kapitalexport, schafft er es, die Freiheit der imperialistischen Nationen, aufgrund der gelungenen Akkumulation von Reichtum – die auch den Staat mit den nötigen Mitteln ausstattet! – die ganze Welt auf ihre ökonomische, politische und militärische Benützbarkeit hin abzuklopfen, in pure Not zu verwandeln:

»Die Notwendigkeit der Kapitalausfuhr wird dadurch geschaffen, daß in einigen Ländern der Kapitalismus ›überreif‹ geworden ist und dem Kapital (unter der Voraussetzung der Unterentwickeltheit der Landwirtschaft und der Armut der Massen) ein Spielraum für ›rentable‹ Betätigung fehlt.« (S. 816)

Ausgerechnet die Phase des Kolonialismus, die Lenin erlebte, soll auf die Hilflosigkeit, auf einen Engpaß in der Akkumulation verweisen. Der »Drang nach Gewalt und Reaktion«, der definitionsgemäß dem Finanzkapital eigen ist, soll Zeichen des Niedergangs sein – und jede Eroberung ein neuer Ausdruck der Widersprüche, die sich verschärfen und verstärken. Wie alt doch die Theorie vom Papiertiger schon ist! In der Streitfrage der Arbeiterbewegung, in der Sache ›Krieg & Frieden‹ wird Lenin auch nicht wegen seiner »tiefen« Einsichten in die politische Ökonomie des Imperialismus zum Gegner des Reformismus und der bürgerlichen Friedensillusionen. Im Gegenteil: Seine Überzeugung, daß Finanz- und Monopolkapital einerseits den Niedergang des Kapitalismus repräsentieren, andererseits deshalb aggressiv, eroberungssüchtig und weltherrschaftlich auftreten, um sich alles unter den Nagel zu reißen, bringt ihn auf seine Theorie von der Notwendigkeit des Krieges. Seine Fehler in der Erklärung des Weltmarkts machen für die – ziemlich blöde – Frage: »Ist Frieden möglich?« sogar jede Kenntnis der Gründe für Kriege, der Verlaufsformen des internationalen Geschäfts mit seinem spezifischen Dienst der Staaten fürs Kapital überflüssig. Krieg und Frieden gelten ihm beide als Mittel für dieselbe Strategie der Eroberung, der Gier nach Beute; ja er geht sogar soweit, dabei den Frieden für den uneigentlichen Modus der Konkurrenz zu halten und die Konkurrenz der Waffen als den der monopolistischen Profitmacherei angemessenen Weg zu bestimmen, zu dessen Charakterisierung er nicht einmal das Verhältnis von Staat und Kapital bemüht. Auch die Besetzung irgendwelcher Wüsteneien rangiert unter der Rubrik des Extraprofits, im Zweifelsfall eines »möglichen« – und diese Irrtümer sind keineswegs mit den Fakten der kolonialen Eroberung zu entschuldigen. Der I. Weltkrieg jedenfalls drehte sich nicht um die Eroberung neuer Ländereien...

Daß ein moderner Krieg zwischen imperialistischen Staaten – und die bestreiten sich gegenseitig zunächst die Mittel ihrer Souveränität und dann, in der Konkurrenz der Waffen, wo nur noch militärisch »kalkuliert« wird und nicht kaufmännisch, die Souveränität selbst – materiellen Zugewinn bringen oder wenigstens verheißen müsse, ist die revisionistische Manier, den ökonomischen Grund der staatlichen Gewalttätigkeit zu behaupten. Daß ein Klassenstaat bei seinen Diensten fürs Kapital, bei denen das Militär auch in Friedenszeiten eine gewichtige Waffe der Konkurrenz darstellt, auf die Schranke eines anderen Souveräns trifft, der sich eine wechselseitige ›Abhängigkeit‹ und ›Benützung‹ nicht mehr leisten kann und will – diese schlichte Wahrheit, die den Frieden bisweilen so aufrüstungsträchtig macht, wollen Anhänger der Leninschen Imperialismustheorie auch heute noch nicht wahrhaben. In genauer Umkehrung des Dogmas, ausgerechnet der Krieg müsse die Konten von Geschäftsleuten bereinigen, vermißt ein solchermaßen aufgeklärter Mensch mit seinem Dogma gleich jeden Nutzen des Kriegs, leugnet den Materialismus des Staates und weist den »Wahnsinn« des Waffenganges bereits an den Kosten der Rüstung nach – freilich nicht ohne Hinweis auf die Einnahmen der Rüstungsmonopole.

Die Rede vom Un- und Wahnsinn des Krieges, seine Stilisierung als grund- und zwecklose Sache, von der niemand, am allerwenigsten die »Menschheit«, etwas hat, mißt den Völkermord an demselben Maßstab der ökonomischen Einträglichkeit, der »den Frieden« bestimmt und der laut revisionistischer Lehre selbst im Kriege noch gilt. Insofern handelt es sich bei den Epigonen Lenins, die ein Jahrzehnt seine Imperialismusschrift in Schulungen gelernt haben und nun einer Friedensinitiative angehören, durchaus um konsequente Bürger, jedoch um bekehrte Revisionisten. Denn bürgerlich ist eine Ideologie allemal, die den staatlichen Kriegszweck ausgerechnet mit der Überlegung konfrontiert, was denn dabei herausspringe und für wen...

Ein Dokument der revisionistischen Weltanschauung und damit auch ein Schatzkästlein des »bürgerlichen Moralismus«, welcher der Welt von Kapital und Staat die gerechtesten und reaktionärsten Vorwürfe entgegenschleudert, ist Lenins Imperialismus-Schrift freilich nicht nur in dieser Hinsicht. Und ihr Erfolg in Jahrzehnten staatstreuer Arbeiterbewegung auf der ganzen Welt beruht einzig auf der Methode dieser Weltanschauung, die kein objektives Urteil zuläßt:

So haben die Epigonen auch nach der faschistischen Unterscheidung zwischen raffendem und schaffendem Kapital nicht davon abgelassen, die von Lenin erfundenen Finanzmonopolisten für ganz verwerflich zu halten, und ihnen zur Last gelegt, daß sie als unnütze Couponschneider die braven Industriellen einseifen und die ganze Gesellschaft schröpfen.

Noch weniger ist den Nachbetern der Leninschen Theorie eingefallen, die Berufung auf die ›Fäulnis‹, den parasitären Charakter des Monopolkapitalismus einzustellen. Sie haben also ausgerechnet als Oppositionelle ihren politischen Willen, ihre Kritik am bürgerlichen Arbeiten, Kaufen, Sparen und Soldat Spielen, mit der Übereinstimmung legitimiert, in der sie sich – von Lenin unterrichtet – mit der Tendenz der Weltenläufte befinden. Der überfällige Kapitalismus rechtfertigt die antimonopolistische Demokratie, den echten Volksstaat; Haupttendenz = Revolution ... (Kein Wunder, daß die schleppende Gangart der Tendenz solche Leute grün und Schlimmeres werden läßt!)

Genauso beliebt blieb die Verheißung, daß schlechte Erfahrungen, auf die man nur noch deuten muß, wenn sie die »friedliebenden« Menschen schon gemacht haben, Wunder wirken:

»Dutzende Millionen von Leichen und Krüppeln, die der Krieg hinterließ ... und dann diese beiden ›Friedensverträge‹ öffnen mit einer bisher ungeahnten Schnelligkeit Millionen und aber Millionen durch die Bourgeoisie eingeschüchterter, niedergehaltener, betrogener und betörter Menschen die Augen.« (S. 771)

Als ob ein Klassenstaat solchen Friedensfreunden durch die friedenspolitische Vorbereitung und Führung von Kriegen nicht beweist, wie weit er es in der Zurichtung seiner Opfer für die gelungene Fortsetzung seiner Herrschaft bringt! Als ob eine Schrift über den Charakter des Imperialismus und Anti-Kriegsagitation überhaupt notwendig wären, wenn Leichen und Kriegsfilme so augenöffnend wirken würden!

Und die reaktionäre Wendung Lenins bei der Erklärung der Erfahrung, daß sich »ausgerechnet« die Arbeiterklasse für den Dienst in monopolkapitalistischen Fabriken und Kasernen und Feldzügen hergibt, erfreut sich in den Resten der linken Bewegung auch heute noch größter Beliebtheit in der Leninschen Fassung des Volksspruches »Den Leuten geht’s zu gut!«, der Bestechungsthese:

»Dadurch, daß die Kapitalisten eines Industriezweiges ... hohe Monopolprofite herausschlagen, bekommen sie ökonomisch die Möglichkeit, einzelne Schichten der Arbeiter, vorübergehend sogar eine ziemlich bedeutende Minderheit der Arbeiter zu bestechen.« (W.I.Lenin, Werke, Band 22, S. 306)

Tatsächlich geschieht die Vorbereitung eines imperialistischen Krieges nicht in Form von Lohnerhöhungen, um das Proletariat mindestens »teilweise« auf die Seite der Bundesregierung zu ziehen, sondern mit Lohnsenkungen und der Ideologie, die da heißt: »Uns geht’s verhältnismäßig gut!« oder aus dem Munde Helmut Schmidts: »Das deutsche Volk ist verwöhnt!«