Einleitung

Warum entdeckt weder der gesunde noch der gelehrte Menschenverstand am Ost-West-Gegensatz, an der »Kriegsgefahr« (die alle Politiker hüben wie drüben bannen möchten, so daß man sich fragt, wer sie eigentlich heraufbeschwört!), am Gegensatz von arm und reich im Weltmaßstab, an Gastarbeitern und Ölstaaten, an der New Yorker Börse und an der Welthungerhilfe jenes Geschäft, das einmal bürgerliche wie sozialistische Theoretiker Imperialismus nannten?

Aus dem Buch
1983, 2023 | 336 Seiten | 15 €  Zum Warenkorb

Einleitung

1. Warum leuchtet es eigentlich sämtlichen meinungsbildenden Instanzen in unseren Breiten ein, daß die USA in Angelegenheiten, die sich in den Staaten dieser Welt und zwischen ihnen so abspielen, »Verantwortung« tragen? Warum geht jedermann einfach davon aus, daß jede weltpolitische Entwicklung die USA etwas angeht?

Was läßt eigentlich die deutsche Zuständigkeit – für die »Sicherung des Friedens«, für die politische Herrschaftsform in entlegenen Erdenwinkeln, für Konflikte zwischen kommunistischen Parteien verschiedener Ostblockstaaten usw. – so selbstverständlich erscheinen?

Mit welchem »Recht« beschließen politische Repräsentanten der Bundesrepublik zusammen mit befreundeten Regierungen über bevorzugte und zu verhindernde Regelungen einer »Weltwirtschaftsordnung«?

Unter welchen Gesichtspunkten wird aus der selbstbewußten Beteiligung der Bundesrepublik an der Konkurrenz der Waffen eine Verteidigung der Freiheit, welche sich als unausweichliche »Reaktion« auf einen Arbeiteraufstand in Polen aufdrängt?

Warum entdeckt weder der gesunde noch der gelehrte Menschenverstand am Ost-West-Gegensatz, an der »Kriegsgefahr« (die alle Politiker hüben wie drüben bannen möchten, so daß man sich fragt, wer sie eigentlich heraufbeschwört!), am Gegensatz von arm und reich im Weltmaßstab, an Gastarbeitern und Ölstaaten, an der New Yorker Börse und an der Welthungerhilfe jenes Geschäft, das einmal bürgerliche wie sozialistische Theoretiker Imperialismus nannten?

Um die Beantwortung solcher Fragen, um die Analyse und Zurückweisung also gewisser ideologischer Gewohnheiten einer aufgeklärten Öffentlichkeit in Sachen Weltpolitik, geht es in Kapitel I dieses Buches – und damit um alles andere als bloße Ideologiekritik. Als praktisch gültig gemachte, in die Tat umgesetzte Weltanschauungen sind die ideologischen Botschaften, mit denen die Akteure des weltpolitischen Geschehens ihre Entscheidungen bekanntgeben und kommentieren lassen, nicht einfach nur Unwahrheiten, an denen ein maßgebliches Interesse besteht. Sie sind nach der einen Seite hin die Methode, nach der die wirklichen Subjekte der Weltpolitik sich ihre Vorhaben als Aufgaben definieren und entsprechend zu Werke gehen. Nach der anderen Seite hin stellen sie die Methode dar, nach der jene maßgeblich engagierten Statisten, ohne deren gehorsamen Einsatz die Macher des Weltgeschehens aufgeschmissen wären, die nützlichen Staatsbürger der tonangebenden Demokratien, mitmachen, was immer ihre frei gewählten Regenten von ihnen verlangen. So sind die Ideologien der Weltpolitik untrügliches Indiz und Gebrauchsanweisung der selbstherrlichen Freiheit derer, die für diese Welt so gern »die Verantwortung tragen«. Wer daher die Selbstdarstellung der internationalen Politik begreift, der verfügt zugleich über eine Diagnose der bedeutenden Fortschritte eben dieser Freiheit seit den Tagen, die heute im historischen Rückblick »Imperialismus« heißen, ausgerechnet weil die weltweite Zuständigkeit eines knappen Dutzend demokratischer Regierungen damals noch keineswegs eine ausgemachte Sache war: Dafür gab es noch eine Arbeiterbewegung, der und deren Theoretikern die außenpolitischen Manöver ihrer Nation genauso verdächtig waren wie die der anderen.

Sein Material entnimmt das Kapitel I der modernen bundesdeutschen Ideologie, wie sie von den angesehenen Politikern der Nation als die maßgebliche Interpretation ihrer Taten verkündet, von einer kritischen Öffentlichkeit verantwortungsbewußt variiert und »vertieft« wird. Zu »entlarven« gibt es hier nämlich genauso wenig wie »Hintergründe aufzudecken«. Nicht, was sich an nationalistischer Geheimbündelei, verdeckten Querverbindungen zwischen gewissen politischen Lagern, Geheimdiensteinflüssen usw. um das Geschäft und die selbstbewußten Methoden demokratischer Weltpolitik herumrankt, gibt die nötigen Aufschlüsse über deren Zwecke und Prinzipien, sondern das, was täglich in Zeitungen und Nachrichten als unskandalöser Normalfall des Weltgeschehens bekanntgemacht wird. Tatsächlich wird ja auch von den paar Skandalen, in deren Aufdeckung findige Journalisten ihren Ehrgeiz und Memoirenschreiber ihren Stolz als »Aufklärer« setzen, kein Mensch wirklich überrascht, weil sowieso ein jeder in dieser Sphäre mit allem rechnet und sich an nichts stört. Nicht an Informationen über das Weltgeschehen fehlt es dem betroffenen Staatsbürger von heute – das Nötige bekommt sogar der berüchtigte Bild-Zeitungsleser allemal mit –, sondern an der Bereitschaft, daraus andere als die öffentlich beliebten Schlußfolgerungen zu ziehen.

Abwechslung oder gar Abhilfe bietet hier auch die akademische Befassung mit den »Phänomenen« der Weltpolitik nicht. Beliebt und üblich sind hier auf der einen Seite die Schilderung von Wohlfahrt und Elend auf der Welt, die Dokumentation von wirtschaftlichen Wachstumsraten und Terms of Trade, die Anfertigung von Statistiken über den weltweiten Hunger und seine Zu- oder Abnahme, die Sammlung von Materialien über den globalen Waffenhandel usw. – gerade so, als fehlte immerzu und gerade noch eine letzte, noch exaktere, noch besser belegte Information für ein sachgerechtes Urteil über den Lauf der Welt. Dieser falschen Ehrfurcht vor den »Fakten«, deren Vielfalt und Veränderlichkeit kein politischer Wissenschaftler heute noch mit einer Erklärung zu nahe treten möchte, entspricht auf der anderen Seite die Ausarbeitung wissenschaftstheoretischer Bedenklichkeiten, des keiner weiteren Begründung bedürftigen abstrakten Zweifels an der Möglichkeit stichhaltiger Erklärungen der Weltlage, zu »hochdifferenzierten Forschungsansätzen«, die nur mehr einem Bedürfnis Genüge tun: dem nach der Demonstration eines unschlagbaren Problembewußtseins. Inwiefern diese theoretische Stellung zur Weltpolitik allein dazu angetan ist, deren harte Banalitäten nach den Kriterien eines modernen wissenschaftlichen Geschmacks in lauter überaus komplizierte, theoretisch kaum und praktisch schon gleich gar nicht zu bewältigende »Sachzwänge« umzudichten, zeigt der Abschnitt 5 des Kapitels I mit der exemplarischen Klarlegung gewisser in dieser Sphäre gepflogener Denkweisen. Der dort begründete Vorwurf einer die wissenschaftlichen Methoden bestimmenden Parteilichkeit für die Verhältnisse, die da einer wohlwollenden Umdeutung in lauter Probleme unterzogen werden – so als wäre alles Unerfreuliche auf dieser Welt ein Beweis für lauter gute Absichten, denen es leider im Wege steht –, ist durchaus als Absichtserklärung zu verstehen: Die Autoren dieses Buches haben nicht vor, ausgerechnet an den harten Praktiken der Weltpolitik für einen besonderen, originellen Gesichtspunkt Komplimente für die Erfüllung solch lieblicher methodischer Kriterien wie »Differenziertheit«, »Seriosität«, »Kenntnisreichtum«, »Durchblick«, »fortgeschrittenes Methodenbewußtsein«, »Problemsicht« usw. einzufangen.

Der das Kapitel I abschließende Exkurs zu dem Klassiker der marxistischen Imperialismustheorie, zu Lenins berühmter, kaum gelesener Schrift, rechnet dieser daher auch nicht die Verfehlung gewisser wissenschaftstheoretischer Vorschriften vor, sondern kritisiert die falschen Argumente, mit denen dieser revisionistische Revolutionär gegen die Friedensbewegung innerhalb der damaligen Sozialistischen Internationale zu Felde gezogen ist. Damit wird zugleich umgekehrt klargestellt, inwiefern der Idealismus des Friedens das letzte und härteste Argument gegen jede Erklärung des Imperialismus hergibt, also auch, warum die wieder aktuell gewordene »Friedenssehnsucht« so gründlich staatsbürgerlich-untertänig ist.

2. Es sind also keine differenziert konstruierten Probleme, deren Lösungsmöglichkeiten angesichts unerbittlicher Sachzwänge das vorliegende Buch ausloten will, schon gar nicht solche der »Konfliktvermeidung«, jenes ganz und gar fiktiven Zwecks, an den Politiker ihre Untertanen und Politologen ihre Leser und Hörer so gern als Grundprinzip von Weltpolitik glauben machen möchten. Es sind ziemlich allgemein bekannte, jedenfalls zur Genüge bekanntgemachte Tatsachen, deren Erklärung die Kapitel II, III und IV sich widmen.

Wie abhängig die bundesdeutsche Wirtschaft sei von lauter weltwirtschaftlichen Bedingungen – vom Export, aber auch vom Import, von der Stärke ihrer Mark, die aber auch nicht zu stark sein darf, von amerikanischen Zinssätzen und japanischer Konkurrenz –, bekommt ein Zeitungsleser und Fernsehzuschauer beliebig oft mitgeteilt. Dabei könnte ihm zwar schon bisweilen aufgehen, was für eine schillernde Angelegenheit diese in wechselndem Tenor beschworene »Abhängigkeit« des Erfolgs der Nation ist: Ist eine »starke D-Mark« denn nun gut oder schlecht? Wenn US-Zinsen und Japanerfleiß sich auf bundesdeutsche Wachstumsraten auswirken: setzt das nicht bundesdeutsche Geschäftsleute voraus, die sich des Dollars und fernöstlicher Mikroelektronik für ihren, also doch wohl auch für irgendeinen nationalen Geschäftsvorteil bedienen? Hängt Kenia vom bundesdeutschen Kaffeeimport ab, oder der deutsche Kaffeetrinker von der kenianischen Kaffee-Ernte, oder ist dieses Verhältnis womöglich mit der methodischen Vokabel »Wechselwirkung« auf den Begriff gebracht? Ist es nicht ein Unterschied, ob ein Land Öl verkauft oder ein Großunternehmen Raffinerien?

Selbst mit der »Erkenntnis«, daß die »Abhängigkeit« der nationalen Ökonomien voneinander sich bisweilen sehr einseitig gestaltet, ist allerdings noch nicht viel gewonnen; schon gar nicht, solange man sich jenes ominöse Ding namens »Weltmarkt« nach Analogie eines Kaufhauses zu erklären sucht. Wie sich mit kleinen grünen Schuldzetteln ein ganzes gesellschaftliches Produktionsverhältnis in alle Welt exportieren läßt – Abschnitt 3 –, vorausgesetzt, alle »Machtfragen« sind klar und eindeutig beantwortet – Abschnitt 1 –, von denen der »friedliche Austausch zum wechselseitigen Vorteil« in der modernen Welt noch allemal seinen Ausgang nimmt und die er folgerichtig auch immer wieder auf die Tagesordnung setzt – Abschnitt 2 –, und zwar gerade dort, wo es den Nationen verboten ist, die »Machtfrage« untereinander überhaupt mit letzter Konsequenz aufzuwerfen – Abschnitt 4 –; und wie die Armut ganzer Nationen beschaffen ist, die der weltweite Einsatz des überschüssigen Reichtums der Geschäftswelt einiger weniger Nationen in all seiner Wucht nie aufhebt, sondern zu immer neuen Blüten treibt – Abschnitt 5 –: das sind die Themen des Kapitels II. Freunde und Skeptiker des »Europagedankens« werden da ebenso mit einigen Klarstellungen konfrontiert wie Kritiker einer »Weltwirtschaftsordnung«, an der sie den Goldstandard oder dessen Preisgabe, feste Wechselkurse oder flexible, die Multis oder auch einen zu geringen »Kapitaltransfer«, einen »ungerechten Tausch« oder »strukturelle Ungleichgewichte« in den Sachgesetzen der terms of trade, das »laissez-faire« oder eine »Vermachtung der Märkte« als Mangel oder Dilemma ausgemacht haben wollen.

Daß imperialistische Politik den Geschäftsinteressen tatkräftiger Kapitale einer Nation dient, heißt alles andere, als daß sie und ihre Macher Knechte des kapitalistischen Schachers wären. Ihrer Gesellschaft nützlich ist eine bürgerliche Staatsgewalt gerade kraft der Souveränität, mit der sie nach außen agiert, ganz jenseits aller Rentabilitätskriterien der Geschäftswelt, der sie damit den Weg bahnt. Damit die Welt zum Markt wird und einer bleibt, haben die Hauptakteure des Weltgeschehens nach dem vorigen Weltkrieg unter der Oberhoheit des großen Siegers nicht zufällig ein schon in Friedenszeiten sehr tatkräftiges Bündnis für den »Verteidigungsfall« geschlossen und mit Leben erfüllt. Sie rüsten für einen Krieg, der sich ganz bestimmt nie bezahlt macht – dessen Vorbereitung sich aber dennoch lohnt, weil so dafür gesorgt ist, daß die sozialistische Ausnahme von der zum Markt gestalteten und kontrollierten Welt eine unerfreuliche Ausnahme bleibt. Das Kapitel III erklärt in Abschnitt 1 die Logik des imperialistischen Gewaltapparats, den die USA und ihre Verbündeten sich für diesen Zweck zugelegt haben, und in dem Zusammenhang auch, weshalb die seit Beginn der achtziger Jahre offiziell und öffentlich widerrufene trostreiche Illusion, ein Atomkrieg wäre »nicht führbar«, auch schon vor der Erfindung von Neutronenbombe und cruise missile nichts als eine trostreiche Illusion war.

In Abschnitt 2 dieses Kapitels wird endgültig jeder fündig werden, der die republikanische Gesinnungstreue des Buches nach dem hierzulande so beliebten seriösen und hochdifferenzierten Kriterium einer unmißverständlichen Verurteilung der Sowjetunion überprüfen möchte. Denn dort wird weder die weltpolitische Schuldfrage so gerecht aufgerollt, daß per saldo ein Dank an die westlichen Staatsgewalten für den Schutz – trotz allem! – vor östlichem Unmenschentum herausschaut, noch jene zunehmend beliebte Form antisowjetischer Hetze gepflegt, die dem gegnerischen »System« seine hoffnungslose Ineffizienz vorrechnet und so den Beweis führt, daß es gar nichts anderes mehr als seinen alsbaldigen Untergang verdient. Stattdessen wird die »Systemfrage« einmal theoretisch ernst genommen und die unerhörte Behauptung begründet, daß der sowjetische Staat in seinem Bemühen um Anerkennung durch die maßgeblichen Mächte, die ihn zum Hauptfeind erklärt haben, nichts als einen falschen defensiven Antiimperialismus praktiziert.

Die – alten oder nachträglichen – Freunde der Entspannungspolitik wird vielleicht noch mehr der in Abschnitt 3 geführte Nachweis ärgern, inwiefern der amerikanische Beschluß, dieses goldene Zeitalter zu beenden, die für imperialistische Politiker unabweisbare Konsequenz aus der Tatsache darstellt, daß sie sich in dieser Ära so erfolgreich um eine für sie günstige Korrektur des weltweiten Kräfteverhältnisses bemüht haben. Schließlich hat der Westen in dem besagten Jahrzehnt nicht bloß neue Maßstäbe für eine moderne Waffentechnik gesetzt. Er hat auch eine der Sowjetunion allenthalben feindliche Sortierung und Ordnung der gesamten Staatenwelt durchgesetzt und zementiert; daß dieser Sachverhalt mit der Aufzählung von »imperialistischen Eroberungen«, durch die sich die Sowjetunion von Afghanistan bis nach Jemen ausgedehnt haben soll, aufs heftigste dementiert wird, kann nur die Zweifel an der »Friedensliebe« derer bestärken, denen der freie Westen immer noch zu klein ist, weil nicht alles zu ihm gehört. Zur selben Zeit ist außerdem die friedliche Benutzung slawischer Wirtschaftskraft, um die vor allem die bundesdeutsche Friedenspolitik sich so verdient gemacht hat, fortgediehen bis zur »naturwüchsigen« Zersetzung der Produktionsweise, mit der die revisionistischen Staaten sich einst aus dem kapitalistischen Weltmarkt ausgegliedert haben. Dem imperialistischen Erpressungsgeschäft der freien Welt hat so der Osthandel, der in Abschnitt 4 behandelt wird, ein zusätzliches Arsenal politischer Waffen verschafft, von dem die kalten Krieger ehedem nicht einmal zu träumen wagten. Damit steht, so oder so, die »Befreiung« des Ostblocks auf der Tagesordnung – für die betroffenen Völker, wie am »Fall Polen« in Abschnitt 5 des Kapitels III gezeigt wird, kein Glück, sondern ausnahmslos und in jeder Hinsicht ein entschiedenes Pech!

Kapitel IV schließlich widmet sich der Erklärung einiger Tatsachen, die das unmittelbar betroffene Publikum besser nicht wie Selbstverständlichkeiten hinnehmen sollte – z. B. der folgenden:

Entgegen allen Regeln diplomatischer Höflichkeit wird die Good-will-Tour des sowjetischen Staatschefs an den Rhein von der besuchten bundesdeutschen Führungsmannschaft zu einer einzigen Demonstration westlicher Intransigenz ausgestaltet; einer Unnachgiebigkeit, an der der Sowjetmensch sogar mit seinem Angebot eines ziemlich einseitigen Rüstungsmoratoriums voll aufläuft. Sein Nachfolger hat es mit einem deutschen Kanzler zu tun, der die von ihm abgelöste Regierung Schmidt bezichtigt, sich als »Vermittler« zwischen den Weltmächten aufgespielt zu haben und dabei von den unverzichtbaren Prinzipien westdeutscher Außenpolitik abgerückt zu sein. Die Regierung Kohl sieht die Bedingungen für die »Nachrüstung« allemal für erfüllt an, sie duldet nicht einmal den modisch gewordenen Schein eines Vorbehalts und das heuchlerische »leider« der Opposition. Vielmehr besteht sie ohne Umschweife auf den Maßnahmen, auf deren öffentliche »Begründung« die sozialliberale Koalition so viel Mühe verwandt hatte.

Die Vorhaben der Bundesregierung in Sachen Militär werden von allen Parteien als unausweichliche »Reaktion« auf Afghanistan, Polen und die Existenz sowjetischer Waffen gehandelt. Die SS 20-Raketen, die die bundesdeutschen Politiker angeblich um ihre Souveränität fürchten lassen, gelten als erstklassige Argumente für die ohnehin längst beschlossene Herstellung eines strategischen »Gleichgewichts« ganz speziell zwischen Westeuropa und dem Ostblock. Rüstungsdiplomatie findet nur noch in ultimativer Form statt; der Klartext der »Null-Lösung« wird offiziell mit »einseitiger Abrüstung der Sowjetunion« angegeben; die Befürwortung von Verhandlungen, die das und sonst nichts zum Inhalt haben, läuft als diplomatischer Restposten des sozial-liberalen »Entspannungswillens« – und selbst dieses einst so schöne Etikett unterliegt innenpolitisch wie diplomatisch einem rasanten Kursverfall.

Die Kosten der bundesdeutschen Teilnahme am NATO-Programm der achtziger Jahre, für die die Reagan-Regierung mit ihrem 1500-Milliarden-Dollar-Rüstungsvorhaben gewisse Maßstäbe setzt, werden unter dem Titel »Sparhaushalt« rücksichtslos eingetrieben. Den entsprechend verschärften Ansprüchen an Leistungskraft und Erfolg des bundesdeutschen Unternehmertums kommt dieses so energisch nach, daß die überflüssig gemachten Arbeitskräfte nach Millionen zählen. Die Konsequenzen, die für auf »Verantwortung« abonnierte Politiker unter solch mißlichen »Umständen« – als vorgefundene und zu bewältigende »Lage«, als eine einzige Ansammlung von »Krisen« definiert ein Staatsmann noch stets das Resultat seiner eigenen Werke – unausweichlich sind, hat zunächst noch die Sozialdemokratie ziehen dürfen. Vom »Problem Nr. 1«, der Arbeitslosigkeit, in ihrer sozialstaatlichen Verantwortung gefordert, hat sie Steuererhöhungen und ‑erleichterungen, Zuwendungen an die einen und Ersparnisse an den anderen verfügt und die Opfer, die sie den »sozial Schwachen« auferlegt hat, mit dem Titel »Beschäftigungsprogramm« versehen. Ihre Politik wird inzwischen fortgeführt von einer neuen Regierung, deren »geistige Führung« schon immer auf die Anwendung des Glaubensgrundsatzes bedacht war, daß den von »der Wirtschaft« Abhängigen auch die Rettung der Wirtschaft obliege. Seit dem Machtantritt der christlichen Retter der Nation weiß nun jeder, der es wissen will, daß die alte Regierungspartei und neue Opposition keinen einzigen Einwand gegen den schonungslos praktizierten Nationalismus und seine Maßstäbe hat, sondern höchstens Bedenken der Art vorbringt, ob denn die »Wende« auch den allseits verehrten Zielen der Nation so effektiv zur Durchsetzung verhelfe, wie es ihre Protagonisten behaupten.

Der prinzipiellen Einigkeit aller Demokraten eingedenk, hat sich die professionelle Öffentlichkeit auch gleich heftig auf Methodenfragen des Machtwechsels verlegt und den Sturz der sozial-liberalen Koalition nicht so sehr mit lästiger Kritik am Inhalt der Politik konfrontiert. Wie selbstverständlich rangierten Stilfragen vor der Beurteilung ihrer Vorhaben, die – ausnahmslos dieselben wie die der Vorgänger – nun endgültig als unwidersprechliche Essentials deutschen Strebens an der Seite der USA, und als lauter schwere Aufgaben dazu, anerkannt sind.

Immerhin ist bei der Veranstaltung namens »Wende« eine Wahrheit unter die Leute gebracht worden. Mit dem Beschluß, Neuwahlen abzuhalten, und den höchstamtlichen Kommentaren zu Sieg und Niederlage ist nämlich der Nutzen von Wahlen klargestellt worden: sie machen eine Regierung »stabil«, weil mit der Abgabe der Stimmen die neuen Amtsträger zu ungestörtem Regieren, zur gewissenhaft-rücksichtslosen »Handlungsfreiheit« ermächtigt sind.

Und diese Freiheit wird auch kompromißlos genutzt, für eine »Politik der Wende«, der es offenbar nicht schwerfällt, auf den innen- und außenpolitischen Errungenschaften von »13 Jahren Sozialismus« aufzubauen. Mit ökonomischen und militärischen Mitteln ausgestattet, die weltweit ihre Wirkung tun und alles andere verraten als die »Erblast« eines Verrats an der Sicherheit, den Finanzen und dem Zutrauen der Bürger zur Nation, widmet sich die neue Regierung der Aufstellung von Raketen, hält – ganz im Vertrauen auf im Rahmen der NATO erreichte Weltgeltung – die »deutsche Frage nicht nur theoretisch offen«, benützt die Arbeitslosen als Rechtstitel auf jedes weitere Opfer, das ihr einfällt, und sie erinnert in ihren Anstrengungen zur »politischen Willensbildung« an die Leistungen, die während der Nachkriegszeit ihren Untertanen das Leben so opfer-, also sinnvoll und den C-Regierungen das »Wirtschaftswunder« so erfolgreich gestaltet haben.

Das alles hält die offiziell geachtete Vertretung der Opfer – sowohl des »Wirtschaftswunders« wie des »Modells Deutschland« –, die westdeutsche Einheitsgewerkschaft, für notwendig, so daß sie in Tarifrunden die Löhne der Lohnabhängigen der »Wirtschaft« und dem Fiskus zur Disposition stellt und Verständnis für sämtliche sicherheitspolitischen Ziele von Polen bis Südafrika pflegt.

Das alles hat sogar dahin geführt, daß eine Friedensbewegung, die in militärischen und »Umwelt«dingen vom Mißtrauen gegen die Regierenden ausgegangen ist, als einzig nennenswerter Repräsentant von Kritik geführt wurde. Nach ihrem Wahlerfolg haben die Grünen den Weg zur konstruktiv-parlamentarischen Sorge um das Wohl der Nation zwar auch der Form nach gefunden, gelten aber anhand der akribisch registrierten Verstöße gegen politische Sitten immer noch als die einzige Störung im ansonsten stabilen Betrieb der NATO-Macht BRD, in dem einige Sicherheitsdienste mit der Überwachung und Unterwanderung der wenig zahlreichen Linken betraut sind.

Das alles ist zwar nicht ohne seine Logik, aber keineswegs »nicht anders möglich«! Und gut, wahr und schön, gar einem historischen »Schicksal« geschuldet ist das Zusammenspiel von Machern und Mitmachern schon gleich gar nicht.

3. Gegen den so verbindlich gestalteten Glauben an verordnete und gebilligte »Notwendigkeiten« findet sich im vorliegenden Buch mancher Einwand. Der vorliegende Text wurde im Frühjahr 1983 fertiggestellt. Die aktuellen Fortschritte der »Weltlage«, deren Prinzipien hier analysiert werden, sind Gegenstand der von den Autoren mitbetreuten Politischen Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt.