Zur Broschüre des Ums-Ganze-Bündnisses: „Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit“
Statt Kritik des Systems der Ausbeutung eine radikalkritische Absage an den „Systemzwang“

Die meisten Leute, die sich heute über soziale und andere Missstände empören, suchen und finden in diesen als gemeinsamen Nenner nur den, eben Missstände zu sein, Fälle von Versagen der Verantwortlichen vor ihren Aufgaben oder generell von einem Mangel an Menschlichkeit. Derart Empörte brauchen keine Theorie. Auf solche Protestinitiativen, deren moralische Selbstgenügsamkeit und Theoriefeindlichkeit bezieht sich die Ums-Ganze-Mannschaft mit der Botschaft, dass ein Verbesserungswille, der sich nicht um die systemischen Ursachen der Missstände kümmert, blind und folgenlos bleibt: „Bewegung braucht Theorie!“; wem es um Beseitigung der Missstände zu tun ist, dem muss es „ums Ganze“ gehen, „um die Kritik gesellschaftlicher Herrschaft als ganzer“. Was sie in diesem Sinne an Aufklärung über das kapitalistische System in ihrer Broschüre anbieten, besteht dann allerdings im Wesentlichen in der variantenreich wiederholten Feststellung, dass es sich um „ein System“ handelt; dessen Inhalt erschöpft sich in einem systematischen „Zwang“, dem alle Insassen der Klassengesellschaft gleichermaßen unterliegt und den sie sich zugleich zu eigen macht, weil die ihm Unterworfenen den Zwang für das glatte Gegenteil halten, also dem „Schein von Freiheit“ aufsitzen: Proletarier, Kapitalisten, Staatsagenturen, alle laborieren an dem höchst immateriellen und subjektlosen Umstand einer „Herrschaft der falschen Freiheit“. Agitation ist damit von der Kritik des Klassengegensatzes und vom Standpunkt des beschädigten materiellen Interesses der einen gesäubert. Sie landet prompt bei Phrasen der Art: „Der Austritt der Menschen aus ihrer selbst geschaffenen Unmündigkeit muss das Werk bewusster Individuen sein.“ Revolution geht keinesfalls bewusstlos! Wir dachten ja immer, die würde sich im Schlaf erledigen!

Aus der Zeitschrift
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Gliederung

Zur Broschüre des Ums-Ganze-Bündnisses: Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit[1])
Statt Kritik des Systems der Ausbeutung eine radikalkritische Absage an den „Systemzwang“

Das Anliegen

Es hat einmal eine Arbeiterbewegung gegeben. Proletarier kämpften um ihren Lebensunterhalt und hatten in der Kapitalistenklasse ihren Gegner. Ihre Kämpfe waren ganz selbstverständlich der Bezugspunkt aller kritischen Geister, die an Staat und Gesellschaft etwas auszusetzen hatten; sie waren eben der „Träger des Fortschritts“, der die „Neue Zeit“ herbeiführt und gestaltet. Schon gleich die Intellektuellen, Marx und Engels und ihre Gegner, richteten sich an diese Bewegung und hatten in ihrer Wirkung auf sie das praktische Ziel ihrer theoretischen Tätigkeit. Schließlich hing davon, wie die Arbeiterschaft sich die verschiedenen Formen ihres Elends erklärt, ab, was sie zu dessen Überwindung nötig und zweckmäßig finden würde. Die einen führten Hunger, Frauen- und Kinderarbeit, ungesunde Wohnverhältnisse, Ausschluss von Bildung, Not im Fall von Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit auf das Lohnarbeitsverhältnis als den Grund dieser Übel zurück, andere machten die mangelnde Repräsentation der Arbeiterschaft im Staat dafür verantwortlich; entsprechend fochten die Fraktionen den Streit um Reform oder Revolution aus. Das ist lange vorbei. Heute ist allgemein und auch von den Lohnabhängigen anerkannt, dass ein sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplatz das Höchste ist, worauf der moderne Mensch hoffen darf – schließlich gibt es nicht wenige, denen dieses Privileg versagt bleibt –, und dass kritikwürdige Zustände erst jenseits des tarifvertraglich geregelten Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital beginnen: bei Langzeit-Arbeitslosen in Hartz-IV etwa, im Bereich extremer Niedriglöhne, bei Migranten und Marginalisierten; jedenfalls nicht mehr beim Proletariat, sondern beim Prekariat.

Leute, die sich auch heute noch über soziale und andere Missstände empören, suchen und finden in diesen keinen gemeinsamen Nenner mehr; oder eben den, Missstände zu sein, Fälle von Versagen der Verantwortlichen vor ihren Aufgaben, von Ignoranz gegenüber den Folgen politischen Handelns oder generell von einem Mangel an Menschlichkeit. Derart Empörte brauchen keine Theorie. Was gut und was schlecht ist, sagt ihnen ihr Gerechtigkeitssinn, und dem muss jeder zustimmen, der das Herz am rechten Fleck hat. Ihr kritischer Standpunkt hat nichts zu tun mit der Durchführung irgendeiner Kritik. Sie engagieren sich praktisch für das Gute, indem sie demonstrativ Forderungen an die zuständigen Stellen richten oder gleich selbst mit Spenden, diversen sozialen Projekten und „Tafeln“ die Welt verbessern. Theorie gilt in diesen Kreisen im besten Fall als Zeitverschwendung, im Normalfall als Ablenkung und Verhinderung der Tat, deren Dringlichkeit angesichts himmelschreiender Missstände doch außer Frage steht.

Auf derartige Protestinitiativen und deren moralische Selbstgenügsamkeit und Theoriefeindlichkeit bezieht sich die Ums-Ganze-Mannschaft mit der Botschaft, dass ein punktueller Verbesserungswille, der sich nicht um die Ursachen kümmert, aus denen die beklagten Missstände hervorgehen, blind ist und folgenlos bleibt: Bewegung braucht Theorie!; eine eben, die nachweist, dass die vielen Missstände kein Zufall sind, sondern System haben. Wem es um ihre Beseitigung zu tun ist, dem muss es ums Ganze gehen, um die Kritik gesellschaftlicher Herrschaft als ganzer (7; dieses und die folgenden Zitate mit Seitenangabe aus der Broschüre), denn:

„Andernfalls verliert sich Politik in naivem Aktionismus. Wer sich nur um vermeintlich konkrete Problemlagen kümmern will, verfehlt meist deren Entstehungszusammenhang in der staatlich vermittelten kapitalistischen Konkurrenz. In herrschaftskritischer Perspektive sind meist sämtliche Alternativen pragmatischer Politik gleichermaßen falsch.“ (18)

Mit diesem Argument versucht das Bündnis kritische Aktivitäten anderer zu radikalisieren und sie für eine umfassende Absage an den Kapitalismus zu gewinnen; dem, was es Reformismus nennt, setzt es die Überwindung von Staat und Kapital (8) entgegen.

Die große Entdeckung: Das kapitalistische System ist „ein System“, sein Inhalt „Zwang“

Bei näherem Hinsehen erweist sich die formelle Erinnerung an Notwendigkeit und Zusammenhang der vielen konkreten Problemlagen leider auch schon als die ganze Theorie, die die Autoren der Broschüre im Angebot haben. Immerhin versprechen sie, denen es wesentlich um den Systemcharakter von Herrschaft und Ausbeutung, die sich aus der Struktur der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ergeben (8), geht, damit ja schon etwas: Wer Herrschaft und Ausbeutung der kapitalistischen Ordnung auf den Begriff bringen und ihren ‚Systemcharakter‘ darlegen will, nimmt sich vor an der polit-ökonomischen Geschäftsordnung mitsamt ihren eingerichteten Notwendigkeiten darzulegen, wie sie in ihrer Logik zusammengehören und als Ganzes ein System sind – das bloße Wort erklärt ja nichts. Erklärungen dieser Art sind auch zwingend geboten, will einer mit seiner Kritik überzeugen, die Welt der bürgerlichen Freiheit sei eine von Herrschaft und Ausbeutung. Diesbezüglich aber ist bei den Autoren durch die Bank Fehlanzeige zu vermelden. An den Gegebenheiten der bürgerlichen Gesellschaft wollen sie beispielsweise Folgendes entdeckt haben:

„Die Unterwerfung aller unter den unpersönlichen, systemischen Zwang kapitalistischer Verwertung. Also den prinzipiell uferlosen Zwang, Profite stets aufs Neue als Kapital zu investieren, und dabei andere Kapitale auszustechen, die dem gleichen Zwang unterworfen sind. In der Konkurrenz der Lohnabhängigen, der Unternehmen und der Staaten als Standorte erfasst dieser Verwertungszwang jeden Winkel der Erde.“ (29)

Marx kennen sie also, und mit kapitalistischer Verwertung bringen sie korrekt den bestimmenden ökonomischen Zweck des bürgerlichen Ladens zur Sprache. An dem halten sie aber gar nicht die Notwendigkeiten einer Befassung wert, die mit ihm in der Welt sind: Den Umstand, dass da ein Regime herrscht, dem nichts und niemand auskommt, nehmen sie für das Wesentliche, und das ist grundverkehrt abstrakt gedacht. Kapitalismus und alles, was in ihm herrscht, legen sich die Autoren als Manifestation eines inhaltlich leeren, rein formellen Prinzips von Notwendigkeit zurecht, lösen also alle Bestimmungen des kapitalistischen Systems in die Unbestimmtheit eines systemischen Zwangs auf und wollen damit auch alles begriffen haben, was im letzten Winkel der Erde Sache ist. Sie reden von Konkurrenz, und dass es recht unterschiedliche Subjekte sind, die da als Lohnarbeiter, Unternehmen und Staaten gegeneinander antreten, ist ihnen offensichtlich bekannt. In ihrer abstrakten Sicht der Dinge ist ihnen das aber ebenso gleichgültig wie die unterschiedlichen Zwecke, die diese Subjekte in ihrer Konkurrenz verfolgen, und die Mittel, über die sie zu deren Durchsetzung gebieten: Von all dem, was sie da vor sich haben, abstrahieren sie weg und hin zu der leeren Vorstellung von einer Allmacht, die sie sich mit der Verdopplung von Verwertung zu einem Verwertungszwang konstruiert haben, und entdecken von der aus in allen Unterschiedlichkeiten nur immer dasselbe. Eine sehr seltsame Kapitalismuskritik ist da unterwegs. Was im Kapitalismus Sache ist, kürzt sich bei ihr heraus: Wo man hinsieht, entdeckt man das Gleiche, nämlich Verkörperungen der eigenen abstrakten Idee namens ‚Systemzwang‘, und das erhärtet nur den Befund, dass überall Zwang herrscht –

„als unentrinnbares Prinzip der kapitalistischen Produktionsweise ist dieser Verwertungszwang – paradox gesprochen – ein gesellschaftliches Naturgesetz. Und weil dieses Gesetz ganz handfest über Leben und gesellschaftliche Teilhabe entscheidet, prägt es so ziemlich jede Zone der Individualität.“ (17)

Die Zwänge und Notwendigkeiten, denen das bürgerliche Individuum in seinem Lebensalltag zu gehorchen hat, auch die stummen Zwänge, die ihm in Form der materiellen Nötigungen aus allen Umständen erwachsen, mit denen es praktisch umzugehen hat: An all das darf der Leser gerne denken, wenn im Zitat auf die handfesten und unverrückbaren Präjudizien angespielt wird, die im Kapitalismus über Leben entscheiden. Aber als Einwand gegen die kapitalistische Lebenswelt ist all das, was einem da so einfallen mag, den radikalkritischen Autoren viel zu billig. Als erstes beschwören sie die Existenz dieser unhintergehbaren Notwendigkeit namens ‚Verwertungszwang‘, in die sie alle wirklichen Notwendigkeiten aufgelöst haben, indem sie ungefähr fünf Mal dieselbe Tautologie vom systemischen Zwang, der gesamtsystemisch zwanghaft wirkt, hintereinander aufsagen: Besagter Zwang ist ein Prinzip und als dieses unentrinnbar, was ja das Mindeste ist, was man von einem Prinzip mit dem Inhalt Zwang erwarten kann. Als solches ist es ein Naturgesetz, was dasselbe nochmals anders ausdrückt, und weil das handfest entscheidet, prägt es auch noch gewisse Zonen – wen wundert’s. Der ‚Zwang‘ ist also immer und überall, und weil von ihm Menschen in einer Gesellschaft regiert werden, lässt sich dasselbe auch in die Metapher eines gesellschaftlichen Naturgesetzes bringen. Auch dieses Bild haben sich die Autoren von Marx geborgt. Im Unterschied zu dem aber haben sie überhaupt nicht vor, das, was ihnen selbst paradox vorkommt, also nach einer Erklärung schreit, selbiger auch zuzuführen und damit die Paradoxie aufzulösen. Diese präsentieren sie umgekehrt als fertigen Begriff der kapitalistischen Gesellschaft, nehmen das Bild von Marx also für die Sache und haben damit den Skandal herauspräpariert, den der Kapitalismus für sie begründet: Der funktioniert, indem sich Menschen willentlich betätigen, aber was sie dabei tun, geht gar nicht auf sie als Urheber ihrer Werke zurück, sondern wird ihnen von einem anonymen Zwang, einem eisernen Sachzwang (S. 8 und passim im gesamten Text) diktiert. Nicht die materiellen Notwendigkeiten, an denen sich das bürgerliche Leben in der einen oder anderen Weise abarbeitet, sind Gegenstand dieser Radikalkritik. Nicht das Regime von Rechtsvorschriften, das für sehr viele mit dem notorischen Ausschluss von allen Mitteln einhergeht, sich dieses Leben erträglich zu gestalten, während es für wenige andere die süße Pflicht begründet, für die Vermehrung ihres Vermögens zu sorgen, macht für die Autoren den Skandal dieser Gesellschaft aus: Alle Sachzwänge, in die sich die Menschheit im Kapitalismus eingepfercht sieht und die den einen das Leben in Armut, den anderen die Methoden von deren produktiver Ausbeutung diktieren, interpretieren diese Kritiker als Signatur einer verkehrten Gesellschaft, als Verhängnis, das die Menschen sich einbrocken, insofern sie freien Willens nur tun, wozu sie gezwungen sind. Und was genau tun sie dann? Und vor allem: Was tun sie dabei verkehrt und wäre so Gegenstand der Kritik? Oder anders gefragt: Wem fällt bei dem ganzen Treiben in der kapitalistischen Welt eigentlich nur immer ‚Zwang‘ ein, und was ist das überhaupt für eine Kritik, deren einziges Argument sich darauf zusammenzieht?

Um darauf eine vorläufige Antwort zu geben und die Differenz zwischen Kritik und dieser Sorte Radikalkritik zu verdeutlichen: Kritik hat ihren Ausgangspunkt in den Interessen, die in diesem System unter die Räder kommen, und dem geht sie auf den Grund. Sie findet sich mit dem Schein nicht ab, mit dem sich die kapitalistische Geschäftsordnung mitsamt ihren Einrichtungen als Ensemble für alle brauchbaren Bedingungen präsentiert, bei denen es nur darauf ankäme, das Beste aus ihnen zu machen. Vielmehr führt sie diese Bedingungen auf den gesellschaftlich herrschenden Zweck zurück, der in ihnen zur Sache verfestigt und dem jedes Interesse längst untergeordnet ist, das sich an ihnen zu schaffen macht. In dem und den mit ihm einhergehenden Gegensätzen ermittelt sie den Inhalt dessen, was aller Welt als eingerichteter Sachzwang vorkommt, und erklärt damit den sachlichen Grund, die Notwendigkeit des Scheiterns von Vielen. Bei den Autoren der Broschüre hingegen fasst sich alle Kritik in dem Umstand zusammen, dass die Menschen im Kapitalismus glatt tun, was sie nicht selbst in Auftrag gegeben haben: Ein Sachzwang diktiert ihnen, was sie zu tun und zu lassen haben – als ob Sachen dazu imstande wären! Nichts von dem ist Gegenstand dieser Kritik, was die lieben Menschen tun und was ihnen und ihren Interessen bei ihrem Tun oktroyiert wird. Statt dessen ergeht die Einladung, sich den Kapitalismus als Realinszenierung des Problemfalls zurechtzulegen, der im philosophischen Oberseminar unter dem Thema ‚Entfremdung vom jungen Marx bis zum späten Camus‘ verhandelt wird, und für diese aparte Dialektik finden die Kritiker auch noch eine literarische Figur, in der der ganze Kapitalismus endgültig zum äußerlichen Begleitumstand der Hauptsache herabsinkt, die sie an ihm für spannend und für seine ganze Kritik halten. Da machen die Menschen schon eine Gesellschaft, aber nicht eine, die ihnen als Alter-Ego entgegenlacht, sondern eben eine, die sich ihrer Verfügung entzieht, ihnen vielmehr hinter dem Rücken vorgibt, was sie in ihrem gesellschaftlichen Leben tun – und in dieser Interpretation des Kapitalismus als Negation einer Vorstellung von Vergesellschaftung, mit der die Kritiker gut einverstanden sein könnten, besteht seine ganze Kritik: Er ist ein einziger Zwang zum Selbstzwang (8, im Text passim ca. 10 Mal), und weil er ein Kapitalismus ist, ist eben der kapitalistische Zwang zum Selbstzwang sein Begriff.

Mit dieser Leerformel haben die Autoren den Schlüssel gefunden, sich das Treiben der Menschen, also die Machenschaften von Herrschenden genauso wie die Umtriebe von Geldbesitzern, die Anstrengungen lohnabhängiger Massen genauso wie die Überlebenskämpfe eines Hartz-IV-Prekariats, verständlich zu machen. Das bleibt für die Theorie über den Staat, die Kapitalisten und den Rest der Konkurrenz, die sie im weiteren ausbreiten und mit der sie von ihrer Sicht der Dinge überzeugen wollen, nicht folgenlos.

Die Dämonisierung von „Systemzwang“ in fünf Schritten:

Der Staat – ein Gefangener seiner eigenen herrschaftlichen Räson

Dass die kapitalistische Ordnung ein Werk staatlicher Gewalt ist, entgeht den Autoren der Broschüre nicht. Ein überparteiliches Gewaltmonopol (31) ist es, das die Rechtsregeln des Privateigentums in die Welt setzt, für Rechtsgleichheit, Vertragsfreiheit und einiges mehr von all dem sorgt, was es an wesentlichen Voraussetzungen kapitalistischer Konkurrenz (ebd.) an einem Standort braucht. Mit dem Zweck, auf den die Staatsmacht das produktive Treiben ihrer Bürger mit Rechtsgewalt verpflichtet – Geld verdienen, Eigentum mehren sollen sie –, und mit den dekretierten Formen, in denen sie ihren Eigennutz verfolgen dürfen, richtet sich die politische Herrschaft die von ihr regierte Gesellschaft als materielle Grundlage ihrer Macht ein: Mit dem Kapitalismus, den er in die Welt setzt, verschafft sich – hört man von den Autoren – der bürgerliche Staat die nationalökonomische Grundlage seiner Staatlichkeit (33). Dass es souveränen Gewalten, wenn sie miteinander Handels- und anderen Verkehr treiben, um sich, um die Mehrung ihrer Macht geht, ist ihnen gleichfalls geläufig – der Weltmarkt ist Quelle staatlicher Macht (108) –, klar auch, mit welchen Mitteln Staaten die internationale Geschäftsordnung ihres Wettbewerbs zu eigenen Gunsten zu gestalten pflegen: Wo es bei der darum geht, sich gegen andere durchzusetzen und zu behaupten (18), fungiert das eigene ökonomische Gewicht, das ihnen ihr Standort verleiht, als Waffe der Erpressung, manchmal tun das auch die Waffen, über die sie verfügen. Politisch wie ökonomisch weltweit unterwegs sind die Staaten nach Auffassung der Autoren als Sachwalter und Agenten der globalen Verwertungschancen ihrer nationalen Ökonomien (50), – aus der Broschüre ließen sich noch beliebig mehr Stellen zusammenklauben, in denen die Verfasser dokumentieren, was der bürgerliche Staat für sie jedenfalls ist: Das politische Gewaltsubjekt, das sich mit dem Kapitalismus das Fundament seiner Macht verschafft. Dieses Urteil aber lassen sie so nicht stehen. Wo immer sie vom Staat und seiner Souveränität, seiner Macht und seinen Leistungen reden, wird jedes Urteil zur Sache von einem großen gedanklichen Einerseits begleitet. Weil für sie alles nur als von der Macht des Systems bestimmt fertig begriffen ist, lassen sie ihren Bemerkungen zur Macht des Staates regelmäßig den Rückruf folgen und setzen ihnen ein ganz großes Andererseits hinzu: Auch die Schöpfer der kapitalistischen Ordnung unterliegen der Omnipotenz des Systemzwangs, dem nichts und niemand auskommt. Diese Theoretiker sprechen von Herrschaft und Ausbeutung, um – wie eingangs zitiert – an beidem den Systemcharakter zu exemplifizieren, und jetzt wird deutlich, was diese System-Theoretiker damit meinen: Heraus kommt bei ihnen eine politische Ökonomie des Kapitalismus, die den Gewaltmonopolisten als abhängiges Derivat seiner eigenen Machenschaften durchschaut und dem Souverän Ohnmacht gegenüber seinem eigenen Werk attestiert. Goethes Zauberlehrling lässt grüßen, wenngleich dem Widersinnigkeiten der folgenden Art nicht untergekommen sind:

„Im Rahmen dieser staatlich garantierten Formbestimmungen entwickelt sich das Kapitalverhältnis als umfassendes System gesellschaftlicher Abhängigkeiten. Das gilt für die ökonomischen Beziehungen der Bürger eines Staats, wie für dessen eigenes nationalökonomisches Schicksal als Standort einer globalisierten Kapitalverwertung. Die Rahmenbedingungen dieser kapitalistischen Globalisierung werden zwar periodisch unter Staaten neu verhandelt. Doch jeder anerkannte Souverän kann sich hier nur entsprechend seinem eigenen ökonomischen Gewicht und seinem davon abhängigen Potenzial direkter militärischer Gewaltausübung einbringen – bleibt also jederzeit zu nationalökonomischem Egoismus gezwungen. Politische ‚Spielräume‘ werden so durch den allgemeinen Verwertungszwang und dessen besondere Konjunkturverläufe definiert, die politisch eben nicht beliebig gestaltbar sind.“ (31 f.) „Die Grenzen des Politischen liegen demnach bereits in seiner kapitalistischen Formbestimmtheit.“ (33)

Als Werk staatlicher Macht entwickelt sich also nicht der Kapitalismus, sondern der als etwas, nämlich als umfassendes System, von dem zu erfahren ist, dass es aus Abhängigkeiten besteht. Mehr muss man, an mehr soll man aber auch besser nicht denken, um der Politik souveräner Staaten, die sie in ihrem eigenen Machtbereich wie gegeneinander betreiben, Nicht-Souveränität nachsagen zu können. Die Räson ihrer Herrschaft, der Kapitalismus mit seinem Wertgesetz, den sie ihren Gesellschaften aufnötigen und für dessen je eigenen Erfolg sie sich wechselseitig benutzen und den Rest der Welt gleich mit, lässt – dies die schlaue Entdeckung – den Souveränen bei der Ausübung ihres Handwerks einfach keine freie Wahl. Das lässt sich den Rahmenbedingungen der Konkurrenz entnehmen, die immerhin noch als Stoff Erwähnung finden, über den Staaten verhandeln – aber worum sich das Verhandeln dreht und was bei der Geschäftsordnung ihres weltweiten Handelsverkehrs Sache ist: Das bleibt bei den Autoren ebenso im Unbestimmten wie die Natur der Streitfragen und deren Gegenstände, über die Staaten im Zusammenhang mit ihren Verhandlungen regelmäßig aneinandergeraten. Letzteres tun sie offenbar, wie dem Zitat zu entnehmen ist. Aber an den wechselseitigen Erpressungsmanövern, die Souveräne da unter Aufbietung ihrer ökonomischen wie gewaltmäßigen Potenzen auf den Weg bringen, halten die Autoren nur für mitteilenswert, dass aufgrund deren begrenzter Reichweite auch der Durchsetzung staatlicher Macht Grenzen gezogen sind: Als „Souverän“ anerkannt, kann so ein Subjekt höchster Machtvollkommenheit gar nicht so schalten und walten, wie es an sich doch von ihm zu erwarten wäre! Zumindest scheinen die Staatskritiker diesbezüglich über einen gewissen Erwartungshorizont zu verfügen – anders kämen sie ja wohl nicht zu dem niederschmetternden Befund, dass Staaten, die ja auch ihrer Auffassung nach um ihren Vorteil konkurrieren, ihren Egoismus als Zwangsdiktat am eigenen Leib erfahren: In ihrer Sicht steigen Staaten in die internationale Konkurrenz ein, um in der zu gewinnen, und weil sie sich dabei dann glatt nur so weit durchsetzen können, wie die Machtmittel reichen, die sie einbringen, sehen sich dieselben Mächte dazu gezwungen, um ihren Vorteil kämpfen zu müssen! Indem sie mit ihrer Macht die Sachzwänge vollstrecken, die in ihren von ihnen selbst eingerichteten ökonomischen Lebensgrundlagen liegen, sind diese bürgerlichen Staaten so ein einziges Dokument ihrer Ohnmacht. Fast möchte man den Autoren raten, einmal einen Blick in die Zeitung zu werfen. Aber so, wie sie geistig drauf sind, würde das nicht viel nützen: Sie reden zwar über eine Politik, die gestaltet, aber man liegt eben ganz verkehrt, bei diesem Wort an die Sachen zu denken, die da von wem und mit welchem Interesse und aus welchem Grund gestaltet werden. Da müsste man sich ja schon mit denen befassen – die Autoren aber wollen allen Zeugnissen der politischen Gestaltungskraft bürgerlicher Staaten nach innen wie nach außen nur immer wieder den Beweis dafür entnehmen, dass hier Subjekte einem subjektlosen Zwang unterliegen und für sie deswegen so gut wie gar nichts beliebig gestaltbar ist. Gewöhnlich pflegen die Apologeten der bürgerlichen Staatsgewalt unter dem Stichwort der ‚Globalisierung‘ Schranken und Sachzwänge heranzuziehen, um den praktizierten nationalen Egoismus als zwingendes Gebot der Umstände zu rechtfertigen, zu dem es keine Alternative gibt – hier sind es Staatskritiker, die dessen Unausweichlichkeit beteuern wollen und dazu dasselbe ‚Argument‘ bemühen, das die bürgerlichen Ideologen als Entschuldigungsgrund für alles hersagen. Mit der Logik dieses staatlichen Egoismus und seinem Inhalt, den Prinzipien einer bürgerlichen Herrschaft, die das Regime des Eigentums zur Rechtsordnung macht, geben sie sich gar nicht erst ab. An den Rechten, die Staaten gegeneinander geltend machen, und bei den Interessen, in deren Namen sie dies tun, ist für sie die Hauptsache, dass die, weil nämlich systembedingt, alternativlos sind, und worauf sie mit dem Unsinn, das wirkliche Treiben der Staaten als Verhinderung unbestimmter Möglichkeiten zu deuten, hinaus wollen, sagen sie auch noch: Auf die Grenzen des Politischen, die dem in dieser kapitalistischen Welt gezogen sind! Man braucht also über gar nichts mehr zu reden, was im Kapitalismus Sache ist und was es mit der Räson des Staates auf sich hat, mit der er sich diese Sache zur eigenen macht, um die politische Ökonomie der herrschenden Produktionsweise komplett zu durchschauen: Sie hindert Staaten an der Entfaltung all der schönen Möglichkeiten, die es Freunden philosophischer Wesenheiten wie ‚dem Politischen‘ seit Aristoteles angetan haben und für die sogar Altruismus zwischen Nationen im Bereich des Denkmöglichen liegt.

Der bürgerliche Staat kann gar keine andere Politik machen als die, die er betreibt: Das ist die so kompliziert ertüftelte theoretische Lehreinheit, die diese Fundamentalkritiker gegenüber Leuten für angebracht halten, die sich von diesem Machtsubjekt eine andere Politik wünschen. Die Autoren nehmen Bezug auf soziale Kämpfe, auf Gewerkschaften, für die es im Standort sozialer, gerechter oder sonst wie schöner zugehen soll, und an deren Adresse wie an die aller anderen Humanisten, die für sie naiv und oberflächlich (104) sind, ergeht die Auskunft, dass sie sich ihre Wünsche gefälligst abschminken sollen. Gar nicht deswegen, weil sie den Bock zum Gärtner machen, wenn sie sich mit ihren Wünschen nach einer besseren Welt an den Staat wenden; schließlich haben Machthaber, die einen kapitalistischen Standort regieren, definitiv anderes im Programm als ihr Volk mit Glück und Wohlstand zu beschenken. Dass sich diese sozial-moralisch bewegten Reformisten daran stoßen, wie schlecht die Leute von ihrer politischen Obrigkeit behandelt werden, wird ihnen von ihren radikalen Kritikern durchaus konzediert – und als Banalität gegenüber der Hauptsache abgehakt, die sie in dem Zusammenhang zu vermelden haben: Das Politische hat wg. Verwertungszwang keine Spielräume, eine bessere Welt ist von diesem Staat nicht zu haben, weil der selbst mit all seiner Macht unentrinnbar verstrickt ist in seiner kapitalistischen Formbestimmtheit – er ist ein Opfer des Wertgesetzes, das er in die Welt entlassen hat, und wird von dem dazu gezwungen, nur immer an sich, seine Macht und deren Grundlagen und die Mehrung beider zu denken.

In Sachen Theorie, die nach Auffassung der Autoren veränderungswillige Praktiker unbedingt brauchen, sei gegenüber diesem aufgeblasenen Popanz einer subjektlosen systemischen Macht, die über den realen Machthabern regiert, eine Bemerkung zur Sache gestattet. Politiker kümmern sich um die Herrschaftsangelegenheiten, richten sich nach den Erfolgskriterien, kalkulieren mit den Mitteln und handeln im Rahmen der Alternativen, die sie als Politiker vorfinden und wirklich nicht selbst erfinden müssen. Sie haben es nicht nötig, die Logik des Systems bürgerlicher Herrschaft, die sie exekutieren, zu begreifen; so etwas wäre bloß hinderlich für ihr professionelles Bemühen, der feststehenden Agenda zu entsprechen und die Macht ihres Staatswesens in Tateinheit mit ihrer Macht im Staatswesen zu mehren. Der zu diesem System gehörigen Wissenschaft ist es ums Begreifen auch nicht zu tun; sie verdient sich den Titel „bürgerlich“ dadurch, dass ihre Theorien den Standpunkt der Politik, die Sorge ums Gelingen von Geschäft und Gewalt, in allerlei Varianten vereinseitigend reproduzieren, also Erklären durch fürsorglich-erfolgsorientiertes Problematisieren ersetzen. Den Begriff dieser Verhältnisse braucht, wer sich an ihnen stört und an Abhilfe interessiert ist; denn mit dem Begriff verlieren die Verhältnisse den Schein der Selbstverständlichkeit, der prinzipiell hinzunehmenden, praktisch zu verbessernden Gegebenheit. Dann kapriziert man sich aber auf jeden Fall nicht auf die Beteuerung, die Welt der Politik sei ein Ensemble unverfügbarer Zwänge, allen Interessen und allen Zwecksetzungen als ‚Bedingung ihrer Möglichkeit‘ ‚je schon‘ vorausgesetzt und vorgegeben: Das mag ganz furchtbar kritisch gemeint sein, ist aber nichts als die transzendentalphilosophische Verabsolutierung des falschen – von Marx als „Fetischismus“ gegeißelten – Scheins, in der bürgerlichen Welt hätten tatsächlich Sachen die Herrschaft über Interessen und Zwecke angetreten. Wo doch tatsächlich in den sachlich vorgegebenen Verhältnissen nichts als die Herrschaft sehr bestimmter Zwecke und Interessen steckt.

Die Kapitalisten – ökonomische Charaktermasken ohne ökonomischen Charakter

Mit derselben Logik, mit der die Autoren den bürgerlichen Staat als letztlich doch ohnmächtigen Vollstrecker anonymer Mächte entlarvt haben, wenden sie sich der Spezies von Eigentümern zu, deren Interesse das herrschende der eingerichteten Produktionsweise ist. Doch was muss man da hören: Die Kapitalisten sind durch das Band der Konkurrenz dazu verdammt, Profit zu machen oder unterzugehen (20). Wozu sie im einzelnen verdammt sind, wissen die Autoren an sich ja schon. Dass es da privaten Eigentümern um die Mehrung jeweils ihres eigenen Vermögens geht; dass sie dabei deswegen aneinander geraten, weil sie allesamt dasselbe tun, sich tote wie lebendige Produktionsmittel kaufen, Waren fertigen lassen, um sie gewinnbringend zu verkaufen, und einander dabei ihren Erfolg bestreiten. Dass Kapitalisten den Zwang der Konkurrenz, dem sie ausgesetzt sind, durch die Betätigung ihres Bereicherungsinteresses selbst produzieren, ist den Verfassern der Broschüre an sich ebenso wenig ein Rätsel wie die Form, in der dieser Prozess seinen Verlauf nimmt: Der kommt zu keinem Ende, weil jedes Preisniveau, jeder Stand der Produktivität und Rationalisierung, jede vorgeschossene Kapitalgröße immer nur Durchgangsstadien zum nächsthöheren Niveau der Konkurrenz sind. Aber wiederum ist all das, was sie da im Treiben der Kapitalisten wahrnehmen und auf sein bestimmendes Gesetz zurückführen, nur der Auftakt für den relativierenden Rückruf des Gesagten: Wie schon beim Staat, sehen sie sich auch beim Blick auf das Treiben der Kapitalisten wieder in der Ahnung bestätigt, dass sich in dem doch nur manifestieren kann, was sie über die Macht, die den gesamten Laden regiert, herausgefunden haben,

„die Ahnung nämlich, dass die Gesellschaft von Staat und Kapital sich unter endlosen Verwertungszwängen tatsächlich gegen die Menschen selbst verselbständigt hat, die diese Gesellschaft doch tagtäglich selbst hervorbringen.“ (62)

Dann liefern sie ein weiteres Beispiel der enorm verbreiteten Denkmethode, die Realität unter das eigene Vorurteil zu subsumieren. Sie bringen mit ‚Produktivität‘ und ‚Rentabilität‘ die Waffen der kapitalistischen Konkurrenz zur Sprache – nicht, um an ihnen etwas zu erklären, sondern als Dokumente des Prinzips, als das sie sich den Kapitalismus erklärt haben:

„Der kapitalistische Zwang zu maximaler Produktivität und Rentabilität (ist) in letzter Instanz ein unpersönlicher Zwang, selbst wenn er von konkreten Kapitalisten organisiert und von konkreten Lohnabhängigen fleißig umgesetzt wird. (Marx spricht deshalb von ‚Charaktermasken‘ als ‚Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse‘) Er ist ein Zwang, der sich durch die Konkurrenz der Menschen und Nationalökonomien hindurch gegen die Menschen verselbständigt.“ (63)

Wenn man sich das Treiben dieser konkreten Kapitalisten und Lohnarbeiter unvoreingenommen besieht, kommt man auf so manches, was die Mitglieder der beiden Klassen gemeinsam haben, also darauf, was sie jeweils für sich eint, die Identität ihrer Klasse und ihren Gegensatz zur anderen bestimmt: Derart schließt man von ihrem praktischen Tun auf die in den Sachgesetzen ihrer Erwerbsquelle liegende Logik als Grund ihres Treibens. Man kann auch, wie der oben zitierte Marx, mit der Analyse der ökonomischen Sache anfangen, mit den Notwendigkeiten, denen die Waren und ihr Tausch, das Geld und die Eigentümlichkeiten seiner Vermehrung unterliegen, und kommt von denen aus auf die Rechts- und Willensverhältnisse, die die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft untereinander eingehen: Auch da stellen sich letztere als Träger ersterer heraus, als Leute, die den ökonomischen Inhalt, den sie vorfinden, zu ihrer Sache machen und deswegen auch als ‚Personifikationen‘ der ökonomischen Verhältnisse herumlaufen, wie es oben zitiert ist. Auf die Entdeckung des Zwangs, von dem im Zitat die Rede ist, kommt man auf keinem dieser beiden Wege: Der ist das Produkt einer falschen Abstraktion. Tatsächlich setzen die Unternehmer mit ihrer ehrgeizigen Geschäftstätigkeit eine Ökonomie ins Werk, auf deren Handhabung sie sich gut, deren Grund und Logik sie überhaupt nicht verstehen: ein absurdes Verhältnis zwischen tatkräftig betätigtem Geschäftsinteresse und der dadurch begriffslos betätigten Subsumtion des gesamten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses unter die Technologie privater Bereicherung. Dieses Verhältnis ist allerdings alles andere als das hinterrücks wirksame Walten einer Wesenheit, deren wesentliche inhaltliche Bestimmung in dem Formalismus bestünde, dass sie sich durch das Tun der Menschen hindurch gegen die Menschen verselbständigt. Auf eine solche Absolutsetzung der bürgerlichen Weisheit von der „unsichtbaren Hand“, die das Marktgeschehen regiert, verfällt man nur, wenn man am Stoff der kapitalistischen Konkurrenz bloß wieder sein Dogma vom Zwang zum Selbstzwang verlebendigen will. Nur dann legt man in einem ersten Zugriff Wert auf die Feststellung, dass sich in dieser Konkurrenz – wenn man sich nur ganz, ganz tief in sie hinein versenkt, nämlich in letzter Instanzetwas Unpersönliches Geltung verschafft. Nur deswegen greift man von da aus als zweites so auf die Realität zurück, dass schon wieder nichts vom Treiben der leibhaftigen Menschen erklärt wird, die man mit konkret herbeizitiert, weil die nur beglaubigen dürfen, dass vom Zwang, der über sie herrscht, die ganze Menschheit nichts merkt: Selbst wenn echte Lohnarbeiter und Kapitalisten es sein sollten, die seine Geltung ins Werk setzen, haben sie null Ahnung davon, dass er durch und durch unpersönlich ist. Und nur deshalb, weil man seine eigene Leerformel möglichst drastisch bebildern will, schreibt man einen derart monströsen Satz hin, der sich mit rein gar nichts mehr von dem befasst, was diese freien und gleichen Rechtspersonen in ihrer Konkurrenz treiben, sie dafür umso vollständiger auf ihren Begriff gebracht haben will: Sie sind Hampelmänner einer Macht, deren einzige Bestimmung ist, machtvoll zu wirken, und zwar derart mächtig, dass sie durch das Treiben der Menschen und Nationalökonomien hindurch gegen sie wirkt – offensichtlich glauben die Autoren derart fest an ihre eigene Erfindung, dass sie zwischen Menschen und Nationalökonomien zwar noch einen Unterschied wissen, aber den in Anbetracht ihrer großen Entdeckung für absolut belanglos halten.

Die Lohnabhängigen – vom revolutionären Subjekt zum verstaatlichten Proletariat mutiert

Auch bei der Aufklärung über die Lebenslage der lohnabhängigen Massen, die in diesem System Reichtum in fremder Hand mehren, findet wieder alles, was zur Sache vermerkt wird, nur Erwähnung, um die tiefere Bedeutung loszuwerden, die im Gesamtsystem begraben liegt – exemplarisch dafür:

„Die Freiheit zur Lohnarbeit beläuft sich für die unmittelbaren Produzenten auf den Zwang, jeden Produktivitätswettbewerb mit zu machen, der in der permanenten Konkurrenz der Kapitale angestoßen wird. Sie ist Freiheit zum Selbstzwang.“ (37)

Das ist wieder eines dieser wundersamen Satzgebilde, bei dem man an ganz vieles zur Dialektik von Freiheit & Zwang denken kann, um dann doch nur an die Weltformel denken zu sollen, die die Autoren im Kopf haben und die auf nichts von alledem passt, woran man so gedacht hat. Beim Stichwort ‚Freiheit‘ z. B. kann einem die Instanz einfallen, von der sie kommt: Dann ist man der Sache nach bei der Verfügung des Staates über Rechtspersonen und bei allen praktischen Nötigungen, die deren Verkehr, die Konkurrenz freier und gleicher, aber unterschiedlich bemittelter Eigentümer auszeichnen. Beim Stichwort ‚Lohnarbeit‘ mag man sich die Unfreiheit vergegenwärtigen, die einreißt, sobald einer einen Arbeitsplatz hat: Der ist ein einziges materialisiertes Ensemble von Vorgaben für die Leistung, die sein stolzer Besitzer abzuliefern hat. Womöglich fällt einem in dem Zusammenhang auch noch ein, dass in der Selbstwahrnehmung solcher Arbeitsplatzbesitzer die Zwänge, denen sie ausgeliefert sind, sich ganz anders darstellen: Zumeist als etwas, was sie perfekt im Griff haben und sie als ziemliche Helden des Lebenskampfs dastehen lässt, in den sie der Staat mit dem Recht der Freiheit kommandiert. Auf all das spielen die Autoren an – nur um in der Summe, die sie aus allem ziehen, von dem nichts mehr vorkommen zu lassen: Die reale Welt der Zwänge, die das Dasein der Lohnarbeiter ausmachen, beläuft sich für sie darauf, immer alles mitzumachen, wozu gar nicht sie selbst, sondern ihre kapitalistischen Herren und Meister gezwungen werden. Der Verwertungszwang ist das Subjekt, das die Lohnarbeiter vermittelt über den Selbstzwang der Kapitalisten, ihm zu gehorchen, willkürlich-unwillkürlich zwingt, und den Zwang zwingen sie sich dann auch noch selbst auf: In diese Idee eines systematisch oktroyierten Willens zum Mitmachen lösen die Autoren alles auf, was bei dem Wobei, bei dem mitgemacht wird, Sache ist und auch beim Willen derer, die da bei allem mitmachen. Damit haben sie zwar von nichts irgendetwas verstanden, sich aber einen unanfechtbaren Verständnisgrund verschafft, weshalb man als linker Systemkritiker seine Hoffnungen auf das Wirken der Arbeiterklasse als Subjekt der Revolution ein für alle Mal zu beerdigen hat. Denn auch diese Klasse zwingt sich den Systemzwang auf, den als oberstes Subjekt der Staat inszeniert – dies an die Adresse ihrer linken Leserschaft loszuwerden, ist den Autoren ein ganz spezielles Anliegen:

„Die revolutionäre Hoffnung, dass die fortgesetzte Ausbeutung der Proletarier diese unausweichlich zur Abschaffung aller Herrschaft und Ausbeutung nötigen werde, hat sich nicht erfüllt.“ (40)

Wer immer da Partei für die Sache der Proletarier ergriffen und sich welche Hoffnungen auch immer gemacht haben mag: Für einen logischen Augenblick lang sympathisieren die Autoren mit allen Sympathisanten der Arbeiterbewegung und vermerken den für sie betrüblichen Umstand, dass am Abgang des ‚Klassenstandpunkts‘ kein Zweifel bestehen kann. Als was sie sich diese vom Gang der Dinge enttäuschte revolutionäre Hoffnung zurechtlegen, verrät allerdings eher das Gegenteil von Sympathie für die Sache, um die es zu Umsturz aufgelegten Proletariern irgendwann einmal womöglich gegangen ist. Das Verb nötigen im Zitat lässt immerhin noch eine rationelle Lesart zu: Wenn das System der Ausbeutung den Proletariern ihre Lebensgrundlage bestreitet, dann müssen die um ihr Interesse kämpfen, und wenn sie dabei konsequent sind, um ihres Interesses willen das System bekämpfen. Die Autoren allerdings zielen auf eine ganz andere Lesart ab. Für sie ist Revolution nicht etwas, wozu sich eine Klasse entschließt, weil sie den systembedingten Grund erkannt hat, dem sie ihr Elend verdankt, sondern ein Produkt des Elends selbst. Die Hoffnung, die sich da nicht erfüllt hat, besteht für sie im enttäuschten Glauben an einen Automatismus, wonach die Unaushaltbarkeit ihrer Lage Proletariern letztlich irgendwie – eben: unausweichlich – den Schritt zum Umsturz aufnötigt, weshalb man in ihrer Vorstellung einer revolutionären Klasse den revolutionären Elan auch einfach abkaufen kann:

„Entscheidend für den Fortbestand des kapitalistischen Staates durch alle Krisen hindurch war die politische Integration der Arbeiterklasse auf Basis ihrer materiellen Besserstellung.“ (Ebd.)

Weil sie sich Revolution als so etwas wie einen Reflex von Arbeitern auf einfach nicht mehr auszuhaltende Lebensumstände denken, leuchtet ihnen unmittelbar ein, dass solche geist- und willenlosen Anhängsel ihrer Umstände schlagartig zufrieden sind, wenn ein fürsorgender Patron namens Staat sich ihrer annimmt. Arbeitsschutzgesetze, Sozialleistungen und Bildung führen die Autoren als Beispiele dafür an, wie der Staat den Materialismus der Lohnabhängigen einerseits erfolgreich befriedigt, sie andererseits im selben Zug auf sich als die allererste Bedingung der Befriedigung ihrer materiellen Drangsale umlenkt, mit dem Ergebnis:

„Die Abhängigkeit der Staatsbürger vom Erfolg der nationalen Reichtumsproduktion überlagert objektiv den Klassengegensatz, an den die parteimarxistische Dogmatik lange ihre Revolutionshoffnungen geknüpft hatte.“ (41)

Dass er aus der Welt wäre, der Klassengegensatz, wollen die Autoren den parteimarxistischen Dogmatikern nicht einmal sagen. Sie legen nur bescheiden Wert auf die Feststellung, dass er in Anbetracht der Abhängigkeit der Staatsbürger von ihrem Staat in ihren Augen keine Rolle mehr spielt. In dieser Abhängigkeit sehen sie nämlich schon wieder ihr Dogma bestätigt, nämlich wieder eine Manifestation des systemischen Wirkens von Zwangsgesetzlichkeit, die sich hier eben in Gestalt einer staatlichen Inbesitznahme der proletarischen Klasse äußert. Deren williges Mitmachen im freiheitlichen Klassenstaat ist gar nicht ihr Werk. Es dokumentiert nicht in erster Linie fehlendes ‚Klassenbewusstsein‘ (41), ist also kein Dokument des Fehlers der Mitglieder dieser Klasse, sich zu den praktischen Nötigungen, denen sie sich ausgesetzt sieht, affirmativ zu stellen, als selbstbewusste Aktivisten ihres Lebenskampfs die Bedingungen der eingerichteten Geschäftsordnung positiv als Mittel ihres Fortkommens zu nehmen und dann auch noch auf den Staat, den gewaltsamen Urheber und Hüter ihrer feindlichen Lebenswelt, als Schutzmacht und politischen Förderer ihrer Interessen zu setzen. Nein, für die Autoren dokumentiert diese aktive Wahrnehmung aller gewährten Freiheiten, mit denen die Unterordnung unter alle eingerichteten Sachzwänge beschlossen ist, die in der Welt sind, schon wieder nur die grenzenlose Ohnmacht, zu der das System seine Elemente verurteilt. Wo die Mitglieder der Klasse ihre wirkliche ökonomische Identität ignorieren und sie berechnend durch die eingebildete mit ihrem Staat ersetzen, sehen diese anti-marxistischen Dogmatiker nur wieder die nächste Fallstudie der Passivität, zu der der Verwertungszwang die Menschen zwingt: Sie offenbart für sie – nicht den verkehrten Schluss, den Proletarier aus ihrer Abhängigkeit ziehen, sondern vielmehr –

„den historischen Stand der objektiven Verstaatlichung der Proletenklasse, ihrer Integration ins nationalökonomische ‚Wir‘.“ (Ebd.)

Objektiv verstaatlicht sind die Lohnabhängigen also: In ihrem Bewusstsein fehlt nicht nur die Klasse, sie haben recht besehen gar keines über irgendwas, schon gleich nicht über ihren Staat. Der spendiert ihnen Lebensmittel und bringt diese Kreaturen allein damit schon derart von sich in Abhängigkeit, dass sich die Affirmation des Spenders im Befinden der Beschenkten als automatische Gefühlslage (46) einnistet: Das revolutionäre Subjekt ist zur reinen staatlichen Verfügungsmasse mutiert und harrt als objektiv zur Volks- und Schicksalsgemeinschaft (44) formiertes Wesen der Dinge, die auf es zukommen.

Im politischen Ideal des Faschismus finden diese Radikalkritiker das nächste passende Bild von der System-Macht, die das Leben determiniert, und wie schon bei Marx und seinen ‚Naturgesetzen‘ der kapitalistischen Ökonomie, nehmen sie auch da das Bild für die Sache und sehen sich mit der faschistischen Ideologie ein weiteres Mal in dem ins Recht gesetzt, was sie für den Begriff der bürgerlichen Wirklichkeit halten. Deswegen ist umgekehrt das, was sie über das Proletariat als willenlose Knetmasse seines Staates herausgefunden haben, auch schon ihre ganze Erklärung des deutschen Faschismus:

„Die Staatsunmittelbarkeit des deutschen Individuums wurde in der ökonomischen Staatenkonkurrenz zu einer Kraftquelle volksgemeinschaftlicher Opferbereitschaft und Unbeugsamkeit bis zur letzten Kugel.“ (83)

Auch noch einen Weltkrieg nebst Völkermord kann man sich also mit der Leerformel vom ‚Zwang zum Selbstzwang‘ plausibel machen, aber dagegen würde sogar der Führer, dem die Projektion der Nation und ihrer Mission ins deutsche Individuum hinein wahrlich nicht fremd war, vehement protestieren: Der war Staatsmann und daher Realist genug, sein Volk gewaltsam zur Tugend der Opferbereitschaft zu zwingen, auf deren Ertrag er scharf war. Und gegen diese Phantasien von der ‚Staatsunmittelbarkeit des deutschen Individuums‘ sei dann schon – ‚Theorie‘ war ja versprochen – wenigstens darauf hingewiesen, wie es sich mit Macht und Ohnmacht wirklich verhält: Die ganze Macht eines Staates beruht schlicht darauf, dass Individuen sich als Volk begreifen und der Befehlsgewalt ihrer Herren unterstellen. Selbst dann, wenn sich der Fehler bei ihnen zur Gewohnheit und allergrößten Selbstverständlichkeit verfestigt hat, sind sie nicht staatsunmittelbar - niemand außer sie selbst in ihrer fatalen Berechnung, Herrschaft wäre ein Mittel ihres Fortkommens, hindert sie an der Einsicht, dass sie besser daran täten, ihr Lebensglück in die eigenen Hände zu nehmen. Von wegen also Ohnmacht, zu der das System seine proletarischen Insassen zwingt: Würden die sich nicht selbst in der Wahrnehmung ihrer Belange für ohnmächtig erklären und stattdessen die Korrektur ihres Fehlers praktisch auf den Weg bringen, wäre schlagartig Schluss mit dem ganzen kapitalistischen Unfug.

Alle Aktivisten der freien Konkurrenz zusammen – von der falschen Freiheit um die wahre betrogen

Aber derartige Erinnerungen ans wirkliche Leben im herrschaftlich kontrollierten kapitalistischen Zwangsverband dürften den Autoren der Broschüre weltfremd vorkommen. Sie wollen ja alle Gegensätze der kapitalistischen Ausbeutungsordnung mit ihrer Dichotomie von Systemzwang und Freiheit – dem bei ersterem stets mitgedachten Gegenpol, sonst wäre er ja kein Zwang – charakterisiert und kritisiert haben. Armut, lebenslange Arbeit, die nicht viel einbringt, und die ewige Existenzunsicherheit der Lohnabhängigen – alles ist verstanden mit und ersäuft in fehlender Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Ohnmacht. Die Macht der Kapitaleigner, sich den Reproduktionsprozess der Gesellschaft als Mittel ihrer exklusiven Bereicherung herzurichten, wird als bloß scheinhaft durchschaut, weil sie – in letzter Instanz, wie die salvatorische Klausel regelmäßig heißt – doch nur durch Unterordnung unter die unpersönlichen Erfordernisse der Konkurrenz erkauft und deswegen absolut unfrei errungen wird. Wieder würden die Autoren nie im Leben bestreiten wollen, dass die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft ihre Interessen in Freiheit verfolgen, dass sie mit dem, was ihnen gehört, die Abhängigkeit anderer von ihren Sachen oder Diensten ausnutzen dürfen und außer allen rechtlichen keinen Pflichten gehorchen müssen, die sie nicht in freier Berechnung vereinbart haben. Freiheitsmäßig fehlt da nichts – für die Autoren der Broschüre freilich fehlt an dieser Freiheit die Hauptsache:

„‚Autonomie‘ bedeutet in der kapitalistischen Gesellschaft eben doch nicht, dass man tun kann, was man will oder was man vernünftigerweise tun sollte. Sie bedeutet im Wesentlichen, dass man jederzeit einen legalen Vertrag abschließen, d.h. eine Geschäftsbeziehung eingehen kann (und zum Überleben auch muss) – sofern sich nur jemand findet, der selbst ein privates Interesse an diesem Geschäft hat. (27)

Wo haben diese Philosophen eigentlich das Versprechen her, dessen Erfüllung die kapitalistische Gesellschaft in Sachen ‚Autonomie‘ angeblich schuldig bleibt? Was die erste Hälfte ihrer Vermisstenanzeige betrifft, so ist der bürgerliche Laden voll von wohlmeinenden Menschen unterwegs in der erzieherischen Mission, kleinen Kindern wie älteren Kindsköpfen mit Vehemenz beizubringen, dass man hierzulande keinesfalls tun kann, was man will. Sie wie alle Erzieher und sonstige selbsternannte Gouvernanten pflegen ihre Benimmregeln auch stets mit der Empfehlung zu garnieren, doch bitteschön nur das zu tun, was man vernünftigerweise tun sollte, so dass man sich auch da fragt, über welches Defizit diese Kritiker eigentlich Klage führen. Zumal sie sich ja auch mit Hinweisen darauf, was sie vernünftig finden und man daher tun sollte, in jeder Hinsicht bedeckt halten, so dass die zweite Hälfte ihrer Fehlanzeige gar nichts weiter beinhaltet als eine formelle Beschwörung von Vernünftigkeit – und ausgerechnet daran sollte es fehlen?! Dann kommt, was die bürgerliche Gesellschaft für ihre mit Autonomie beschenkten Bürger stattdessen im Angebot hat, und man erfährt ein zweites Mal, dass Autonomie im Kapitalismus eben doch nicht das bedeutet, was die Kritiker sich unter ihr vorstellen: Im Wesentlichen wäre die Freiheit doch nur die zum Abschluss von Verträgen, zum Eingehen von Geschäftsbeziehungen, die Privatleute um ihres Interesses willen eingehen. Und? Was weiß man jetzt vom rechtlichen Institut der Privatautonomie, wenn man die Hauptform genannt bekommt, in der die Privaten von ihr Gebrauch machen? Für die Kritiker offenbar schon alles, denn die kümmern sich gar nicht weiter um die Natur der Interessen und deren Gegensätze, über die sich da Vertragspartner handelseinig werden. Denen ist es egal, was es der Sache nach mit dem Tausch von Arbeit gegen Geld und all den anderen Spezialitäten aus der Welt des bürgerlichen Vertrags auf sich hat, mit welchen Hebeln der Erpressung sich da eine Vertragspartei des Willens der anderen bemächtigt und ihn fürs eigene Interesse benutzbar macht. Dass Freiheit sich allein in den vorgegebenen Schranken des Vertragswesens bewegt, damit ganz davon abhängig ist, wie einer sich innerhalb dieser durchschlägt und ob er dafür überhaupt einen Geschäftspartner findet: Mit diesem Formalismus von Abhängigkeit konstruieren sie sich den Kapitalismus als eine einzige Negation der Autonomie zurecht, die mit ihm eigentlich versprochen wäre. Ganz und gar nicht frei ist der Mensch, weil er als nur vertragsfreier Mensch immer von Berechnungen anderer abhängig ist und bleibt – eine moralische Wehklage, die immerhin den Inhalt des Ideals offenlegt, um das sie die Menschheit durch den Kapitalismus betrogen sehen: Berechnungslose Zwischenmenschlichkeit und ähnliche moralische Highlights vom frühen Jesus bis zum gereiften Geißler – das wär’s für sie!

Autonomie – diesen feinen Wert haben die Kritiker ideell als ihr höchstes Schutzgut adoptiert, der ist es, der in dem Räderwerk des Zwangs, der durch die Insassen des Systems hindurch wirkt und das Treiben aller bestimmt, vor die Hunde geht, und auch da verraten sie wieder ihre Affinität zu den Apologeten der bürgerlichen Welt. Denn sachlich besehen ist dieser vornehme Titel nichts weiter als die ultimative Überhöhung aller Ideologien, die über die ordinäre Konkurrenz der Klassengesellschaft als Paradies der Freiheit in Umlauf sind. Die laufen in der einen oder anderen Weise allemal auf die Schönfärberei einer Welt voller Gegensätze als Sphäre hinaus, in der das Selbst – jedes für sich und tendenziell in harmonischem Einklang mit allen anderen – sein Lebensglück schmiedet und darin sich verwirklicht – und die Quintessenz davon, die Idealität von Selbstverwirklichung für sich gedacht, drückt eben das Fremdwort aus. Doch für die Ums-Ganze-Autoren ist ausgerechnet dieses verlogene Schmucketikett des praktizierten Gegeneinanders der bürgerlichen Welt das wirkliche Telos aller menschlichen Drangsale und firmiert als das maßgebliche Prüfkriterium der Kritik von allem, wozu die Menschheit es bei ihrer Vergesellschaftung bringt. Dieser Kopfstand hat in ihrer Theorie seine – zwar verkehrte, aber eben doch: – gedankliche Logik. Autonomie, die formelle Idee vom Selbst als Herrn über sich, ist der gedachte Antipode von allem, was vom Systemzwang und Zwang zum Selbstzwang, der formellen Idee vom Selbst als Nicht-Herrn über sich, beständig negiert wird. Als prozessierenden Widerspruch zwischen diesen zwei Entartungen der Kunst abstrakten Denkens habe man sich die kapitalistische Realität verständlich zu machen, in der dann auch die Freiheit, die es wirklich gibt, ihren entsprechenden Platz einnimmt: So ein im System eingepferchtes Selbst wird mit lauter Freiheiten beschenkt, die ihm Autonomie vorgaukeln, diese in Wahrheit aber gar nicht sind, weil sie ja bloß – wie im Zitat oben – darin bestehen, zum Beispiel einen legalen Vertrag abzuschließen. Wenn man die Freiheiten einer Rechtsperson daran misst, was einem Philosophen zum Stichwort ‚Autonomie‘ einfällt und er für die wahre Freiheit hält, sind sie eben lauter Insignien einer falschen Freiheit (Titel der Broschüre, im Text in Varianten passim gefühlte 30 Mal). Aber eben nur dann, weswegen man bei der weiteren Besprechung der bürgerlichen Freiheit und ihres Ertrags konsequent weiter nichts über beides erfährt, dafür ein ums andere Mal Bekanntschaft mit dem Maßstab schließt, an dem sie sich mit dem Prädikat ‚falsch‘ blamieren:

„Unterm rastlosen Druck kapitalistischer Konkurrenz macht das Individuum selbst im Falle seines ökonomischen Aufstiegs die frustrierende Erfahrung, dass der gesellschaftliche Gehalt bürgerlicher Freiheit und Gleichheit wenig mit dem klangvollen Emanzipationsversprechen dieser Worte zu tun hat.“ (29)

Gut, sammelt das Individuum also seine Erfahrungen, wenn auch eher nicht unterm rastlosen Druck der Konkurrenz, sondern wohl bei seinem aktiven Mitwirken in selbiger. Irgendwie fallen die immer aus, manchmal oder auch öfter sicherlich frustrierend, schon auch bei den Reichen. Auf gar keinen Fall aber macht irgendjemand in dieser Welt das als Erfahrung mit, was ausschließlich im Kopf dieser kritischen Philosophen zum Anlass tiefster Frustration gereift ist: Sie deuten die bürgerliche Freiheit als Versprechen. Ihr Ideal von ‚Autonomie‘ und von allem, was sie sonst noch in ihren idyllischen Vorstellungswelten von Freiheit & Menschenglück abgespeichert haben, sehen sie durch die schnöde Wirklichkeit befleckt, in der das freiheitliche Leben so seinen Gang geht – und schieben dann ihre Enttäuschung darüber, dass der Lauf der Dinge nicht dem Gehalt gehorcht, den sie in ihn hineingedacht haben, den Leuten als den eigentlichen Quell all ihrer Unzufriedenheiten in die Schuhe. Diese Kritiker überschreiben das erste Kapitel ihrer Broschüre mit: Normalvollzug als Katastrophe (15), und inzwischen ist klar, wie die Polemik gemeint ist. Zur ‚Katastrophe‘ gerät ihr der Irrsinn einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder zur Befriedigung auch noch ihrer elementarsten Bedürfnisse in einen Kampf ums Geld hetzt, unter dem Gesichtspunkt, unter dem ihn die Autoren in Augenschein nehmen. Die gewöhnlichen Usancen der Konkurrenz werden für sie darüber zum Skandal, dass sie das emanzipatorische Glücksversprechen für die Menschen gar nicht einlösen, das mit dem schieren Umstand ihrer Vergesellschaftung auf die Welt gekommen sein soll. Sie deuten den Kapitalismus als Negation eines Ideals von Gesellschaft, zu dem sie im Wege einer Extrapolation ihrer Vorstellungen von menschlicher Autonomie auf die Gemeinschaftsbildung solcher autonomen Menschen gelangen, und das Ideal sagen sie dann in gebotenem Pathos in mehreren Variationen her: Emanzipation des Menschen aus Naturzwang und politischer Herrschaft, möglichst harmonische Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Mit der Verwirklichung dieser Werte, mit denen sich die bürgerliche Welt seit ihrem Bestehen schmückt, sieht es unter der Knute der falschen Freiheit freilich ganz schlecht aus, und das Verhängnis, das der Kapitalismus als Negation eines Begriffs von wahrer Gesellschaft, nämlich als falsche Vergesellschaftung produziert, darf man sich zum Beispiel dann so vergegenwärtigen:

„Konkurrenzzwang wie Krisendynamik der kapitalistischen Reproduktionsordnung stellen auch die ohnehin höchst exklusiven Freiheitsgewinne bürgerlicher Individualität immer wieder in Frage. So produziert die politische Ökonomie der bürgerlichen Freiheit systematisch individuelle und gesellschaftliche Ohnmacht. Das ist ihr Selbstwiderspruch – den der bürgerliche Staat kraft seines Gewaltmonopols aufrecht erhält.“ (29)

Ist nicht der Witz an der Konkurrenz der Inhalt, um den sie sich dreht, wozu sich da Konkurrenten zwingen und womit? Die Autoren sehen das offenbar anders. Sie haben eine dezidierte Auffassung von der Konkurrenz und ihrem Inhalt, wenn sie ‚Zwang‘ beim Konkurrieren als Bestimmungsmerkmal für wesentlich halten. Dann bringen sie das Stichwort ‚Krise‘ – und wäre nicht auch da zumindest wissenswert, wer oder was in ihr steckt? Nein, denn ‚Dynamik‘ ist an der die Hauptsache und man weiß von ‚Krise‘ schon alles, wenn man sie als Äußerung einer Kraft auffasst, die in ihr schlummert und der keiner auskommt. Das wäre dann die zweite Negation von Freiheit, und damit hat man schon wieder alles über den Kapitalismus erfahren, der hier als ‚Reproduktionsordnung‘ vorgestellt wird: Seine wesentlichen Leistungen bestehen im Negieren von Freiheit. Die philosophische Exegese des Wirtschaftsteils findet dann im Feuilleton der Zeitung ihre Vertiefung, und man darf mit den Autoren den bürgerlichen Laden im Vergleich zu überkommenen Formen von Herrschaft und Knechtschaft irgendwie als Fortschritt der Humanität feiern. An irgendetwas Bestimmtes muss man auch da nicht denken, weil von der schönen Idealität ‚Freiheit‘ nur gesagt werden soll, dass sie erstens höchst exklusiv zu gewinnen ist und zweitens immer gleich zu zerrinnen droht. ‚Zwang‘ & ‚Dynamik‘ vs. ‚Freiheit‘ heißt also die Frontstellung im Kampf der Fiktionen, was in all seiner gedanklichen Schlichtheit auch so auszudrücken dialektisch versierten Freunden der Individualität natürlich ein Ding der Unmöglichkeit ist: Die müssen unbedingt noch die politische Ökonomie der bürgerlichen Freiheit zum Subjekt sui generis küren. Bei dem ist zwar nicht klar, was da von welchem Subjekt das Attribut ist, aber man versteht sie schon auch so: Wo Freiheit draufsteht, ist bloß kapitalistische Ökonomie drin, und diese Ökonomie der Freiheit produziert Unfreiheit – da haben sie die unüberbietbare Ausgabe von Selbstwiderspruch, den nur noch der Staat mit seinem Gewaltmonopol aufrechterhalten kann; er hat ja auch sonst nichts weiter zu tun.

Immerhin ist es den Autoren gelungen, sich aus diesem Pandämonium unentrinnbarer Zwänge zum Selbstzwang und dem hermetischen Netz aufgezwungener Selbsttäuschungen über die eigene Ohnmacht zu befreien. Sie wenigstens haben das System durchschaut, verstehen sich selbst als Elite in Sachen Emanzipation – und warum sie das sind, erklären sie an allen anderen, die über ihren Durchblick nicht verfügen.

Der Nationalismus der Bürger – System, das seine Insassen auch noch zur Parteilichkeit zwingt

Die Autoren der Broschüre, die die Freiheit der kapitalistischen Konkurrenzsubjekte als falsch denunzieren, sehen sich damit konfrontiert, dass die Mitglieder der Gesellschaft ihre Sicht nicht teilen. Darauf machen sie sich folgenden ersten Reim:

„Angesichts der übergreifenden Abhängigkeiten des Privateigentümer-Individuums vom Konkurrenzerfolg ‚seines‘ Unternehmens und ‚seines‘ Staats ist dessen Loyalität mit den Agenturen gesellschaftlicher Herrschaft und Ausbeutung nur zu verständlich.“ (56)

Was, bitteschön, wäre denn an dieser Loyalität verständlich? Von der hängen schließlich nicht die Bürger, sondern die apostrophierten Agenturen gesellschaftlicher Herrschaft und Ausbeutung ab: Die und zusammen mit ihnen alle Abhängigkeiten, in die sie ihre Bürger versetzen, beruhen ganz darauf, dass die Mitglieder dieser Gesellschaft sich von Staat und Kapital verwerten lassen – dass die auf die Loyalität ihrer menschlichen Manövriermasse erpicht sind, versteht sich von selbst, dass die Opfer ihrer Machenschaften selbige ihnen gegenüber an den Tag legen, ganz und gar nicht: Die praktische Nötigung, der tatsächlich kein Insasse einer marktwirtschaftlichen Demokratie entkommt, sich innerhalb und nach Maßgabe dieses Herrschaftssystems sein Auskommen zu verdienen und sich damit in den Dienst an fremden, fürs eigene Wohlergehen schädlichen Interessen zu begeben, ist alles andere als ein guter, mit nachsichtigem Verständnis und verständnisvoller Nachsicht zu behandelnder Grund, diese Nötigung zu billigen. Aber wer in der öden Tautologie vom umfassenden Verwertungszwang und den entsprechend übergreifenden Abhängigkeiten kreist, fragt sich offenbar gar nichts mehr und findet es nur logisch, dass er sich auch noch am Material der Ausbeutung den Zwang bebildern kann, den sie für ihn darstellt. Entsprechend ist der Grund beschaffen, den diese Kritiker als nächstes für die Loyalität der Bürger gegenüber allem anführen, was sie als ungeheuere Zwangsapparatur kritisieren:

„Von der Konkurrenzfähigkeit der nationalen Verwertungszone hängen Bildungschancen, Arbeitsplätze, ökonomisches Wachstum, öffentliche Dienste und staatliche Transferleistungen ab.“ (74)

Es ist schon interessant, was die systemkritischen Autoren wie selbstverständlich auf die Seite der materiellen Dienste verbuchen, mit denen der Staat – hier als nationale Verwertungszone apostrophiert – seine Bürger für sich einnimmt: Dass einer den staatlichen Transferleistungen das kapitalistisch verursachte Elend als bleibenden Grund und dessen funktionale Verewigung als maßgeblichen Zweck entnimmt; dass jemand in einem rentablen Arbeitsplatz das ökonomische Ausbeutungsverhältnis wahrnimmt, das darin vergegenständlicht ist, und in dem guten Ruf dieser Einrichtung und dem Bedürfnis nach einem Arbeitsplatz die systemeigene Gemeinheit, dass diese Art des abhängigen Gelderwerbs noch nicht einmal gesichert ist; dass Bildungschance ein schönfärberischer Ausdruck dafür ist, dass die Konkurrenz um Bedingungen und Mittel der Selbstbehauptung in einem hierarchisch durchkonstruierten Kosmos der Berufe schon im Kindesalter beginnt und bis zur Rente nicht aufhört, und dass ein „gebildeter“ Mensch das auch merken kann; dass bei öffentlichen Diensten zumindest die Nachfrage am Platz ist, ob sie mehr den Bürgern oder mehr deren ordentlicher Indienstnahme dienen: Das kommt den radikalen Systemkritikern so wenig in den Sinn, dass man sich fragt, ob wenigstens sie selber die Sachen verstanden haben – oder ob sie am Ende auch noch das ökonomische Wachstum für einen Tatbestand halten, dessen Verwechslung mit einem Dienst am Menschen ihnen nur allzu verständlich ist. Ein Fehler ist es auf alle Fälle, die Einrichtung wachstumsförderlicher Arbeitsplätze etc. als abhängige Variable der Konkurrenzfähigkeit des nationalen Standorts einzuordnen, so als wäre nicht umgekehrt die Herrichtung des Innenlebens der Nation das Konkurrenzmittel der Staaten. Und das Peinliche an diesem Fehler ist dessen nicht zu übersehende Nähe zu jener Unterrichtseinheit in staatsbürgerlicher Ideologiebildung, mit der regierende Nationalisten die von ihnen Regierten auf sich, auf ihre erfolgreiche Durchsetzung im Weltgeschäft als die allererste Bedingung zu verweisen pflegen, von der alles Wachstum und auch alle Dienstleistungen für ihre Völker abhängig wären, für die sie ja – die nächste Lüge – allein unterwegs sind. Diese Mär vom nationalen Konkurrenzerfolg als Quelle privaten Wohlstands und vom Staat als Dienstleister seiner Untertanen bauen die Autoren zu deren wirklicher materieller Lebensgrundlage aus, zeichnen vom Staat ein Bild, das schon wieder nur von A bis Z die unendliche Abhängigkeit und Negation jeder privaten Autonomie illustriert, mit der die Bürger im Kapitalismus um ihr Glücksversprechen betrogen werden, und haben sich damit den unwidersprechlichen Grund dafür verschafft, deren Loyalität für nur zu verständlich zu halten: Um ihres schieren Überlebens willen können die gar nicht anders. Etwas anderes können sie immerhin noch:

„Da jeder Bürger seine Abhängigkeit vom staatlichen Kollektiv an den nationalökonomischen Konjunkturdaten und den Kennziffern des Staatshaushalts ablesen kann, hat er allen Grund, die Zumutungen (…) der staatlichen Mobilisierung des nationalen Humankapitals als patriotische Pflichten anzuerkennen. Staat und verstaatlichtes Individuum teilen hier ein Wettbewerbsinteresse.“ (78)

Von Zumutungen reden die Autoren, die der Materialismus der Nation dem ihrer Insassen beschert: Dass die deswegen gut daran tun, die als patriotische Pflichten zu schultern und ihr Interesse mit dem des Staates zu teilen, wollen sie damit schon in Frage gestellt haben. Der Leser kann – und soll wohl auch – für schon irgendwie nachvollziehbar, aber doch auch für problematisch bis verkehrt halten, welchen Vers sich die Leute da auf die Abhängigkeiten machen, mit denen sie zu tun haben – um dann zu erfahren, dass die Frage, ob die Bürger mit ihrem Nationalismus richtig oder verkehrt liegen, absolut daneben ist. Die haben sich nämlich auf die Kunst verlegt, passiv zu denken – ein Phänomen, mit dem man schon im Zusammenhang mit dem verstaatlichten Proletariat Bekanntschaft geschlossen hat, das hier von den Autoren aber näher als Mechanismus dargelegt wird, dem alle Bürger zum Opfer fallen:

„Diese objektive Abhängigkeit des Individuums vom Schicksal ‚seines‘ Staates in der Weltmarktkonkurrenz vermittelt sich dem Alltagsbewusstsein als selbstverständliche und unhintergehbare Voraussetzung individueller Existenz.“ (74)

Die Loyalität, die Bürger ihrem Staat gegenüber an den Tag legen, ebenso wie ihre Berechnungen, die sie im Hinblick auf ihr eigenes materielles Wohlergehen für einen erfolgreichen Ausgang der Kalkulationen hegen, denen ihr Materialismus zum Opfer fällt: Das sind für diese Kritiker gar keine Gedanken, die sich Leute darüber machen, worin sie sich verstrickt finden – für diese Theoretiker vermittelt sich Abhängigkeit von selbst ins Bewusstsein der Menschen! Das Alltagsbewusstsein, von dem sie reden, ist kein Bewusstsein von oder Urteil über etwas – der Alltag selbst ist es, der sich in den Köpfen der Leute als ihr Bewusstsein reproduziert, nicht sie denken, sondern was sie denken, wird von den Umständen in sie hinein gedacht, denen sie nicht auskommen. Derart pflanzt sich in der Vorstellung der Autoren der unentrinnbare Systemzwang als Selbstverständlichkeit dem Bewusstsein ein – und deswegen finden sie es ganz selbstverständlich, dass dem Verstand der Bürger Zwang so selbstverständlich ist. Dabei bleibt es nicht:

„Dieser gesellschaftlich produzierte Schein einer ‚naturwüchsigen‘ Zusammengehörigkeit von Individuum und Staat stiftet eine gefühlte Gewissheit nationaler Identität. (…) Die Identifikation mit der Nation bleibt ein automatisches Bedürfnis der kapitalistisch vereinzelten Individuen. Denn der Nationalstaat – die Nationalökonomie, deren abhängige Elemente sie sind – ist nach wie vor ihr wesentlicher Vergesellschaftungszusammenhang.“ (74)

Nicht nur das Bewusstsein, auch der ganze Rest des politisch-psychologischen Seelenlebens so eines Individuums ist ein einziges Produkt der Verhältnisse, in denen es lebt. Die Gesellschaft produziert einen Schein von Zusammengehörigkeit, das ist die erste Selbstvermittlung, und der Schein stiftet, das ist die nächste, im Subjekt die Gewissheit, dass die erste eine echt gefühlte ist: Das ist Systemzwang zur Abwechslung einmal parapsychologisch interpretiert. Dann entdecken die Autoren in der Konkurrenz lauter kapitalistisch vereinzelte Individuen – am Ende womöglich damit befasst, ganz einzeln vor sich hin zu konkurrieren? Vermutlich, denn wie sonst könnte sich in ihnen auch ein automatisches Bedürfnis nach Vergesellschaftung überhaupt regen, das Unding eines Triebes, der schon wieder sich selbst ins Bewusstsein hinein vermittelt und das Subjekt an seinem Willen vorbei auf das Objekt seiner Befriedigung programmiert. Aber genau so scheint es zu sein, und warum die Vereinzelten derart automatisch und spontan bei ihrer Nation Zuflucht nehmen, erfährt der Leser im letzten Satz des Zitats. Denn der Nationalstaat – die Nationalökonomie (…) – ist ... – auch wenn sie selbst offenbar zwischen Staat und Ökonomie nicht unterscheiden wollen: eine Bestimmung beider kündigen die Autoren mit dem kleinen Wörtchen ist jedenfalls an. Was danach kommt, ist allerdings ein großes Nichts, nämlich die Erklärung des Bestimmten durch das Unbestimmtere: Staat und Ökonomie sind dasselbe, weil ein Vergesellschaftungszusammenhang, und das wäre dann auch noch das Wesentliche an ihnen. So geht der nächste Absturz vom Konkreten ins Abstrakte.

Man ist von bürgerlichen Apologeten ja einiges gewohnt, was die Deutung des Nationalismus als natürliche Gemütsregung betrifft. Die Verankerung der Affirmation des Staates als Automatismus im Denken und Fühlen der Leute treiben die Autoren in ihrer kritischen Manier auf die Spitze, um mit ihrer Formel vom verstaatlichten Individuum den Gipfel der Unfreiheit zur Sprache zu bringen, in die das System die Menschen hineinzwingt. Der Leerformel vom Zwang zum Selbstzwang, die man schon zu Beginn kennengelernt hat, wird am Material des Nationalismus, der bedingungslosen Parteinahme der Unterdrückten für den herrschaftlichen Apparat, der sie unterdrückt, der Stoff implantiert, mit dem man sich die allerhöchste Perversion ausmalen kann, zu der es das System der falschen Freiheit bringt: Von der Freiheit, in der sie leben, werden seine Opfer auch noch selbst zur Affirmation der Instanz hingezwungen, der sie ihre Knechtung zu verdanken haben!

So verstehen die Autoren diese bemitleidenswerten Kreaturen nur zu gut. Sie selbst schließen es in ihrem eigenen Fall natürlich vollkommen aus, in ihren Drangsalen nach wahrer Autonomie und echter Vergesellschaftung beim Staat Zuflucht zu nehmen. Aber bei allen anderen, in die sie ihre Sehnsucht nach versichernder Identität – der philosophisch aufgeblasene Ausdruck für die Vorstellung immerwährender Harmonie zwischen Ich und Welt – hineinprojizieren, leuchtet ihnen der Zugriff auf dieses Surrogat des Echten schon sehr ein:

„Das Bedürfnis nach einer versichernden Identität antwortet auf die überall greifbare Ohnmacht des Individuums (…). Als Projektionsfläche ursprünglicher und daher ›echter‹, krisenfreier Identität gewährt die Identifikation mit der Nation eine trügerische Entlastung von den ständig latenten Krisen und Kränkungen kapitalistischer Vergesellschaftung. (…) Der im Kapitalismus jederzeit latent bedrohte und von widersprüchlichen Zwängen gequälte Bürger sucht hier Anhaltspunkte einer von alters her versicherten, unzweifelhaften und widerspruchsfreien Zusammengehörigkeit.“ (75)

Aus dem, was sie dem Staat als Stifter einer falschen Freiheit nachsagen, konstruieren sich diese Dichter eine Psycho-Pathologie des bürgerlichen Individuums als passendes Gegenbild zusammen. Die besteht zur einen Hälfte in dem Dauerleid an der versagten echten Autonomie, zur anderen in dem Bedürfnis nach dem, was einem versagt wird. Damit sagt man zwar nur zwei Mal dasselbe, aber eben anders, weshalb man sich zur Vollendung des Zirkels besagtes Bedürfnis auch noch als Antwort auf seinen eigenen Inhalt zurechtlegen kann. Aus derselben Tautologie ergibt sich der Rest: Wer an Ohnmacht leidet, nimmt Zuflucht bei der Macht, die sein Leiden kuriert; weil die aber dieselbe ist, die es ihm beschert, ist die Entlastung, die er anpeilt, nur trügerisch und gibt es aus der falschen Vergesellschaftung kein Entrinnen. Das hat man sich bei dem unentrinnbaren Zwang, der sie ausmacht, zwar schon gedacht. Jetzt aber weiß man auch noch – wie es im letzten Satz des Zitats vermerkt wird – , dass der Kapitalismus sich zum Zwecke seiner hermetischen Selbstabschottung offenbar einer anthropologischen Grundkonstante bedient. Auch diese Gedankenfigur kennt man von den Arien, die Sozialpsychologen und andere Fachleute für ein wertmäßig ordentlich verankertes Selbstbewusstsein anstimmen, wann und wo immer sie Bedenken in Bezug auf eine allzu krass ausfallende ‚Identifikation mit der Nation‘ für angebracht halten. Nur fasst sich für diese kritischen Philosophen alles, was bei den anderen ‚mangelnde Ich-Stärke‘, ‚Existenznot‘ oder ‚Orientierungslosigkeit‘ heißt, eben als Signatur der generellen Ohnmacht zusammen, zu der ‚das System‘ mit all seinen Zwängen seine Insassen verurteilt. In diese abstrakte Negation der Autonomie, die ihnen als praktiziertes Lebensideal vorschwebt, lösen sie alles auf, worauf sie in materieller Hinsicht mit ihrer dramatisierenden Rede vom gequälten Bürger anspielen: Dessen eigentliche Qual besteht für sie in seiner – systembedingt unerfüllbaren – Sehnsucht nach einer echten kollektiven Heimat – und die patriotische Gesinnung, die sie vorfinden, legen sie sich zurecht als die ins geistig-seelische Innenleben der Bürger metastasierte Zwanghaftigkeit des Systems, dort den Durst nach wahrer Autonomie auf das verlogene Glücksversprechen einer Identität mit dem Staat umzuprogrammieren: So geht für sie Nationalismus und das ist ihre Kritik an ihm. Der hat daher einen rationalen Kern (108), eben diese Ratio eines unstillbaren Drangs nach echter Vergesellschaftung, und sie selbst haben folglich auch jede Menge Verständnis für Nationalisten:

„Denn erst die Identifikation mit der souveränen Macht des Gewaltmonopolisten verspricht, die dauernde Erfahrung individueller Ohnmacht zu überwinden (…). Sie verspricht Teilhabe an dessen Machtvollkommenheit jenseits der ausweglosen Zwänge täglicher Verwertung.“ (76)

Aber so gut sie die im Hamsterrad des Systemzwangs drehenden Subjekte verstehen können in ihrem Griff nach dem einzigen ihnen zur Verfügung stehenden Strohhalm, der dann doch nur ihre Ohnmacht verewigt: Aus der Perspektive von Kritikern, die das Ganze im Blick haben, verdienen sich Leute, die auch noch beim Versuch der Emanzipation von Ohnmacht ein einziges Dokument dessen sind und auf ewig bleiben, wogegen sie innerlich aufbegehren, dann doch eher Verachtung als Verständnis:

Doch was aus der Perspektive des Individuums verständlich erscheint, ist aufs Ganze besehen ein ausgemachter Widerspruch und Unsinn: Einsatz für ein System gesellschaftlicher Herrschaft, gesellschaftliche Selbstentmündigung beim opferreichen Versuch, wenigstens individuell nicht den Kürzeren zu ziehen. (56)

Aus der luftigen Höhe der Abstraktionen betrachtet, in denen diese Fundamentalkritiker denken, sind diese Leute in ihrem Nationalismus eben doch nur ein einziges Dokument ihrer unentrinnbaren Gefangenschaft in einem System, das auch die geistige Befangenheit der Insassen ihm gegenüber produziert. Insofern sind sie einerseits über Kritik erhaben, weil ohnehin nur willenlose Exekutoren des Systemzwangs, der sich in ihrem Inneren festgesetzt hat und dafür sorgt, dass sie – automatisch und spontan – die Zwänge affirmieren, unter denen sie leiden. Andererseits sind sie gerade in dieser Willenlosigkeit das Objekt dieser Kritiker des Ganzen. Die sehen in all denen, die dieses unentrinnbare Zwangssystem, als das sie selbst sich den Kapitalismus mitsamt seinem Staat zusammenphantasiert haben, auch noch bejahen, die ultimative Bestätigung ihrer kritischen Philosophie: Indem die Bürger Ja! zu ihrem Staat sagen, vollziehen sie die gesellschaftliche Selbstentmündigung, die der Kapitalismus insgesamt ist.

Fazit

Die Autoren finden Leute vor, für deren moralisches Koordinatensystem manches ganz und gar nicht in Ordnung geht, womit der Kapitalismus die Menschen traktiert, und die sich an den Staat mit dem Ansinnen wenden, er möge sich um die Beseitigung dessen kümmern, was sie für unsozial, ungerecht oder sonst wie untragbar halten. Den Humanismus dieser guten Menschen halten die Kritiker für verkehrt, für oberflächlich, unreflektiert und naiv, weil die Welt da bloß an einem Ideal des Guten gemessen wird. Dem moralischen Idealismus dieser Kritik halten sie entgegen, dass man sich schon den in der Sache liegenden Grund klar zu machen hat, an der einem etwas nicht passt, man schon deren Notwendigkeiten kennen muss, will man sie gescheit kritisieren. Dazu bieten sie ihre Theorie an – und bei der kommt ausgerechnet als Korrektur idealistischer Kritik ein Urteil über den Kapitalismus heraus, das den als eine einzige Perversion aller schönen Vorstellungen von Gesellschaft ausweist, die gute Menschen mit viel Bildung schätzen! Sie haben ein Ideal von menschlicher Selbstbestimmung im Kopf, das sie wahlweise ‚Autonomie‘, ‚Identität‘ oder ‚Mündigkeit‘ nennen, um ihrer Vorstellung vom wahren und unverfälschten Humanum und dem Glück, sich in Gesellschaft unter seinesgleichen zu wissen, einen Namen zu geben. Diesen Kodex von Werten wollen sie der kapitalistischen Welt von Herrschaft und Ausbeutung als die von dieser Welt laufend praktizierte Fehlanzeige entnommen haben, um ihrer Praxis einen Selbstwiderspruch nachsagen zu können. Das ist negativ dialektisch gedacht, wie es die Frankfurter Erfinder besser nicht hingekriegt hätten: Man sieht, dass die Gesellschaft laufend das nicht realisiert, was man als ihre wahre und eigentliche Zweckbestimmung aus ebendiesem Umstand erschlossen hat – toll.

Die Radikalität, derer sich diese Kritik rühmt, ist eine einzige abstrakte Negation. An die Adresse der bürgerlichen Welt wie der idealistischen Kritiker, die in ihr unterwegs sind, richten die Autoren der Broschüre unter der Parole ‚Freiheit, aber richtig!‘ nichts weiter als ein anarchistisch angehauchtes Kündigungsschreiben: Staat, Nation, Kapital – Scheiße (Demo-Parole) – das ist alles; einen politischen Zweck, der über diese radikale Absage hinausginge, haben sie nicht. Sie treiben sich um in einem kritischen Denken, das alle Ideale der bürgerlichen Welt in einer hochkomplizierten Manier übertreibt, und sind derart von Haus aus über alles hinaus, was den Bezugspunkt einer rationellen Systemkritik ausmacht: Das geschädigte Interesse derer, die unter der Herrschaft des Eigentums den Reichtum schaffen. Dass der Standpunkt einer Arbeiterbewegung sich genauso erledigt hat wie das Ansinnen von Kommunisten, die aus der einmal eine Bewegung für einen revolutionären Umsturz des Systems machen wollten, ist ihnen allergrößte Selbstverständlichkeit – linke Systemkritik wollen sie freilich weiter betreiben, und so sieht sie dann auch aus. Sie plädieren für Revolution und Kommunismus – und untermauern ihr Plädoyer mit einer Theorie des Kapitalismus, die ausdrücklich zu begründen sucht, weswegen der einzige materielle Grund für beides zu Recht auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist: Wenn sie überhaupt auf die materiellen Interessen der lohnarbeitenden Klasse zu sprechen kommen, dann haben sie die mit ihrem Tiefblick von vorneherein als das Scharnier durchschaut, über das sich der Staat auf ewig Loyalität einkauft – entsprechend gebührt ihnen Verachtung. Wo sie von Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen und Kämpfen reden, winken sie mit der großen Geste ab, dass sich jeder, der sich zur Behebung seiner materiellen Drangsale auch nur irgendwie auf das System einlässt, von vorneherein verratzt ist – entsprechend verblendet bis naiv ist er, wenn er das nicht selbst bemerkt.

In der Sicht dieser fundamentalkritischen Philosophen laborieren Proletarier wie alle anderen Insassen der Klassengesellschaft an dem höchst immateriellen Umstand, dass es unter der Herrschaft der falschen Freiheit eben kein richtiges Leben gibt. Und wer Kritik derart radikal vom Standpunkt des beschädigten Interesses gesäubert hat, landet dann auch konsequent beim Umkippen humanistischer Phrasen ins Lächerliche als ultimativem Argument, das andere von der Notwendigkeit ausgerechnet eines Umsturzes überzeugen soll:

„Der Austritt der Menschen aus ihrer selbst geschaffenen Unmündigkeit muss das Werk bewusster Individuen sein.“ (111)

Ein Königsberger Klops mit einer anderen schlechten Schrift aus der Philosophiegeschichte schöpferisch zu der Botschaft verbunden, dass Revolution keinesfalls bewusstlos geht: Danke für die Aufklärung, wir dachten ja immer, die würde sich im Schlaf erledigen.

[1] http://umsganze.org/historie/2009-grundsatzbroschuere-teil1/