Wolfgang Thierse – die nachdenkliche Stimme der SPD
Die wenig begeisterte Parteinahme für die deutsche Kriegsbeteiligung aus dem Geist der alten SPD-Politik

Im öffentlichen Streit um die deutsche Kriegsbeteiligung bleiben die vielen Patrioten, die den Krieg zum Gebot aller nationalen deutschen Werte erklären, und die Minderheit derjenigen, die die Beteiligung daran für einen Verrat an eben jenen Werten halten, nicht unter sich. Mit Wolfgang Thierse meldet sich jemand zu Wort, der als Verkörperung des sozialdemokratischen und nationalen Gewissenshaushalts gilt und sich selbst so versteht und der von der Höhe dieses Standpunkts aus beide Seiten zurechtweist – echt nachdenklich und ehrlich zerknirscht.

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Wolfgang Thierse – die nachdenkliche Stimme der SPD
Die wenig begeisterte Parteinahme für die deutsche Kriegsbeteiligung aus dem Geist der alten SPD-Politik

Im öffentlichen Streit um die deutsche Kriegsbeteiligung bleiben die vielen Patrioten, die den Krieg zum Gebot aller nationalen deutschen Werte erklären, und die Minderheit derjenigen, die die Beteiligung daran für einen Verrat an eben jenen Werten halten, nicht unter sich. Mit Wolfgang Thierse meldet sich jemand zu Wort, der als Verkörperung des sozialdemokratischen und nationalen Gewissenshaushalts gilt und sich selbst so versteht und der von der Höhe dieses Standpunkts aus beide Seiten zurechtweist – echt nachdenklich und ehrlich zerknirscht. [1]

Wie es sich für eine moralische Instanz gehört, reklamiert er die seelische Zumutung, die der Krieg ihm bereitet, als die unabweisbare Tatsache, an der keine der widerstreitenden Seiten vorbeikommt:

„Das Undenkbare, das Unfassbare ist geschehen – ein brutaler Krieg in unserer Nachbarschaft, in Europa. Es gibt keinen anderen Vergleich: Wie Hitler-Deutschland 1939 das Nachbarland Polen überfallen hat, so führt Putin einen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland Ukraine. Und verletzt alle Regeln und Verträge, die bisher die europäische Friedensordnung ausgemacht haben, missachtet das internationale Recht, zerstört mit der Ukraine auch den europäischen Frieden.“ (III) „Putin begeht Brudermord. Die Zahl der Toten ist unbekannt, die Zahl der Flüchtlinge geht in die Millionen, die Zerstörungen der Städte und Dörfer sind unüberschaubar, das Leid der Menschen ist endlos. Die Bilder machen traurig und zornig und verzweifelt. Sie müssen Anlass für Nachdenken sein – über die westliche, die europäische Politik, über Friedensethik, Friedensbewegung, Friedenspolitik.“ (I)

Daraus gewinnt er eine jeweils doppelte Botschaft an alle, die sich in entgegengesetzter Richtung über den guten – oder schlechten – Sinn des Krieges streiten. Über dessen Zweck ist also auch von Thierse in seinen Verlautbarungen eher wenig zu vernehmen.

Die Botschaft an die Restposten des deutschen Pazifismus

Denen gesteht er an ihrer Opposition gegen den Krieg den Wunsch nach Frieden zu – und belehrt sie sogleich darüber, dass letzterer wegen Putin unerfüllbar ist:

„Einen Krieg wenigstens in Europa zu verhindern, das war unser Ziel, das Friedensbewegung und europäische Politik geeint hat. Es ist misslungen!“ (I)

Einfach so setzt Thierse die europäische Außenpolitik vergangener Zeiten mit Friedenspolitik und diese mit dem demonstrierenden und protestierenden Pazifismus derer gleich, denen er darum jetzt sagen darf, nein muss, dass eine ehrliche Bilanz des Misserfolgs nottut – den er ebenfalls argument- und umstandslos zur Konsequenz der Aggression Russlands erklärt, als ob alles ein und dasselbe wäre. Weil er es aber identisch setzt, ist für ihn ab sofort der Wunsch nach Frieden gleichbedeutend mit dem Wunsch nach einer Beendigung von Putins Krieg – und diesen Wunsch muss er mit der Frage konfrontieren, wie macht-, also wirkungsvoll er überhaupt ist: Reicht es, Putins Krieg zu verurteilen und gegen ihn zu demonstrieren? (I) Statt die vorher feststehende Antwort auf die Frage auch noch selbst zu geben, gesteht er den Friedensfreunden zu, dass er weiß, dass sie für ihre Irrelevanz nichts können: Für viele von uns, gewöhnliche Leute ohne Macht, muss dies wohl reichen. (I) Um sie dann mit der nächsten rhetorischen Frage daran zu erinnern, dass ihre Machtlosigkeit nur die andere Seite der Macht ist, die es ja gibt: Aber gilt dies auch für die deutsche und europäische Politik, die Politik des Westens? (I) Weil es also so ist, dass der Krieg von der verbrecherischen Gegenseite ausgeht – ist es eigentlich jemals anders? –, sollte klar sein, dass der gerechte Wunsch nach Frieden gleichbedeutend damit sein muss, das Gegenteil zu befürworten. Damit erweist sich die Kriegspotenz westlicher machtvoller Staaten quasi als der Erfüllungsgehilfe für den ohnmächtigen Friedenswunsch westlicher Pazifisten: Wer gehört werden will, muss Macht haben! (I) Und das macht heutzutage, weil Putin doch nicht gehört hat, den Einsatz dieser Potenz unumgänglich. Leider!

Die Botschaft an den Mainstream der Kriegsbegeisterung

Den Pazifisten gegenüber betont Thierse die Unausweichlichkeit des Bedauerlichen; deren Gegnern und Verächtern des Pazifismus hält er die Bedauerlichkeit des Unausweichlichen entgegen. Diesen regierenden, opponierenden und kommentierenden Sprengköpfen widerspricht er damit nicht in der Sache, der Notwendigkeit des Krieges, sondern in der ihn erschreckenden Begeisterung, die sie für das große Totschlagen verspüren und versprühen. Die wiederum fällt ihm als empfindsamem Nachlassverwalter der guten alten Brandt- und Schmidt-Zeiten vor allem am Furor der Abrechnung mit den Taten und insbesondere mit dem Geist der deutschen Politik vergangener Jahrzehnte auf. Gegenüber den grünen und schwarzen Radikalinskis der kriegerischen Zeitenwende besteht er darauf, dass der nun praktisch obsolete, von der SPD – aber, wie er ein ums andere Mal betont, gar nicht nur von ihr – verkörperte und praktizierte Geist deutscher Friedenspolitik das bedauerliche Opfer der Aggression ist, die Putin verbrecherischerweise begeht, und nicht schuld daran, dass der sich diese traut:

„Der emotionale Schock ist verständlich, aber sind es die moralischen Schuldzuweisungen an die SPD auch, mit denen sich jetzt Politiker und Journalisten Tag für Tag geradezu überbieten? In einer Art negativer Euphorie wird nahezu alles verdammt und verteufelt, was vor dem 24. Februar deutsche und westliche Politik war.“ (III)

Das Beharren darauf, dass doch die damalige Beziehungspflege zu Russland gut gemeinte Friedensbemühung war, ist ihm aber nicht genug. Wo er den Pazifisten mit der Vernunftspflicht einer ehrlichen Misserfolgsbilanz ihres guten moralischen Ansinnens kommt, hat er für die andere Seite eine handfeste Erfolgsbilanz parat, die deren Vertreter seiner Meinung nach mit ihrem bellizismusgetrübten Blick übersehen:

„Nicht Krieg, nicht Bomben und Panzer haben ja zum Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums geführt, sondern die Soft-Power und ökonomische Kraft des Westens (und natürlich Gorbatschow und die zivilgesellschaftlichen Oppositionen im östlichen Teil Europas). Auf der Basis westlicher Stärke (und auch des Abschreckungspotenzials der USA) und der Kooperationsbereitschaft einer defensiv gewordenen Sowjetunion konnten Egon Bahr und Willy Brandt ihr Konzept der Entspannungspolitik verwirklichen: Wandel durch Annäherung/gemeinsame Sicherheit.“ (III)

Das ist – wie auch immer der mit der Gesinnung verstockter Pazifisten und außer Rand und Band geratener Kriegsbefürworter gleichermaßen unglückliche Thierse dies meinen mag – dann doch noch eine einigermaßen nüchterne Auskunft über Inhalt, Zweck und Grundlagen einer erfolgreichen deutschen Politik ohne Bomben und Panzer, die er als gelungene Arbeit an einer europäischen Friedensordnung hochhält.

Die alte Entspannungspolitik: eine deutsche Erfolgsgeschichte

Während der öffentliche Konsens in der Vergangenheit den Mangel an deutscher Macht moniert, erinnert Thierse an die ‚zivile‘ Macht, die Deutschland mit seiner „Entspannungspolitik“ entfaltet hat. Deren entscheidender Zweck – daraus macht Thierse kein Geheimnis – bestand in der strategischen Schwächung des sowjetischen Machtbereichs und zielte auf den „Zusammenbruch“ des Ostblocks und dessen ökonomische Eroberung und Zersetzung durch die überlegene Kapitalmacht Deutschlands: ein Kriegsergebnis ohne Krieg, mit Mitteln, deren feindlicher Zweck noch den beschönigenden Titeln anhaftet, die Thierse für diese ‚gute Politik‘ in guter alter Kalter-Kriegs-Tradition bemüht: ‚Soft-Power‘, ‚Wandel durch Annäherung‘ – keine Frage, um wessen ‚Wandel‘ es da ging.

Das alles war allerdings nicht das Werk dieser deutschen Politik ‚ohne Bomben und Panzer‘ und auch gar nicht in Reichweite deutscher Macht. Thierse erinnert an die machtmäßigen Grundlagen dieses friedlichen Kapitels der europäischen Geschichte (III). Die Fortschritte in der Machtkonkurrenz der beiden Supermächte haben dafür gesorgt. Die gelungene Abschreckung durch die bis zum atomaren Schlagabtausch auf Weltkriegsniveau hochgerüsteten USA auf der einen Seite und die Bereitschaft der Sowjetunion, sich als Atommacht für die USA berechenbar machen zu lassen, die Selbstauflösung der Sowjetunion und der Einstieg Russlands in den kapitalistischen Weltmarkt auf der anderen Seite haben das ermöglicht, was Thierse als historisches Glück (II) und Ausbreitung von ‚Demokratie und Freiheit‘ würdigt: den Umsturz der Machtverhältnisse in Europa; die Entstehung eines ganzen Umkreises neuer, mehrheitlich antirussischer Staaten; und vor allem den Aufwuchs des wiedervereinigten Deutschlands zur ökonomischen und politischen Vormacht in Europa und seinen erfolgreichen kapitalistischen Zugriff auf Russland.

Thierse argumentiert vom Standpunkt einer positiven Einsicht in die Grenzen deutscher Macht und deren Abhängigkeit von Machtbedingungen, die es für Deutschlands Aufstieg und politisches Agieren als europäische zivile Großmacht gebraucht, durch die Überführung der Ost-West-Konfrontation in eine neue für Deutschland ‚glückliche‘ Konkurrenzlage der Großmächte aber auch gegeben hat – gelungene amerikanische Abschreckung und russische Vernunft eben. Leistung deutscher Politik war es, das für den Einsatz und die Stärkung seiner ‚zivilen‘ Macht zu nutzen.

Das gibt er den Kritikern aus der linken Ecke zu bedenken mit der Aufforderung, ihre antiamerikanischen Ressentiments (I) gegenüber USA und NATO zu korrigieren. Und das gibt er auf der anderen Seite einer deutschen Öffentlichkeit zu bedenken, die nicht erst von der Notwendigkeit kriegerischer Gewalt überzeugt werden muss, sondern dringlich nach ihr verlangt.

Das bittere Ende erfolgreicher deutscher Politik zwischen den Großmächten: an Putin, aber auch an Amerika gescheitert

„Dieses friedliche Kapitel der europäischen Geschichte ist von Putin abrupt beendet worden.“ (III)

Die Bedingungen des deutschen Erfolgs sind durch Russlands Angriff auf die Ukraine zerstört. Putin hat das Mächtearrangement aus Abschreckung und russischem berechnendem Stillhalten gegenüber dem Westen gewaltsam gekündigt. Was bei der SU geklappt hat, hat gegen Putin am Ende nicht mehr funktioniert. Wie es dazu hat kommen können, auch dazu hat Thierse seine eigene Lesart. Was Putins Verbrechen angeht, teilt er das gültige Feindbild des verbrecherischen „Angriffskriegs“, dem mit Gegengewalt begegnet werden muss. Dass im Lichte dieses Beschlusses der berechnende Umgang der vergangenen zwanzig Jahre mit Russland ein einziger Fehler gewesen sein soll, das teilt er allerdings nicht. Er trennt zwischen dem guten, aber zunehmend illusionären Bemühen, mit Russland ein Auskommen zu finden und den Friedenszustand zu erhalten, den gute deutsche Politik seit Brandt verfolgt und erreicht hat, und dessen Scheitern an Putins Machtgelüsten und Hinterhältigkeit, was jetzt den Krieg gegen ihn unvermeidlich macht:

„Ja, Friedenspolitik kann scheitern – jetzt an dem brutalen Aggressor Putin. Aber das macht sie nicht falsch.“ (III)
„War es naiv, blauäugig, weltfremd, auf das Konzept gemeinsamer Sicherheit zu setzen? War es gutgläubig, mit Russland und mit Putin im Gespräch zu bleiben? Sind die Versuche falsch gewesen, weil sie jetzt gescheitert sind? Nein, sie waren der Mühe wert um des Friedens willen. Es waren Putins Lügen und Täuschungen, sein verbrecherischer Krieg, die aus unseren berechtigten europäischen Hoffnungen böse Illusionen gemacht haben: dass Europa ein dauerhaft friedlicher Kontinent werden und sein könnte.“ (I)

Am Vordringen der NATO und der EU gen Osten und den deutschen Berechnungen auch mit Putins Russland entdeckt er nur den Fehler, zu lange an diesem ‚Friedenskonzept‘ festgehalten zu haben. Ansonsten jedoch ist Putins Übergriff nicht das Resultat einer ‚zivilen‘ deutschen Politik, das Deutschland mit einer machtvollen Korrektur überhaupt hätte verhindern können:

„Die Erinnerung an die Entspannungspolitik lehrt, dass sie zwei Voraussetzungen hatte, erstens Stärke, das Abschreckungspotential der USA, und zweitens die Bereitschaft der Sowjetunion, sich auf Verträge einzulassen. Es war die Uneinigkeit und Schwäche des Westens insgesamt, die jetzt von Putin als Ermutigung verstanden wurde. Das Afghanistan-Fiasko hat Putin gezeigt, dass die USA keine globale Ordnungsmacht mehr sind. Der Überfall auf die Ukraine erfolgte ein halbes Jahr später. Diese Schwäche der USA wäre durch keine deutsche Politik auszugleichen gewesen.“ (II)
„Putin wusste, dass die NATO nicht eingreifen würde. Das Ergebnis ist ein blutiger Krieg, der eben nicht durch eine Aggressivität der NATO provoziert worden war, sondern ideologisch begründeter geopolitischer Aggressivität Putins geschuldet ist.“ (I)

Nicht deutsche Politik ist letztlich schuld, sondern die beiden Großmächte, von denen deutsche Politik abhängt, tragen dafür die eigentliche Verantwortung: Putin zuallererst und vor allem, der das alles zerstört; aber auch die NATO-Vormacht, der Thierse den positiven Sinn einer Russland bändigenden Schutzmacht zuschreibt, hat versagt. Ausgerechnet an abschreckender Gewaltbereitschaft und den dafür nötigen Mitteln amerikanischer Ordnungsmacht soll es der Westen fehlen gelassen haben, weil Putin sich nicht hat abschrecken lassen. Das Feindbild, dass Putin jede Schwäche des Westens für seinen Expansionismus nutzt, macht aus der Konfrontation zwischen den Weltmächten, dem Ausgreifen von NATO und EU nach Osten eine Geschichte des amerikanischen Versagens, die sich ‚bitter‘ rächt und aus der die Politik jetzt mit der militärischen Unterstützung der Ukraine durch die NATO notgedrungen ihre Lehre ziehen muss.

So gibt Thierse zu Protokoll, woran deutsche Politik wirklich gescheitert ist: an der Unverfügbarkeit der Machtbedingungen, die es selber weder stiften noch erhalten kann. Deren Zerstörung macht die Beteiligung am Krieg in Thierses Augen zu einer leidigen Notwendigkeit. Das ist nicht das, was Deutschland will und braucht, sondern erst einmal die Infragestellung der Errungenschaften, die Deutschlands Erfolg ausmachen: seiner ökonomischen Macht und einer Diplomatie, die dieser Macht den Weg nach Russland bereitet.

Die dringliche Mahnung: Verantwortlich Krieg führen!

Für die deutsche Kriegsbeteiligung bedeutet das ein großes Aber, das der sozialdemokratischen Entspannungspolitik am Ende doch, bei aller uneingeschränkten moralischen Abscheu gegen den Aggressor, irgendwie recht gibt und eine unbedingte Parteilichkeit für die Ukraine und ihren Kriegswillen verbietet: Putins Atomwaffen!

Zwar muss der Krieg dafür sorgen, dass Russland in die Schranken gewiesen wird:

„Wichtig ist, dass Putin keinen strahlenden militärischen Sieg erringt. Deswegen muss der Westen, muss Europa die Ukraine in ihrem Recht auf Selbstverteidigung unterstützen.“ (II)

Kriegszweck darf andererseits aber auch nicht die rücksichtslose Bekämpfung Russlands sein:

„Putin ist ein Kriegsverbrecher. Ein Verbrecher, der über Atomwaffen verfügt, deshalb kann er nicht ignoriert und militärisch nicht besiegt werden.“ (I) „Angesichts dessen verbieten sich Abenteuer der Parteilichkeit. Es gibt leider eine schmerzliche Asymmetrie in der Gewaltbereitschaft. Putin-Russland setzt modernste Waffen ein, bombardiert Städte, zivile Ziele und droht mit Atomwaffen. Auch deshalb können und wollen die NATO und die EU nicht mit gleichen Mitteln reagieren. Die Einrichtung einer Flugverbotszone, von der Ukraine so heftig gefordert, würde einen nicht mehr begrenzten Krieg, ja einen Weltkrieg bedeuten. Deren Ablehnung war bitter-vernünftig. Insofern verhält sich der Westen durchaus pazifistisch. Und zugleich empfinden wir die schmerzliche Notwendigkeit militärischer Zurückhaltung mit den Augen der Ukrainer als unerträglich. Wenigstens unterstützt der Westen die Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine. Selbstverteidigung ist nach der UN-Charta ein Recht souveräner Staaten!“ (I)

Eine verantwortliche, auf die Ukraine begrenzte Kriegsführung der NATO, das ist für Thierse moralisch zwar ein Verstoß gegen die Pflicht zur ‚Waffenhilfe‘; ein Verstoß, den er gleichwohl aus höherer Verantwortung für ‚bitter‘, aber ‚vernünftig‘ erklärt angesichts des Feindes. Das Bild vom skrupellosen, zu jedem Übergang fähigen Machtmenschen Putin erledigt die moralische Rechtfertigung der ‚Zurückhaltung‘ bei der Kriegsunterstützung. Die unmittelbare kriegerische Konfrontation der Atommächte selber ist unbedingt zu vermeiden. Das verlangt Distanz zu den Forderungen der Ukraine. Nicht sie allein, mahnt Thierse, darf den Kriegsverlauf bestimmen; die Westmächte mit ihrem Interesse an einer Vermeidung eines Atomkriegs, der auch Deutschland zum Opfer machen würde, müssen bestimmend bleiben. Daran haben sich die „Opfer“ und ihr „Selbstverteidigungsrecht“ zu relativieren. Mit ihren bitter-vernünftigen Warnungen landet die mahnende Stimme bei einem Plädoyer für ziemlich genau die Kriegsführung, wie sie aktuell unter der NATO-Regie stattfindet, und verleiht ihr das Prädikat, pazifistisch zu sein.

Kriegsbejahung im Geiste einer brauchbaren Nachkriegsordnung

Abgrenzen will sich Thierse damit vom Fanatismus einer deutschen Öffentlichkeit und der insbesondere von den Grünen gepflegten Zurückweisung jedes Einwands gegen Waffenlieferungen mit dem Argument, dass ‚wir‘ es sowieso nicht in der Hand haben, den unberechenbaren Putin von seinen schrecklichen Übergängen abzuhalten – außer durch eine vermehrte Waffenausstattung der eigenen, ukrainischen Seite. Dagegen setzt er seine Deutung des Kriegsgeschehens, in dem er auf der Seite der Guten einen Widerstreit am Werk sieht zwischen dem Geist des Bellizismus einerseits, der die Eskalation ins Unendliche in Kauf nimmt, und der Besonnenheit beim Kriegführen auf der anderen Seite, die das politische Kriegsziel auch bei jeder Eskalation nie aus den Augen verliert. So setzt er zum Kriegsgeschehen seine Mahnung hinzu, sich immerzu daran zu erinnern:

„Wenn die Waffen schweigen, muss es wieder um Politik gehen! ... Wir dürfen nicht alles der Logik der Konfrontation unterwerfen.“ (I)

Der Krieg ist nicht alles! Es gilt beim Kriegführen daran zu denken, dass man – hinterher, wenn es, militärisch ausreichend beschädigt, die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens einsieht – mit Russland auch wieder zu den staatlichen und geschäftlichen Beziehungen zurückkehren will, die Deutschland recht waren und die Deutschland beherrscht. Jedenfalls hofft er darauf, dass die Staatenkonkurrenz der verfeindeten Mächte dann wieder irgendwie ‚friedlich‘ ausgetragen wird, und zweifelt zugleich selber am Zustandekommen seines Ideals einer gelungenen Nachkriegsordnung:

„Neu-alte Blockbildungen, geopolitische Antagonismen globaler Art: Sind sie unausweichlich? Vielleicht. Sind sie einer friedlichen Welt förderlich? Wohl nicht. Können sie das Ziel europäischer, westlicher Politik, gar von Friedenspolitik sein? Gewiss nicht. Also wird es wieder und neu um das mühselige Geschäft von Abrüstungsanstrengungen gehen, um Transparenz- und Kontrollregeln, vor allem für Atomwaffen, für biologische und chemische Kampfstoffe, für Cyberwaffen. Die Gefahr eines neuerlichen Wettrüstens ist riesig. Es muss dabei auch bleiben, dass Sicherheit mehr ist als militärischer Schutz. Also wird es wieder um wirtschaftlichen Austausch, um Modernisierungskooperationen mit Russland gehen, um wissenschaftlichen, kulturellen und vor allem auch zivilgesellschaftlichen Austausch.“ (I)

Dafür braucht es den Willen der beiden großen Atommächte, sich neuerlich der Einhegung ihrer Feindschaft zu widmen, die sie – da macht sich Thierse nichts vor – nach dem Krieg weiter betreiben: Abmachungen über ‚Waffenkontrolle‘ und eine Einhegung des Wettrüstens, das diese Staaten in Friedenszeiten dann wieder veranstalten. Damit dann wieder Raum ist für den diplomatischen, geschäftlichen und sonstigen Verkehr, mit dem man bis neulich Russland handhabbar gemacht hat. Thierse bekundet da eine ziemlich haltlose Hoffnung auf eine irgendwie gelingende Erneuerung der alten ‚Glücksstunde‘, ohne zu wissen, wie die durch den jetzigen Krieg zustande kommen soll, und ohne wirklich daran zu glauben, dass die beiden verfeindeten Hauptmächte sich an die ideelle Regieanweisung halten, die der deutsche Entspannungsliebhaber ihnen mitten im Krieg für ihre künftige Waffenkonkurrenz mit auf den Weg gibt.

Erstens gibt es für die schöne Zukunftsperspektive gar kein entsprechend einsichtiges russisches Subjekt – was das angeht, liegt Thierse ganz auf der Linie der westlichen Feindschaft, die jede Verständigung mit ‚Putins Russland‘ ausschließt:

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie man mit Putin, dem Lügner und Verbrecher, Verträge abschließen will. Trotzdem weiß ich, dass nach dem Krieg die Diplomatie wieder das Wort haben muss. Es wird auch danach keine europäische Sicherheitsarchitektur ohne Russland geben. Ernsthaft wahrscheinlich erst nach Putin.“ (II)

Zweitens sind alle Machtsubjekte, die für diese ‚Sicherheitsarchitektur‘ die Grundlage stiften müssen, gerade mit dem Gegenteil befasst. Der Krieg, der der Diplomatie Bahn brechen soll gegen Putins Kündigung jedes friedlichen Einvernehmens, erneuert ja nicht, sondern zerstört gründlich alle Bedingungen einer solchen ‚friedlichen Verständigung‘, die Sanktionen ruinieren zusätzlich deren ökonomische Basis.

So ist Thierse einerseits moralisch wie politisch sicher, dass an der leidigen Notwendigkeit der westlichen Kriegsbeteiligung wegen Putins Verbrechen kein Weg vorbeiführt, zugleich skeptisch, ob dieser Krieg zu dem ordentlichen Ergebnis führt, das ihm als Ideal einer neuen Ordnung vorschwebt: mit Russland irgendwie wieder den Verkehr zu treiben, den Deutschland beherrscht und der ihm und Europa nützt – die Rückkehr zum Alltag der Konkurrenz, in der Deutschland mit seiner ‚Soft-Power‘ zu Hause ist, auf Grundlage einer wieder funktionierenden von Amerika garantierten Abschreckung und eines russischen Sich-Einrichtens in seinem beschädigten Machtstatus.

Am Ende weiß der SPD-Vordenker für die Verwirklichung dieses Ideals auch nicht mehr anzugeben, als mitten im Krieg und ohne deutsche Bestimmungsmacht über seinen Fortgang den Auftrag an die eigene Partei zu erneuern:

„Wir Sozialdemokraten sollten ... an der (Wieder-)Herstellung einer verlässlichen europäischen/globalen Friedensordnung arbeiten – mit einem Russland nach Putin. Denn dies ist die Voraussetzung dafür, dass die Welt sich den eigentlichen Menschheitsproblemen widmen kann: dem Klimawandel, der Umweltzerstörung, der weltweiten Armut und sozialen Ungerechtigkeit. Wie auch die Lösung dieser Aufgaben Voraussetzung für globalen Frieden ist.“ (III)

Das SPD-mäßige Leiden an Deutschlands imperialistischem Status

Hier gibt ein enttäuschter sozialdemokratischer Friedenspolitiker also zu Protokoll, welcher deutsche Erfolgsweg mit Putins Kriegseröffnung und dem westlichen Eingreifen in diesen Krieg ein Ende findet. Mit seinem demonstrativen Leiden an diesem Krieg und der nationalen Beteiligung an ihm, die er zugleich für unerlässlich hält, gibt er Auskunft darüber, was die Grundlagen des deutschen Erfolgswegs waren, die jetzt zerstört sind: Es war der erfolgreiche Umgang mit der beschränkten deutschen Macht und das erfolgreiche Ausnutzen amerikanischer Gewalt und russischen Stillhaltens. Deutschland war der Glücksritter der amerikanischen Gewaltgarantien und Russlands zunehmend strapaziertem Willen, mit dem Westen aus- und voranzukommen. Dieser imperialistische ‚Glücksfall‘ ist durch den Krieg an ein gewaltsames Ende gekommen und nicht zu retten. Durch mehr deutsche Kriegsbeteiligung ist er nicht wiederherzustellen, mit dem Eingreifen Amerikas und der NATO in den Krieg ist er im Gegenteil bis auf Weiteres gründlich zerstört.

Die Antwort des SPD-Vordenkers und Politikers auf diese missliche Lage besteht in der Zustimmung zur westlichen Kriegspolitik – wegen Putins Übergriff – ohne jede Kriegsbegeisterung; im Wissen darum, dass dieser Krieg als Mittel für die Fortsetzung des Erfolgswegs friedlicher deutscher Eroberung mit seiner ökonomischen und daraus erwachsenden politischen Macht nicht taugt. Daher Thierses demonstriertes Leiden am Krieg und seine Distanz zum Fanatismus der Öffentlichkeit, die ständig danach fragt, wo die Waffen für die Ukrainer und wo die ordentlichen deutschen Aufrüstungsfortschritte bleiben und warum der Kanzler so zögerlich ist.

Schon gleich nicht teilt er den Standpunkt der AfD, Deutschland sollte sich auf seine eigene Souveränität besinnen und würde mit Putin und gegen die USA zurecht- und vorankommen. Er plädiert im Bewusstsein fehlender eigener Macht für Besinnung auf die wahren Stärken Deutschlands als ziviler Friedensmacht im Sinne einer gelungenen Politik zwischen den Großmächten; und von daher für das Ideal einer Kriegsführung, die sich an der Wiederherstellung der Grundlagen des alten Erfolgswegs – einer irgendwie zu erreichenden Koexistenz der Atommächte – orientieren sollte, also für ein künftiges Auskommen mit Russland ‚nach Putin‘ taugt.

Das alles trägt er im Modus des zu dieser Politik gehörigen guten alten Friedensethos der SPD vor. So und gerade so verdient seiner festen Auffassung nach die SPD als besonders verantwortliche Partei in Sachen Krieg und Frieden dann aber auch Respekt. Sie hat weder Zweifel an ihrer dem Frieden verpflichteten Politik verdient, wenn sie sich gerade praktisch in die westliche Kriegsfront einreiht, noch umgekehrt Zweifel an ihrer Kriegsbereitschaft, wenn sie sich nicht den Fanatismus der Grünen, der Christdemokraten und der versammelten Öffentlichkeit zu eigen macht. Im Endeffekt kommt Thierse mit seiner kritischen Nachdenklichkeit dann doch zu einer versöhnlichen Auflösung, in der altehrwürdige SPD-Friedensmoral und praktizierte Kriegsbereitschaft in Gestalt der SPD-Kanzlerschaft einander ergänzen:

„Sie [die schrecklichen Bilder] müssen Anlass für kritisches, auch selbstkritisches Nachdenken sein. Und auch für politische Konsequenzen und Neuorientierungen, wie sie Bundesregierung und Kanzler Scholz begonnen haben.“ (III)

[1] Alle folgenden Zitate stammen aus einem Beitrag in der FAZ vom 2.4.22: „Um des lieben Friedens willen? Warum ich den Appell gegen die Hochrüstung nicht unterschreiben kann“ (I), aus einem Interview in der Berliner Zeitung vom 19.4.22 (II) sowie aus einem Artikel in der SPD-Parteizeitung vorwärts, 22.4.22 (III).