Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Chronik des Corona-Wahljahres 2021
VI. Wahlkampf kurz und bündig
In der Demokratie hat alle Unzufriedenheit des Volks eine erwünschte Adresse: die Opposition. Sie bietet dem Bürger eine politische Alternative, die Aussicht auf Verbesserung aller Lebenslagen durch einen Machtwechsel verspricht. Im Wahljahr 2021 gibt es drei bemerkenswerte Angebote, die Gegenstand, Machart und Leistungen des eigentümlichen Dialogs der Parteien mit dem politisch denkenden Wahlvolk in einem gereiften demokratischen Staatswesen vor Augen führen.
Aus der Zeitschrift
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Chronik des Corona-Wahljahres 2021
VI. Wahlkampf kurz und bündig
In der Demokratie hat alle Unzufriedenheit des Volks eine erwünschte Adresse: die Opposition. Sie bietet dem Bürger eine politische Alternative, die Aussicht auf Verbesserung aller Lebenslagen durch einen Machtwechsel verspricht. Im Wahljahr 2021 gibt es drei bemerkenswerte Angebote, die Gegenstand, Machart und Leistungen des eigentümlichen Dialogs der Parteien mit dem politisch denkenden Wahlvolk in einem gereiften demokratischen Staatswesen vor Augen führen.
Die AfD – „Deutschland. Aber Normal.“
„Viele Menschen spüren, dass in Deutschland vieles nicht mehr richtig funktioniert. Wenn Ministerien sich mehr mit Gendersternchen beschäftigen als mit echten Problemen, ist es kein Wunder, dass der Staat bei seinen Kernaufgaben versagt. Bei der Euro-Krise, bei der Flüchtlingskrise und jetzt in Zeiten der Pandemie. Die Politik ist geradezu verrückt geworden. Deutschland muss wieder normal werden! Dann wird es auch wieder besser!“ (Faltblatt zum Wahlparteitag, 19.3.21)
Die AfD führt einen demokratischen Kunstgriff vor: Sie präsentiert sich als Sprachrohr einer allgemeinen Unzufriedenheit, die ohne bestimmten Gegenstand und ohne jede Berufung auf zu kurz gekommene anerkannte Interessen aus der ebenso anerkannten Hierarchie der gesellschaftlichen Stände vorgestellt wird, um sie mit der Sorge um den Zustand des Landes, in dem nichts mehr klappt, gleichzusetzen.
Dass dieser gesunde Menschenverstand national empfindender Bürger in aller Inhaltslosigkeit unbedingt im Recht ist, veranschaulicht die AfD mit einem dreist konstruierten Gegensatz. Worum sich die Politik angeblich überwiegend kümmert, sind Zumutungen intellektueller Gesinnungswirtschaft – das Gendersternchen als Inbegriff hoheitlich moralischer Bevormundung –, um darüber die entscheidenden Fragen für Volk und Nation zu vernachlässigen: deutsches Geld, deutsche Grenzen, den Schutz freier deutscher Bürger in schweren Zeiten – ‚Kernaufgaben‘ eines Staates, der für sein Volk da ist. Der in dem haltlosen Bild von Gendersternchen vs. Grenzschutz insinuierte Grund für alle Missstände bereitet den Boden für eine denkbar drastische Kennzeichnung der regierungsamtlichen Politik und ihrer Veranstalter: irre! Die Verurteilung der Taten der Regierung als Irrsinn ist ein Verdikt, das über jeden bestimmten Einwand und Gegensatz hinaus, zu keinem Kompromiss mehr bereit und zu keiner Versöhnung mehr fähig ist.
Der passende Gegenentwurf ist nicht weniger inhaltslos und ebenso prinzipieller Natur: Das große Ganze, Deutschland nämlich, muss wieder normal werden. Mit dieser uneinholbar abstrakten Entgegensetzung unheilbarer Weltabgewandtheit der offiziellen Politik und der gerechten Sehnsucht des Volks nach Normalität ruft die AfD nicht bloß in routiniert wahlkämpferischer Manier die vielgestaltige Unzufriedenheit ab, sondern stachelt sie zu einem ganz eigenen Radikalismus an. Der Vorwurf des Irrsinns ist die fundamentaloppositionelle Absage an so ziemlich alles, was in der Nation passiert, und damit an die Macher aus dem Regierungslager, die das zu verantworten haben; es ist die Aufforderung an die Bürger, sich in einem unerträglichen Gegensatz zur Politik in Amt und Würden zu verstehen. Deutschland steht dabei für den guten, unbedingt patriotischen Geist, aus dem heraus mit der politischen Realität so gnadenlos abgerechnet wird. Die Leerformel normal
schließt Absage und Bekenntnis zusammen: aus Parteilichkeit für dieses normale Deutschland darf die Menschheit mit intaktem patriotischem Gespür Politiker, die verrückt geworden sind, nicht (weiter)regieren lassen.
So geht radikale Opposition: dermaßen unbedingt dafür, dass unterhalb einer bedingungslosen Absage nichts infrage kommt.
Deutschland als Gegenstand der Sorge, Grund und Zweck einer parteipolitischen Mission ist allerdings auch für die ganz entgegengesetzte oppositionelle Botschaft gut.
Die Grünen – „Deutschland. Alles ist drin.“
„Wir legen mit diesem Programm eine Vitaminspritze für dieses Land vor. Wir wollen einen Aufschwung schaffen, der über das rein Ökonomische hinausgeht. Der für klimagerechten Wohlstand sorgt. Der das gesellschaftliche Leben in seiner Stärke und Vielfalt erfasst: Bildung und Kultur, Arbeit und Digitalisierung, Spitzenforschung und Wissenschaft. Deutschland kann so viel mehr. Dies kann ein Jahrzehnt des mutigen Machens und des Gelingens werden. Jetzt ist es Zeit für eine Politik, die über sich hinauswächst.“ (Vorstellung des Bundestagswahlprogramms, 18.3.21)
Die gleiche Inhaltslosigkeit. Das gleiche Sorgeobjekt. Auch beim grünen Kontrastprogramm steht Deutschland am Anfang, als das große Weiß-Warum, für das man ist. Was dann kommt, nimmt alle virulenten, offiziell bekannt gemachten und auch von den Grünen gepflegten Probleme des Landes und Aufträge an die Politik auf, um alles, was daran an Kritik erinnert, mit dem Credo Alles ist drin
, gleichgültig gegen Grund, Stoßrichtung und Inhalt, auf den Standpunkt des Aufbruchs und der Verbesserung zu trimmen, also jede Kritik ins antikritisch Positive aufzulösen. Es ist ein Kunststück eigener Art, sämtlichen Einwänden, die mit den aufgezählten Stichworten für gewöhnlich verbunden sind, so jedes Moment der Absage zu nehmen, um sie im Namen Deutschlands in einen erbarmungslosen Optimismus zu überführen, der durch nichts und niemanden besser zu bedienen ist als durch die Grüne Partei. In der ist nämlich – dies die genial konstruierte Doppelbedeutung des Slogans ohne jede Doppeldeutigkeit – ebenso wie in Deutschland viel mehr und viel Schöneres drin, als sich je jemand gedacht hätte, nämlich einfach alles: vom klimagerechten Wohlstand
bis hin zu Vielfalt
, Spitzenforschung
und, selbstverständlich, Digitalisierung
.
So geht Opposition bedingungslos konstruktiv: Nichts auch nur ansatzweise Negatives über die herrschenden Verhältnisse und die Herrschaft in diesem Land, keine Vorwürfe an die Regierenden in Berlin – stattdessen die hemmungslose Bereitschaft, alles Gute selbst in die Hand zu nehmen, um dieses wunderbare Deutschland noch besser zu machen, als es schon ist.
*
Dass die Parolen ziemlich kurz sind, muss, wie man sieht, kein Mangel sein. Beide Wahlsprüche taugen auf ihre Weise dazu, von jeder Kritik an der Republik – die irgendwie in jeder Unzufriedenheit noch drinsteckt – zu abstrahieren, um auf ein bedingungsloses „Dafür“ hinzulenken. Geht’s noch abstrakter? Ganz ohne die Nation? Mit dem blanken Verweis auf ebenso unabdingbares wie inhaltsloses „Tun“? Aber immer:
„Nie gab es mehr zu tun.“
Fehlt was? Klar, der Absender des Mottos: Die FDP.