Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
EU-Kommissar Verheugen regt Volksabstimmung über den Beitritt osteuropäischer Länder zur EU an:
Demokratische Drangsale eines verlogenen Euro-Imperialismus

Eine Volksabstimmung zur „Osterweiterung“ fordert EU-Kommissar Verheugen. Da hat er sich vertan: Nationalisten nationalistisch nahe zu bringen, dass die Machterweiterung der EU wirklich auch nur der eigenen Nation zu Gute kommt und nicht etwa den östlichen Konkurrenten – haut selbst bei den „politischen Eliten“ der EU-Mächte nicht hin. Also lässt man es lieber bleiben.

Aus der Zeitschrift

EU-Kommissar Verheugen regt Volksabstimmung über den Beitritt osteuropäischer Länder zur EU an:
Demokratische Drangsale eines verlogenen Euro-Imperialismus

Der Mann ist für die „Osterweiterung“ des christlich-abendländischen Staatenclubs zuständig. Und er ist es ganz offenkundig leid, sich im Auftrag der 16 EU-Mitglieder mit langwierigen Beitrittsverhandlungen abzumühen und gleichzeitig zusehen zu müssen, wie bei seinen Auftraggebern und insbesondere bei den Regierungen der Führungsmächte die längst bekannten Vorbehalte gegen eine gleichberechtigte Beteiligung östlicher Kandidaten zunehmen, die Dementis immer unglaubwürdiger werden und zugleich mit demokratischer Schamlosigkeit der angeblich überforderte Bürger mit seiner unveräußerlichen Heimatliebe als Argument gegen alle Brüsseler Bemühungen um Fortschritte der Union, auch in Sachen Erweiterung, in Stellung gebracht wird. Also dreht er den Spieß herum, fordert von den entscheidenden Machthabern, insbesondere in Berlin, entschiedenen Einsatz für das Zuwachsprojekt. Von den politischen Eliten Europas verlangt er, ihren politischen Willen zum Erweiterungsprojekt endlich eindeutig zu erklären. Unter sich sollen sie sich einig werden, und ihre Entschlusskraft dann auch noch so unter Beweis stellen, dass sie ihr Volk für ein mehrheitliches Ja zum Beitritt der östlichen Nachbarn mobilisieren – und mit diesem Vorstoß erntet der EU-Kommissar eine in mehrfacher Hinsicht aufschlussreiche energische Ablehnung. Die angesprochenen Eliten, die er zur Werbung für ihr politisches Projekt gerne zum Dialog mit den Menschen (Verheugen, SZ 2.9.00) gebeten hätte, halten es schlicht für abwegig, eine dermaßen entscheidende Angelegenheit allen Ernstes ihrem Wählervolk in irgendeiner Weise zur Entscheidung zu überantworten. Mit wissendem Grinsen deutet der grüne deutsche Außenminister an, welches verheerende Ergebnis zu erwarten wäre, wenn er seine Deutschen über einen EU-Beitritt beispielsweise Polens abstimmen ließe, verweist außerdem auf die Verfassungssituation und macht doch überhaupt kein Geheimnis daraus, dass er nicht im Grundgesetz das eigentliche Problem sieht, sondern eine erfolgreiche, in freier Abstimmung bestätigte Überzeugungsarbeit in diesem Punkt für illusionär hält: Ich habe nichts gegen Volksentscheide. Aber im Fall der EU-Erweiterung ist eine Volksabstimmung das falsche Instrument. Wir – will sagen: wir alle, die zu politischen Entscheidungen gar nicht befugt sind – können doch nicht über den Beitritt anderer bestimmen. Man kann nur das eigene Verhalten abstimmen, nicht über ein anderes Land. Wir – will sagen: wir Regierenden, die das unter uns ausmachen – können nicht per Volksentscheid feststellen, ob uns nun ein Land passt oder nicht. (…) Eine negative Entscheidung würde etwa das deutsch-polnische Verhältnis dauerhaft zerrütten und hätte fatale Folgen. (Fischer, SZ, 9.9.)

  • Über die Demokratie kann man daraus immerhin lernen, welchen Stellenwert die freie Diskussion in dieser optimalen Herrschaftsform besitzt: ein naiver Dummkopf, wer staatliche Grundsatzentscheidungen für eine Sache solider Argumente hält, und erst recht, wer an den demokratischen Erfolg der besseren Argumente glaubt. Freiheitliche Volksherrschaft funktioniert genau andersherum – so wie beim Euro, den EU-Kommissar Verheugen ausgerechnet für ein Beispiel schlechter Arbeitsteilung zwischen Brüsseler Zentrale und nationaler Überzeugungsarbeit ansieht: Die politische Macht setzt die Fakten; das Volk hat alle Freiheit, sich an diese zu gewöhnen; Unzufriedenheit welcher Art auch immer darf bei allen anderen Instanzen, nur tunlichst nicht bei den verantwortlich Regierenden abgeladen werden – und wenn das doch passiert, darf vor allem nichts weiter daraus folgen. Ein zur Regierungsmacht bekehrter ehemaliger Fundamental-Demokrat steht dafür ein, und der bayerische Ministerpräsident erläutert dem Volk nochmals in einfachen Worten das Prinzip der demokratischen Meinungsbildung, das er aus Verheugen herausgehört hat: Die Eliten müssen dem Volk ihre Entscheidungen darlegen. Dann erübrigen sich alle Debatten. (Stoiber, ARD, 6.9.)
  • Über den Nationalismus der einfachen Leute erfährt man auch etwas. Nämlich zumindest so viel, dass die rot-grünen Chefs der Nation ihn für unbelehrbar und speziell in seiner Eigenschaft als Ausgrenzungswahn und -wille, als verächtliche Stellung zu anderen Staatsbürger-„Rassen“, für kaum korrigierbar halten. Und das nicht etwa deswegen, weil sie eine gründliche Kur probiert hätten und damit gescheitert wären. Agitation gegen Vaterlandsliebe ist in ihren Augen von vorneherein eine Schnapsidee: Was betreiben sie selbst denn anderes als die Wohlfahrt der Nation, rücksichtslos gegen die materiellen Interessen der größeren Teile ihrer eigenen Kapitalstandort-Bevölkerung, und noch viel rücksichtsloser gegen den ganzen Rest der Staatenwelt! Und worauf sonst berufen sie sich und könnten sie sich überhaupt berufen zur Rechtfertigung ihres herrschaftlichen Geschäfts, als auf die Nation und auf die vor jeder freien, vernünftigen Entscheidung angesiedelte Parteilichkeit eingeborener Untertanen für „ihr“ Heimatland!
  • Über die EU wird man ganz nebenher in einem Punkt schließlich auch belehrt. Über die Schwierigkeit nämlich, dieses Projekt Nationalisten nationalistisch nahe zu bringen. Denn so ist es in der Demokratie ja auch nicht, dass dem Volk von den Machtverhältnissen, denen es zu gehorchen und zu dienen hat, gar nichts „erklärt“ würde: Ihr nationalistischer Gehalt wird den mündigen Bürgern schon mit allen Mitteln eingehämmert und ans heimatliebende Herz gelegt; deswegen passen Demokratie und Nationalismus ja so grundsätzlich gut zueinander. Aber: Europa – wie „verkauft“ man das als regierender Demokrat der regierten Nation? Nicht, dass es keine gediegen nationalistischen Gründe für das Einigungsprojekt gäbe – die Regierenden haben ja selber keine anderen als den Zuwachs an staatlicher Macht, mit dem sie, die gewählten Herren und Meister ihrer jeweiligen Nation, als Repräsentanten Europas in der Konkurrenz der Weltmächte aufwarten können. Damit lässt sich auch unter Patrioten durchaus Stimmung machen; und das geschieht ja immerhin. Nur bricht sich alle Begeisterung an der Tatsache, dass der Machtzuwachs immer auch allen lieben Nachbarn zugute kommt, die immer noch Konkurrenten sind und als solche genommen werden. Und was die östlichen Beitrittskandidaten betrifft, so sind die, vom Machtstandpunkt der Regierenden aus betrachtet, noch nicht einmal tatkräftige, nützlich zu machende Konkurrenten, sondern Problemfälle; ein Machtzuwachs einerseits zwar schon, andererseits aber ein entweder sehr kostspieliger oder sehr fragwürdiger; und in jedem Fall kein gleichberechtigtes Gegenüber. Letzteres hat das heimatliebende Volk schon längst mitgekriegt, sich unter sachgerechter Anleitung von oben sowieso immer schon gedacht – und müsste nun glatt dahingehend belehrt werden, dass mit dem „Beitritt“ der Oststaaten in Wahrheit nichts anderes bezweckt ist als der einseitige euro-imperialistische Zugriff auf ihr Territorium und auf das, was sie auf dem allenfalls zu bieten haben. Ein Beitritt als gleichberechtigtes EU-Mitglied passt aber tatsächlich nicht recht zu diesem Zweck. Und lauthals verkünden lässt der sich erst recht nicht – man würde am Ende den Beitrittswillen der Ex-Ostblock-Staaten selber untergraben!

EU-Kommissar Verheugen hat also einen politischen Fehler gemacht. Er hat von den politischen Eliten der EU-Mächte etwas Unmögliches verlangt: eine für Nationalisten überzeugende Agitation für ein imperialistisches Projekt, das von der Unschärfe in seiner imperialistischen Stoßrichtung und von seiner offiziellen Verlogenheit lebt. Diesen Widerspruch im Vorhaben der „Osterweiterung“ der EU will der Mann nicht mehr alleine vertreten müssen – dabei hat man seinen Posten gerade dafür geschaffen. Das hat der Kommissar auch gleich eingesehen und alles, was nach einer Forderung an die nationalen Machthaber in der EU geklungen haben mag, ausdrücklich zurückgenommen. Denn mit basisdemokratischem Idealismus den unzufriedenen Nationalismus mobilisieren: Das hat er wirklich nicht im Sinn gehabt.