Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
„Viagra“: Erektionshilfe fürs bürgerliche Selbstbewusstsein
Ein Pharma-Konzern entdeckt in dem Zufallsprodukt seiner Forschungsabteilung das Potential eines Blockbuster und liegt damit richtig: Weit über die organisch bedingt Impotenten hinaus stößt das neue Heilmittel auf eine massenhafte Nachfrage, die offenbart, woran die bürgerliche Menschheit bislang stumm gelitten hat. Einige Erläuterungen zu einem Defekt, den die bürgerlichen Individuen „zwar im Kopf haben, aber immer nur zwischen ihren Beinen bemerken“.
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„Viagra“: Erektionshilfe fürs bürgerliche Selbstbewußsein
- Ein Pharma-Unternehmen tut, was es immer tut, und sucht nach einem Verkaufsschlager auf dem Markt des Helfens & Heilens. Um ein Mittel zu finden, das ein Leiden bekämpft, wird viel geforscht. Noch viel mehr aber, damit möglichst ein Präparat herauskommt, das die Konkurrenten aus dem Markt schlägt; das besser ist, weil es mehr Wirkung und/oder weniger oder andere Nebenwirkung hat. Im Idealfall gelingt mit ihm sogar ein
spektakulärer Durchbruch
. Dann hat man ein Monopol erkämpft, weltweit zumeist, und die stetsunglaublich hohen Entwicklungskosten
haben sich gelohnt. Wie diese Forschung so geht, gelingt ihr manchmal sogar ein Durchbruch an einer Frontlinie im Kampf für die Gesundheit, die sie gar nicht im Auge hatte. Da wird z. B. nach einem Präparat gegen eine Herzkrankheit gesucht. Man hat auch schon den Wirkstoff, der Erfolg verspricht – und da entdeckt man bei der Überprüfung der anderen Wirkungen, die mit der beabsichtigten immer einhergehen, ein erstaunliches Phänomen: Dort, wo der Stoff wirken soll, wirkt er viel weniger als dort, wo man seine Wirkung gar nicht vermutete. Und so nehmen die Forscher überrascht zur Kenntnis, daß die Chemie, die dem Herzen ein bißchen helfen sollte, ausgerechnet dem populärsten Corpus cavernosum des Körpers zu einer schier unglaublichen Funktionstüchtigkeit verhilft. - Herzgesunde mit Dauerständer waren allerdings nicht im ursprünglichen Forschungsauftrag vorgesehen. Aber insofern man letzteres offenbar gut hinkriegt mit dem Einsatz der entdeckten chemischen Keule, ist die nicht erwünschte Nebenwirkung alles andere als uninteressant. Die erwünschte Hauptwirkung der Forschung nämlich, ein lohnendes Geschäft sicherzustellen, läßt sich ja auch erzielen, wenn man die Zufallsentdeckung selbst zum Geschäftsartikel macht, und in diesem speziellen Fall muß die Geschäftsleitung auch gar nicht besonders lange kalkulieren. Diabetiker, Querschnittgelähmte und sonstwie Impotente sind ihr schon mal als Kunden sicher; aber das sind im Grunde genommen peanuts. Denn angesichts der Bedeutung, der Penis im wirklichen Leben bekanntlich spielt, kann es doch gar nicht sein, daß bloß diese paar physisch Kranken unter seinen Funktionsdefiziten leiden. Sehr wahrscheinlich, daß der Kreis derer, für die man nunmehr Hilfe parat hat, viel größer ist. Womöglich ist bloß die Volkskrankheit nicht so recht bekannt, die man heilen kann, und das wäre natürlich riesig, heilungs-, aber erst recht marktmäßig besehen.
- So kommt unter dem Namen „Viagra“ in den USA der Stoff auf den Markt, wird hierzulande bekannt – und alle Medien der pluralistischen Meinungsbildung sowie ein
Run auf internationale Apotheken
machen mit einem Schlag offenbar, wo die bürgerliche Menschheit bislang stumm vor sich hingelitten hat. Wie sich zeigt, haben vorwiegend Männer, aber selbstverständlich auch Frauen, riesige Probleme, von denen niemand so recht wußte. Mit ihrersexuellen performance
nämlich, womit sie den Umstand meinen, daß ihr Fleisch einfach viel zu schwach ist für die Kräfte, die ihr Wille nach sexueller Selbstverwirklichung pausenlos mobilisiert. Viel öfter, als ihnen lieb ist, gelingt ihnen rein physisch die überzeugende Inszenierung des Selbstbildes nicht, das sich in ihrem Kopf als Erfolgsgarantie in der Konkurrenz um Anerkennung beimanderen Geschlecht
und darüber offensichtlich gleich zum Hauptposten ihrer Selbstzufriedenheit verfestigt hat. Ihrer Angeberei, allen – auch und erst recht – auf dem Feld des Vergnügens geltenden Leistungsprinzipien lässig zu genügen; ihrer Berechnung, durch die entsprechenden Darbietungen ein Vis-à-vis zu beeindrucken, das sich gleichfalls darauf verlegt hat, seine Schleimhäute zum Hebel einer Anerkennung gleich des ganzen Restes der werten Persönlichkeit zu funktionalisieren: diesen und allen anderen Ansprüchen, die die Bürger an ihre Sexualität so zu richten pflegen, zeigt sich ausgerechnet das Werkzeug, auf das es dabei entscheidend ankommt, nicht genug gewachsen. Als Hebel zur Steigerung ihres Selbstbewußtseins ist der Pimmel dann doch nicht ganz so tauglich, wie sie es gerne hätten, und das macht vielen Bürgern, wie man erfährt, tatsächlich sehr viel aus. Denn wo das Selbstwertgefühl sich über eine potenteperformance
einzufinden hat, gilt natürlich auch die Umkehrung, und im Ego knirscht es dann ein wenig, wenn der Eindruck nicht zustandekommt, von dem so viel abhängt. Und was das Maß des Unglücks voll macht: Nicht einmal Fitneß-Studios helfen hier weiter; Manneskraft ist durch Muskelkraft nun mal nicht zu ersetzen. Eine Pille, die einen Defekt kuriert, den sie zwar im Kopf haben, aber immer nur zwischen ihren Beinen bemerken, ist da genau die Hilfe, die sie brauchen. Die verspricht ihnen für die Zukunft, immer und überall gerüstet und endlich auch da pausenlosfit for fun
zu sein, wo zwischen Anspruch und Durchführung immer dieselbe Lücke klafft. - Das Angebot des Pharma-Unternehmens erzeugt also ziemlich schlagartig die Nachfrage, die „Viagra“ die Perspektive eines
Verkaufsschlagers
auf dem Gesundheitssektor verheißt. Ein großer Schritt nach vorne ist in dem Bemühen getan, die Bürger von der psychologischen Last zu befreien, sich an ihrem Selbstbild eigentlich doch immer nur blamieren zu können. Mit der versprochenen Manneskraft kann sich jetzt jeder die Sicherheit verschaffen, durch überzeugende praktische GegenbeweiseVersagensängste
auszuräumen: So macht Sex endlich richtig Spaß. Einem einträglichen Geschäft mit dem Lindern von Leiden steht an sich also auch hier nichts im Wege, doch decken sich bedauerlicherweise die wirklichen Leiden des Volkes nicht immer mit den Maßstäben, die in Sachen Volkskrankheit von Staats wegen gelten: Den Reibach der Firma Pfizer finanziertunser Gesundheitswesen
diesmal nicht. Für die organisch bedingten Impotenten gibt’s den Stoff zwar schon auf Rezept, vielleicht; wenn es billiger kommt als die mechanischen Hilfsmittel, auf die sie einen rechtlichen Anspruch haben. Bei allen anderen aber, die ihre organische Grundausstattung nur wegen der Maßstäbe als zu wenig potent befinden, die sie für eine erfolgreiche Selbstverwirklichung auf diesem Gebiet in Anschlag bringen, entdecken die Verantwortlichen des Gesundheitswesens sofort einen einzigen Anschlag auf ihre Kassen:Bundesgesundheitsminister Seehofer hat sich gegen eine generelle Abgabe von potenzstärkenden Mitteln auf Rezept ausgesprochen. Man könne nicht ‚für jedes Problem eine Zwangsversicherung‘ installieren…
(SZ, 19.5.) So ist zu befürchten, daß wirksame und regelmäßige Pflege der mentalen Gesundheit des bürgerlichen Ich doch wieder nur denen vorbehalten bleibt, die sie sich auch leisten können. Andererseits sind DM 30,- nicht viel für den versprochenen Gebrauchswert einer endlich einmal wirklich überzeugenden genitalen Galavorstellung. Der Sparzwang des Staates wird daher letztlich schon auch im Volk seine heilenden Effekte verrichten und auch in diesem Fall die für Gesundheit einfach nötigen Ausgaben in die Taschen des Unternehmens lenken, dem das Wohlbefinden zu verdanken ist.
PS. Das Potenzmittel V. hat nach Ansicht von Experten wesentlich mehr Nebenwirkungen als bisher angenommen… Auswirkungen auf das Sehfeld… im Tierversuch bereits zur Erblindung geführt.
(SZ, 22.5.) Nur keine Bange, das ist ganz natürlich. Mit einer Riesenklappe zum Angeben, einem Riesenschwanz zum Eindruckschinden, dafür aber mit nur knapp bemessener Sehkraft: so hat Mutter Natur schon das Krokodil eingerichtet. Das hat bekanntlich noch mit 100 Jahren eine unglaubliche performance
. Sogar unter Wasser.
PPS. Auch wird gemeldet, daß es im Mutterland der Leistungsgesellschaft nach der Einnahme von „Viagra“ schon Tote gegeben habe. Doch auch das ist ganz natürlich. Wo käme die Pharma-Industrie denn hin, wenn sie erst die Erkundung und, womöglich, Unterdrückung von Neben- und Überkreuz-Wirkungen mit anderen Herzmitteln abwarten wollte, bevor die Amortisierung des Forschungsaufwands losgeht! Da muß ein Hinweis im Beipackzettel genügen – der schadet dem Umsatz wenig und erspart der geschädigten Kundschaft den Versuch einer Schadensersatzklage.