Demokratisierung des „Broader Middle East“
Das demokratische Afghanistan – ein Vasallenstaat neuen Typs

Der amerikanische Präsident weiß so gut wie die gesamte westliche Öffentlichkeit, dass Afghanistan auch durch die erfolgreiche „Wahl eines Präsidenten nicht zu einer pluralistischen Demokratie westlichen Zuschnitts“ geworden ist. Offensichtlich ist das auch nicht erforderlich, um als „Erfolgsmodell“ der Demokratisierung des „Broader Middle East“ gelten zu können.

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Demokratisierung des „Broader Middle East“
Das demokratische Afghanistan – ein Vasallenstaat neuen Typs[1]

Der amerikanische Präsident nennt Afghanistan stets ein „Modell des Friedens und der Demokratie für den Mittleren Osten“ und nimmt für sich in Anspruch, mit dem Krieg am Hindukusch, dem Sturz des Taliban-Regime und schließlich der Wahl Karzais zum Präsidenten am 9.10.2004 den Afghanen die Freiheit – „das Geschenk des allmächtigen Gottes an jeden Mann und jede Frau auf dieser Welt“[2] – beschert zu haben. Dabei weiß er so gut wie die gesamte westliche Öffentlichkeit, dass Afghanistan auch durch die erfolgreiche „Wahl eines Präsidenten nicht zu einer pluralistischen Demokratie westlichen Zuschnitts“ (NZZ 9.10.) geworden ist. Offensichtlich ist das auch nicht erforderlich, um als „Erfolgsmodell“ der Demokratisierung des „Broader Middle East“ gelten zu können.

Vorbildlich ist das Land aus Sicht Washingtons deshalb, weil der Regimewechsel, den die USA in Afghanistan aus ihren strategischen Interessen heraus für nötig befunden und eingeleitet haben, Fortschritte macht. Nach dem 11.9.2001 hat die Regierung Bush die Beseitigung dieses „failed state“, der zum wichtigsten Unterschlupf für Al Kaida geworden war, auf die Tagesordnung gesetzt. Das Taliban-Regime war ohnehin ein Ärgernis, weil es sich westlichen Interessen und Berechnungen entzog, und Afghanistan außerdem auch noch der wichtigste Ausgangspunkt für den weltweiten Drogenhandel war.[3] Um diesen Gefahrenherd für Amerikas Sicherheit und Ordnung auszuräumen, haben sich die USA entschlossen, am Hindukusch einzumarschieren und die Machtverhältnisse im Lande den eigenen Ansprüchen gemäß neu zu ordnen. Das Programm sieht eine Zentralgewalt vor, die nicht islamisch sondern proamerikanisch ist, die sukzessive das gesamte Land unter ihre Kontrolle bringen und künftig in der Lage sein soll, aus eigener Kraft Afghanistan von islamistischen Terroristen und vom Opiumanbau frei zu halten. Im Herzen Asiens soll ein verlässlicher Vasall Amerikas entstehen, dessen Territorium auch als sicherer Stützpunkt für amerikanische Militäroperationen in der Region zur Verfügung steht.

Die derzeitigen Zustände in Afghanistan sind geprägt von 25 Jahren Krieg – von der Invasion der Sowjetunion 1979, dem vom Westen und Saudi-Arabien gesponserten Kampf gegen die Besatzungsmacht 1985-89, dem sich anschließenden Bürgerkrieg 1992-96 bis hin zum US-Angriff auf das Taliban-Regime im November 2001. Im Süden und Osten dauern die Kampfhandlungen immer noch an; amerikanisch-britische Koalitionstruppen, 18.000 Mann unter der Flagge der Antiterror-Operation „Enduring Freedom“, liefern sich täglich mit Taliban-Milizen bzw. Al-Kaida-Kämpfern heftige Gefechte. Das übrige Land ist ein großer Trümmerhaufen, in dem es auch nicht gerade friedlich zugeht: In Kabul versuchen die ISAF-Truppen unter Führung der NATO mit mehr oder weniger Erfolg für Ruhe und Ordnung zu sorgen und Anschläge von Gegnern der Besatzung zu verhindern. Im Norden und Westen des Landes herrschen rivalisierende regionale Führer – „Warlords“, wie sie jetzt heißen, nachdem ihre guten Dienste für die USA als „Freiheitskämpfer“ gegen die Sowjetunion und als „Nordallianz“ gegen die Taliban Geschichte sind. Sie stützen ihre Herrschaft auf Loyalitäten, die auf Waffengewalt, Stammeszugehörigkeit, Geld und religiöser Moral beruhen. Ihre Haupteinnahmequelle ist der Opium-Verkauf, daneben profitieren sie vom Schwarzhandel mit Autos, Waffen und humanitären Gütern, kassieren an Transitrouten Zölle und bereichern sich durch Wegelagerei. Soweit es die Sicherheitslage zulässt, kümmern sich NGOs um die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten. Mehrere Millionen Afghanen, die vor den Taliban und dem Krieg geflohen waren, kehren nach und nach in ihre Heimat zurück – teils auf eigene Initiative, größtenteils von den UN-Behörden organisiert – und benötigen eine neue Lebensgrundlage.

Die formelle Subsumtion des Landes unter den Zweck der imperialistischen Mächte

Der von den USA angeleitete Demokratisierungs- und „nation building“-Prozess beginnt unmittelbar nach Kriegsende mit der Petersberger Konferenz. Auf ihr küren ausgewählte afghanische Stammesvertreter und Repräsentanten der Bevölkerung unter Anleitung und dem nötigen Druck der US-Administration und ihrer Verbündeten eine einheimische Führungsfigur zum provisorischen Präsidenten. Dass das Los auf den „paschtunischen Edelmann vom Stamme Popalzai“, Karzai, fällt, hat seinen imperialistischen Sinn. Erstens stammt er aus der größten afghanischen Volksgruppe, den Paschtunen, und wird als einer ihrer Anführer geschätzt; in den neunziger Jahren hat er es deswegen schon einmal zu einem Regierungsamt gebracht. Zweitens hat er rechtzeitig mit den Taliban gebrochen und ist nach Pakistan ins Exil gegangen, also dürfte er für einen gemäßigten, säkularen Kurs stehen. Zu diesen Eignungskriterien – anti-islamistisch und eigene Hausmacht – kommt noch als wichtigstes hinzu: Er ist zur unbedingten Kooperation mit den USA bereit, also „unser Mann“ und damit „die beste Wahl für die Afghanen“. Mit seiner Ernennung ist Karzai nominell der Chef des neu zu gründenden Staatswesens und der international anerkannte Repräsentant des afghanischen Volkes,[4] de facto repräsentiert er allerdings nur den Auftrag der USA und ihrer Verbündeten, eine neue Herrschaft im Lande zu errichten und sich die Zustimmung der Bevölkerung zu verschaffen. An den Gewaltverhältnissen im Lande hat sich durch Karzais Inthronisation nämlich nichts geändert. In ihren Provinzen üben die konkurrierenden Stammesfürsten die Macht aus, dulden allenfalls die Regierung in Kabul wegen deren Rückhalt bei den Weltaufsichtsmächten und versuchen, sie für eigene Machtkalküle zu funktionalisieren. Die Taliban- und Al-Kaida-Kämpfer sehen im Präsidenten ein Symbol der Fremdherrschaft und ein Hauptziel für ihre Anschläge. Vor seinen Feinden muss sich Karzai mangels eigener Sicherheitskräfte durch Leibwächter schützen, die von Amerika abgestellt und bezahlt werden; nach mehreren Attentatsversuchen zieht er es vor, auf heimische Auftritte außerhalb seines Regierungssitzes zu verzichten. Die einzige Aufgabe seiner Übergangsregierung besteht darin, unter Anleitung der UNO eine Verfassung auszuarbeiten und Wahlen vorzubereiten, also die formellen Voraussetzungen für eine künftige – demokratische – Herrschaft zu schaffen.

Aufgabe Nr. 1 ist im Januar 2004 erfüllt: Die „Loya Jirga“, eine Versammlung von Stammesdelegierten aus den 32 Provinzen – extra vertreten sind einige Frauen, um den beginnenden Wandel der Gesellschaft zu signalisieren – und Repräsentanten der Flüchtlinge, nimmt „die erste demokratische Verfassung Afghanistans“ an, die unter der Ägide von UN-Juristen ausgearbeitet wurde. Damit liegt ein neues Staatsprogramm westlicher Prägung samt organisatorischer Grundstruktur vor, rechtlich kodifiziert, international beglaubigt und von ausgesuchten Volksvertretern unterzeichnet, und harrt darauf, auch umgesetzt zu werden. Mit welchen „Schwierigkeiten“ dessen geistige Väter bei der Umkrempelung der Machtverhältnisse rechnen, lässt sich dem Grundgesetz selbst entnehmen. Die Verfassungsgeber schlagen sich mit dem Widerspruch herum, dass die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten im Lande mit der Ordnung, die es bekommen soll, gar nicht kompatibel sind. Das hat sie aber keineswegs entmutigt, sondern zu dem nach viel Gewalt rufenden Schluss gebracht: Dann muss die vorliegende Tradition passend gemacht werden und sich für den Umbau funktionalisieren lassen.

  • Fest steht, dass der Einfluss des Islam auf Moral und Recht beseitigt werden muss, andererseits ist er die feste Grundlage der Sittlichkeit in Afghanistan. Darum wird in den einschlägigen Artikeln der Verfassung dem Islam formell die Ehre erwiesen, im Staatsnamen steht „Islamische Republik“, zugleich aber klargestellt, dass er keinen Einfluss auf die Politik haben und der Verwestlichung der Moral nicht im Wege stehen darf. Damit keine Missverständnisse aufkommen, definiert die Verfassung ausdrücklich, dass die religiösen Vorschriften nicht Grundlage, sondern höchstens äußerste Schranke fürs künftige Rechtswesen sein dürfen: „Kein Gesetz darf den Glaubenssätzen des Islam widersprechen.“ Explizit vorgeschrieben sind die für diese Breiten revolutionären Freiheitsrechte: die „Gleichberechtigung anderer Glaubensrichtungen“ und die „Gleichberechtigung von Mann und Frau“.
  • Vorgesehen ist der Präsident als starke Zentralgewalt, die die Kontrolle im gesamten Land ausübt. Weil unter den gegebenen Machtverhältnissen diese verfassungsmäßige Stellung blanker Idealismus ist, wird seine Position „durch die Institution zweier Vizepräsidenten“, die anderen Ethnien als er entstammen müssen, gestärkt. Drei der wichtigsten Stammesführer sollen also – trotz ihrer Rivalität untereinander – ihre Hausmacht zusammentun, um sich den Rest unterzuordnen und die antagonistischen Gewaltverhältnisse in der Gesellschaft zu kontrollieren.
  • Weil die Verfassungsgeber Zweifel haben, dass in Afghanistan in absehbarer Zeit ein Parlament zustande kommt, in dem lauter prowestliche, sich für die gesamte Nation verantwortlich fühlende Politiker sitzen und konstruktiv Regierungs- oder Oppositionspolitik betreiben, erhalten die Parlamentarier minimale, der Präsident sehr weitgehende politische und gesetzgeberische Befugnisse. Die Grundgesetzverfasser setzen also darauf und sehen das als Aufgabe der künftigen Regierung vor, dafür zu sorgen, dass die Funktion des Parlaments, für die Loyalität aller politischen Kräfte gegenüber der Regierung zu sorgen, auch dann erfüllt wird, wenn die Abgeordneten, statt in die Machtausübung einbezogen, praktisch von ihr ausgeschlossen werden.

Aufgabe Nr. 2, die Durchführung freier Wahlen, setzt schon wegen der technischen Vorraussetzungen – Registrierung der Wähler, Einrichtung von Wahllokalen, Sicherheit vor Terroranschlägen bei der Stimmabgabe etc. – nach Ansicht der Aufsichtsmächte ein „Mindestmaß an Ordnung im Lande“ voraus, das erst noch hergestellt werden muss. Das heißt, die Gegner der Wahl, die in ihr die Verankerung des Führungsanspruchs der von außen installierten Regierung und ihre eigene Entmachtung erkennen, müssen zumindest in die Schranken gewiesen und neutralisiert werden. Für die weitgehende Erledigung der Aufständischen im Süden und die Brechung des Widerstands der Provinzfürsten veranschlagen die Kontrollmächte zunächst ein halbes Jahr, auf Antrag der Übergangsregierung wird die Frist später verlängert.

Die Ausschaltung sich widersetzender Kräfte mit militärischen Mitteln

An der Hauptfront im Lande, der Erledigung der Taliban und der Al Kaida, sind Amerikaner und Briten allein zuständig. Sie versuchen die militanten Islamisten zu jagen und auszurotten. Dabei ziehen sie die Clans, in deren Gebiete sich die Kämpfer zurückziehen, erheblich in Mitleidenschaft. Vielfach werden die Betroffenen deswegen zu Sympathisanten der Gejagten. Und wo die US-Armee nicht zwischen Terroristen, deren Helfern und gewöhnlichen Einheimischen unterscheiden kann, zerstört sie ganze Dörfer und eskaliert dadurch die Auseinandersetzungen. Das gewaltsame Vorgehen der Terroristenjäger zieht somit einen immer größeren Gewalteinsatz der Alliierten nach sich. Die Islamisten nutzen umgekehrt die wachsende Feindschaft gegen die Besatzer für ihre Gegenstrategie, sie tragen den Terror ins ganze Land, greifen die US-Streitkräfte, Vertreter der neuen Regierung, UN-(Wahl-)Helfer, die ausländischen militärischen „Aufbaukräfte“ und die privaten Hilfsorganisationen an, sorgen gezielt für Unsicherheit und Chaos.[5]

Die Kabuler Zentralregierung soll in den nördlichen Provinzen des Landes die regionalen Herrschaften unter Kontrolle nehmen und sukzessive ihr Gewaltmonopol durchsetzen. Dazu fehlen ihr allerdings die Mittel; insbesondere ist das Personal nicht aufzutreiben, das diese Aufgabe übernehmen könnte. Wenn die Regierung junge Männer rekrutieren will, kann sie weder auf einen afghanischen Patriotismus setzen – eher begegnet sie der Furcht, als Armeeangehöriger wegen Kollaboration mit Besatzern und Ungläubigen vom eigenen Clan verstoßen zu werden – noch kann sie mit den finanziellen Anreizen, die die Warlords ihrer Gefolgschaft bieten, konkurrieren. Deswegen kommt die Entwaffnung der regionalen Milizen nicht voran, und die gewaltsame Bekämpfung des Drogenanbaus wird gar nicht erst in Angriff genommen. Mit letzterem haben sich die Aufsichtsmächte bis zur Präsidentenwahl abgefunden und vorerst ihre für die Bekämpfung des Mohnanbaus vorgesehenen Gelder in die Unterbindung des Weitertransports des Opiums durch die Nachbarländer gesteckt.

Das gewaltsame Geschäft, das die USA und Großbritannien der Regierung in Kabul angetragen haben, dem diese aber nicht gewachsen ist, wollen die Alliierten keinesfalls selbst übernehmen. Ihre Truppen brauchen sie für wichtigere Aufgaben wie die Jagd auf Al Kaida und im Irak. Die Verbündeten, Frankreich, Deutschland, Spanien etc., haben ihre imperialistischen Konkurrenzgründe, warum sie nicht in die Bresche springen und das aufwändige und verlustreiche Geschäft auf sich nehmen, ein Gewaltmonopol gegen die aufmüpfigen Stammesführer per Entwaffnung aller regionalen Milizen durchzusetzen. Ihr Engagement richten sie nämlich nicht nach den Notwendigkeiten des von den USA in Gang gesetzten imperialistischen Projekts aus, sondern ausschließlich danach, ob und wie sie die eigene Stellung in der Konkurrenz der Weltordner verbessern können. Darum ist für sie ein Truppeneinsatz in Afghanistan erstens wichtig, zweitens aber genauso wichtig, auf der unbedingten Trennung ihrer Einsätze von den Operationen der USA zu bestehen. Die EU-Führungsnationen wollen nicht Subunternehmer der USA werden und weigern sich, Handlangerdienste innerhalb eines von Amerika diktierten Antiterror- bzw. Demokratisierungsprogramms zu verrichten. Ihren Soldaten erteilen sie darum den strikten Befehl, Kampfhandlungen tunlichst zu vermeiden und sich ausschließlich Aufgaben des Wiederaufbaus zu widmen.[6]

Die regionalen Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Teams, PRT) unter ISAF-Mandat, die bisher an fünf Orten tätig sind, sollen „die Stabilität von der Hauptstadt Kabul aus in die Provinzen exportieren“. Ohne die Gewaltfrage zu klären, soll die Autorität der Zentralregierung – quasi auf dem Schleichwege – hergestellt werden. Kleine, mobile Teams aus 100 bis 300 Soldaten sorgen in Kundus, Mazar-i-Scharif etc. für Sicherheit, d.h. sie schützen im wesentlichen die Arbeit von zivilen Wiederaufbauhelfern bzw. die Hilfslieferungen der NGOs. Dieses von den Nato-Verbündeten getragene Konzept versucht das Elend und die Perspektivlosigkeit der Bevölkerung auszunutzen: In ihrer trostlosen Lage müssten die Leute doch einsehen, dass sie um eine Zusammenarbeit mit der Zentralregierung nicht herumkommen. Denn ohne die gibt es keinerlei Unterstützung von außen, weder regelmäßige Lebensmittellieferungen noch die Herstellung rudimentärer hygienischer Bedingungen. Wegen ihrer Überlebensnöte sollen sich die Bewohner in den Regionen der neuen Herrschaft unterordnen und ihr zustimmen. Dass diese Erpressung aufgeht, dass sich auf diese Weise die Massen ihren lokalen Führern entfremden lassen und diese dann das Handtuch werfen, glauben die Veranstalter aber selbst nicht. Deswegen halten sie es inzwischen für notwendig, Militäraktionen gegen widerspenstige Warlords in ihre Planungen aufzunehmen. Einstimmig beschloss der Nato-Rat auf seiner letzten Tagung, seine Experten über eine Kombination von PRTs und Mobilen Einsatztruppen nachdenken zu lassen.[7]

Die Überwindung der Stammesgesellschaft per Wahl

Mit viermonatiger Verspätung findet die Präsidentenwahl statt, die Parlamentswahl, die ursprünglich gleichzeitig stattfinden soll, ist aufs Frühjahr 2005 verschoben. Die Aufsichtsmächte entscheiden sich für die Ansetzung der Wahl, auch wenn die Machtfrage nach wie vor ungeklärt ist und die politischen Kräfte im Lande keineswegs gewillt sind, eine Zentralgewalt über sich zu akzeptieren. Für sie ist es jedoch kein Hinderungsgrund, dass die wesentliche Voraussetzung von Wahlen in traditionellen Demokratien fehlt: der Konsens über die Notwendigkeit des Amtes, auf Basis dessen durch Wählervotum die Frage entschieden wird, wer es ausüben soll. Im Gegenteil, sie halten den Urnengang gerade deswegen, weil dieser Konsens in der afghanischen Gesellschaft nicht gegeben ist, für um so dringlicher: Durch die Wahl wollen sie die Autorität des Präsidenten stärken,[8] damit er bei der Durchsetzung seines Amtes gegen die Provinzfürsten vorankommt. Durch die mehrheitliche Zustimmung des Volkes zu seiner Person sollen dessen regionale Konkurrenten ins Unrecht gesetzt und der Beweis erbracht werden, dass die Menschen in Afghanistan die neue Herrschaft nicht als ausländisches Diktat betrachten, sondern als Ergebnis ihrer freien Willensentscheidung. Dafür brauchen und wollen die Regierungen in den USA und Europa sowie ihr Statthalter Karzai die Stimmen der Afghanen und feiern am 9.10. es als „großartigen Erfolg“ und „großen Schritt für die Demokratie“, dass die Wahl „im Großen und Ganzen geordnet und friedlich“ verlaufen und eine hohe Wahlbeteiligung zustande gekommen ist.

Die Umstände, unter denen, und die Methoden, mit denen der strahlende Wahlsieg des Präsidenten und damit seine Legitimierung durch das Volk erreicht wurden, zeigen freilich, dass die Wahl die Auseinandersetzung um die Macht im Land nicht aufgehoben, sondern ihr eine neue Verlaufsform gegeben hat, dass die persönlichen Abhängigkeiten durch die Wahl nicht überwunden, sondern für das gewünschte Ergebnis funktionalisiert worden sind.

  • Die Wahl ist eine UN-Aktion, finanziell – mit 200 Mio. $ – und personell von der internationalen Gemeinschaft getragen. Damit sie wunschgemäß verläuft, werden Tausende zusätzliche ausländische Soldaten abkommandiert, die neben den 35.000 afghanischen Soldaten und Polizisten dafür sorgen, dass Wahlhelfer, Wahllokale, Kandidaten und Wähler vor Angriffen geschützt sind und der Widerstand gegen die Wahl in allen Teilen des Landes eingeschüchtert bzw. im Keim erstickt wird.
  • Das Ergebnis der Wahl steht vorher schon fest, Karzai muss sich dafür die Zustimmung hinreichend vieler Machtkonkurrenten besorgen. Einerseits versucht er es mit Einschüchterung: ohne Arrangement mit ihm, der den Rückhalt der ausländischen Truppen hat, würden sie ihre Machtposition verlieren,[9] andererseits mit Bestechung, indem er ihnen Kabinettsposten in der künftigen Regierung verspricht. Er macht ihnen also die eigentümliche Rechnung auf: Die Unterstützung seiner Person bei der Präsidentenwahl sei ihr einziges Mittel, etwas für ihre Stellung als lokale Potentaten zu tun.
  • Dafür sollen die Clanchefs ihren Einfluss auf ihre Klientel geltend machen und sie zur Wahl des richtigen Kandidaten veranlassen.[10] Durch die Ausnutzung der persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse der Leute von ihren Stammesführern will Karzai erreichen, dass sie mit ihrer Stimme die Autorität der Zentralgewalt stärken und eine bessere Voraussetzung für die Schwächung der lokalen Machthaber schaffen. Dass die Leute sich nicht in der Wahl als afghanisches Volk verstehen, das sich freiwillig seiner Regierung in Kabul unterwerfen will, weil es sie für das eigene Fortkommen notwendig erachtet, weiß er also genau. Das hindert ihn aber nicht, das Gegenteil als Ergebnis der Wahl für sich zu reklamieren: Weil das Volk ihn in einer „freien und fairen“ Wahl gewählt habe, sei er der einzig legitime Machthaber und Souverän.
  • Seine fünfzehn Gegenkandidaten hat der paschtunische Edelmann in der Präsidentschaftswahl zwar besiegt, weil er seine eigene Volksgruppe zu 90 Prozent hinter sich gebracht hat, ihre Unterwerfung unter sein Amt aber damit längst nicht erreicht. Noch während der Wahl proben diese den Aufstand und rufen zum Boykott der Stimmabgabe auf. Anlass sind diverse Unregelmäßigkeiten bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahl – insbesondere Mehrfachregistrierungen in den Wählerverzeichnissen und die Benutzung einer abwaschbaren Tinte zur Kennzeichnung der Daumen der Wähler, die ihre Stimme abgegebenen haben. Nur die Intervention und der politische Druck der ausländischen Patrone der Wahl, der Vertreter der OSZE und des US-Botschafters Zalmay Khalilzad,[11] verhindern die Anfechtung der Rechtmäßigkeit des Urnengangs. Gleichzeitig bekunden die Unterlegenen aber, dass sie „Karzais Präsidentschaft“ nach wie vor „nicht für legitim“ halten.

So sehr die Regierungen der Aufsichtsmächte das Wahlergebnis als „bedeutenden Meilenstein in der Geschichte Afghanistans“ (Straw) hochjubeln, so sehr wissen sie um die Begrenztheit ihres Erfolges. Deswegen setzen sie umgehend die bisher aufgeschobenen, entscheidenden Gewaltfragen auf die Tagesordnung. Der frischgewählte Präsident soll nun das errungene Amt gegen die Widerstände im Lande durchsetzen. Bis zu den Parlamentswahlen im Frühjahr soll die nächste Etappe der Demokratisierung erledigt sein. Bis dahin soll Karzai die Warlords zur Kapitulation bewegen. Sie sollen sich dem Gewaltmonopol seiner Regierung unterstellen, ihre Milizen entwaffnen lassen, ihre ökonomische Basis, das Drogengeschäft, aufgeben und sich dann als einfache Bürger um das Mandat von Parlamentariern bemühen, die konstruktiv die Regierungsgeschäfte mittragen. Dieser Herausforderung seines Amtes will sich der neue Präsident stellen und schickt, kaum ist seine Wahl offiziell bestätigt, eine Kriegserklärung als Grußadresse an seine Machtrivalen:

„Präsident Hamid Karzai versprach eine ‚repräsentative‘ Regierung zusammenzustellen. Aber er sagte, dass er sich nicht verpflichtet fühle, seinen geschlagenen Rivalen Spitzenpositionen im Kabinett anzubieten, und er schwor, dass Drogendealer und Milizenführer im neuen Afghanistan keine Rolle spielen werden.“ (Washington Post 5.11.)

Der Aufbau einer (Opium-)freien bürgerlichen Gesellschaft

Auf seine Art ist Afghanistan in das System der Privatwirtschaft und den globalen Markt durchaus integriert. Erstens beliefert es die Drogenmärkte in Europa und den USA mit Opium; die Einnahmen aus diesem Geschäft belaufen sich auf 2,3 Mrd. $ im Jahr, das „entspricht mehr als der Hälfte des afghanischen BSP“ (WP, 7.10). Zweitens ist es seit Jahren Empfänger von privater und staatlicher ausländischer Hilfe. Diese Sorte Integration hat die US-Regierung allerdings nicht im Sinn, wenn sie in ihrem Demokratisierungsprogramm für den „Broader Middle East“ von der „Schaffung freier Märkte“ und von „mehr Wohlstand für die Bevölkerung“ redet. An der afghanischen Ökonomie bereichern sich ihrer Ansicht nach nämlich die Falschen – in Afghanistan die Warlords, im Ausland die Drogendealer. Große Teile der Bevölkerung ernähren sich von Einkünften aus der Schattenwirtschaft, laut Weltbank macht diese „80 bis 90% der afghanischen Wirtschaft“ aus. Allein 1,7 Mio. Bauern leben vom Mohnanbau, -zig Tausende direkt oder indirekt vom Drogenhandel. Schließlich leben große Teile der 24 Mio.-Bevölkerung von Hilfslieferungen, anstatt wie in einer freien Marktwirtschaft Usus – selber für ihr Auskommen zu sorgen. Wegen dieser unerträglichen Missstände verordnet die US-Regierung Afghanistan ein „wirtschaftliches Entwicklungsprogramm“, das auf die Eliminierung praktisch der gesamten vorhandenen Ökonomie zielt. Was sie an ihre Stelle setzt, ist blanker Zynismus:

  • Die Mohn-Bauern sollen statt des verbotenen Produkts Weizen oder Kümmel anbauen. Abgesehen davon, dass es weder lokale Märkte noch ein ausreichendes Bewässerungssystem, noch Kredite gibt, mit denen sie die Umstellung finanzieren könnten, kämen sie angesichts der Weltmarktpreise für diese Produkte bei der im Lande vorherrschenden Produktivität nicht im entferntesten auf ein Einkommen, von dem sie leben könnten.[12]
  • Alle paar Monate werden Geberkonferenzen einberufen, auf denen „Aufbauhilfen“ für das Land beschlossen werden.[13] Ein Teil dieser Gelder wird in die „Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen“ gesteckt. Darunter fallen einerseits Projekte wie der Bau einer 500 km langen Autobahn von Kabul nach Kandahar und weitere Verbesserungen des Verkehrsnetzes, der Ausbau von Flughäfen sowie die Instandsetzung der Strom- und Wasserversorgung. Als Maßnahme, um eine moderne Marktwirtschaft in Gang zu bringen, ist das alles ein schlechter Witz: In Afghanistan fehlt es nicht an Mobilitätshilfen für investitionsfreudige Kapitalisten; es mangelt genau genommen noch nicht einmal an Kapital, das sich über die Ressourcen des Landes – und wenn es bloß Arbeitskraft zum Beinahe-Nulltarif wäre – hermachen würde: Auf den Weltmärkten für Waren und Investitionsgelegenheiten hat Afghanistan, an den heutzutage dort herrschenden Maßstäben gemessen, überhaupt nichts zu bieten – außer verbotenen Rauschmitteln und einem weiten Einsatzgebiet für die internationale Almosen-Industrie.[14]
  • Sinn macht der Bau einer Autobahn zur Hauptstadt und die Ausstattung der Flughäfen des Landes mit Jumbo-tauglichen Landebahnen allerdings unter strategischen Gesichtspunkten. Eine funktionierende Infrastruktur dieser Art ist unabdingbare Voraussetzung für die militärische Kontrolle des Landes wie auch für seine Nutzung als Stützpunkt der amerikanischen Streitkräfte für kriegerische Operationen in der Region. Im Hinblick auf die Funktion, die das Land nach dem strategischen Kalkül der USA erfüllen soll, ist es ebenfalls sehr sachgerecht, dass der größte Teil der Hilfsgelder der Geberländer in die Sicherung der Herrschaft der Zentralregierung, insbesondere den Aufbau eigener Sicherheitskräfte, fließt.
  • Unter demselben Gesichtspunkt macht es übrigens auch Sinn, wenn der US-Präsident in seinen Berichten über die glanzvollen Fortschritte von Freiheit und Demokratie in Afghanistan neben der Präsidentenwahl immer wieder dieselben zwei Zahlen hervorhebt, dass „inzwischen 5 Mio. Kinder zur Schule gehen, davon 40% Mädchen“. So wenig ihn die materiellen Verhältnisse der Leute kümmern, so sehr ist er an ihrem moralischen Fortschritt interessiert. Und hier sieht er einen Durchbruch: Die strengen Islamisten haben nicht mehr das Sagen, der Staat hat die moralische Unterweisung seiner Jugend in die eigenen Hände genommen. So könnte sich Afghanistan nach Einschätzung des amerikanischen Botschafters Zalmay Khalilzad binnen zehn Jahren zu einer stabilen Demokratie entwickeln (FAZ, 18.10.): Dann dürfte die junge Generation ihre Lektion gelernt haben. Und was brauchen Afghanen schon sonst noch, um sich einer freiheitlichen Obrigkeit unterzuordnen, als ein bisschen richtige Indoktrination!

[1] Vgl. dazu: „Freie Wahlen für Afghanistan“ in GegenStandpunkt 2-04, S.58, darin S.69

[2] Bush nach der Wahl Karzais, NZZ, 10.10.

[3] Ironischerweise nimmt die Opium-Produktion nach Beseitigung der Taliban-Herrschaft einen immensen Aufschwung. Unter den Taliban wurde der Mohnanbau streng bestraft und war dadurch sehr eingeschränkt. Inzwischen ist Afghanistan mit einem Anteil von 75% der Gesamtproduktion der größte Opiumhersteller der Welt; derzeit werden im Land 100.000 Hektar für Mohnanbau genutzt.

[4] Er projiziert dieses Image nicht zuletzt durch seine Kleidung, die ein internationales Markenzeichen geworden ist: paschtunisches Hemd und Hose, ein usbekischer Umhang und eine tadschikische Lammfellmütze. (NZZ, 8.10.)

[5] Die Taliban, versprengte Kaida-Verbände und die Gruppe um Gulbuddin Hekmatyar haben seit Jahresfrist über 600 Personen umgebracht, unter ihnen zahlreiche Wahlhelfer.

[6] Zu einer Verwischung zwischen dem Stabilisierungsauftrag der Isaf und dem Kampfauftrag der Operation ‚Enduring Freedom‘ wird es schon wegen des Einspruchs von Deutschland und anderer Mitgliedstaaten nicht kommen. Die Verteidigungsminister Deutschlands und Frankreichs, Struck und Alliot-Marie, lehnten sowohl eine ‚Fusion‘ zwischen beiden Mandaten als auch ein gemeinsames Kommando über beide Operationen als unlogisch und kontraproduktiv ab (FAZ, 14.10.)

[7] Dennoch erteilten die Minister Nato-Generalsekretär de Hoop Scheffer den Auftrag, bis zum kommenden Februar ‚formale Optionen‘ für integrierende Maßnahmen auszuarbeiten. (ebenda)

[8] Am 9. Oktober gehe es nicht so sehr um die ‚Ausübung einer demokratischen Wahlentscheidung‘, sondern vor allem um eine ‚Stärkung der Legitimität und Autorität der Zentralregierung‘. (Jean Arnaud, der Afghanistan-Beauftragte des UN-Generalsekretärs, FAZ, 4.10.)

[9] Im Sommer 2004 zwingt Karzai Ismail Khan, den mächtigen Gouverneur der westlichen Provinz Herat, zum Rücktritt, womit er auch anderen Kriegsherren das Signal sendet, daß ihre Selbstherrlichkeit nicht länger ignoriert werde. (FAZ 11.10.)

[10] Die Anführer eines Stammes in der südlichen Provinz Khost drohten, die Häuser derjenigen niederzubrennen, die nicht für Präsident Hamid Karzai stimmen. (Washington Post 4.10.)

[11] Ein westlicher Regierungsbeamter sagte, dass Khalilzad sich u.a. mit (dem wichtigsten Gegenkandidaten) Kanuni getroffen und ihn eindringlich darauf hingewiesen hätte, dass er seiner politischen Karriere am besten dadurch diene, dass er sich nicht dem Willen der Afghanen in den Weg stelle, die – erfreulicher Weise – ungewöhnlich zahlreich abgestimmt hätten. (NYT 11.10.)

[12] Eine Familie erzielt aus dem Opiumanbau ein durchschnittliches Einkommen von 3900 US $ … für ein Kilo Opium müsste ein Bauer 3500 Kilo Weizen anbauen, um die gleichen Einnahmen zu erzielen. (Fischer Weltalmanach 2005)

[13] Auf der Geberkonferenz (31.3.–1.4.2004) in Berlin stellten die 56 Teilnehmerstaaten Hilfsleistungen zum Wiederaufbau Afghanistans in einer Gesamthöhe von 4,4 Mrd. $ für 2004 und zusätzlich 8,2 Mrd $ für die Jahre 2004 – 2006 in Aussicht. Die Aufwendungen für ISAF sind in den Summen nicht enthalten. Die afghanische Regierung hatte einen Betrag von 27,5 Mrd. $ für sieben Jahre gefordert.

[14] Als Paradebeispiel für aufkommende einheimische Wirtschaftskraft führt bezeichnender Weise die ARD das Beispiel eines reichen Auslands-Afghanen an, der mitten in die Trümmer von Kabul ein Luxus-Hotel baut und auf ausländische Gäste spekuliert, die es berufsmäßig als Politiker oder Militärs nach Afghanistan verschlägt.