Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst:
Die Gewerkschaft entwickelt zielstrebig die Erfolgskriterien ihrer Tarifpolitik weiter

Die Gewerkschaft hält die Verhinderung von Lohnsenkung für einen Erfolg; die Kompensation der zwischen den Tarifabschlüssen andauernd stattfindenden Verschlechterungen für ihre Mitglieder hat sie gar nicht mehr im Sinn.

Aus der Zeitschrift

Tarifabschluß im Öffentlichen Dienst:
Die Gewerkschaft entwickelt zielstrebig die Erfolgskriterien ihrer Tarifpolitik weiter

Die Sitzungen dauern wieder einmal bis in die Nacht; Streikdrohungen stehen im Raum; Arbeiter „machen Dampf“ und lassen vereinzelt Busse und Straßenbahnen stehen; die beiden Vermittler – paritätisch aus CDU und SPD – legen sich ins Zeug und reiben sich auf. Dann ist das Ergebnis da: ein neuer Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst. Und die gewerkschaftliche Tarifpolitik bringt wieder einen kleinen Fortschritt hinter sich.

Denn einerseits ist so gut wie nichts herausgeholt worden; da macht die ÖTV sich und ihren Mitgliedern gar nichts vor:

  • Angleichung Ost: äußerst mager – die Bemessungsgrundlage für Löhne und Gehälter in Deutschlands Ostzone wird von 85% auf 86,5% des Westniveaus angehoben;
  • bittere Pille bei der VBL ab 1999 für Kolleginnen und Kollegen im Westen – die Hälfte der Beitragslast zu dieser Zusatz-Rentenkasse für den Öffentlichen Dienst wird auf die Beschäftigten abgewälzt;
  • Beschäftigungssicherung enttäuschend – die Arbeitgeber erklären unverbindlich, die Zahl der Ausbildungsplätze in diesem Jahr nicht zu verringern;
  • und die 1,5% mehr Lohn gleichen kaum die offizielle Preissteigerungsrate aus.

Dennoch: ein Erfolg ist das Ergebnis andererseits schon. Denn:

„Schlichtung entschärft das unverschämte Arbeitgeber‚angebot‘. Verluste von fast 6% abgewehrt – Lohnfortzahlung im Krankheitsfall voll gesichert.“

Unter http://www.oetv… usw. erfährt man im einzelnen, mit welchen Forderungen diesmal die Arbeitgeber in die Tarifrunde hineingegangen sind: Absenkung von Urlaubsvergütung und Weihnachtsgeld um die Beträge, die beim normalen Monatslohn als „Zuschläge“ verbucht werden; überhaupt bloß 1% mehr Geld; Minderung des Weihnachtsgelds im Krankheitsfall; Wegfall diverser Überstundenzuschläge und anderes mehr. Das meiste davon wird im Schlichterspruch nicht berücksichtigt; das ergibt nach Gewerkschaftsrechnung satte 6% nicht zustandegekommener Lohnsenkung. Demgegenüber hat die ÖTV von den 4,5%, auf die sie ihr sehr kompliziert zusammengesetztes Gesamt-„Forderungsvolumen“ hochrechnet, immerhin 1,5% an nomineller Lohnerhöhung durchgebracht – wenn man von verschiedenen Verschlechterungen einmal absieht; und das sogar ohne Streik: Kein glanzvoller Sieg, aber doch ein gewerkschaftlicher Erfolg!

Mit solchen Erfolgsmeldungen tilgt die Gewerkschaft die Erinnerung – vor allem wohl ihre eigene – an das Bedürfnis, aus dem ihre Tarifrunden einmal entstanden sind. Schließlich finden ganz ohne neue Tarifvereinbarungen laufend Verschiebungen im Verhältnis von Arbeitsleistung und Entgelt statt, und zwar zu Lasten der Arbeitnehmer: Auf der einen Seite verliert die verdiente Summe beständig an Wert; auf der anderen Seite wirkt sich das unablässige Bemühen der Arbeitgeber um Effektivierung der Arbeit, flexiblen Arbeitskräfteeinsatz, „Leistungsverdichtung“ usw. aus. Periodische Korrekturen sind nötig, wenn die Betroffenen wenigstens nicht immer schlechter dastehen wollen. Aus dieser Notwendigkeit haben die bundesdeutschen Gewerkschaften ihr „Ritual“ jährlicher Kompensationsforderungen mit neuen Vertragsabschlüssen verfertigt.

Um solche Korrekturen geht es mittlerweile schon gar nicht mehr. Die jährlichen Tarifrunden sind heute Gelegenheiten für die Arbeitgeber, ihrerseits Forderungen nach billigerer Arbeit und größeren Zugriffsrechten auf ihre Arbeitskräfte aufzustellen und darüber Verträge abzuschließen – noch zusätzlich zu allen Verbesserungen, die sie sich mit ihrer Freiheit zu Preiserhöhungen und zur sachgerechten „Arbeitsplatzgestaltung“ nach wie vor herauszuholen verstehen. Und dabei zieht die Gewerkschaft mit. Sie richtet ihren Widerstand gegen diese zusätzlichen „unverschämten Arbeitgeber‚angebote‘“, die sie vor lauter Empörung nur in Gänsefüßchen zitiert, und kämpft – darum, daß nicht alles und nicht gleich so läuft wie von den Arbeitgebern verlangt. Darüber schließt sie dann neue Tarifverträge ab. So bekommen die jährlichen Tarifauseinandersetzungen nach und nach ihren zeitgemäßen Inhalt: Sie kodifizieren nicht mehr bloß den jeweils erreichten Stand der branchenüblichen Ausbeutung der Arbeit durch diejenigen, sie sie „geben“; sie bieten vielmehr Raum für Korrekturen am Lohn-Leistungs-Verhältnis im Arbeitgebersinn.

Kommunisten haben noch nie etwas von den großartigen tarifpolitischen Verhandlungspositionen gehalten, die die Gewerkschaften seit Jahrzehnten aufbauen, durchkämpfen, verteidigen, retten usw. Jetzt geben die Gewerkschaften selbst diesem Urteil praktisch recht: Sie räumen sang- und klanglos ihre alten Positionen und finden gar nichts weiter dabei…