Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Sternstunden der Freiheit bei den Wahlen in Afghanistan:
Was nicht passt, wird passend gemacht!
Mitten im Krieg und während über eine massive Erhöhung der Truppenstärke in Afghanistan nachgedacht wird, werden die Afghanen zur Wahl eines neuen Präsidenten gebeten. Ein Kenner des Landes gelangt da zu folgendem Urteil:
„Wenn die Leute die Kandidaten tatsächlich unterscheiden wollen, müssen sie auf deren Gesichtszüge schauen – die geben Auskunft über Stammeszugehörigkeit, Religion und geographische Herkunft der Bewerber ... keine politischen Parteien ... Kräfte, die ... durch Gewalt und die Einflößung von Furcht an Wählerstimmen (zu gelangen versuchen) ... Die Menschen betrachten die Wahl lediglich als den legalen Weg, sie unter die Kontrolle von Warlords und der Drogenmafia zu bringen ... eine Show um eine bereits ernannte Figur zu legitimieren ... Drehbuch von den USA geschrieben, und der Sieger ist bereits ernannt. Diese Wahlen werden kurzfristig für die Demokratie in Afghanistan nichts bedeuten. Aber sie können die Menschen mit einem demokratischen System vertraut machen – langfristig werden sie es vielleicht einmal auf die richtige Art anwenden.“ (Sayed Yaqub Ibrahimi, „Demokratie als Theater“, SZ, 22.7.09)
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Sternstunden der Freiheit bei den
Wahlen in Afghanistan:
Was nicht passt, wird passend
gemacht!
I.
Mitten im Krieg und während über eine massive Erhöhung der Truppenstärke in Afghanistan nachgedacht wird, werden die Afghanen zur Wahl eines neuen Präsidenten gebeten. Ein Kenner des Landes gelangt da zu folgendem Urteil:
„Wenn die Leute die Kandidaten tatsächlich unterscheiden wollen, müssen sie auf deren Gesichtszüge schauen – die geben Auskunft über Stammeszugehörigkeit, Religion und geographische Herkunft der Bewerber ... keine politischen Parteien ... Kräfte, die ... durch Gewalt und die Einflößung von Furcht an Wählerstimmen (zu gelangen versuchen) ... Die Menschen betrachten die Wahl lediglich als den legalen Weg, sie unter die Kontrolle von Warlords und der Drogenmafia zu bringen ... eine Show um eine bereits ernannte Figur zu legitimieren ... Drehbuch von den USA geschrieben, und der Sieger ist bereits ernannt. Diese Wahlen werden kurzfristig für die Demokratie in Afghanistan nichts bedeuten. Aber sie können die Menschen mit einem demokratischen System vertraut machen – langfristig werden sie es vielleicht einmal auf die richtige Art anwenden.“ (Sayed Yaqub Ibrahimi, „Demokratie als Theater“, SZ, 22.7.09)
So wird mit der Dialektik von kurz- und langfristig
Demokratie als Volkserziehungsprogramm für spätere,
bessere Zeiten verkauft; verbunden mit dem Eingeständnis
des Fachmanns, dass er an die Demokratie als Hebel zur
Herstellung einer afghanischen Nation nicht mehr so recht
glaubt. Offen breitet er aus, dass die Afghanen die
Wahlen weder bestellt noch irgendein positives Interesse
daran haben, ihnen im übrigen nicht einmal so etwas wie
eine Auswahl geboten wird – nur um am Ende doch wieder
dabei zu landen, dass die Wahlveranstaltung
vielleicht
in ferner Zukunft für sie und das ganze
Land durchaus ein Segen sein könnte... Dabei ist der
ausführlichen Erörterung der Schwierigkeiten
, die
es macht, in Afghanistan Wahlen nach westlichen Maßstäben
durchzuführen, und ähnlich lautenden Expertisen ganz
anderes zu entnehmen: Dort sind Wahlen nicht schwierig,
sondern in Anbetracht der Lage des Landes hochgradig
absurd. Der Westen lässt in einer Situation wählen, in
der die in den westlichen Demokratien so beliebte
Veranstaltung zur friedlichen Klärung der Machtfrage
selber eine Gewaltfrage und ohne ein massives Aufgebot
von zusätzlichen Sicherheitskräften nicht zu haben ist.
Alles, was es in diesem Chaos an Elementen halbwegs
geordneter gesellschaftlicher Verhältnisse und
konsolidierter Herrschaft gibt, sind genau die feudalen
Clan-Strukturen mitsamt Loya Dschirga, die den
demokratischen Verfahrensweisen entgegenstehen, die da
zur Anwendung gebracht werden sollen. Nach acht Jahren
alliierter Kriegführung im Dienste des ‚demokratischen
Aufbaus der afghanischen Nation‘ gibt es dort weder
Aufbau noch Demokratie und in der Nation lauter offene
Gewaltfragen. Die Taliban sind wohl das größte, bei
weitem aber nicht das einzige Hindernis, das der
Errichtung eines flächendeckenden Gewaltmonopols über das
Land entgegensteht. Ein Sieg über sie ist jedenfalls in
weite Ferne gerückt. Die ökonomischen Einkommensquellen
sind zerstört oder prekär. Abgesehen vom Drogengeschäft
gibt es nichts, wovon eine afghanische Herrschaft sich
finanzieren könnte, weshalb sie militärisch und
finanziell von Mitteln des Auslands lebt. Das verleiht
dem Herrschaftswillen der Karsais, Abdullahs und
sonstiger Führungsfiguren der afghanischen Gesellschaft
seinen speziellen Inhalt: Alle wollen dasselbe, nämlich
die Geld- und Machtmittel und die machtvolle
Unterstützung des westlichen Auslands, auf die vor allen
anderen derjenige Zugriff hat, der das Präsidentenamt
erobert. Es gibt keine afghanische Staatsräson getrennt
von der persönlichen Verfügung über die mit dem Amt
verbundenen Mittel – um die allein dreht sich
die erbitterte Konkurrenz der Chefs der diversen
Volksgruppen und Clans. Diese ergänzen sie bisweilen um
eine Kooperation, bei der sie im Tausch gegen Ämter in
der künftigen Regierung die Stimmen ihrer abhängigen
Klientel anbieten. Wechselseitig werfen sich die
Mitglieder dieser herrschaftlichen Elite Korruption und
Beteiligung am Drogenhandel vor, und es findet sich
niemand, der dem ernsthaft widerspricht. Klar, dass
Wahlen unter solchen Bedingungen eine aberwitzige
Veranstaltung sind, und dennoch: Mitten in Krieg und
Bürgerkrieg und angesichts angedrohter Verstümmelungen
und Attentate sollen die Afghanen nach 2004 unbedingt zum
zweiten Mal in der Geschichte des Landes zum Wählen
gehen. Warum und wofür eigentlich?
II.
Wahlen sind immer ein Machtbeweis derjenigen, die sie
ansetzen, in diesem Falle also der Kriegskoalition unter
Führung der USA. Die Regierung Bush hatte seinerzeit im
Rahmen des Antiterrorkriegs die gewaltsame Vertreibung
der Taliban-Regierung mit der Herstellung ‚demokratischer
Verhältnisse in Afghanistan‘ verknüpft. Im Vertreter der
paschtunischen Mehrheit und CIA-Freund Karsai hat man den
passenden Kandidaten für dieses Programm gesehen, ihn zum
Präsidenten gemacht und später vom afghanischen Volk in
vollkommen freien, fairen und ohne großes Aufsehen
gefälschten Wahlen in seinem Amt bestätigen lassen. Das
alles mit dem Ziel, auf diese Art den kriegerischen
Bemühungen der alliierten Truppen eine machtvolle zivile
Instanz zur Seite zu stellen, die den US-Truppen und
ihren Verbündeten perspektivisch das Geschäft der
Friedensstiftung mit möglichst immer weniger Waffen
erleichtern sollte. Dieser Plan ist nicht aufgegangen,
die Friedensstiftung
dauert ohne nennenswerte
Fortschritte und ohne absehbares Ende mittlerweile acht
Jahre, und mit der turnusgemäß anstehenden Neuwahl des
Präsidenten steht auch noch eine Eskalation des
Kriegsgeschehens ins Haus: Zwei Tage vor der
Abstimmung wollen die Taliban die Afghanen mit aller
Macht von den Wahlurnen fernhalten ... Der Kommandeur der
Internationalen Afghanistan-Truppen, US-General Stanley
Mc Crystal, sagte, dass die Aufständischen so stark wie
nie seit ihrem Sturz 2001 seien.
(SZ, 18.8.)
Die Wahl deswegen aber zu vertagen oder gar ganz auf sie zu verzichten – das kommt für die Mächte der westlichen Allianz keinesfalls in Frage. Mitten im Krieg auf die Durchführung des demokratischen Procedere zu bestehen und es gegen alle Drohungen der Taliban durchzusetzen: Diesen Machtbeweis gegen seinen Feind ist der Westen sich schuldig – und das ist der erste Grund, weswegen die Afghanen ihren Präsidenten neu zu wählen haben.
Zweitens hängt an einem demokratisch-formvollendet
ermächtigten Präsidenten Afghanistans die Legitimität
des Krieges, den der Westen im Land führt. Offiziell
völkerrechtlich von der UNO mandatiert worden ist die
NATO ja nicht zur Besetzung des Landes und zum Krieg
gegen die Islamisten mit dem schwarzen
Taliban-Turban
(SZ
17.9.09), sondern dazu, einer gewählten
afghanischen Regierung bei der Herstellung und
Aufrechterhaltung eines sicheren Umfelds
für ihr
souveränes Wirken zur Seite zu stehen, zuerst in der
Hauptstadt Kabul, dann auch im Rest des Landes. Wie
fiktiv auch immer der Sache nach: Diese völkerrechtliche
Rechtslage, die sich die westlichen Partner der
Kriegskoalition selbst in und vermittels der UNO besorgt
haben, legitimiert die gewaltsame Herstellung des
Friedens, den ein demokratisch ermächtigter Amtsinhaber
zum Regieren seines Landes nun einmal braucht. Und sie
ist die maßgebliche und bleibende
Rechtsgrundlage für alle Nationen, die mit ihren Truppen
die Taliban auszuschalten versuchen. Unter Berufung auf
diesen völkerrechtlichen Titel planen sie nicht nur ihr
gemeinsames Vorgehen. Über die Auslegung
ihres
Mandats wickeln sie auch alle diplomatischen Streitfragen
ab, die in einer Allianz konkurrierender
Weltordnungsmächte unweigerlich aufkommen; und in manchen
dieser Nationen tut das Völkerrecht auch noch zusätzlich
unverzichtbare Dienste dafür, den kriegerischen Einstieg
in die imperialistische Konkurrenz der eigenen
Bevölkerung als einen vom Recht der Völkergemeinschaft
geforderten Dienst am Guten in der Welt zu verkaufen: Als
vor allem zivile
, grundsätzlich humanitäre
– und nur äußersten Falles kriegsähnliche
–
Hilfe zum Wiederaufbau
eines arg geplagten Landes.
Drittens schließlich bleibt es für die westlichen Mächte und ihre Berechnungen auch dann noch wichtig, dass es einen gewählten und darüber vom afghanischen Volk legitimierten Präsidenten gibt, wenn sie selbst sich schon längst von ihren Illusionen in Sachen ‚Aufbau einer neuen Demokratie in Afghanistan‘ verabschiedet haben. Der Generalsekretär der NATO drückt das so aus:
„Wir brauchen auch eine Sicherheit, dass wir eine stabile Regierung haben, mit der wir zusammenarbeiten können und die von der Bevölkerung als glaubwürdig akzeptiert wird“ (Anders Fogh Rasmussen, SZ, 20.10.),
und der deutsche Regierungssprecher gibt auf die Frage, was es denn bedeute, dass die Präsidentenwahl in Afghanistan unbedingt nach Recht und Gesetz stattfinden müsse, folgende Antwort:
„Das bedeutet, dass das, was jetzt stattfindet, ein afghanischer Prozess ist...dass schließlich eine Regierung im Amt ist, die rechtsstaatlich und demokratisch legitimiert ist, und dass dies das Ergebnis dieses Prozesses sein solle. Angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen Afghanistan, aber auch die internationale Gemeinschaft mit Blick auf die Bewältigung ihrer Aufgaben in Afghanistan stehen, braucht die zukünftige Regierung die Unterstützung und das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung.“ (Regierungonline, Regierungspressekonferenz, 2.11.)
Mag in Anbetracht der Lage vor Ort der Wunsch nach einer
stabilen und vom Vertrauen der afghanischen Bevölkerung
getragenen Regierung, der sich da in beiden
Stellungnahmen äußert, auch noch so weltfremd klingen:
Was diese Sprecher der westlichen Mission am Hindukusch
unbedingt brauchen
, ist eben eine herrschaftliche
Figur, die Afghanistan repräsentiert. Also
machen sie sich über die desillusionierende Lage im Land
einerseits nichts vor – halten andererseits unbedingt an
allen schönen Vorstellungen fest, wie sich für ihr
Interesse alles zum Besseren wenden könnte. Sie wollen
einen Typen, der stellvertretend für sein ganzes Volk als
inländischer Ansprechpartner der Domain
Afghanistan zur Verfügung steht; einen organisatorisch
Verantwortlichen für alles, was die westliche Allianz in
Bezug auf Stabilität und innere Ordnung im Land
durchgesetzt haben will, auf dessen Kommando die
einheimischen Ordnungskräfte ebenso hören wie die
Bürokraten des Machtapparates, die das zivile und
ökonomische Leben nach und nach in den Griff nehmen
sollen. Zur Bestellung des passenden Funktionärs für all
diese Aufgaben haben die Afghanen ihr Wahlkreuz
abzuliefern, wobei das westliche Interesse ihnen auch
unmissverständlich nahelegt, wen sie da als
ihren Favoriten zu küren haben: Von der Wiederwahl
des bisherigen Machthabers verspricht sich der
Westen offenbar am meisten den stabilisierenden
Effekt
, auf den er hofft: Die
Neu-Inthronisierung der amtierenden Bezugsperson
mitsamt ihren Kompetenzen, der auf sie hinorientierte
Machtapparat und alle fein gesponnenen Netze, mit denen
rivalisierende Clans ruhig gestellt werden könnten – das
wäre für die Allianz der Freiheit schon ein Schritt
vorwärts zur Verfestigung von so etwas wie einer
Führungszentrale
im Land. Die soll auf
jeden Fall geschaffen werden – auch wenn gleichzeitig die
zur Befriedung
der Verhältnisse in den Provinzen
angestrengten Bemühungen des Westens, im Wege von
Separatverhandlungen mit den dortigen Warlords und
regionalen Würdenträgern ins Geschäft zu kommen, dem
souveränen Wirken der Zentrale in Kabul manchmal nicht
eben zuträglich sind...
III.
Damit die Wahl ihren Sinn und Zweck erfüllt, bedarf es
der eingangs erwähnten speziellen Vorkehrungen. Fast
300 000 einheimische und internationale
Sicherheitskräfte
(SZ,
21.8.09) mobilisiert die westliche Kriegsallianz
als Abschreckungsmacht, damit sich die Afghanen durch
Drohungen der Taliban nicht von den Wahlurnen abhalten
lassen
. Damit vor wie nach Abgabe ihrer Stimmen auch
wirklich alles gemäß den Standards der zivilisierten
Demokratien vonstatten gehe, hat man massenweise
Wahlbeobachter der EU und der UN dazu eingeladen, sich
von der Korrektheit
der Wahlvorbereitungen, der
Wahl selber und der Stimmenauszählung ein objektives Bild
zu verschaffen. Als Zusatzwaffe zur Bekämpfung des
Misstrauens, das man diesbezüglich hegt, wird eine
unabhängige afghanische Wahlkommission
eingerichtet. Die soll in letzter Instanz die Gültigkeit
der Wahl für die Afghanen selbst verbürgen, während
daneben die „Weltgemeinschaft“ zum selben Zweck auch noch
eine eigene Beschwerdekommission ins Leben ruft. Der
Aufwand, der für den Erfolg der Wahl betrieben wird, ist
also beträchtlich – und siehe da: Die Wahl findet
tatsächlich statt, was übereinstimmend als großer
Erfolg
verbucht wird. Blöd daran ist nur, dass sich
alles andere, was da unter dem Titel ‚Wahl‘ sonst noch
stattfindet, ganz und gar nicht als Erfolg verbuchen
lässt: Alle von den westlichen Kriegsmächten und
der sie beauftragenden Weltgemeinschaft mit dieser Wahl
verfolgten Absichten werden durch ihren Verlauf gnadenlos
blamiert. Nach Lage der Dinge kann von einem
überzeugenden Vertrauensbeweis der Afghanen für ihre
Regierung ebenso wenig die Rede sein wie von einer
Legitimierung dessen, der bei dieser Veranstaltung die
meisten Stimmen auf sich vereinigt. Das Ergebnis, zu dem
die überparteilichen Wahlbeobachter nach näherer
Betrachtung der unmittelbar nach Wahlende vermeldeten
Unregelmäßigkeiten
gelangen, fällt ziemlich
ernüchternd aus: Selbst bei wohlwollender Interpretation
kommt man nicht an dem Befund vorbei, dass die
afghanische Bevölkerung das ihr abverlangte Votum für die
Demokratie einfach nicht abgegeben hat. Nur eine
Minderheit hat sich überhaupt auf den Weg zu den
Wahlurnen gemacht, selbst wenn man die Stimmzettel
mitzählt, die einfach bündelweise in Wahlurnen gestopft
wurden, hat nur ein Drittel der Afghanen gewählt. Von den
abgegebenen Stimmen hat, wenn man die gefälschten
Wahlzettel mitrechnet, der Amtsinhaber Karsai eine ganz
knappe Mehrheit erreicht; gefälscht, was das Zeug hält,
haben nach allgemeiner Meinung beide Bewerber,
erfolgreicher jedoch der vom Westen favorisierte
Kandidat, und der setzt der oberpeinlichen Veranstaltung
dann auch noch die Krone auf: Der aufgeflogene
Großbetrüger sieht sich ungerührt vom Volk legitimiert
und glanzvoll in seinem Amt bestätigt.
IV.
Diesem Urteil wollen sich die Mächte der westlichen
Allianz nicht umstandslos anschließen, zumindest nicht
auf Anhieb. Sie selbst haben ja diese Wahl ausdrücklich
zu einem Ermächtigungsverfahren hinorganisiert, das in
Bezug auf die Legitimation des gewählten Führers allen
demokratischen Wunschvorstellungen genügt – also tun sie
sich mit dem Beschiss, wo er nun einmal auf dem Tisch
liegt, ein wenig schwer. Die Farce als solche beim Namen
zu nennen und die Wahl für gescheitert zu erklären, kommt
für sie freilich auch nicht in Frage: Der ganze Aufwand
soll ja nicht vergebens gewesen sein. Also bleiben sie
konsequent dabei, die Veranstaltung als Erfolg
zu
werten, und widmen sich dem nicht ganz einfachen
Unterfangen, aus der Blamage das Beste zu machen. Gesucht
wird nach einer moralisch halbwegs überzeugenden Methode,
eine freie, gleiche und geheime politische
Willensbekundung des afghanischen Volkes irgendwie auch
in Paketen gefälschter Stimmzettel entdecken zu können.
Und nachdem das Prinzip ‚Zeit heilt Wunden‘ im
vorliegenden Fall nicht recht greift und über den
Wahlbetrug kein Gras wachsen will, sieht sich der Westen
erst einmal zu einer Klarstellung an die Adresse des
gewählten Präsidenten gedrängt, wer in den Fragen
afghanischer Legitimität und Souveränität die
allerhöchste Entscheidungskompetenz besitzt:
„Angesichts massiver Fälschungsvorwürfe im Zusammenhang mit der Präsidentenwahl in Afghanistan haben die USA und die Vereinten Nationen Präsident Hamid Karsai nach Medienberichten zu einer gründlichen Überprüfung des Urnengangs gedrängt. Wie der US-Sender CNN unter Berufung auf Mitarbeiter des US-Außenministeriums berichtete, trafen der US-Botschafter in Kabul, Karl Eikenberry, und UN-Vertreter am Montagabend mit Karsai zusammen. Dabei hätten sie ihn aufgefordert, der unabhängigen Wahlkommission eine eingehende Überprüfung der Vorwürfe zu gestatten. Erst danach könne geklärt werden, ob ein zweiter Wahlgang nötig ist.“ (SZ-online, 8.9.)
Freilich ist die derart verlangte Überprüfung des
Urnengangs
ein ziemlich weites Feld. Entsprechend
weitläufig ist daher auch das Spektrum der Vorschläge,
wie man auch mit der verpatzten Wahl den Zweck erreichen
könnte, für den man sie arrangiert hat. Vielleicht könnte
ja die Bereitschaft zum Nachzählen allein schon wieder
Vertrauen in die Legitimität des Verfahrens stiften.
Andererseits ist natürlich klar, dass sie das nur tut,
wenn die Betrugsvorwürfe sich wider Erwarten nicht
bewahrheiten. Da aber der Präsident vorläufig noch auf
der Anerkennung des Wahlergebnisses und dem Niederbügeln
der Fälschungsvorwürfe besteht und dies natürlich schon
auch für den Westen seinen gewissen Reiz hat, hebt für
einen Moment eine kleine Auseinandersetzung über die
Frage an, ob man angesichts sich womöglich doch noch
totlaufender Beschwerden überhaupt ordentlich nachzählen
soll. Ob man nicht besser nur einen Teil nachzählt, um
den Beschiss zu leugnen und das gefälschte Ergebnis
irgendwie so zurechtzumachen, dass es den demokratischen
Kriterien der Redlichkeit standhält – zumal ja
Besonderheiten des Lokalkolorits eindeutig dafür
sprechen, dass die dort ohnehin mit einer gewissen
Unschärfe behaftet sind. Leider lässt sich der
unterlegene Kandidat auch nicht durch einen Kuhhandel zum
Schweigen bringen. Auch offizielle Wahlbeobachter nehmen
sich ein ums andere Mal über Gebühr wichtig, verstehen
sie sich doch ganz zu Recht als Interessenvertreter der
Nationen und Organisationen, in deren Namen sie vor Ort
sind – und tragen deren Konkurrenz in Form ihrer ganz
speziellen Bewertung des Wahlergebnisses
sowie der
Konsequenzen
aus, die ihrer Auffassung nach aus
der unbedingt zu folgen habe. So muss nach einem Monat
Aus- und Nachzählen die Karsai nahestehende
unabhängige Wahlkommission einräumen, dass der Präsident
das Rennen doch nicht für sich entschieden hat. Darüber
wird endgültig er zum Objekt, bei dem die durch
die Wahl blamierte ‚internationale Gemeinschaft‘ ihre
Unzufriedenheit ablädt. Stellvertretend für sie die FAZ:
„Gleich nach der Präsidentenwahl ... war noch leichtfertig von einem Erfolg die Rede ... trotz massiver Drohungen hatten verhältnismäßig viele Afghanen ihre Stimme abgegeben. Klar war auch, dass in einem so armen, unterentwickelten Land, in dem vor allem Stammesloyalitäten zählen, nicht alles mit rechten Dingen zugehen würde. Das Ausmaß frivoler Wahlfälschungen, das nach und nach ans Licht kommt, überrascht aber doch. Schlimmer noch: Präsident Karsai steht als Hauptsünder da. Die internationale Gemeinschaft, die seine Regierung mit bedeutenden Mitteln und nunmehr fast 100 000 Soldaten stützt, die für die Stabilität Afghanistans täglich ihr Leben riskieren, steht vor einem Dilemma. Sie kann Karzai nicht weiter unterstützen, ihn aber auch nicht fallen lassen. Der beste Ausweg ist immer noch, dem Wahlergebnis durch Überprüfungen die bestmögliche Legitimität zu verschaffen; wenn nötig, auch durch einen zweiten Wahlgang, selbst wenn er erst im nächsten Frühjahr stattfinden könnte.“ (FAZ, 18.9.)
Einen Wahlbetrüger nicht fallen zu lassen, ohne dass es
so aussieht, als würde man ihn unterstützen: Was für ein
schönes Dilemma. Noch viel schöner ist der Weg, der aus
ihm herausführt: Dass die Wahl für ihren Zweck nicht
getaugt hat, legt man einem Hauptsünder
zur Last,
dem man nun doch, nach eingehender Würdigung des
Sachverhalts, seinen Fehltritt unmöglich einfach so
durchgehen lassen kann und will. Andererseits braucht man
ihn unbedingt in der Funktion des vom Volk legitimierten
obersten Repräsentanten Afghanistans, in die er mit etwas
weniger gefälschten Wahlen ja hätte befördert werden
sollen. Also liegt für die Freunde der Freiheit und
Liebhaber eines unverfälschten Wählervotums die Lösung
auf der Hand: Es gilt, unverdrossen weiter und eben
solange auf das Verfahren der Wahl zu setzen, bis die
Legitimität sich einfindet, für die es gedacht ist – und
der Betrüger, der in den nächsten freien,
gleichen und geheimen Wahlen die Stimmenmehrheit auf sich
vereint, ist dann jedenfalls der wirkliche, wahre und
waschecht legitimierte Präsident aller Afghanen!
V.
So bestechend diese Idee ist – manchem Beobachter macht sie doch auch ein wenig Kopfzerbrechen:
„Tatsächlich ist die Gefahr groß, dass auch der zweite Wahlgang in ein Desaster mündet ... Nicht nur Taliban -Terror und der Winter gefährden den Urnengang. Auch ist unklar, wie man diesmal Wahlbetrug unterbinden kann ... noch weniger Wahlbeobachter ... Ein neues Debakel würde ... auch den Westen stark blamieren.“ (SZ, 22.10.)
Doch da kommt eine glückliche Fügung dem Westen zu Hilfe,
die ihm die zweite Blamage in Gestalt einer Wiederholung
der ersten erspart: Der Wahlbetrüger von der Opposition
hat, warum auch immer, einige Tage vor der Entscheidung
ein Einsehen und verzichtet auf seine Kandidatur. Damit
kommt es zwar zu der extrem seltenen Ausprägung des
demokratischen Wahlverfahrens in Gestalt einer Wahl ganz
ohne jede Wahl: Karsai geht alleine in die
Stichwahl
(SZ, 2.11.). Da
der Kandidat diese Wahl aber zweifellos ohne jeden Betrug
gewinnen würde, braucht sie nach national wie
international allgemein übereinstimmender Auffassung gar
nicht erst stattzufinden. Auch die Experten des
afghanischen Verfassungsrechts meinen es gut mit dem
Westen und seinem angekratzten demokratischen Renommee:
Sie erklären den erfolgreichen Betrüger der ersten Wahl
zum Sieger eines nicht stattfindenden und schon deswegen
zweifelsfrei völlig korrekten zweiten Wahlgangs, so dass
die zivilisierte Welt schließlich doch noch erleichtert
aufatmen kann: Der Sieger heißt Karsai. Afghanistans
Präsident ohne Stichwahl im Amt
bestätigt.
(SZ, 3.11.)
‚Legitimität durch Verfahren‘ – in der Demokratie heiligt
das Mittel den Zweck in Fällen ganz dringenden Bedarfs
sogar dann, wenn sich das bewährte Verfahren der
Legitimitätsbeschaffung erst in die Länge zieht und dann
ausfällt. Einen legitimierten Verantwortungsträger vor
Ort hat man jedenfalls, und der erfährt auch sogleich,
wie es um die Souveränität seiner Macht bestellt ist: Von
seinen Patronen wird er an die Bringschuld
erinnert, endlich die nützlichen Ordnungsdienste
abzuliefern, an die man ihn schon während seiner ersten
Amtszeit immerzu erinnern musste. Für das Geschenk seiner
zweiten bedankt sich der Präsident dann mit dem
Versprechen, seinem Volk demnächst mit einem
entschlossenen Kampf gegen Korruption und Drogen
zu dienen. Da kennt er sich ja aus.