Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Sterbehilfegesetz in Holland – Euthanasiedebatte in Deutschland
Je näher der Tod, desto heikler das Leben

In Holland ist es jetzt per Gesetz erlaubt, unter Einhaltung penibler Bedingungen Todkranken Sterbehilfe zu leisten. Wie dem deutschen Staat, der Sterbehilfe verbietet, geht es auch dem niederländischen darum, das staatliche Monopol auf die Entscheidung über Leben und Tod zu sichern. Der Schutz des Rechtsguts „Leben“, auf die Eliminierung ‚unwerten Lebens‘ bei den Nazis bezogen, lässt den deutschen Staat in einem schmeichelhaften Licht erscheinen. Dass es im Kapitalismus Gründe gibt, Menschen vorzeitig ins Jenseits zu befördern, wird in der öffentlichen Debatte zur Kenntnis genommen, um nach verstärkter Aufsicht staatlicherseits zu rufen.

Aus der Zeitschrift

Sterbehilfegesetz in Holland – Euthanasiedebatte in Deutschland
Je näher der Tod, desto heikler das Leben

„Abtreibung und Euthanasie sind Verbrechen, die für rechtmäßig zu erklären sich kein menschliches Gesetz anmaßen kann.“ (Evangelium vitae, III 73)
„Die im ersten Absatz bezeichnete Tat“ (Tötung auf Verlangen) „ist nicht strafbar, wenn sie von einem Arzt begangen worden ist, der dabei die Sorgfaltskriterien im Sinne von Artikel 2 Gesetz über die Überprüfung von Lebensbeendigung auf Verlangen und Hilfe bei der Selbsttötung erfüllt und den kommunalen Leichenbeschauer gemäß Artikel 7 Absatz 2 Gesetz über das Leichen- und Bestattungswesen informiert.“ (neuer Art. 293, Abs. 2 des niederländischen StGB)

Mitte April legalisiert die niederländische Gesetzgebung eine Praxis, die in den Niederlanden schon seit Jahren üblich ist (Der Spiegel, 16/2001), und stellt als erster Staat weltweit die Tötung auf Verlangen unter bestimmten Umständen von der Strafverfolgung frei. Wenn ein Patient freiwillig und nach reiflicher Überlegung um Sterbehilfe gebeten hat, sein Zustand aussichtslos und sein Leiden unerträglich war, ein weiterer Arzt hinzugezogen wurde und die Lebensbeendigung medizinisch sorgfältig ausgeführt wurde (Kapitel II Artikel 2 des Gesetzes), braucht ein holländischer Arzt in Zukunft den Staatsanwalt nicht mehr zu fürchten. Eine Kommission von Ärzten, Juristen und Spezialisten in ethischen Fragen ist berufen, gemeldete Fälle auf ihre korrekte Abwicklung zu überprüfen, die Fälle zu registrieren und jährlich einen Bericht über ihre Anzahl, Art und Beurteilung vorzulegen (Kapitel III). Damit löst die niederländische Regelung europaweit, und besonders in Deutschland, eine heftige moralische Debatte aus über Fluch und Segen der staatlichen Einmischung in die „letzten Dinge“ – und liefert Auskünfte darüber, warum Kranksein und Sterben im Kapitalismus zweifellos ein „ethisch hochsensibler Bereich“ ist.

Schließlich geht es nicht einfach darum, dass ein Schwerkranker, der seines Leidens müde ist und/oder ohnehin keine Chance auf Heilung, sondern nur einen unerfreulichen Weg zum absehbaren Ableben vor sich hat, sich mit einem Arzt über die Abkürzung dieses Weges ins Benehmen setzt. Selbst wenn ihm sein Zustand eine diesbezügliche Willensäußerung noch erlaubt, bleibt es nicht der Entscheidung des Kranken überlassen, seinen Todeszeitpunkt selbst zu bestimmen und sich die verbleibende Zeit so aushaltbar wie möglich machen zu lassen. Seine Entscheidung stößt auf rechtliche Vorbehalte; und noch mehr gilt das in den gar nicht so seltenen Fällen, wo aufgrund fortgeschrittener bis vollständiger Bewusstseinstrübung des Patienten nur sein „mutmaßlicher Wille“ bei einer Entscheidung seiner Betreuer – Pflegepersonal, Ärzte, Angehörige – berücksichtigt werden kann. Im einen wie im anderen Fall sieht die rechtsetzende Obrigkeit nämlich nicht nur den wirklich betroffenen Kranken, sondern vor allem sich betroffen: Sie betrachtet jenseits der „Umstände des Einzelfalls“, die so unschön sein mögen wie sie wollen, das Leben als schützenswertes „Rechtsgut“, mißtraut – dank schlecht dokumentierter, aber doch reichlich vorhandener Erfahrungen mit der gängigen Praxis – den Beweggründen der Beteiligten und erlässt deshalb strafbewehrte Vorschriften, was der Grundwert „Schutz des Lebens“ auch an seinem Ende für die Betroffenen und die zu ihrer Betreuung Befugten alles beinhaltet. Das ist vielleicht nicht allzu viel – Patienten, Ärzte, usw. müssen sich, ohne das freilich studiert zu haben, „nur“ einer rechtlichen Kasuistik von Geltungsgründen des Willens und der Bewertung von Krankheitszuständen anschmiegen –, ist in seinem Gegensatz gegen „Materialismus“ aller Art aber prinzipienreiterisch genug, alle Beteiligten unter Einschluss des Sterbenden kurz vor Torschluss noch in heftige Gewissensnöte zu stürzen. Die haben sie dann, und es ist wenigstens sichergestellt, daß auch in einem schwer kontrollierbaren Grenzbereich des Gesundheitswesens mit hohen „Dunkelziffern“ der Schritt von der „sinnlosen“ Lebensverlängerung zur „problematischen“ Lebensverkürzung nicht leichtfertig und nach womöglich selbstgestrickten Gesichtspunkten vollzogen, das staatliche Monopol auf die Entscheidung über Leben und Tod also gewahrt wird.

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Auf welchem Wege die Geltung des Rechts noch bis zum letzten Atemzug seiner Schutzbefohlenen, in ihrem oder gegen ihr Interesse, durchgesetzt wird, darin unterscheiden sich die nationalen Gesetzgeber, die beim Tun und Lassen ihrer Bürger von der Wiege bis zur Bahre immerzu das Erlaubte vom Verbotenen scheiden, sie also auf immer dieselbe „letzte Instanz“ verpflichten. Das deutsche Recht hält für den bewußten Abschluß der „Sterbebegleitung“, für die schon die Ärzteschaft einen ganzen Verhaltenskanon erlassen hat, zumindest bis auf weiteres die Rechtsfigur einer Grauzone bereit. Absichtlich lebensverkürzende Maßnahmen sind ohne wie mit Einverständnis des Betroffenen eigentlich gar nicht erlaubt; und wo der Unterschied von „passiver“ und „aktiver Sterbehilfe“, Totschlag, Beihilfe zum Selbstmord und unterlassener Hilfeleistung genau liegt, ob ein übermäßiges Hinausschieben oder ein vorschnelles Herbeiführen des Todeszeitpunkts der Menschenwürde mehr widerspricht, wird von Gerichten mit einem gewissen Meinungspluralismus entschieden. Der niederländischen Regierung hat es nun also gefallen, diese Grauzone ein Stück weit außer Kraft zu setzen und, mit genau beschriebenen Voraussetzungen und Kontrollmechanismen, für einen bestimmten Kreis von Todeskandidaten den damit befassten Ärzten die Erlaubnis zur Sterbehilfe zu erteilen.

Ungeachtet der öffentlichen Aufregung, daß dort etwas erlaubt wird („Dammbruch“ – FAZ), was hier aus noch viel besseren Gründen weiterhin verboten ist, schadet es sicher nicht, die unübersehbare Gemeinsamkeit der beiden gesetzgeberischen Entscheidungen festzuhalten: Erstens zeigen sowohl die gesetzlichen Kautelen der niederländischen Erlaubnis wie die Gründe für die deutsche Ablehnung einer vergleichbaren Regelung, daß sich die Hüter des Rechtsstaats über den tatsächlichen Umgang mit Todkranken nichts vormachen. Beiden Linien ist die Befürchtung gemeinsam, bei staatlichem Wegschauen könnte der „Missbrauch“ ausufern, also Schwerkranken aus nichtigem Anlaß und fragwürdigen Motiven Sterbehilfe zuteil werden. Diese Bedenken – die ideellen Gesetzgeber aus dem Kreis der mitdiskutierenden Staatsbürger und der Öffentlichkeit teilen sie ganz engagiert, gleich ob sie im Ergebnis zu Pro oder Contra kommen – gehen ganz ungerührt davon aus, dass es in dieser Gesellschaft offenbar manchen Grund gibt, sogar noch einem Todkranken bzw. gerade ihm nach dem Rest seines Lebens zu trachten. Weil das so ist und der Staat sich weder anmaßt, diese Gründe zu beseitigen, noch Illusionen über seine Möglichkeiten hat, die zweifelhafte Sterbehilfe im Einzelfall zu verhindern, es allerdings schon gleich nicht in Frage kommt, wegen der an Statistiken, gerichtlichen Streitfällen usw. zutage tretenden Mißbrauchsgefahr Abstriche an der prinzipiellen Zuständigkeit des Staats für das Leben seiner Insassen und dessen ordnungsgemäßes Ende zu machen, verfällt die Legislative zweitens auch nur auf verschiedene Alternativen der Eindämmung des Unerwünschten. Gerade der niederländischen Initiative ist der Gesichtspunkt überdeutlich anzusehen, in einem Bereich, wo sonst alles mögliche jenseits gesetzlicher Regelungen ablaufen würde, über eine eingeschränkte Erlaubnis die staatliche Kontrolle wiederherzustellen; was umgekehrt – ganz ähnlich wie bei Abtreibung und Drogenbekämpfung – aus deutscher Sicht wie eine Aufgabe von Aufsichtsmöglichkeiten erscheint, weil man sich hier vom verbotsbedrohten Gewissenszwang dasselbe verspricht und lieber mit einer, wie anonyme Ärzteumfragen zeigen, doch erklecklichen Anzahl erst gar nicht bekannt werdender Fälle lebt.

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Die hierzulande vorherrschende Strittigkeit der staatlichen Genehmigung zur finalen Behandlung beruht zum Teil auf dem Argument, dass die Staatsgewalt – besonders in Deutschland – angeblich mancherlei historischen Anlass habe, sich selbst zu misstrauen. Der staatliche Rechtsvorgänger der Bundesrepublik musterte bekanntlich beim Aufbau seines Dritten Reiches sein Volk auf die Tauglichkeit für nationale Reichtumsproduktion und Kriegsdienst durch und stieß dabei auf Glieder des Volkskörpers, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen zu keinem völkischen Dienst (mehr) tauglich schienen. Als Anhänger der zutiefst wertorientierten Überzeugung, dass man einerseits der deutschen Nation weder die Fortpflanzung noch die Ernährung solcher aus der Art geschlagener Gewächse zumuten dürfe, andererseits derlei Existenzen ohne Beitrag zum nationalen Erfolg ohnehin der rechte Sinn fehle, nahmen die Nazis ihre selbstgewählte völkische Pflicht ernst und führten die Betroffenen dem „Gnadentod“ zu. So etwas soll heutzutage, unter der Herrschaft des Grundgesetzes, nicht wieder vorkommen. Die demokratischen Nachfolger in den Regierungsämtern haben sich, ganz wie ihre Vorgänger, zwar die Oberhoheit über das „Leben und die körperliche Unversehrtheit“ ihrer Bürger vorbehalten und ihre Zuständigkeit dadurch dokumentiert, dass sie diese schönen Dinge als staatliches Recht überhaupt erst gewährleisten. Bei ihnen soll das aber nicht nur als irgendein Recht, sondern als besonders hochwertiges und gerade auch den Staat verpflichtendes Grund- und Menschenrecht gewürdigt werden, das für nationalmoralische und volkshygienische Erwägungen der alten Art nicht zur Disposition stehen darf. Soviel soll klar sein: Leben darf der demokratisch verwaltete Mensch schon mal auf jeden Fall, egal wie arm und krank er ist. Für diese großzügige „Aktion Mensch“ leistet man sich sogar einigen Aufwand, der vom ohnehin zur Pflege der Volksgesundheit aufgebotenen Medizinwesen als Randabteilung miterledigt wird. Wenn man also von Staats wegen bei der Bereithaltung der Volksmassen für die Vermehrung des privaten Eigentums ohnehin nicht auf einen aktiv-züchterischen Standpunkt setzt, der auch vor direkter Entsorgung unbrauchbarer Volksteile nicht Halt macht, sondern solche ausdrücklich in Kauf nimmt und sich ihnen – nur – als einem „Kostenproblem“ stellt; wenn man beschlossen hat, dieses „Problem“ der Heil- und Pflegekosten mit sozialstaatlichen Mitteln zu lösen, diese also auch – nur – durch Leistungsverkürzungen zu senken, dann ist es einerseits ziemlich bescheuert, vor sich selbst als potentiellem Nazi-Euthanasie-Staat zu warnen. Darum geht es ja erklärtermaßen gar nicht. Andererseits rückt die skrupulöse Art des politischen Umgangs mit den „höchsten Werten“, gerade „vor dem Hintergrund unserer jüngsten Geschichte“ und in schönem Kontrast dazu, einen Staat wie den bundesdeutschen von heute natürlich in ein schmeichelhaftes Licht. Wer kann einem Staatswesen, das sich bei der Unterstreichung des „Grundrechts auf Leben“ einer derart wertehaften Selbstdarstellung befleißigt, denn noch vorhalten, wie es sich unter seiner Ägide lebt? Eigentlich niemand bzw. nur die üblichen Verdächtigen, – und das ist schon mal ein günstiges Vorzeichen für die Debatte über die wirklichen Gründe des Problems, das der heutige Staat mit der Sterbehilfe hat.

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Immerhin sind allen Diskutanten auch jenseits der deutschen Spezialität mit der „unseligen Nazi-Vergangenheit“ noch ganz andere Gefahren für Sterbenskranke geläufig: Zu allererst einmal die, daß die Versorgung von Kranken im Kapitalismus wie alles andere doch tatsächlich Geld kostet. Einerseits zwar nur die Lohnabzüge der Beitragszahler; andererseits ist der Politik aber daran gelegen, das Verhältnis von Beiträgen und Ausgaben so zu organisieren, dass dem Fiskus keine unnötigen Kosten entstehen und die Beiträge ihrerseits keine zu hohen „Lohnnebenkosten“ produzieren. Wenn also der Standpunkt der Sparsamkeit in der Gesundheitspolitik regiert und ausgerechnet die hoffnungslosen Fälle furchtbar viel kosten, dann weiß jedermann sehr plausible, weil systembedingte Gründe anzugeben, aus denen im Fall ihrer allzu grundsätzlichen Genehmigung vielleicht „zu schnell“ zur „Sterbehilfe“ gegriffen werden könnte: Da könnten ethische Grenzen aus ökonomischen Gründen verschoben werden, gerade in Zeiten der Kostendämpfung im Gesundheitswesen … gerate die Sterbehilfe schnell in den Geruch wirtschaftlicher Motive, denn sie spart Kosten, die Kassen oder Angehörige sonst tragen müssten. (Der Spiegel) Wenn das so ist, dann heisst es freilich „aufpassen“, damit nicht dem Rechtsstaat als geläutertem Garanten des Lebensschutzes er selbst als Sozialstaat in die Quere kommt, der die Kostendämpfung so intensiv betreibt, dass die menschlichen Objekte der Apparatemedizin kostengünstig, aber vorschnell über den Jordan befördert werden. Das leuchtet wirklich jedem ein, sogar den politischen Organisatoren des Sachzwangs zum „Sparen“; weshalb sie dafür plädieren, bei der Erlaubnis zur Sterbehilfe lieber vorsichtig zu sein, um die Vollzugsorgane der Kostendämpfung nicht unnötig in die Versuchung rein budgetär begründeter Lebensverkürzung zu führen. Den Vorstehern dieses feinen Gemeinwesens, dem solche leicht makabren Sorgen auch noch zugute gehalten werden, wird mitfühlend bescheinigt, dass das Thema viele gefährliche Fallen (Der Spiegel) birgt, in die sie tappen könnten, weil im Hintergrund schon wieder immer die schreckliche Geschichte der Euthanasie im Nazi-Reich lauert. Wenn also ihre Erwägungen mit dem „verbrecherischen“ Radikalismus des gesunden Volkskörpers verwechselbar wären, würde das offenbar als peinlich empfunden. Da es aber nicht so ist und ein demokratischer Politiker stattdessen zeitgemäß vor den Folgen des Radikalismus der sozialstaatlichen Kostendämpfung warnt, den er selbst gestiftet hat und in dem von ihm mitverantworteten Laden für unverzichtbar hält, gilt er glatt als sensibler Wahrer der Menschenwürde, dem der schnöde Mammon selbstverständlich kein „Höchstwert“ ist.

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Was man den Sozialpolitikern also zumindest als naheliegend zutraut – ohne ihnen deswegen das demokratische Vertrauen aufzukündigen –, dass sie den kostensparend-vorzeitigen Abbruch an und für sich und durch die leidige Geldfrage nochmal extra „sinnlosen“ Siechtums vielleicht schon gutheißen würden, wenn ihnen ein Sterbehilfegesetz die unverfängliche Möglichkeit dazu einräumen würde, hält man auf Seiten ihrer ärztlichen und sonstigen Vollzugskräfte natürlich erst recht für möglich. Von Berufs wegen nicht an erster Stelle mit Entscheidungen über demokratische Grundwerte und ihr Verhältnis zu sonstigen öffentlichen Aufgaben befaßt, können und müssen die schließlich auch rechnen, sei es für eigene oder für Rechnung eines öffentlichen Arbeitgebers. Und darüber, dass schlecht bezahlte und überlastete Pflegekräfte dazu neigen könnten, zur Schonung der Nerven und Reduzierung ihres Arbeitspensums einmal vorzeitig einen Schalter umzulegen, mag sich ein abgeklärter Betrachter der Szene eigentlich nicht wundern, ebensowenig wie über die notorischen Angehörigen der Kranken, die in der individualisierten Leistungsgesellschaft einen Druck aufbauen, anderen nicht auf der Tasche liegen zu dürfen und im Sinne ihrer privaten Haushaltskonsolidierung die Entscheidung für die aktive Sterbehilfe beeinflussen (Der Spiegel) könnten, zumal wenn sie – wer kennt das nicht? – schon ungeduldig auf das Erbe warten.

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Aber all diese sittlichen Schönheiten scheinen einfach nicht gegen die „individualisierte Leistungsgesellschaft“ mit ihren abwechslungsreichen „ökonomischen Gründen“ und „wirtschaftlichen Motiven“ zu sprechen. Die Härten, die das kapitalistische Rechnungswesen auch noch am Lebensende mit sich bringt, werden lediglich zum Anlass für den Auftrag zu verstärkter Aufsicht über den „Missbrauch“ der Sterbehilfe, wenn sie denn erlaubt wäre, genommen, der an die politischen Stifter und Verwalter eben dieser Härten zurückgereicht wird. Darin, daß bei allen, allseits bekannten Berechnungen schlichtweg nicht deren Inhalt aufs Korn genommen wird, sondern an den „Fällen“ gleich und überhaupt nur die Form der Berechnung den Gegenstand der Mißbilligung ausmacht – womit der letzte Wunsch des sterbensüberdrüssigen Patienten mit den anders gelagerten Kalkülen von Ärzten und Verwandtschaft glücklich gleichgesetzt wäre –, zahlt sich die staatliche Prinzipienreiterei offensichtlich aus. Selbst am letzten Bett versammeln sich berufene wie mitdenkende Experten für Sittlichkeit und rufen, wo es endgültig um nicht mehr viel geht, um so lauter nach der weisen Einmischung oder Zurückhaltung des Staates.

So wünschen sich nach vorliegenden demoskopischen Auskünften ca. 75 Prozent der Bundesdeutschen eine „liberalere“ Handhabung des Sterbehelfens; ausgerechnet bei der Frage, wie denn nun der Aufenthalt im irdischen Jammertal zu Ende gehen sollte, wollen sie eine elementare Einschränkung ihrer Freiheit entdeckt haben, wie den zu diesem Thema gut besuchten Leserbriefseiten der Zeitungen zu entnehmen ist. Niemand hat das Recht, über das Leben des anderen zu bestimmen, meint da eine SZ-Leserin stellvertretend für viele. Dieses Recht hat nur der Betreffende selbst, und zwar uneingeschränkt. Da auszuschließen ist, dass es sich bei dem bayerischen Germering, der Heimat der Schreiberin, womöglich um einen rechtsfreien Raum handelt, vielmehr seit Ausstellung ihrer Geburtsurkunde ausgiebig „über ihr Leben bestimmt“ worden sein dürfte, in der Regel von Staat und Arbeitgeber, die zweifellos – und vermutlich von der Leserbriefschreiberin nicht einmal bestritten – auch das ziemlich uneingeschränkte Recht dazu hatten, ist weiterhin zu vermuten, dass die verletzte Bürgerseele ihren Einspruch gar nicht so gemeint hat. Sie wollte wohl eher darauf hinaus, dass das Recht von Staat und Kapital, über das Leben ihrer nützlichen oder unnützen Populationen zu bestimmen, schon in Ordnung geht, dass aber spätestens und wenigstens in den Fragen des Sterbens staatlich verbriefte Selbstbestimmung einreissen sollte. Abgesehen von der irrigen Ansicht, da hätte endgültig niemand mehr das Recht, dem freien Individuum dazwischen zu reden – die ganze Affäre zeigt ja, dass Staaten das andauernd mit gutem, d.h. ihrem Recht tun, und der Einwand geht schon wieder auf eine, wenn auch modernisierte Rechtsgarantie –, ist es eher die trostlose Untertänigkeit solcher Stellungnahmen, die ein wenig erschüttert. Von den Herrschaften, die in Verfolgung ihrer bekannten und allgemein anerkannten Ziele Jahr für Jahr und ausschließlich nach Maßgabe ihres Vorteils massenhaft anderer Leute Leben konsumieren, zu verlangen, sie sollten wenigstens beim Sterben den Geschmack der Verbrauchten zum Zug kommen lassen, das fordert schon Einiges an Duldsamkeit. Und diese „Forderung“ wird nicht einmal als letzte Aufwallung abstrakten bürgerlichen Freiheitsdurstes gestellt, sondern auch noch als Anpassung an die Verhältnisse vorgetragen, die diese Gesellschaft für ihre Alten bekanntermaßen bereit hält: Eine zunehmend vergreiste Bevölkerung fürchtet den Tod unter Schmerzen, einsam auf einer Intensivstation, ausgeliefert an eine Apparatemedizin …, und fordert das Recht auf Selbstbestimmung auch (!) beim Tod. (Der Spiegel) Und danach.

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Dem Geiste nach ist der Wunsch, nach allem was man „durch-“ oder „mitgemacht“ hat, wenigstens einen Abgang ohne längere Qualen erlaubt zu bekommen, der nur teilweise abweichenden Stellung der Pfaffen ganz nahe, die das Ereignis als ausgewiesene „Spezialisten für ethische Fragen“ würdigen. Die machen sich in der Form für den Patienten stark, dass das unbedingte Lebensrecht jedes einzelnen Menschen nicht in Frage gestellt werden dürfe (ein evangelischer Bischof aus Berlin), und warnen deshalb vor übertriebener Selbstbestimmung am Sterbebett. Das, was lebenden Menschen so alles angetan wird, interessiert sie aus beruflicher Sicht sowieso weniger, weil die Anerkennung des „unbedingten“ – also von allen praktischen „Bedingungen“ getrennten – „Lebensrechts“ erkennbar darauf abzielt, Schaden von der unsterblichen Seele abzuwenden, die nun einmal die Hauptsorge und das eigene Lebensrecht dieser Kreise ausmacht. Das ist wegen der bekannten Robustheit der Seele gerade in widrigen Lebenslagen zwar nicht so leicht zu befürchten, könnte sie jedoch auf Abwege führen und den Seelsorger um die verdiente letzte Ölung bringen. Die Anerkennung des abstrakten „Lebensrechts“, für das die wirklichen Lebensumstände so herzlich gleichgültig sein sollen, steht der Be- und Vernutzung der „Schäflein“ auch sonst nur in Extremfällen im Weg, weshalb sich die Kirchen in den praktischen Umgang mit den Lebenden nicht übermäßig einzumischen und nur gelegentlich zur Caritas aufzurufen, jeden an den Misereor zu erinnern und ein bißchen Brot für die Welt einzusammeln brauchen. Eben deshalb wollen sie aber, was sterbende Menschen angeht, ihre Zuständigkeit nicht so einfach aus der Hand geben, und schon gar nicht an die Sterbenden selbst. Wie man die aus besseren Tagen kennt, ist bei denen kein Verlaß darauf, daß sie zur Religion „zurückfinden“, wenn es ihnen so richtig dreckig geht; am Ende denkt die Bagage aus demselben Grund gerade in ihren letzten Minuten wieder mehr an sich selbst als an ihren Schöpfer, so daß der Anspruch, den Leidenden aus christlicher Nächstenliebe zu helfen, wie der schon zitierte Bischof meint, in jeder Hinsicht genau hier und zum richtigen Zeitpunkt am Platz ist.

Allerdings: Mit dem Anwurf an die Männer und weiblichen Hilfskräfte der Kirche, ihnen sei mehr am Seelenfang und ihren Dogmen als am leidenden Menschen gelegen – oder an diesem auch nur wegen jenen – braucht man diesen Berufspolitikern erst gar nicht zu kommen. Selbstverständlich handelt es sich bei der Sterbehilfe um ein schweres Vergehen gegen die Menschenwürde und gegen die Achtung, die man dem lebendigen Gott, dem Schöpfer, schuldet (Katholischer Katechismus, 2277), weswegen der Aufruf, entsprechende Gesetze zu unterlassen oder ihnen gegebenenfalls die Beachtung zu verweigern, mit allen Mitteln der polnischen Metaphorik unterstrichen werden muß: Die Standhaftigkeit und die Glaubenstreue der Heiligen muß sich bewähren, indem sie bereit sind, auch ins Gefängnis zu gehen oder durch das Schwert umzukommen. (Evangelium vitae, III 73) Aber das heißt doch nicht, daß nach Rücksprache mit dem Priester oder Apotheker – jedoch nicht auf eigene Faust! – überhaupt kein Hintertürchen mehr offenstünde. Schmerzlindernde Mittel zu verwenden, um die Leiden des Sterbenden zu erleichtern selbst auf die Gefahr hin, sein Leben abzukürzen, kann sittlich der Menschenwürde entsprechen, falls der Tod weder als Ziel noch als Mittel gewollt, sondern bloß als unvermeidbar vorausgesehen und in Kauf genommen wird. (Katholischer Katechismus, 2279) Na bitte und Gott sei Dank.