Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Spiegel zum Anstieg der Rohstoffpreise und der Rolle der Spekulation: Bild(ung) für die Elite

Das Nachrichtenmagazin aus Hamburg schlägt Alarm: „Angriff auf den Wohlstand“, titelt der Spiegel vom 9.6.08. Das Titelbild zeigt eine ins Zwergenhafte geschrumpfte Musterfamilie mit Einkaufskorb und Ölkanister zwischen den Beinen eines Ungeheuers in Nadelstreifen. Provokant spielt der Spiegel auf die zirkulierende Auffassung vom gemeinschaftszersetzenden Treiben gieriger Spekulanten an, ironisiert sie mit der Darstellung als Comic – und gibt ihr mit dem Untertitel: „Wie Spekulanten das Leben verteuern“ doch wieder vorsichtig recht.

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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

DER SPIEGEL zum Anstieg der Rohstoffpreise und der Rolle der Spekulation: Bild(ung) für die Elite

Das Nachrichtenmagazin aus Hamburg schlägt Alarm: Angriff auf den Wohlstand, titelt der SPIEGEL vom 9.6.08. Das Titelbild zeigt eine ins Zwergenhafte geschrumpfte Musterfamilie mit Einkaufskorb und Ölkanister zwischen den Beinen eines Ungeheuers in Nadelstreifen. Provokant spielt der SPIEGEL auf die zirkulierende Auffassung vom gemeinschaftszersetzenden Treiben gieriger Spekulanten an, ironisiert sie mit der Darstellung als Comic – und gibt ihr mit dem Untertitel: Wie Spekulanten das Leben verteuern doch wieder vorsichtig recht.

Versprochen ist also eine Aufklärung über das Wesen und die Gefahren der Spekulation auf höchstem Niveau.

1.

Der SPIEGEL beschönigt nichts und führt das ganze Ausmaß der Katastrophe vor Augen:

„Öl ist der Schmierstoff der Wirtschaft; wenn es immer teurer wird, gerät der Konjunkturmotor ins Stottern. Und Weizen und Reis sind im wahrsten Sinne des Wortes Lebensmittel: Wenn sie immer mehr kosten, müssen arme Menschen hungern, vielleicht sogar verhungern...
Wo soll das nur hinführen? Das fragt sich auch Ernst Tanner, aber der denkt nicht an Öl, sondern an Kakao. Tanner ist Chef des Schokoladenherstellers Lindt&Sprüngli. Er musste mit ansehen, wie der Preis für Kakaobohnen...
Wo soll das nur hinführen, fragen sich auch Hunderte Millionen Verbraucher auf der ganzen Welt. Seit Wochen führen die hohen Nahrungsmittelpreise zu Unruhen in zahlreichen Ländern...
Vor allem die Energiekosten belasten die Bürger. Wer täglich von Hamburg nach Lübeck pendelt...Und das ist alles erst der Anfang. Gas, das steht jetzt schon fest... . Auch der tägliche Einkauf wird ständig teurer... Und was ist, wenn die Energiepreise erst einmal voll auf die Flugkosten durchschlagen? Dann müssen sich immer mehr Deutsche fragen, ob sie sich den gewohnten Urlaub noch leisten können. Schon jetzt ist der Lebensstandard vieler Menschen in Gefahr – schon bald vielleicht der Wohlstand der Nation.“(S.72)

Unbekümmert reihen die Autoren des Blatts die Sorgen von Wirtschaft und Nation über den Fortgang der guten Geschäfte und die Sorgen der Menschen über den Fortgang ihres gewohnten Lebens aneinander – als würde der Verbraucher den Anstieg der Rohstoffpreise nicht zuletzt deshalb spüren, weil Schokoladenhersteller Ernst T. und Kollegen sich mit kräftigen Preisaufschlägen für ihre gestiegenen Einkaufspreise schadlos halten. Natürlich wissen auch sie, dass die Wirtschaft von den Preissteigerungen nicht einfach passiv betroffen ist; und natürlich ist ihnen auch bekannt, dass der Wohlstand einer ganzen Reihe von Nationen auf dem Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise beruht. Das alles spielt jetzt keine Rolle. Der SPIEGEL hat beschlossen, in dem Preisanstieg einen Skandal zu sehen; jetzt ist ihm jedes Argument recht, das die Bedeutung dieses Skandals unterstreicht. In dieser Woche spielen die Leute daher nicht ihre übliche Rolle von Lohn- und Gehaltsempfängern, deren Lebensgewohnheiten eine unerträgliche Belastung für die Wirtschaft sind. In dieser Nummer sind sie Bürger, die um ihren wohlverdienten Wohlstand fürchten; ihre Fernreisen – sonst das Lieblingsbild der SPIEGEL-Redaktion für die überzogenen Konsumansprüche eines verwöhnten Volkes – sind jetzt das Sinnbild unseres kollektiven way of life. Auch über den Hunger in der Welt findet der SPIEGEL bewegende Worte. Der Hinweis auf den Existenzkampf Hunderter Millionen von Verbrauchern (die diese Zeitschrift soeben noch als Wohlstandsgewinner der Globalisierung gesehen hat) darf schon aus redaktionellen Gründen nicht fehlen: Je globaler die Dimension der ausgerufenen Katastrophe, desto gelungener der Titel des SPIEGEL.

2.

Das Leben, wie wir es kennen, und das Überleben der armen Menschen auf der ganzen Welt sind in Gefahr. Der SPIEGEL schreitet zur Ursachenforschung – und klärt uns darüber auf, was an dieser Katastrophe die eigentliche Katastrophe ist:

„Deshalb (unmittelbarer Anschluss an das Zitat oben) ist die Frage, ob die Preise zwangsläufig, quasi naturgegeben so steigen, weil das Angebot hinter der Nachfrage herhinkt. Oder ob da andere, heimliche Kräfte am Werk sind: Spekulanten, die sich die zunehmende Knappheit von Ressourcen zunutze machen, um schnell viel Geld zu verdienen. Das ist nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine ethische und höchst moralische Frage. Von der Antwort hängt eine Menge ab – auch für die Glaubwürdigkeit unseres Wirtschaftssystems.“

Können die Menschen die Marktwirtschaft trotz der schlechten Erfahrungen, die sie mit ihr machen, noch lieb haben? Um den guten Ruf unseres Wirtschaftsystems sorgt man sich im deutschen Nachrichtenmagazin, für es fasst sich alle Ökonomie in der höchst moralischen Frage zusammen, wie es anno 2008 um das Ansehen des Kapitalismus bestellt ist. Gerettet sähe man die Glaubwürdigkeit des Systems, wenn die beklagten Preissteigerungen – ausgerechnet! – auf den systemgemäßen Normalfall zurückzuführen wären. Denn Preise, das weiß man vom VWL-Studium, sind der natürliche Ausdruck der gleichfalls durch und durch natürlichen Knappheit von allem, und wenn der Markt in dem Fall die Knappheit von Ressourcen ausdrückt, dann ist der Anstieg der Preise zwangsläufig und quasi naturgegeben. Zwar steigt kein Preis, ohne dass ein Kaufmann ihn erhöht, aber in dem Fall kennt der SPIEGEL einfach keine Subjekte, die sich einer ‚Knappheit‘ zu ihrem Vorteil bedienen: Das Begriffspaar von ‚Angebot und Nachfrage‘ zusammen mit dem Bild vom hinkenden Angebot befestigen die Vorstellung vom Wirken unveränderlicher ökonomischer Mechanismen und vom selbsttätigen Sachzwang, dem die Akteure der Marktwirtschaft nur folgen können. Die aktuelle Preisexplosion wäre demnach nur Indiz einer Durststrecke, die überwunden ist, sobald die hohen Preise dem Angebot wieder Beine gemacht haben. In diesem Fall könnte man die Verarmung der Bürger als Kollateralschaden ihrer Wohlstandsmehrung verbuchen. Dadurch wäre zwar die Lage der beklagten Opfer des Preisanstieges nicht besser, aber doch das Bild gerettet, das wir uns von der Marktwirtschaft machen. Einerseits.

Denn andererseits wäre die Lage schon ganz anders, wenn bei den Preissteigerungen nicht die bekannten anonymen Kräfte von Angebot und Nachfrage, sondern unbekannte, heimliche Kräfte am Werk sind, die sich die ‚Knappheit‘ zunutze machen, um schnell viel Geld zu verdienen. In diesem Fall kennt der SPIEGEL keine ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die eine solche Bereicherung wie ‚quasi naturgegeben‘ aussehen lassen, sondern nur unlautere Subjekte, die eine gesellschaftliche Notlage zu ihrem Vorteil ausbeuten: Um die Dimension des moralischen Vergehens zu verdeutlichen, stellt uns der SPIEGEL die Spekulanten, deren Treiben wir in täglichen Börsensendungen bestaunen dürfen, ausdrücklich als heimliche Kräfte vor. Ist also der beklagte Preisanstieg nur auf die Umtriebe von ein paar Finsterlingen zurückzuführen? – dann wäre es um die Glaubwürdigkeit unseres Wirtschaftssystems wirklich schlecht bestellt!

Diese Alternative ist für den SPIEGEL eine intellektuelle Herausforderung, die es souverän und mit allem gebotenen Unterscheidungsvermögen zu bewältigen gilt.

3.

So einfach wie viele Stimmen, die plump abwiegeln und die Schattenseiten des Systems einfach verdrängen, will es sich der SPIEGEL nicht machen:

„...Vielleicht gibt es ja deshalb (Fortsetzung des obigen Zitats) so viele Stimmen, die entwarnen und beruhigen. Die zwar einräumen, dass Spekulanten auf den Rohstoffmärkten zugange sind, aber gleichzeitig behaupten, die hätten wenig Einfluss auf die Preise. Und wenn doch, dann sei das doch nur positiv, weil sich die Menschheit dann eben umso schneller auf das Unausweichliche, die zunehmende Knappheit der Ressourcen, vorbereite.
‚Hier geht es nicht um Schuldzuweisungen‘, wiegelt der amerikanische Finanzminister Hank Paulson ab. Das Angebot sei knapp und werde langfristig die Nachfrage nicht decken können. Paulson: ‚Spekulanten haben darauf nur geringen Einfluss‘.“ (S. 74)

Von den Beschwichtigungsversuchen der amerikanischen Regierung lassen wir uns natürlich nicht hinters Licht führen. Gut, dass der SPIEGEL auch noch andere Experten kennt, deren Urteil wir vertrauen, weil es zu der in dieser Passage des Artikels nun einmal eingeschlagenen Linie passt. Das Wort haben Fadel G., Ölanalyst mit 20 Jahren Berufserfahrung bei Oppenheimer in New York – und außerdem Ingenieur, und Edward M., Chefanalyst für Energiethemen bei der Investmentbank Lehmann Brothers. Also mehrfach qualifizierte Experten, die es ja wohl wissen müssen:

„Beim Öl sorgt mittlerweile schon Nebel im Hafen von Houston für Panik im Markt – weil einige Tanker ihre Ladung dann nicht löschen können. In Kanada ist eine Pipeline geplatzt? ‚Der Kurs sprang gleich um vier Dollar nach oben‘, sagt Fadel Gheit. Er ist Ölanalyst bei Oppenheimer in New York mit 20 Jahren Berufserfahrung – und außerdem Ingenieur, er weiß, wie man eine Pipeline repariert. ‚Das ist doch keine Herztransplantation. Es ist ein Klempnerjob, völlig einfach in drei Tagen erledigt‘, sagt er: ‚Die Händler nutzen jeden Vorwand, um den Preis nach oben zu treiben.‘ Als junger Mann hat Gheit noch Ölpreise von vier Dollar analysiert. Das ritualisierte Verhältnis von Fördermengen und Verbrauch, die seit Jahren wachsende Nachfrage in China, Unruhen im Nahen Osten oder Nigeria, drohende Kältewellen, nichts davon kann ihm die aktuelle Preisexplosion verständlich machen. Dafür tragen allein die Spekulanten die Verantwortung, glaubt er: ‚Das ist reine Hysterie.‘
Andere Analysten stimmen ihm zu. ‚Der Markt reagiert auf die Tatsache, dass wir in 13 Jahren vielleicht nicht genug Öl haben – wie bitte?!‘, sagt Edward Morse, er ist Chefökonom für Energiethemen bei der Investmentbank Lehman Brothers. ‚Eine Blase erkennt man immer erst, wenn alles vorbei ist,‘ sagt er.“ (S.76)

So geht es eben zu in einem Gewerbe, in das man als junger Mann einsteigt und einen Ölpreis von vier Dollar analysiert und dann sein Lebtag lang nichts mehr dazulernt: Die Analysten setzen auf steigende Preise, weil sie vermuten, dass auch ihre Kollegen vermuten, die Preise würden steigen. Also steigen die Preise tatsächlich – solange, bis genügend Spekulanten glauben, dass ihre Kollegen glauben, die Preise würden wieder fallen. Die fundamentalen Daten aus der Welt der wirklichen Geschäfte sind dabei nur Faktoren unter anderen Faktoren, und alle Faktoren zusammen sind nur Treibstoff für die alles entscheidende Phantasie der Märkte; und ob man mit einer Spekulation richtig liegt, kann man immer erst dann genau wissen, wenn es zu spät ist und sie platzt.

Das finden die Schlaumeier aus Hamburg schon etwas absurd – meinen dabei allerdings nicht die Normalität, sondern eine vermeintliche Entgleisung der Spekulation. Eigentlich nämlich dürfte die Spekulation die Preise nur so weit ansteigen lassen, wie es einer wachsenden Nachfrage in China oder einer drohenden Kältewelle angemessen wäre. Das wäre sachgerecht und sturzsolide – aber genau dieses weise zurückhaltende Spekulieren findet an den Rohstoffbörsen nicht statt: Viele Fondsmanager können (oder wollen) die spezifischen Regeln ihres jüngsten Spielzeugs oft nur oberflächlich verstehen und handeln anlässlich eines Regenschauers in Iowa schon nach der Devise: Eine schlechte Ernte könnte das Angebot verknappen – gut fürs Geschäft, Preise rauf! (S. 76) So ist das Geheimnis der steigenden Preise fürs erste gelüftet: Aus Dilettantismus und blinder Geldgier manipulieren die Preistreiber in den Vorstandsetagen der Fondsgesellschaften die Notierungen der Rohstoffe in schwindelerregende Höhen, und in das Verhängnis, das der Menschheit darüber beschert wird, darf man sich dann vertiefen.

Die Dimension des volkswirtschaftlichen Schadens, der durch diese Machenschaften verursacht wird, können wir uns nicht groß genug vorstellen. Über den Umfang der Spekulation darf gestaunt – Tag für Tag drängt über eine Milliarde Dollar in den Markt –, über das enorme Ausmaß ihrer Gefahren spekuliert werden: Seit Monaten erschüttert die jüngste Kreditkrise die Finanzmärkte. ... Möglich, dass das Schlimmste überstanden ist... Möglich aber auch... Das Ausmaß des bereits eingetretenen Schadens lässt sich nur erahnen:

„Niemand weiß, wie teuer Öl wäre, wenn es die Spekulation nicht gäbe. Nur: Billiger wäre es auf jeden Fall. Wenn es aber billiger wäre, müssten alle weniger für Benzin zahlen und für Heizung und warmes Wasser. Dann hätten die Deutschen und alle anderen mehr zum Leben und zum Konsumieren, dann würden nicht immer mehr Milliarden dem deutschen Wirtschaftskreislauf entzogen. Wenn Öl billiger wäre, gäbe es auch weniger Inflation, und die Europäische Notenbank müsste die Zinsen nicht so hoch halten... Niedrigere Zinsen würden die Wirtschaft stimulieren und den Höhenflug des Euro bremsen, was wiederum der Konjunktur zugute käme – mit positiven Folgen für den Arbeitsmarkt.“ (S. 74)

Niemand weiß genau, wie es wäre, wenn alles anders wäre, eines wissen wir aber auf jeden Fall: Ohne Spekulation wäre alles besser, die tägliche Dusche billiger, die Lage auf den Finanzmärkten stabiler, und selbst das Spekulieren auf den Devisenmärkten wäre ein einziger Segen für die Konjunktur. Der SPIEGEL denkt sich die Spekulation als eine externe Größe, die mit einer soliden Kreditwirtschaft nichts und mit unserer grundvernünftigen Realwirtschaft schon gleich überhaupt nichts zu tun hat – die aus unerfindlichen Gründen aber die Macht hat, den Wirtschaftskreislauf bis ins Detail zu bestimmen. So wird die Spekulation für die nächsten vier Spalten zur Ursache für alle ökonomischen Übel unserer Zeit.

Mehr als alle Worte sagen das übergroße Bild vom hektischen Treiben an der Warenterminbörse in Chicago und die vielen kleinen bunten Schaubilder, die uns die Fieberkurven der Warenpreise und den Umfang des Kontrakthandels zeigen. Der Leser muss die Gleichgewichtstheorien der Volkswirtschaftslehre, die hier zu übersichtlichen Graphiken zusammengefasst sind, überhaupt nicht kennen, um über den Lauf der Wirtschaft Bescheid zu wissen: Wenn der blaue Balken größer ist als der rote und die Schere zwischen beiden von Jahr zu Jahr weiter aufgeht, dann ist klar, dass hier etwas aus den Fugen geraten ist: Die Finanzwirtschaft hat sich von der Realwirtschaft abgekoppelt und ist zu einem aberwitzigen Monster angewachsen; das Geld, das hier verdient wird, sprengt alle Dimensionen. Kurzum: Was hier stattfindet, ist nicht Kapitalismus, sondern Gaga-Kapitalismus. Jetzt wundert uns überhaupt nichts mehr.

4.

Der SPIEGEL hat die Stimmen zurechtgewiesen, die die Spekulation verharmlosen. Jetzt nimmt er sich die Kritiker zur Brust – und rechtfertigt in einem mehrstufigen Rehabilitationsverfahren dasselbe spekulative Treiben, in dessen Abgründigkeit man soeben hat Einblick nehmen dürfen. Hämisch weist er zunächst darauf hin, dass nicht nur die üblichen Verdächtigen an der Spekulation beteiligt sind:

„Wieder sind sie alle dabei, die Hedgefonds und die Großinvestoren, die auf alles setzen, was Geld bringt. Aber nicht nur sie: Beteiligt sind auch die amerikanischen Pensionsfonds, die etwa das Geld für die Alterssicherung der kalifornischen Lehrer verwalten. Und unzählige Kleinanleger, die in Rohstofffonds investieren, in Indexfonds, die die Rohstoffpreise nachbilden oder in Zertifikate, jene modernen Anlageinstrumente, die es auch Otto Normalanleger erlauben, am großen Rad ein bisschen mitzudrehen.“ (S.74)

Nicht nur Großinvestoren, sondern auch unzählige Kleinanleger spekulieren: Das nimmt der Spekulation schon mal ihren finsteren und elitären Charakter. Und auf alle Fälle stopft der Hinweis auf Otto Normalanleger all denen das Maul, die unter Berufung auf das gemeine Volk, das im Zuge der großen Geldgeschäfte unter die Räder komme, den Spekulanten etwas am Zeug flicken wollen. Überhaupt ist die Spekulation viel gemeinschaftsdienlicher als ihr Ruf. Als Musterbeispiel, dass sich Spekulieren mit redlicher Arbeit prima verträgt – und zwar mit der allerredlichsten, die sich ein bürgerliches Gemüt vorstellen kann –, stellt uns der SPIEGEL unter der Überschrift der Bäckerei-Unternehmer bzw. der Bauer den ersten Anbieter, der Bio-Brote im großen Stil gebacken hat und in 87 Ländern vertreibt, und einen modernen Jung-Bauern vor: Erstmals seit vier Generationen sitzt ein Akademiker auf dem väterlichen Hof – der wird dann ja wohl wissen, wie Landwirtschaft geht. Während der erfolgreiche Bio-Bäcker sich mit Terminkontrakten gegen steigende Einkaufspreise absichert, errichtet der fortschrittliche Bauer ein Silo, um die Ernte in der Erwartung steigender Verkaufspreise einlagern zu können. Landwirtschaft wird immer spekulativer, hören wir, so dass es wohl mit dem vom SPIEGEL selbst ausgiebig dramatisierten Gegensatz zwischen einer soliden Realwirtschaft und der windigen Spekulation so weit nicht her ist. Das wirft natürlich kein schlechtes Licht auf die Realwirtschaft, sondern ein gutes auf die Spekulation: Wir lernen, dass Spekulieren zur Versorgung der Gesellschaft ungefähr so nützlich ist wie die Backstube oder der Pflug.

Aber treibt die Spekulation nicht die Preise explosionsartig nach oben? Gewiss, aber auch das ist nicht nur schlecht, sondern auch gut:

„Dabei muss Spekulation im Grundsatz nichts Schlechtes sein. Wenn neue Milliardensummen in einen Markt strömen, kann das den Handel zum Vorteil aller beflügeln, die Effizienz verbessern und einen Modernisierungsschub herbeiführen.“ (S. 76)

Die Mär von Angebot und Nachfrage geht in die zweite Runde. Wenn die Preise nicht so funktionieren, wie sie sollen, dann ist der segensreiche Mechanismus der Marktwirtschaft nur zum Schein gestört. Die Störung beflügele nämlich die Selbstheilungskräfte des Marktes, so dass die Preise nur steigen, damit sie wieder sinken, und die Spekulation gefährde die Versorgung nur, um sie zum Vorteil aller zu verbessern. Eine Seite zuvor, als das Verhängnis der steigenden Öl- und Rohstoffpreise zur Ausmalung anstand, hat der SPIEGEL diese Theorie als lächerliche Beschönigung zurückgewiesen; jetzt, wo die guten Gründe und für alle vorteilhaften Wirkungen des Spekulierens dran sind, lässt er sie sich bereitwillig einleuchten. Und auf die ökonomische Rechtfertigung der Spekulation setzt der SPIEGEL noch eins drauf. Was immer die Spekulation auch anrichten mag – spekulieren ist menschlich und gehört zum wirtschaftlichen Handeln einfach dazu:

„Gescheiterte Spekulationen, denen Not und Elend folgen, gibt es, seit die Menschen Handel treiben. Und immer ist es jener verhängnisvolle Zweiklang aus überbordender Liquidität und dem Herdentrieb der Spekulanten, der einen Markt erst steigen, dann explodieren und in sich zusammenbrechen lässt. Jede Generation, so scheint es, hat ihre eigene Spekulation zu bewältigen, hat selbst zu erleben, wie grenzenloser Optimismus in Verzweiflung umschlägt...Die erste überlieferte Spekulation steht im Alten Testament – angefacht wurde sie vom Herrscher Ägyptens. Er träumte, dass auf sieben fette Ernten sieben magere folgen. Daraufhin gründete er so etwas wie den ersten Staatsfonds der Weltgeschichte, und ließ in großem Stil Getreide horten – und trieb so die Preise nach oben.“ (S. 77)

Der SPIEGEL bekennt sich zu der Irrationalität der Spekulation und befreit sich von der umständlichen Pflicht, diesem Gewerbe lauter nützliche Wirkungen anzudichten. Schließlich gibt es die Spekulation, und das schon seit biblischen Zeiten. Wenn die Menschen spekulieren, seitdem sie Handel treiben, dann wurzelt dieses Metier nicht im Handel, sondern in der Natur der Menschen, die sich mit ihrem Herdentrieb immer wieder neu ins Unglück stürzen. Schon der alte Pharao hat spekuliert, ja dann! Der Blick in die Geschichte verleiht argumentloser Parteinahme den Anstrich unterhaltsamer Gelehrsamkeit. Die Autoren schwadronieren munter darauf los und teilen uns mit, dass die Menschen selbst auf Blumenzwiebeln spekulierten und dass die holländische Tulpenmanie am 4. Februar 1637 in Haarlem zusammenbrach – die beliebteste Tulpensorte hieß übrigens Admiral van der Eyck.

Auch über die Persönlichkeiten, die professionell spekulieren und deshalb finsterer Umtriebe verdächtig sind, erfahren wir allerhand Erbauliches. So übel sind die Burschen nämlich nicht, und so übel schauen sie auch nicht aus. An die Stelle des sauertöpfischen Neides auf die Spekulanten, die sich auf Kosten der Allgemeinheit goldene Nasen verdienen, tritt die Bewunderung starker Typen, die ihre Individualität ausleben und mit ihren abweichenden Meinungen ungemein erfolgreich sind. Die neuen Herrscher der Finanzmärkte sehen anders aus als ihre Vorgänger, die stets in feines Tuch gekleideten Banker der Wall Street. Das neueste Wunderkind der Branche (219 % Rendite!!) trägt Bart, Fleece-Weste, fährt einen alten, verbeulten Geländewagen und könnte leicht als Ranger eines Nationalparks durchgehen. Oder womöglich sogar als SPIEGEL-Redakteur. Ein Gewerbe, von solchen Figuren ausgeübt, kann so schlecht nicht sein. Spekulieren ist cool!

*

So also fertigt der SPIEGEL seine feinsinnigen Artikel: Erst macht er es sich so einfach wie die Kritiker und reiht zur Verurteilung der Spekulanten ein moralisches Klischee an das andere. Dann macht er es sich so einfach wie ihre Rechtfertiger und ist sich für keine Apologie zu schade. Und weil er beides macht, hat er sich den Ruf erworben, ein Blatt für den intellektuellen Durchblick zu sein. DER SPIEGEL – das ist die Kunst, aus dem Spruch: ‚Das ist alles nicht so einfach!‘ Woche für Woche ein Magazin zu machen.

5.

Nachdem wir über das Verbrechen, aber auch über die letzthin nicht zu hintergehende Notwendigkeit und auch noch über den Charme der Spekulation unterrichtet wurden, wird es Zeit für eine Synthese: Nicht die Spekulation, sondern ihre Auswüchse sind zu tadeln. Spekulanten gab es schon immer, Spekulationsblasen auch. Aber dass sich die Milliardenwetten so häufen wie in den vergangenen Jahren, ist neu (S. 78). Die gute Sache und ihren verwerflichen Exzess hilft vor allem der exzessive Gebrauch des Komparativs auseinanderzuhalten: Neu ist, dass immer weiter zunehmende Milliardensummen immer rigoroser neue Renditemöglichkeiten suchen. So toll und so extrem spekulativ wie heute haben es die Spekulanten noch nie getrieben, meint der SPIEGEL und erteilt den salomonischen Rat, es mit dem spekulativen Übertreiben nicht zu übertreiben. Die Aufforderung hat eine Adresse: Die Politik hat die Aufgabe, die außer Kontrolle geratenen Märkte wieder zu bändigen und so den Fluch der Spekulation zu bannen und ihren Segen zu mehren. Das liebevoll ausgepinselte moralische Zerrbild raffgieriger Spekulanten war nicht als Einwand gegen dieses Gewerbe, sondern als Argument für eine verschärfte staatliche Aufsicht gedacht. Allerdings kommt der SPIEGEL nicht umhin, auch und gerade den berufenen Hütern des Allgemeinwohls ein erschreckendes Maß an Inkompetenz zu bescheinigen. Wie wenig die Verantwortlichen von ihrem Geschäft verstehen – allen voran die Amis und ihr als Magier verehrter Ex-Notenbank-Chef Alan Greenspan –, sieht man ja schon daran, wie katastrophal die Lage ist. Andererseits kann der SPIEGEL über den naiven Irrglauben, die Politik könne im Kampf gegen die Übermacht des großen Geldes alles richten, nur müde lächeln.

*

Bei der Besprechung der beschränkten Reichweite staatlicher Aufsicht ist der SPIEGEL ganz bei sich. Denn das ist sein ureigenstes Metier: Wenn schon nicht von der hoheitlichen Warte einer praktischen Ordnungsmacht, dann doch wenigstens als ideelle Betreuungsinstanz der Gesinnungswirtschaft sortiert er alle Interessen, Standpunkte und weltanschauliche Positionen, nimmt von all dem nichts für sich, sondern relativiert die widersprechenden Auffassungen aneinander und bescheinigt ihnen allen gleichermaßen beschränkte Gültigkeit und relatives Recht. Gegen die Beschönigung der Regierung vertritt er die Kritik der Kritiker, und gegen deren Kritik die Beschönigung der offiziellen Stellen. Zwischen dem naiven Idealismus, mit dem wir uns einen Kapitalismus ohne Pleiten, Pech und Pannen vorstellen dürfen, und einem abgeklärten Realismus, der sich über den unabänderlichen Lauf der Welt keine Illusionen macht, liegt da allenfalls ein Umblättern der Seiten, manchmal nicht einmal das.

Die Redaktion als überlegene, alles besser wissende Regierungsberatung – so sieht der SPIEGEL sich selbst. Für seine Weisheiten hat er ein Publikum: Für nur 3,50 Euro verschafft er seinen Lesern Woche für Woche das Gefühl, geistig noch oberhalb der wirklich Verantwortlichen angesiedelt zu sein.