Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Spiegel zum Anstieg der Rohstoffpreise und der Rolle der Spekulation:
Bild(ung) für die Elite
Das Nachrichtenmagazin aus Hamburg schlägt Alarm: „Angriff auf den Wohlstand“, titelt der Spiegel vom 9.6.08. Das Titelbild zeigt eine ins Zwergenhafte geschrumpfte Musterfamilie mit Einkaufskorb und Ölkanister zwischen den Beinen eines Ungeheuers in Nadelstreifen. Provokant spielt der Spiegel auf die zirkulierende Auffassung vom gemeinschaftszersetzenden Treiben gieriger Spekulanten an, ironisiert sie mit der Darstellung als Comic – und gibt ihr mit dem Untertitel: „Wie Spekulanten das Leben verteuern“ doch wieder vorsichtig recht.
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Länder & Abkommen
DER SPIEGEL zum Anstieg der Rohstoffpreise und der Rolle der Spekulation: Bild(ung) für die Elite
Das Nachrichtenmagazin aus Hamburg schlägt Alarm:
Angriff auf den Wohlstand
, titelt der
SPIEGEL vom 9.6.08. Das
Titelbild zeigt eine ins Zwergenhafte geschrumpfte
Musterfamilie mit Einkaufskorb und Ölkanister zwischen
den Beinen eines Ungeheuers in Nadelstreifen. Provokant
spielt der SPIEGEL auf
die zirkulierende Auffassung vom
gemeinschaftszersetzenden Treiben gieriger Spekulanten
an, ironisiert sie mit der Darstellung als Comic – und
gibt ihr mit dem Untertitel: Wie Spekulanten das Leben
verteuern
doch wieder vorsichtig recht.
Versprochen ist also eine Aufklärung über das Wesen und die Gefahren der Spekulation auf höchstem Niveau.
1.
Der SPIEGEL beschönigt nichts und führt das ganze Ausmaß der Katastrophe vor Augen:
„Öl ist der Schmierstoff der Wirtschaft; wenn es immer teurer wird, gerät der Konjunkturmotor ins Stottern. Und Weizen und Reis sind im wahrsten Sinne des Wortes Lebensmittel: Wenn sie immer mehr kosten, müssen arme Menschen hungern, vielleicht sogar verhungern...
Wo soll das nur hinführen? Das fragt sich auch Ernst Tanner, aber der denkt nicht an Öl, sondern an Kakao. Tanner ist Chef des Schokoladenherstellers Lindt&Sprüngli. Er musste mit ansehen, wie der Preis für Kakaobohnen...
Wo soll das nur hinführen, fragen sich auch Hunderte Millionen Verbraucher auf der ganzen Welt. Seit Wochen führen die hohen Nahrungsmittelpreise zu Unruhen in zahlreichen Ländern...
Vor allem die Energiekosten belasten die Bürger. Wer täglich von Hamburg nach Lübeck pendelt...Und das ist alles erst der Anfang. Gas, das steht jetzt schon fest... . Auch der tägliche Einkauf wird ständig teurer... Und was ist, wenn die Energiepreise erst einmal voll auf die Flugkosten durchschlagen? Dann müssen sich immer mehr Deutsche fragen, ob sie sich den gewohnten Urlaub noch leisten können. Schon jetzt ist der Lebensstandard vieler Menschen in Gefahr – schon bald vielleicht der Wohlstand der Nation.“(S.72)
Unbekümmert reihen die Autoren des Blatts die Sorgen von
Wirtschaft und Nation über den Fortgang der guten
Geschäfte und die Sorgen der Menschen über den Fortgang
ihres gewohnten Lebens aneinander – als würde der
Verbraucher
den Anstieg der Rohstoffpreise nicht
zuletzt deshalb spüren, weil Schokoladenhersteller Ernst
T. und Kollegen sich mit kräftigen Preisaufschlägen für
ihre gestiegenen Einkaufspreise schadlos halten.
Natürlich wissen auch sie, dass die Wirtschaft
von
den Preissteigerungen nicht einfach passiv betroffen ist;
und natürlich ist ihnen auch bekannt, dass der Wohlstand
einer ganzen Reihe von Nationen auf dem Anstieg der
Energie- und Rohstoffpreise beruht. Das alles spielt
jetzt keine Rolle. Der SPIEGEL hat beschlossen, in dem
Preisanstieg einen Skandal zu sehen; jetzt ist
ihm jedes Argument recht, das die Bedeutung dieses
Skandals unterstreicht. In dieser Woche spielen die Leute
daher nicht ihre übliche Rolle von Lohn- und
Gehaltsempfängern, deren Lebensgewohnheiten eine
unerträgliche Belastung für die Wirtschaft sind. In
dieser Nummer sind sie Bürger
, die um ihren
wohlverdienten Wohlstand fürchten; ihre Fernreisen –
sonst das Lieblingsbild der SPIEGEL-Redaktion für die überzogenen
Konsumansprüche eines verwöhnten Volkes – sind jetzt das
Sinnbild unseres kollektiven way of life. Auch
über den Hunger in der Welt findet der SPIEGEL bewegende Worte. Der Hinweis
auf den Existenzkampf Hunderter Millionen von
Verbrauchern
(die diese
Zeitschrift soeben noch als Wohlstandsgewinner der
Globalisierung gesehen hat) darf schon aus
redaktionellen Gründen nicht fehlen: Je globaler die
Dimension der ausgerufenen Katastrophe, desto gelungener
der Titel des SPIEGEL.
2.
Das Leben, wie wir es kennen, und das Überleben der armen Menschen auf der ganzen Welt sind in Gefahr. Der SPIEGEL schreitet zur Ursachenforschung – und klärt uns darüber auf, was an dieser Katastrophe die eigentliche Katastrophe ist:
„Deshalb (unmittelbarer Anschluss an das Zitat oben) ist die Frage, ob die Preise zwangsläufig, quasi naturgegeben so steigen, weil das Angebot hinter der Nachfrage herhinkt. Oder ob da andere, heimliche Kräfte am Werk sind: Spekulanten, die sich die zunehmende Knappheit von Ressourcen zunutze machen, um schnell viel Geld zu verdienen. Das ist nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine ethische und höchst moralische Frage. Von der Antwort hängt eine Menge ab – auch für die Glaubwürdigkeit unseres Wirtschaftssystems.“
Können die Menschen die Marktwirtschaft trotz der
schlechten Erfahrungen, die sie mit ihr machen, noch lieb
haben? Um den guten Ruf unseres
Wirtschaftsystems
sorgt man sich im deutschen Nachrichtenmagazin, für es
fasst sich alle Ökonomie in der höchst moralischen
Frage
zusammen, wie es anno 2008 um das Ansehen des
Kapitalismus bestellt ist. Gerettet sähe man die
Glaubwürdigkeit des Systems, wenn die beklagten
Preissteigerungen – ausgerechnet! – auf den systemgemäßen
Normalfall zurückzuführen wären. Denn Preise, das weiß
man vom VWL-Studium, sind der natürliche Ausdruck der
gleichfalls durch und durch natürlichen Knappheit
von allem, und wenn der Markt
in dem Fall die
Knappheit von Ressourcen
ausdrückt, dann ist der
Anstieg der Preise zwangsläufig
und quasi
naturgegeben
. Zwar steigt kein Preis, ohne dass ein
Kaufmann ihn erhöht, aber in dem Fall kennt der
SPIEGEL einfach keine
Subjekte, die sich einer ‚Knappheit‘ zu ihrem Vorteil
bedienen: Das Begriffspaar von ‚Angebot und Nachfrage‘
zusammen mit dem Bild vom hinkenden Angebot befestigen
die Vorstellung vom Wirken unveränderlicher ökonomischer
Mechanismen und vom selbsttätigen Sachzwang, dem die
Akteure der Marktwirtschaft nur folgen können. Die
aktuelle Preisexplosion
wäre demnach nur Indiz
einer Durststrecke, die überwunden ist, sobald die hohen
Preise dem Angebot wieder Beine gemacht haben. In diesem
Fall könnte man die Verarmung der Bürger als
Kollateralschaden ihrer Wohlstandsmehrung verbuchen.
Dadurch wäre zwar die Lage der beklagten Opfer des
Preisanstieges nicht besser, aber doch das Bild
gerettet, das wir uns von der Marktwirtschaft machen.
Einerseits.
Denn andererseits wäre die Lage schon ganz anders, wenn
bei den Preissteigerungen nicht die bekannten anonymen
Kräfte von Angebot und Nachfrage
, sondern
unbekannte, heimliche Kräfte
am Werk sind, die
sich die ‚Knappheit‘ zunutze machen, um schnell viel
Geld zu verdienen.
In diesem Fall kennt der
SPIEGEL keine
ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die eine solche
Bereicherung wie ‚quasi naturgegeben‘ aussehen lassen,
sondern nur unlautere Subjekte, die eine
gesellschaftliche Notlage zu ihrem Vorteil ausbeuten: Um
die Dimension des moralischen Vergehens zu verdeutlichen,
stellt uns der SPIEGEL
die Spekulanten, deren Treiben wir in täglichen
Börsensendungen bestaunen dürfen, ausdrücklich als
heimliche
Kräfte vor. Ist also der beklagte
Preisanstieg nur auf die Umtriebe von ein paar
Finsterlingen zurückzuführen? – dann wäre es um die
Glaubwürdigkeit unseres Wirtschaftssystems wirklich
schlecht bestellt!
Diese Alternative ist für den SPIEGEL eine intellektuelle Herausforderung, die es souverän und mit allem gebotenen Unterscheidungsvermögen zu bewältigen gilt.
3.
So einfach wie viele Stimmen
, die plump
abwiegeln
und die Schattenseiten des Systems
einfach verdrängen
, will es sich der SPIEGEL nicht machen:
„...Vielleicht gibt es ja deshalb (Fortsetzung des obigen Zitats) so viele Stimmen, die entwarnen und beruhigen. Die zwar einräumen, dass Spekulanten auf den Rohstoffmärkten zugange sind, aber gleichzeitig behaupten, die hätten wenig Einfluss auf die Preise. Und wenn doch, dann sei das doch nur positiv, weil sich die Menschheit dann eben umso schneller auf das Unausweichliche, die zunehmende Knappheit der Ressourcen, vorbereite.
‚Hier geht es nicht um Schuldzuweisungen‘, wiegelt der amerikanische Finanzminister Hank Paulson ab. Das Angebot sei knapp und werde langfristig die Nachfrage nicht decken können. Paulson: ‚Spekulanten haben darauf nur geringen Einfluss‘.“ (S. 74)
Von den Beschwichtigungsversuchen der amerikanischen
Regierung lassen wir uns natürlich nicht hinters Licht
führen. Gut, dass der SPIEGEL auch noch andere Experten
kennt, deren Urteil wir vertrauen, weil es zu der in
dieser Passage des Artikels nun einmal eingeschlagenen
Linie passt. Das Wort haben Fadel G., Ölanalyst mit 20
Jahren Berufserfahrung bei Oppenheimer in New York – und
außerdem Ingenieur
, und Edward M., Chefanalyst für
Energiethemen bei der Investmentbank Lehmann
Brothers
. Also mehrfach qualifizierte Experten, die
es ja wohl wissen müssen:
„Beim Öl sorgt mittlerweile schon Nebel im Hafen von Houston für Panik im Markt – weil einige Tanker ihre Ladung dann nicht löschen können. In Kanada ist eine Pipeline geplatzt? ‚Der Kurs sprang gleich um vier Dollar nach oben‘, sagt Fadel Gheit. Er ist Ölanalyst bei Oppenheimer in New York mit 20 Jahren Berufserfahrung – und außerdem Ingenieur, er weiß, wie man eine Pipeline repariert. ‚Das ist doch keine Herztransplantation. Es ist ein Klempnerjob, völlig einfach in drei Tagen erledigt‘, sagt er: ‚Die Händler nutzen jeden Vorwand, um den Preis nach oben zu treiben.‘ Als junger Mann hat Gheit noch Ölpreise von vier Dollar analysiert. Das ritualisierte Verhältnis von Fördermengen und Verbrauch, die seit Jahren wachsende Nachfrage in China, Unruhen im Nahen Osten oder Nigeria, drohende Kältewellen, nichts davon kann ihm die aktuelle Preisexplosion verständlich machen. Dafür tragen allein die Spekulanten die Verantwortung, glaubt er: ‚Das ist reine Hysterie.‘
Andere Analysten stimmen ihm zu. ‚Der Markt reagiert auf die Tatsache, dass wir in 13 Jahren vielleicht nicht genug Öl haben – wie bitte?!‘, sagt Edward Morse, er ist Chefökonom für Energiethemen bei der Investmentbank Lehman Brothers. ‚Eine Blase erkennt man immer erst, wenn alles vorbei ist,‘ sagt er.“ (S.76)
So geht es eben zu in einem Gewerbe, in das man als
junger Mann einsteigt und einen Ölpreis von vier
Dollar analysiert
und dann sein Lebtag lang nichts
mehr dazulernt: Die Analysten
setzen auf steigende
Preise, weil sie vermuten, dass auch ihre Kollegen
vermuten, die Preise würden steigen. Also steigen die
Preise tatsächlich – solange, bis genügend Spekulanten
glauben, dass ihre Kollegen glauben, die Preise würden
wieder fallen. Die fundamentalen
Daten aus der
Welt der wirklichen Geschäfte sind dabei nur Faktoren
unter anderen Faktoren, und alle Faktoren zusammen sind
nur Treibstoff für die alles entscheidende
Phantasie
der Märkte; und ob man mit einer
Spekulation richtig liegt, kann man immer erst dann genau
wissen, wenn es zu spät ist und sie platzt.
Das finden die Schlaumeier aus Hamburg schon etwas absurd
– meinen dabei allerdings nicht die Normalität, sondern
eine vermeintliche Entgleisung der Spekulation.
Eigentlich nämlich dürfte die Spekulation die
Preise nur so weit ansteigen lassen, wie es einer
wachsenden Nachfrage in China
oder einer
drohenden Kältewelle
angemessen wäre. Das wäre
sachgerecht und sturzsolide – aber genau dieses weise
zurückhaltende Spekulieren findet an den Rohstoffbörsen
nicht statt: Viele Fondsmanager können (oder wollen)
die spezifischen Regeln ihres jüngsten Spielzeugs oft nur
oberflächlich verstehen
und handeln anlässlich eines
Regenschauers in Iowa
schon nach der Devise:
Eine schlechte Ernte könnte das Angebot verknappen –
gut fürs Geschäft, Preise rauf!
(S. 76) So ist das Geheimnis der
steigenden Preise fürs erste gelüftet: Aus Dilettantismus
und blinder Geldgier manipulieren die Preistreiber
in den Vorstandsetagen der Fondsgesellschaften die
Notierungen der Rohstoffe in schwindelerregende Höhen,
und in das Verhängnis, das der Menschheit darüber
beschert wird, darf man sich dann vertiefen.
Die Dimension des volkswirtschaftlichen Schadens, der
durch diese Machenschaften verursacht wird, können wir
uns nicht groß genug vorstellen. Über den Umfang der
Spekulation darf gestaunt – Tag für Tag drängt über
eine Milliarde Dollar in den Markt
–, über das enorme
Ausmaß ihrer Gefahren spekuliert werden: Seit Monaten
erschüttert die jüngste Kreditkrise die Finanzmärkte. ...
Möglich, dass das Schlimmste überstanden ist... Möglich
aber auch...
Das Ausmaß des bereits eingetretenen
Schadens lässt sich nur erahnen:
„Niemand weiß, wie teuer Öl wäre, wenn es die Spekulation nicht gäbe. Nur: Billiger wäre es auf jeden Fall. Wenn es aber billiger wäre, müssten alle weniger für Benzin zahlen und für Heizung und warmes Wasser. Dann hätten die Deutschen und alle anderen mehr zum Leben und zum Konsumieren, dann würden nicht immer mehr Milliarden dem deutschen Wirtschaftskreislauf entzogen. Wenn Öl billiger wäre, gäbe es auch weniger Inflation, und die Europäische Notenbank müsste die Zinsen nicht so hoch halten... Niedrigere Zinsen würden die Wirtschaft stimulieren und den Höhenflug des Euro bremsen, was wiederum der Konjunktur zugute käme – mit positiven Folgen für den Arbeitsmarkt.“ (S. 74)
Niemand weiß genau, wie es wäre, wenn alles anders wäre,
eines wissen wir aber auf jeden Fall: Ohne
Spekulation wäre alles besser, die tägliche Dusche
billiger, die Lage auf den Finanzmärkten stabiler, und
selbst das Spekulieren auf den Devisenmärkten wäre ein
einziger Segen für die Konjunktur. Der SPIEGEL denkt sich die Spekulation als
eine externe Größe, die mit einer soliden
Kreditwirtschaft nichts und mit unserer grundvernünftigen
Realwirtschaft
schon gleich überhaupt nichts zu
tun hat – die aus unerfindlichen Gründen aber die Macht
hat, den Wirtschaftskreislauf bis ins Detail zu
bestimmen. So wird die Spekulation für die nächsten vier
Spalten zur Ursache für alle ökonomischen Übel unserer
Zeit.
Mehr als alle Worte sagen das übergroße Bild vom
hektischen Treiben an der Warenterminbörse in Chicago und
die vielen kleinen bunten Schaubilder, die uns die
Fieberkurven der Warenpreise und den Umfang des
Kontrakthandels zeigen. Der Leser muss die
Gleichgewichtstheorien der Volkswirtschaftslehre, die
hier zu übersichtlichen Graphiken zusammengefasst sind,
überhaupt nicht kennen, um über den Lauf der Wirtschaft
Bescheid zu wissen: Wenn der blaue Balken größer ist als
der rote und die Schere zwischen beiden von Jahr zu Jahr
weiter aufgeht, dann ist klar, dass hier etwas aus den
Fugen geraten ist: Die Finanzwirtschaft hat sich von der
Realwirtschaft abgekoppelt
und ist zu einem
aberwitzigen
Monster angewachsen; das Geld, das
hier verdient wird, sprengt alle Dimensionen
.
Kurzum: Was hier stattfindet, ist nicht Kapitalismus,
sondern Gaga-Kapitalismus
. Jetzt wundert uns
überhaupt nichts mehr.
4.
Der SPIEGEL hat die Stimmen zurechtgewiesen, die die Spekulation verharmlosen. Jetzt nimmt er sich die Kritiker zur Brust – und rechtfertigt in einem mehrstufigen Rehabilitationsverfahren dasselbe spekulative Treiben, in dessen Abgründigkeit man soeben hat Einblick nehmen dürfen. Hämisch weist er zunächst darauf hin, dass nicht nur die üblichen Verdächtigen an der Spekulation beteiligt sind:
„Wieder sind sie alle dabei, die Hedgefonds und die Großinvestoren, die auf alles setzen, was Geld bringt. Aber nicht nur sie: Beteiligt sind auch die amerikanischen Pensionsfonds, die etwa das Geld für die Alterssicherung der kalifornischen Lehrer verwalten. Und unzählige Kleinanleger, die in Rohstofffonds investieren, in Indexfonds, die die Rohstoffpreise nachbilden oder in Zertifikate, jene modernen Anlageinstrumente, die es auch Otto Normalanleger erlauben, am großen Rad ein bisschen mitzudrehen.“ (S.74)
Nicht nur Großinvestoren
, sondern auch
unzählige Kleinanleger
spekulieren: Das nimmt der
Spekulation schon mal ihren finsteren und elitären
Charakter. Und auf alle Fälle stopft der Hinweis auf
Otto Normalanleger
all denen das Maul, die unter
Berufung auf das gemeine Volk, das im Zuge der großen
Geldgeschäfte unter die Räder komme, den Spekulanten
etwas am Zeug flicken wollen. Überhaupt ist die
Spekulation viel gemeinschaftsdienlicher als ihr Ruf. Als
Musterbeispiel, dass sich Spekulieren mit redlicher
Arbeit prima verträgt – und zwar mit der
allerredlichsten, die sich ein bürgerliches Gemüt
vorstellen kann –, stellt uns der SPIEGEL unter der Überschrift der
Bäckerei-Unternehmer
bzw. der Bauer
den
ersten Anbieter, der Bio-Brote im großen Stil gebacken
hat und in 87 Ländern vertreibt
, und einen modernen
Jung-Bauern vor: Erstmals seit vier Generationen sitzt
ein Akademiker auf dem väterlichen Hof
– der wird
dann ja wohl wissen, wie Landwirtschaft geht. Während der
erfolgreiche Bio-Bäcker sich mit Terminkontrakten gegen
steigende Einkaufspreise absichert, errichtet der
fortschrittliche Bauer ein Silo, um die Ernte in der
Erwartung steigender Verkaufspreise einlagern zu können.
Landwirtschaft wird immer spekulativer
, hören wir,
so dass es wohl mit dem vom SPIEGEL selbst ausgiebig
dramatisierten Gegensatz zwischen einer soliden
Realwirtschaft
und der windigen Spekulation so
weit nicht her ist. Das wirft natürlich kein schlechtes
Licht auf die Realwirtschaft
, sondern ein gutes
auf die Spekulation: Wir lernen, dass Spekulieren zur
Versorgung der Gesellschaft ungefähr so nützlich ist wie
die Backstube oder der Pflug.
Aber treibt die Spekulation nicht die Preise
explosionsartig
nach oben? Gewiss, aber auch das
ist nicht nur schlecht, sondern auch gut:
„Dabei muss Spekulation im Grundsatz nichts Schlechtes sein. Wenn neue Milliardensummen in einen Markt strömen, kann das den Handel zum Vorteil aller beflügeln, die Effizienz verbessern und einen Modernisierungsschub herbeiführen.“ (S. 76)
Die Mär von Angebot und Nachfrage
geht in die
zweite Runde. Wenn die Preise nicht so funktionieren, wie
sie sollen, dann ist der segensreiche Mechanismus der
Marktwirtschaft nur zum Schein gestört. Die Störung
beflügele nämlich die Selbstheilungskräfte des Marktes,
so dass die Preise nur steigen, damit sie wieder sinken,
und die Spekulation gefährde die Versorgung nur, um sie
zum Vorteil aller zu verbessern. Eine Seite zuvor, als
das Verhängnis der steigenden Öl- und Rohstoffpreise zur
Ausmalung anstand, hat der SPIEGEL diese Theorie als lächerliche
Beschönigung zurückgewiesen; jetzt, wo die guten Gründe
und für alle vorteilhaften Wirkungen des Spekulierens
dran sind, lässt er sie sich bereitwillig einleuchten.
Und auf die ökonomische Rechtfertigung der Spekulation
setzt der SPIEGEL noch
eins drauf. Was immer die Spekulation auch anrichten mag
– spekulieren ist menschlich und gehört zum
wirtschaftlichen Handeln einfach dazu:
„Gescheiterte Spekulationen, denen Not und Elend folgen, gibt es, seit die Menschen Handel treiben. Und immer ist es jener verhängnisvolle Zweiklang aus überbordender Liquidität und dem Herdentrieb der Spekulanten, der einen Markt erst steigen, dann explodieren und in sich zusammenbrechen lässt. Jede Generation, so scheint es, hat ihre eigene Spekulation zu bewältigen, hat selbst zu erleben, wie grenzenloser Optimismus in Verzweiflung umschlägt...Die erste überlieferte Spekulation steht im Alten Testament – angefacht wurde sie vom Herrscher Ägyptens. Er träumte, dass auf sieben fette Ernten sieben magere folgen. Daraufhin gründete er so etwas wie den ersten Staatsfonds der Weltgeschichte, und ließ in großem Stil Getreide horten – und trieb so die Preise nach oben.“ (S. 77)
Der SPIEGEL
bekennt sich zu der Irrationalität der
Spekulation und befreit sich von der umständlichen
Pflicht, diesem Gewerbe lauter nützliche Wirkungen
anzudichten. Schließlich gibt es die
Spekulation, und das schon seit biblischen Zeiten. Wenn
die Menschen
spekulieren, seitdem sie Handel
treiben, dann wurzelt dieses Metier nicht im Handel,
sondern in der Natur der Menschen, die sich mit ihrem
Herdentrieb
immer wieder neu ins Unglück stürzen.
Schon der alte Pharao hat spekuliert, ja dann! Der
Blick in die Geschichte
verleiht argumentloser
Parteinahme den Anstrich unterhaltsamer Gelehrsamkeit.
Die Autoren schwadronieren munter darauf los und teilen
uns mit, dass die Menschen
selbst auf
Blumenzwiebeln spekulierten und dass die holländische
Tulpenmanie am 4. Februar 1637 in Haarlem zusammenbrach –
die beliebteste Tulpensorte hieß übrigens Admiral van
der Eyck
.
Auch über die Persönlichkeiten, die professionell
spekulieren und deshalb finsterer Umtriebe verdächtig
sind, erfahren wir allerhand Erbauliches. So übel sind
die Burschen nämlich nicht, und so übel schauen sie auch
nicht aus. An die Stelle des sauertöpfischen Neides auf
die Spekulanten
, die sich auf Kosten der
Allgemeinheit goldene Nasen verdienen, tritt die
Bewunderung starker Typen, die ihre Individualität
ausleben und mit ihren abweichenden Meinungen
ungemein erfolgreich sind. Die neuen Herrscher der
Finanzmärkte sehen anders aus als ihre Vorgänger, die
stets in feines Tuch gekleideten Banker der Wall
Street.
Das neueste Wunderkind
der Branche
(219 % Rendite!!) trägt Bart, Fleece-Weste, fährt
einen alten, verbeulten Geländewagen und könnte leicht
als Ranger eines Nationalparks durchgehen.
Oder
womöglich sogar als SPIEGEL-Redakteur. Ein Gewerbe, von
solchen Figuren ausgeübt, kann so schlecht nicht sein.
Spekulieren ist cool!
*
So also fertigt der SPIEGEL seine feinsinnigen Artikel: Erst macht er es sich so einfach wie die Kritiker und reiht zur Verurteilung der Spekulanten ein moralisches Klischee an das andere. Dann macht er es sich so einfach wie ihre Rechtfertiger und ist sich für keine Apologie zu schade. Und weil er beides macht, hat er sich den Ruf erworben, ein Blatt für den intellektuellen Durchblick zu sein. DER SPIEGEL – das ist die Kunst, aus dem Spruch: ‚Das ist alles nicht so einfach!‘ Woche für Woche ein Magazin zu machen.
5.
Nachdem wir über das Verbrechen, aber auch über die
letzthin nicht zu hintergehende Notwendigkeit und auch
noch über den Charme der Spekulation unterrichtet wurden,
wird es Zeit für eine Synthese: Nicht die Spekulation,
sondern ihre Auswüchse
sind zu tadeln.
Spekulanten gab es schon immer, Spekulationsblasen
auch. Aber dass sich die Milliardenwetten so häufen wie
in den vergangenen Jahren, ist neu
(S. 78). Die gute Sache und ihren
verwerflichen Exzess hilft vor allem der exzessive
Gebrauch des Komparativs auseinanderzuhalten: Neu ist,
dass immer weiter zunehmende
Milliardensummen
immer rigoroser
neue
Renditemöglichkeiten suchen. So toll und so extrem
spekulativ
wie heute haben es die Spekulanten noch
nie getrieben, meint der SPIEGEL und erteilt den salomonischen
Rat, es mit dem spekulativen Übertreiben nicht zu
übertreiben. Die Aufforderung hat eine Adresse: Die
Politik hat die Aufgabe, die außer Kontrolle geratenen
Märkte wieder zu bändigen
und so den Fluch der
Spekulation zu bannen und ihren Segen zu mehren. Das
liebevoll ausgepinselte moralische Zerrbild raffgieriger
Spekulanten war nicht als Einwand gegen dieses
Gewerbe, sondern als Argument für eine
verschärfte staatliche Aufsicht gedacht. Allerdings kommt
der SPIEGEL nicht umhin,
auch und gerade den berufenen Hütern des Allgemeinwohls
ein erschreckendes Maß an Inkompetenz zu bescheinigen.
Wie wenig die Verantwortlichen von ihrem Geschäft
verstehen – allen voran die Amis und ihr als Magier
verehrter
Ex-Notenbank-Chef Alan Greenspan –, sieht
man ja schon daran, wie katastrophal die Lage ist.
Andererseits kann der SPIEGEL über den naiven Irrglauben,
die Politik könne im Kampf gegen die Übermacht des großen
Geldes alles richten, nur müde lächeln.
*
Bei der Besprechung der beschränkten Reichweite staatlicher Aufsicht ist der SPIEGEL ganz bei sich. Denn das ist sein ureigenstes Metier: Wenn schon nicht von der hoheitlichen Warte einer praktischen Ordnungsmacht, dann doch wenigstens als ideelle Betreuungsinstanz der Gesinnungswirtschaft sortiert er alle Interessen, Standpunkte und weltanschauliche Positionen, nimmt von all dem nichts für sich, sondern relativiert die widersprechenden Auffassungen aneinander und bescheinigt ihnen allen gleichermaßen beschränkte Gültigkeit und relatives Recht. Gegen die Beschönigung der Regierung vertritt er die Kritik der Kritiker, und gegen deren Kritik die Beschönigung der offiziellen Stellen. Zwischen dem naiven Idealismus, mit dem wir uns einen Kapitalismus ohne Pleiten, Pech und Pannen vorstellen dürfen, und einem abgeklärten Realismus, der sich über den unabänderlichen Lauf der Welt keine Illusionen macht, liegt da allenfalls ein Umblättern der Seiten, manchmal nicht einmal das.
Die Redaktion als überlegene, alles besser wissende Regierungsberatung – so sieht der SPIEGEL sich selbst. Für seine Weisheiten hat er ein Publikum: Für nur 3,50 Euro verschafft er seinen Lesern Woche für Woche das Gefühl, geistig noch oberhalb der wirklich Verantwortlichen angesiedelt zu sein.