Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
„Serbien-Montenegro“ gegründet:
Schon wieder eine Balkan-Krise verhindert

Die EU stiftet die nationalen Gegensätze zwischen den neu vereinten Restbeständen Jugoslawiens und nötigt ihnen Kompromisse auf. Sie beweist ihre Kompetenz als Ordnungsmacht, indem sie darüber rechtet, welcher und wie viel Nationalismus genehmigt wird.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

„Serbien-Montenegro“ gegründet:
Schon wieder eine Balkan-Krise verhindert

Mitte März ist ein neuerlicher Fortschritt zu registrieren, den die EU in ihrem Balkan-Protektorat dekretiert: Eine weitere Zerlegung der „Bundesrepublik Jugoslawien“ wird ausgebremst, stattdessen gibt es nun ein „Serbien-Montenegro“. Über den Staatszweck dieser Neugründung ist allgemein bekannt, dass er in einer Direktive von Seiten der EU besteht, nicht mit noch einem, nicht bestellten und erwünschten nationalen Aufruhr belästigt zu werden – zumindest fürs Erste:

„Es war offensichtlich, dass Solana und mit ihm die EU die Abhaltung einer Abstimmung über die Unabhängigkeit, wie sie von Präsident Djukanovic noch für dieses Frühjahr angekündigt war, um jeden Preis zu verhindern suchten. Man befürchtete in Brüssel bei dem zu erwartenden knappen Ergebnis den Ausbruch von Unruhen und wollte eine neue Krise im Balkan verhindern.“ (NZZ, 4.4.)

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Die Konstruktion des neuen Staatsgebildes verdankt sich ganz der Logik der EU-„Vermittlung“: Dem Nationalismus der separatistisch aufgelegten knappen Mehrheit der montenegrinischen Führung wird soweit stattgegeben, dass er so gut wie alle bereits vollzogenen Trennungen und eigenstaatlichen Einrichtungen beibehalten darf, um ihn dann darauf zu verpflichten, vom letzten Schritt zu einer förmlichen Unabhängigkeitserklärung Abstand zu nehmen. Und umgekehrt wird Serbien das bloße Zusammenbleiben mit einem ansonsten für die Bedürfnisse des Staatsmachens weitgehend unbrauchbaren Staatsteil als Grund zur Zustimmung präsentiert.

Legislative und Exekutive beider Staatsteile bleiben getrennt, Montenegro bleibt Anhängsel der Euro-Zone, während Serbien seinen neuen Dinar bewirtschaftet, eine Grenze und unterschiedliche Zölle werden beibehalten. Über dieser Idylle des Zusammenlebens erhebt sich ein gemeinsames Parlament – ein Modus, damit die Repräsentanten von 650000 Montenegrinern gegenüber 10 Millionen Serben bei aller Gemeinsamkeit genügend zu sagen haben, muss noch gefunden werden. Anstelle des Volks wie bisher, das wegen eben dieser Zahlenverhältnisse dafür schlecht geeignet ist, wählt dieses Parlament einen Gesamt-Präsidenten, der sich dann 5 Minister bestellt, die sich mit Außenpolitik, Verteidigung, Außen- und Binnenwirtschaft sowie Menschen- und Minderheitenrechte zu befassen haben. Die Armee hat soviel Rücksichtnahme auf die Staatsteile zu pflegen, dass die Rekruten den Wehrdienst in ihrer Republik ableisten können. Die Führung obliegt einem obersten Verteidigungsrat, in dem die 3 Präsidenten im Konsens entscheiden müssen – also gerade so viel Macht haben, um sich ebenso völkisch zu blockieren, wie es die benachbarte bosnische Staatskonstruktion von europäischen Gnaden vorlebt.

Wie viel an politischer Einheit auf dieser Grundlage zustande kommen dürfte, umreißen die zitierten Vorkehrungen, die dafür sorgen sollen, dass den völkischen Vorbehalten des kleineren Teils auch genügend Rechnung getragen wird. Und auch um die ökonomische Lebensfähigkeit dieser Konstruktion ist es nicht übermäßig bestellt, wenn beide Teile die Bevölkerung auf konkurrierende Gelder verpflichten und Zollschranken gegeneinander unterhalten, die ihre Völker, deren einträglichster Lebensunterhalt im Schmuggel besteht, unterlaufen. Aber das schert die EU-Vermittler wenig; deren Balkan-Schützlinge sind ja durch Staatszerlegung und Krieg ohnehin so weitgehend beschädigt, dass sie nach vorherrschender Auffassung vorwiegend von der Hoffnung auf Kredit und eine Aufnahme durch die EU leben. Dieser Perspektive wird die Harmonisierung der Wirtschaft anvertraut, die auf dem Weg in die EU erfolgen soll. Und darin liegt auch das entscheidende Argument, mit dem die EU die widerstrebenden Politiker beider Seiten zur Einwilligung in ihr letztes Angebot genötigt hat:

„Sollte Montenegro unabhängig werden, würde der Weg in die EU länger werden, drohte Solana.“ (FAZ, 5.2.)

Das Entscheidende am neuen „Serbien-Montenegro“ besteht aber, wie schon gesagt, darin, dass die montenegrinische Regierung einwilligt, den geplanten Volksentscheid auf mindestens 3 Jahre zu vertagen.

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Die auf höherer Ebene angesiedelten Gesichtspunkte der EU, derentwegen sie noch ein solches von Beginn an völkisch zersetztes Staatskonstrukt in Auftrag gibt, sind ebenfalls bekannt und werden von der Presse ohne jeden Verdacht auf etwaige „schiere Machtpolitik“ zustimmend als gute Gründe kolportiert.

„Den Kleinststaat zu ermuntern, schien ein vernünftiger Weg, Miloševićs Herrschaft zu untergraben. Aber nun, nachdem die Herrschaft in Belgrad in guten Händen ist, hat der Westen keinen Bedarf danach, dass noch ein neuer Balkan-Staat entsteht…“ (Economist, 16.2.)

Zuallererst haben die USA und Europa mit der Ächtung Rest-Jugoslawiens und ihrer Kriegsansage den Chef der montenegrinischen Teilrepublik auf die Idee gebracht, sie zu einer eigenen völkischen Einheit umzudefinieren, um sich aus dem Krieg und seinem voraussehbaren Ende herauszuhalten; dann haben sie ihren Schützling Djukanović hofiert und materiell unterstützt, um Serbien zu destabilisieren; und jetzt wird der Gute wieder zurückgepfiffen, weil das Etappenziel, Umsturz in Serbien, erreicht ist. Nunmehr möchte die EU erstens keinen neuen militanten Konflikt vonseiten ihrer Schützlinge eröffnet bekommen und ordnet die Vertagung der nationalistischen Streitigkeiten an – für mehr als eine „Zwischenlösung“ will sie ihr Konstrukt selbst gar nicht ausgeben. Damit hält man sich zweitens auch eine Option für den Fall, dass in Serbien ein „Rückfall“ bekämpft werden muss. Immerhin wird der jugoslawische Präsident Kostunica, die Legitimationsfigur für die Absetzung von Milošević, in Europa inzwischen gewohnheitsmäßig mit dem Adjektiv ‚nationalistisch‘ vorgestellt, denn der innerserbische Machtkampf, wie viel Ergebenheit gegenüber dem Westen angebracht ist, wie viel ehemalige Spitzen von Politik und Militär noch an Den Haag abzutreten sind, ist noch nicht entschieden. Drittens wiederum soll der separatistische Teil der Montenegriner Politik von einer Unabhängigkeitserklärung abgehalten werden, damit kein Präzedenzfall für Kosovo, Mazedonien, Bosnien geschaffen wird, auf den sich dortige Unabhängigkeitsbestrebungen oder separatistische Ambitionen berufen könnten. Auch ein schöner Beleg für die Beschaffenheit der Friedensordnung auf dem Balkan, für die Europa verantwortlich zeichnet.

Und zwar in doppelter Hinsicht: Mit der europäischen Einmischung in den gesamtjugoslawischen Streit hat die EU einigen Nationalismen so viel Rückhalt verschafft, dass sie dann ordentlich loslegen konnten; der montenegrinische Nationalismus ist überhaupt erst durch die westliche Kriegsdrohung geschaffen worden – und diese Geschöpfe der europäischen Ordnungspolitik sollen sich nun zugunsten der europäischen Balkan-Ordnung wieder bescheiden. Auf die Weise werden die heutigen Interessengegensätze gestiftet: Zwischen den neu vereinten Restbeständen Jugoslawiens bildet ab sofort der EU-verordnete Kompromiss, d.h. der Streit um den Kompromiss, den Inhalt der Politik.

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Der Streit geht dann auch sofort los. Die eine Seite erklärt das letzte Angebot der EU vorher für miserabel – Für Montenegros Außenminister Lukovac wäre ein solcher Staat ‚ein Ungeheuer und Zwitter‘ (SZ, 26.2.) – und interpretiert den Schiedsspruch nachher als Übergangsregelung in Richtung einer vollen Unabhängigkeit. (Djukanović, FAZ, 27.3.) Die andere Seite lehnt die europäische „Lösung“ vorher als unannehmbar ab – Djindjić sagte, er werde einem ‚faulen Kompromiss‘, nach welchem etwas ‚künstlich Zusammengeklebtes ein Staat genannt wird‘, nicht zustimmen. (FAZ, 26.2.), der serbische Finanzminister Djelić: wirtschaftlich ein Frankenstein. Und nachher werden die Prognosen über die Haltbarkeit der erzwungenen Einigung auch nicht besser: Höchste Zeit für ein unabhängiges Serbien, ‚Dieser Imitation einer Nation‘ werde nur ein kurzes Leben beschieden sein, der serbische Justizminister Batić (SZ, 15.3. und FAZ, 16.3.). Die mit der Staatskonstruktion festgeschriebene Unbrauchbarkeit Montenegros für so etwas Ähnliches wie einen Staatsaufbau bringt nun auch auf serbischer Seite, in der Djindjić-Partei, die Idee hervor, dass Serbien ohne den Einigungszwang mit dem Kleinststaat besser fahren würde, und schafft damit einen neuen Dissens in der serbischen Führung. Andererseits erwartet Djindjić, dass die Wirtschaftssysteme Serbiens und Montenegros innerhalb eines Jahres angeglichen würden, und beruft sich dabei auf die Zusicherung der EU, dass die Verfassungsordnung den Weg Serbiens in die EU nicht behindern dürfte. (SZ, 15.3.) Ein Vorgeschmack davon, wie die EU-domestizierten Kontroversen der beiden unwilligen Partner in Zukunft aussehen.

Um nichts anderes mehr als darum, welcher und wie viel Nationalismus von der EU genehmigt wird, ob man überhaupt eine Nation sein darf, wie groß etc. etc., ist es sämtlichen ganzen, halben und Quasi-Staaten auf dem Balkan zu tun. Nichts anderes ist dort Gegenstand der Politik; meilenweit sind die untergeordneten Veranstalter dieser Friedensordnung davon entfernt, irgendetwas aufzubauen, wovon die Insassen ihrer Protektorate ihre Existenz bestreiten könnten. Darin besteht denn auch der ganze Fortschritt auf dem Balkan, dem die EU mit ihrer im Namen von Menschenrechten und europäischen Werten betriebenen Kriegsbeteiligung und Nachkriegspolitik zum Durchbruch verholfen hat: die nationale Frage aufzuwerfen, so dass garantiert keine noch so abgelegene Sippschaft mehr daran vorbeikommt, und dem aufgerührten Nationalismus dann Lösungen vorzuschreiben, die keine sind. Denn so werden die Nationalismen einerseits bekräftigt und andererseits mit all ihren Gegensätzen auf die Schiedssprüche der EU festgelegt.