Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Verteidigungsminister Scharping besucht China und Indien
Seine Devise: Machtvoll sich aufdrängen!
Verteidigungsminister Scharping macht Indien und China klar, dass sie Europas Bedeutung deutlicher zur Kenntnis zu nehmen und damit zu rechnen hätten, dass Europa sich in Zukunft auch in dieser Region „konfliktregelnd“ einmischen wird.
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Verteidigungsminister Scharping
besucht China und Indien
Seine Devise: Machtvoll sich
aufdrängen!
Ein Jahr zuvor hat der Bundeskanzler China und Indien
besucht. Scharping würdigt die Bedeutung dieses Besuchs:
Er habe wichtige Anstöße für die Weiterentwicklung der
bilateralen Beziehungen gegeben
. Die „bilateralen
Beziehungen“ sind, das ist dieser Aussage zu entnehmen,
in Bewegung. Während seiner 9-tägigen Reise will der
Verteidigungsminister für deren Weiterentwicklung etwas
leisten. Sein Fachgebiet ist die militärische
Gewalt. In Deutschland diskutiert man
Bundeswehr-Standorte unter dem Gesichtspunkt, ob und
inwiefern sie für die „regionale Kaufkraft“ unverzichtbar
sind – er tritt den Mächten im fernen Asien gegenüber als
Repräsentant eines Gewaltapparates, der sich im
europäischen Verbund anschickt, seine Macht in alle Welt
zu „projizieren“. Deswegen sieht Scharping seine Aufgabe
darin, den von ihm aufgesuchten Staaten einiges über
diese „Machtprojektion“ und die sich daraus ergebenden
„globalen Perspektiven“ mitzuteilen.
1.
Scharping beginnt seine Rede vor der Nationalen Verteidigungsuniversität in Peking mit dem Hinweis auf die historische Besonderheit seiner Reise – er ist der Verteidigungsminister eines „vereinten Deutschlands“, und er ist überhaupt der erste deutsche Verteidigungsminister, der China besucht –, die so recht den historischen Auftrag unterstreicht, für den er unterwegs ist: Da fällt die „gewachsene Größe“ Deutschlands mit der Macht eines gewachsenen Staatenbündnisses, des „vereinten Europas“, zusammen. Daraus leitet Scharping wie selbstverständlich die Legitimation ab, als ideeller Gesamtsicherheitspolitiker dieses Bündnisses aufzutreten und China – und drei Tage später auch Indien – mitzuteilen, dass es einen Schritt nach vorn tun will. Die bisherigen Beziehungen waren zu sehr durch Zurückhaltung und Selbstbezogenheit auf Seiten Europas bestimmt. Das kann so nicht weitergehen:
„Europa kann sich weniger denn je allein auf Europa konzentrieren.“ (19.2.)
Und warum? Der Minister weiß einen Grund anzugeben: Es gibt für Europa einfach keine Weltgegend, in der nicht seine „Sicherheit berührt“ ist – so sehr hat es sich „auf sich selbst konzentriert“:
„Da unsere Sicherheit in vielfältiger Weise, auch weit entfernt von unserem eigenen Territorium, berührt wird, müssen wir die tieferen Ursachen und Erscheinungsformen von Krisen und Konflikten erkennen und ein umfassendes Spektrum besitzen, um ihnen zu begegnen… Wir streben politische und militärische Krisen- und Konfliktprävention vor Ort an… Wir müssen allerdings auch in der Lage sein, Krisen und Konflikte zu bewältigen, sofern sie nicht im Ansatz verhindert werden können.“
Europa muss reagieren, weil es „in vielfältiger Weise, auch weit entfernt“ betroffen ist. Mit dieser jedem Politiker geläufigen Heuchelei meldet Scharping für sein Europa – dessen „Sicherheit“ deswegen „berührt“ ist, weil es in aller Welt auf seine Interessen achten muss – einen Zuständigkeitsanspruch an. Von Gegenden, die von „Krisen und Konflikten“ gebeutelt sind, hält man sich nicht tunlichst fern, vielmehr handelt es sich dabei um „Herausforderungen“, an denen sich die eigene Fähigkeit zur „Friedenssicherung“ beweisen muss. Indem man die Konfliktparteien – schließlich sind die „Krisen und Konflikte“ ja keine anonymen Veranstaltungen sondern Folge staatlicher Interessensgegensätze – gleich präventiv zur Ordnung ruft oder sie zur Räson bringt, wenn sie nicht hören wollen.
Ein solcher Anspruch würde sich freilich auf der Stelle blamieren, würde Europa nicht auch über dafür angemessene Mittel verfügen. Und siehe da: In weiser Voraussicht und weil Europas Macher eben immer schon eine Ahnung von seinem historischen Auftrag hatten, sind sie in dieser Hinsicht nicht untätig geblieben, was ein dickes Selbstlob gerechtfertigt erscheinen lässt:
„Die Fortschritte der Entwicklung einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union in den letzten eineinhalb Jahren waren in der Tat atemberaubend.“
Warum diese Entwicklung gerade „in den letzten eineinhalb Jahren“ so „atemberaubend“ war, ist kein Geheimnis. Europa hat – so sieht es auf jeden Fall Scharping – einen qualitativen Fortschritt gemacht, indem es sein „Spektrum“ eingesetzt hat; es „strebt“ „Krisen- und Konfliktprävention vor Ort“ nicht bloß „an“, sondern betätigt sich schon aktiv als Weltordner und Friedenssicherer – nämlich auf dem Balkan. Dort unterwirft es „Krisen und Konflikte“ einer gelungen Mischung aus „Prävention“ und „Bewältigung“, räumt „Ursachen“ aus, stiftet „Sicherheitsstrukturen“, sorgt, in einem Wort, für „Stabilität“. Den Einwand, dass Europas Einmischung den Balkan erst zu einem „Krisenherd“ gemacht hat und dass feindselige Auseinandersetzungen und Grenzgefährdungen weiterhin und erst recht an der Tagesordnung sind – ein Einwand, der doch gerade von China kommen könnte, das zu den schärfsten Kritikern der NATO-Eigenmächtigkeit gehörte –, befürchtet er nicht. Er will ja nur darauf hinweisen, was wirklich zählt, und er weiß, dass er schon richtig verstanden wird: Europa beweist dort seinen gewaltbereiten und -fähigen Herrschaftsstandpunkt. Damit gibt er an. So und nur so kann man anderen Mächten imponieren, sie auf die eigene Seite ziehen und für sich einspannen. Dass die Berechnungen der anderen Mächte nicht mit denen Europas zusammenfallen, ignoriert er souverän; er vereinnahmt sie, indem er Zahlen sprechen lässt:
„Effektive Friedenssicherung erfordert heutzutage das reibungslose Zusammenwirken von Streitkräften auch über Bündnisgrenzen hinweg. Die Friedenssicherung in Südosteuropa ist ein Beispiel: Allein in Bosnien-Herzegowina wirken heute im Rahmen von SFOR die Streitkräfte von 35 Nationen zusammen, im Kosovo und in Mazedonien sind es sogar 29 Nationen, die 42000 Soldaten zur Gewährleistung eines sicheren Umfelds für den Wiederaufbau stellen… Aufbau neuer, schnell verfügbarer Einsatzkräfte: 50-60000 Mann Landstreitkräfte sowie entsprechende Luft- und Seestreitkräfte… Polizeikontingent von 5000 Mann für internationale Einsätze.“
Damit hat Scharping das Gewicht und den Erwartungshorizont Deutschlands und Europas in Sachen Friedensstiftung gebührend herausgestellt, und die Rede von der ‚Betroffenheit‘ ist da gelandet, wo sie hingehört: Europa meldet ein Mitspracherecht in aller Welt an. „Ohne uns geht nichts, wir sind überall dabei!“ – so der Endpunkt des zu Anfang angekündigten Endes europäischer Zurückhaltung und Selbstbezogenheit. Europa betreibt eine ‚globale Sicherheitspolitik‘, für die der ‚Fall Balkan‘ vorbildlich, also auch nur ein Unterfall ist. Weitere Fälle sind ins Auge gefasst:
„Unsere politischen und sicherheitspolitischen Ressourcen müssen wir auch an anderen Stellen dieser Welt in regionalpolitische Lösungsansätze einbringen.“
2.
Es ist also die Fähigkeit zu „regionalpolitischen Lösungsansätzen“, die Scharping einfach an den Mann bringen muss. Ob er „Ansätze“ er im Gepäck hat und wenn, welche, ist nicht das Thema. Vielmehr muss den angesprochenen Staaten erst einmal klar werden, wie sehr sie welche brauchen. Sie gehören nämlich zu einer „Region“ – einer ziemlich großen: Asien! –, in der „Krisen und Konflikte“ laut und deutlich nach „Prävention“ und „Bewältigung“ rufen, sind also selber Objekt deutsch-europäischer „Sicherheitspolitik“:
„Die beiden größten Staaten der Region, China und Indien, befinden sich in einem weitreichenden dynamischen Prozess der Anpassung an die neuen internationalen Bedingungen. Noch mehr als in der Vergangenheit wird beiden Staaten künftig eine Schlüsselbedeutung für die regionale und überregionale Stabilität zukommen. Trotz dieser Fortschritte bleiben Krisen, Konflikte und Gewalt nach wie vor Realität… Das Spektrum der Ursachen hierfür ist weit… Sie leben in einer sehr risikoreichen Region.“
Die Interessen dieser Nationen müssen darauf gerichtet sein, einen „Prozess der Anpassung“ durchzustehen, und zwar an die Gegebenheiten und Bedingungen, die ansonsten gelten, befindet der Minister. Zu denen, die die „internationalen Bedingungen“ setzen, gehören sie damit schon mal nicht, sonst müssten sie sich ja nicht anpassen. Wer befugt ist, diese internationalen Bedingungen zu definieren, braucht Scharping nicht extra zu betonen, es ist ohnehin klar. Indem er die mit seinem Besuch beehrten asiatischen Regionalmächte unter die Staaten einordnet, die in Sachen Weltordnung noch gehörigen Nachholbedarf haben, definiert er gleich mit, wie das Kompliment mit der „Schlüsselbedeutung“ zu verstehen ist. Wichtig sind diese Staaten schon, aber sie können nicht meinen, den Inhalt ihrer Rolle in dieser „Region“ selbst bestimmen zu können. Deswegen belehrt sie der deutsche Weltpolitiker darüber, wie sie die jüngste „Erweiterung“ des Begriffs „Sicherheit“ zu verstehen haben. Sie haben zu bedenken, dass sie mit ihren ‚Sicherheitsfragen‘ nicht allein dastehen und andere bei deren ‚Beantwortung‘ mitzureden haben:
„Sicherheit hat eine geografische und inhaltliche Erweiterung erfahren. Den Auswirkungen dieser Entwicklung kann sich niemand entziehen. Niemand in Europa, niemand in Asien… Es gibt in der heutigen Welt keine autarken Inseln der Stabilität mehr. Sicherheit kann weniger denn je (diese Figur kennt man schon) allein nationalstaatlich gewährleistet werden… Gemeinsame Risiken erfordern gemeinsame Antworten.“
„Niemand kann sich ihnen entziehen“ – seinen Vorstellungen nämlich, wie unfertig diese „Region“ aus dem Blickwinkel des globalen Sicherheitspolitikers ohne deutsch-europäische Mitsprache noch ist. Ohne Scheu vor Widersprüchen weist Scharping China und Indien darauf hin, woher er seinen Maßstab bezieht. Nachdem er ihnen die Unmöglichkeit von „Inseln der Stabilität“ vor Augen geführt hat, präsentiert er ihnen einen „Raum“, der das Unmögliche geschafft hat: „In Europa wurde ein unvergleichlicher Stabilitätsraum geschaffen“. Um den kommen sie bei der Bewältigung ihrer „Risiken“ nicht herum, denn er ist mit den neuesten Erkenntnissen in Sachen „Prävention“ und „Bewältigung“ ausgestattet. Es verbietet sich für diese Staaten, ihre „Krisen und Konflikte“ für sich allein, aus einem „autark“ definierten Zuständigkeitsanspruch heraus anzupacken. Dies würde nicht nur dem Erkenntnisstand der ‚globalen Sicherheitspolitik‘ widersprechen, dafür sind die Staaten, die eben keinen „unvergleichlichen Stabilitätsraum“ darstellen, auch gar nicht gerüstet:
„Im Gegensatz zu Europa sind in Asien vergleichbare kooperative Sicherheitsstrukturen weniger ausgeprägt und institutionalisiert.“
Dasselbe noch einmal andersherum: Was sie sich an „Sicherheitsstrukturen“ zugelegt haben, verdient nicht einmal die Note ‚ausreichend‘:
„Bei allen Gesprächen (in Indien) war Scharping bemüht zu unterstreichen, dass ein nur auf Abschreckung gegründetes Sicherheitskonzept heute nicht mehr ausreichend sei.“ (FAZ, 23.1.01)
Damit ist hinlänglich geklärt, dass die Sache mit den „gemeinsamen Antworten“ nur in eine Richtung gilt. Wer käme auch schon auf die Idee, dass China oder Indien in europäischen Krisenfragen irgendein Wörtchen zu sagen hätten. Wenn sie sich ein solches Recht wie China im Fall Jugoslawien auch nur im Entferntesten anmaßen – immerhin war das ja irgendwie auch eine UNO-Affäre –, dann ist das selbstverständlich eine unzulässige Einmischung in die ureigenen Belange eines „unvergleichlichen Stabilitätsraums“, der längst kollektiv besetzt ist.
3.
Wenn Scharping den asiatischen Staaten nachdrücklich einen Kontrast zwischen ihren sicherheitspolitischen Mängeln und der einschlägigen Kompetenz Europas vor Augen führt, wenn er sie als das Problem bezeichnet und sich als die Lösung anbietet, dann geht es ihm also um nicht weniger als einen neu zu definierenden Stand der Beziehungen zwischen Europa und diesen asiatischen Großmächten. Dass diese Staaten die Bedeutung Europas immer noch nicht genügend zur Kenntnis genommen haben, das können sie sich nach seinem Willen einfach nicht mehr leisten; denn es steht fest: Europa hat sie neu zur Kenntnis genommen und wird sich nicht abhalten lassen, seinen „erweiterten Sicherheitsbegriff“ auch auf sie anzuwenden. Nicht, weil sich bei ihnen etwas geändert hätte – nein, die Führungsmacht Europas hält es einfach von sich aus für geboten und endlich an der Zeit, sich in die „Krisen und Konflikte“ dieser „Region“ mehr einzumischen. Das legt Scharping diesen Staaten als ihr ureigenstes Sicherheitsinteresse ans Herz: Was Europa sich vorgenommen hat, müssen sie wollen. Um eine „neue Kooperation“ kommen sie so oder so nicht herum, da sie der globale Sicherheitspolitiker, der erklärter Maßen von jeder Weltaffäre „berührt“ ist, schon in seinen globalen Sicherheitsrahmen als „Risikoregion“ eingeordnet hat. Es muss also in ihrem Interesse liegen, diese „Kooperation“ anzustreben.
Noch liegt es gar nicht in der Macht Europas, den dortigen Staaten Bedingungen der „Krisenprävention und -bewältigung“ vorzuschreiben; aber aus seinem Stand in der „globalisierten“ Staatenkonkurrenz, aus den Abhängigkeitsverhältnissen, die es gestiftet hat, aus seinen militärischen Potenzen, an deren Entfaltung es arbeitet, zieht sein prominenter Vertreter weltöffentlich den Schluss auf seine ausgreifenden Zukunftsaufgaben. Europa hat das Recht und die Pflicht zur Weltaufsicht bis nach Fernost. Dieser Anspruch steht, ist Maßstab künftiger europäischer Bemühungen und zugleich Leitlinie der aktuellen Diplomatie. Den Wechsel auf diese Zukunft präsentiert Scharping China und Indien schon jetzt – sie sollen sich darauf einstellen.
Als Erfolg seiner Reise kann Scharping immerhin verbuchen, dass diese Ansage nirgendwo offenen Widerspruch provoziert, sondern ein respektvolles Echo in Form der Frage: Was ist von diesem Europa zu erwarten?