Fußnote zu Kuhn & Antwort auf Gremliza

Klarstellungen zu Gremlizas Zurückweisung der Kritik an „konkret“ (ab S. 41 in diesem Heft): Gremliza zeigt sich in seinen moralischen Richtersprüchen gegen das „Deutschtum“ als negativer Nationalist, der jede Erklärung des Nationalismus für eine Entschuldigung seiner „Monstrosität“ hält. Dagegen fordert er Fesseln für den ewigen deutschen Nationalismus, angelegt ausgerechnet von einer starken inneren Polizeigewalt und durch ausländische Staaten.

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Fußnote zu Kuhn & Antwort auf Gremliza

Die GegenStandpunkt-Redaktion hatte der „konkret“ eine Kritik an ihrer Behandlung der rassistischen Angriffe auf Ausländer zugesandt, die die Argumente des vorstehenden Artikels zusammenfaßt. Hermann Gremliza kommentierte die dort abgedruckten „Einwände und Verbesserungsvorschläge“ zu seiner Kolumne folgendermaßen.

Hermann L. Gremliza
Fußnote zu Kuhn

„Die „Einwände und Verbesserungsvorschläge“ enthalten so viele nachdenkliche Sätze (und manche, fuhr Karl Kraus fort, die mir nachgedacht sind), daß der langen Rede kurzer Unsinn erst auf den zweiten Blick erscheint. Es geht um die Rettung der deutschen Ehre durch Klassenanalyse: Was in dieser Zeit in diesem Land geschieht, könnte nämlich zu jeder Zeit in jedem vergleichbaren Land geschehen. Wer das bezweifelt, weil er sich und andre daran erinnert, daß die Deutschen schon einmal zu ganz anderem fähig waren als ihre Nachbarn, fällt „rassistische Charakterurteile“ und ist selber ein Rassist.

Radikal anders als Wilhelm II., der, als er den Deutschen einen Platz an der Sonne beschaffen wollte, keine Parteien mehr kannte, sondern nur noch Deutsche, kennt der vaterländische Geselle Kühn keine Deutschen mehr, sondern nur noch Parteien: unterdrücktes „Volk“ unterschiedlicher Herkunft einer- und eine imperialistische Staatspolitik andererseits. Was das deutsche Volk in Hünxe, Rostock, Sachsenhausen tut, tut es nur, weil „die Politik des Staates“ es dazu „provoziert“. Daß das Volk seine ungewollten Pogrome mit seiner schlechten sozialen Lage rechtfertigt, darf man ihm nicht übelnehmen, schon gar nicht als Linker, der „soziale Ansprüche“ bedingungslos zu achten hat. Damit aber am „provozierten“ Volk nicht doch noch etwas hängenbleibt, werden die Leute, von denen es sich anstecken ließ, post festum keimfrei gemacht: Politiker dieser Republik seien und blieben auch und gerade dann ganz normale Demokraten, wenn sie „dasselbe tun wollen wie Faschisten“. Was wir in Hünxe, Rostock und Sachsenhausen erlebt haben, das ist er halt, der demokratische Imperialismus. „Die Erinnerung an den Faschismus ist völlig fehl am Platz“, und erst recht die an seine deutsche Variante, die deshalb nicht einmal beim Namen genannt wird.

Wer nur behauptet, daß die Politik des Staates den unnützen Ausländer zum Volksfeind erklärt und Pogrome provoziert, aber „die gegenteilige Behauptung“, daß der Rassenhaß der Deutschen eine besondere sozio- und psychogenetische Geschichte hat, verschweigt, oder als „nicht so gelungen“ bestreitet, entschuldigt den Mob und entwaffnet die Kritik. Der deutsche Rassismus wird ihm zu einem jener sagenhaften Nebenwidersprüche, die mit dem Sieg über den demokratischen Imperialismus von selber verschwinden werden. Stünde es Spitz auf Knopf zwischen Imperialismus und Revolution, könnte man das ja abwarten. Weil aber, wie Georg Fülberth schrieb, nur noch die Wahl steht zwischen einer deutschnationalen Variante des Imperialismus und einer eher „internationalisierten“, europäisch oder atlantisch geprägten, ist nichts so sehr am Platz wie die Wahrnehmung der Unterschiede zwischen ihnen und die Erinnerung, daß die Differenz zwischen der deutschen Variante des Imperialismus und der anderen einmal 60 Millionen Menschenleben ausgemacht hat.“

Antwort auf Gremliza

Der stilbewußte Herausgeber, der damit angibt, Karl Kraus nachzuschreiben, hat sich wohl etwas im Ton vergriffen. Den wahren Gehalt der schriftlichen Einwände, die ihm auf den ersten Blick nachdenklich und – wie er sich zu unrecht schmeichelt – von ihm abgeschrieben vorkommen, erkennt er erst auf den zweiten Blick, dann aber eindeutig: „Dem vaterländischen Gesellen Kühn“ geht es um die „Rettung der deutschen Ehre“. Das sitzt, und ist einmal etwas Neues für einen, der sich sonst Nestbeschmutzer, Nihilist und Stalinist geschimpft sieht. Daß gemeinsamer Haß auf die deutsch-nationale Mordlust den Streit um die richtige Kritik daran tragen könnte, kommt Gremliza gar nicht erst in den Sinn. Er ist nicht willens oder imstande eine Erklärung des nationalen Wahns, die von der seinen abweicht, als Erklärung zu würdigen, richtige und falsche Argumente zu scheiden, eventuelle Mißverständnisse zurechtzurücken und Schlußfolgerungen zu widerlegen.

1.

Gremliza ersetzt das alles durch die Kunst des zweiten Blicks, der einen geheimen, dem ersten Anschein gerade entgegengesetzten, Sinn enthüllt. Dieser böse Sinn erschließt sich ihm, weil er gar nicht theoretisch argumentiert, sondern moralisch richtet. Er befaßt sich nicht mit der Frage, wie es ist, sondern damit, wie man denken darf und muß, um in der jetzigen Lage einer deutschen Verantwortung zu entsprechen. Er sieht sich von Deutschnationalen umstellt, und wer ihm nicht in seiner Polemik folgt, steht auf der anderen Seite. Für den Warner vor Deutschlands gefährlichen Möglichkeiten ist die Welt sehr eindimensional geworden. Sie dreht sich nur noch um die deutsche Frage, jeder Standpunkt ist ein Standpunkt dazu – sehr vielen deutsch-nationalen Rassisten stehen wenige deutsch-verantwortliche Warner gegenüber, tertium non datur. Daß einer mit dem Deutschtum so und andersherum nichts am Hut hat, ist in dieser sehr deutsch-zentrierten Wahrnehmung nicht vorgesehen: Wer am deutschen Nationalismus den deutschen Nationalismus kritisiert, also das was gestandenen Nationalisten in Amerika, Frankreich, Rußland, Polen und – mit Verlaub – auch in einem kleinen Siedlerstaat des Nahen Ostens nicht fremd ist, der macht sich der Einebnung und Schmälerung der absolut unvergleichlichen Bösartigkeit deutscher Art schuldig.

Wenn Gremliza „bezweifelt, daß in jedem vergleichbaren Land geschehen könnte, was in dieser Zeit in diesem Land geschieht“, dann ist das kein Wunder: ein vergleichbares Land kennt er sowieso nicht. Er hat längst jeden möglichen Vergleich gegen Deutschland entschieden und verboten. Weiß Gott, was er gerade in Deutschland vor sich gehen sieht, wenn er sich an das Schicksal der Flüchtlinge halten würde, das er zitiert, dann könnte er nicht umhin festzustellen, daß überall in Europa eine Politik des Grenzen Dichtmachens gegenüber der weltweiten, kapitalistisch erzeugten Überbevölkerung stattfindet, im Inneren fast überall begleitet von rassistischem Terror gegen die Flüchtlinge. Es ist zum Erschrecken, wie weit verbreitet der Rassismus im „zivilisierten“ Europa ist und wie groß die schlechte Gesellschaft, in der sich die Deutschen da befinden. Das bleibt ein Faktum ganz unbeschadet der auch uns bekannten Verwendung, die davon gemacht wird: Mögen noch so viele stolze Bundesbürger aus dem Nationalismus der anderen ein Recht, ja einen deutschen Nachholbedarf darauf ableiten – Was denen recht ist, muß uns Deutschen billig sein! – es bleibt absurd und wahnhaft, das Faktum zu leugnen, nur weil man dessen legitimierende Anführung nicht leiden kann. Gremliza leugnet lieber das Faktum, als daß er seine nationalistisch idiotische Verwendung angreifen würde – wie die Nazis das Faktum Auschwitz leugnen, weil sie anders mit der nationalen Schande nicht fertig werden. Diese Schande hat’s ihm umgekehrt angetan: Wenn in Rumänien auf Sinti, in Frankreich auf Nordafrikaner Jagd gemacht wird, dann ist das für Gremliza ganz etwas anderes, als wenn – nach Auschwitz, zu dem „Deutsche schon einmal fähig waren“ – deutsche Nationalidioten ganz dasselbe tun wie ihre Nachbarn. Wie der positive Nationalist sich seinen Stolz auf eine tiefsitzende angebliche Besonderheit seiner Art nicht nehmen läßt, so bewahrt sich der negative Nationalist seinen Haß auf eine angebliche, ganz unvergleichliche, deutsche Ekelhaftigkeit.

2.

Wohlgemerkt, den Vergleich einheimischer und fremder Pogrome hat Gremliza in Kuhns Text nicht vorgefunden. Diesem ist der Nationalismus der anderen völlig gleichgültig, wenn er sich mit dem deutschen beschäftigt. Daß es auswärts dieselben mörderischen Idiotien gibt, macht die Sache daheim weder besser noch schlechter. Gremliza hat nicht nur die entschuldigende Absicht des Vergleichs, er hat den Vergleich selber in einen Text hineingelesen, in dem davon kein Wort steht. Die Absicht der Einebnung entnimmt er dem Umstand, daß überhaupt eine Erklärung des deutschen Nationalismus versucht wird – und der Autor nicht nur starke Worte gegen dessen Eigennamen vom Stapel läßt. Horkheimers alte Forderung, daß, wer vom Kapitalismus nicht reden will, vom Faschismus schweigen soll – daß sich Faschismus also aus dem Kapitalismus erklärt –, erscheint Gremliza inzwischen wie eine Entschuldigung des Faschismus, jedenfalls des deutschen. Jede Erklärung schmälert das fassungslose Entsetzen vor dem Abgrund deutscher Möglichkeiten und macht das „Undenkbare“ dem Verstand kommensurabel: Erklären ist Entschuldigen, nur Nicht-Begreifen-Können Kritik.

Mit dieser Brille liest er dann. Im Text steht: Bürger werden zu nationalen Aktivisten, wenn sie ihre staatsbürgerliche Gefolgschaft zu einem persönlichen Recht auf rücksichtslose Durchsetzung ihres Staates gegen seine Hindernisse aufwerten, wenn sie dieses Recht dann gegen eine vermeintlich zögerliche Regierung einklagen und schließlich in die eigenen Hände nehmen. Gremliza liest „Staatsfanatismus“ und versteht: Das gute Volk – er weiß nicht, daß es ungemütlich wird, wenn die Menschen sich als Volk aufstellen, – soll in Schutz genommen werden, Kühn wolle sagen, der Staat habe es „zu ungewollten Pogromen“ verführt. Einer, der erklärt, wo Gedanke und Wille zu rassistischem Terror herkommen, bekommt vorgeworfen, er wolle auf „unbewußt“ plädieren. Dabei ist es Kühn völlig gleichgültig, ob nun die Ausländer-Raus Deutschen von oben oder die von unten die schlimmeren sind, er äußert sich auch gar nicht zu der moralischen Schuldfrage, wer angefangen habe. Daß staatliche Definitionen Inländer und Ausländer unterscheiden, den Status der Asylanten festschreiben, sowie die Unerträglichkeit ihrer großen Zahl feststellen, darf einfach nicht gesagt werden. Gremliza verwirft jedes Befassen mit der Staatsräson der Republik, die gegen Ausländer sehr kritisch eingestellt ist, als Ablenkung vom unverbesserlichen deutschen Volkscharakter. Ob er sich je Rechenschaft darüber abgelegt hat, daß die zivile, rechtsförmige, und gar nicht fanatische Abschiebepraxis des bundesdeutschen Staates längst mehr Todesurteile vollstreckt hat, als die privaten Ausländerjäger? Oder darf man das auch nicht vergleichen, weil nur die zivilisierte oder barbarische Form der Ausländerbehandlung und gar nicht deren reale Wirkung zählt?

Die gute Absicht seines Richterspruchs rechtfertigt es, dem vorgelegten Text zur Not auch wörtlich das Gegenteil dessen zu entnehmen, was dasteht: Schreibt Kuhn, man solle die vielzitierten sozialen Mißstände (Arbeitslosigkeit etc.) nicht als Grund für rechtsradikalen Fanatismus gelten lassen – immerhin forderten diese Leute kein gutes Leben für sich, sondern eine sichtbare Schlechterstellung für die Ausländer – liest Gremliza: „Daß das Volk seine ungewollten Pogrome mit seiner schlechten sozialen Lage rechtfertigt, darf man ihm nicht übelnehmen, schon gar nicht als Linker, der soziale Ansprüche bedingungslos zu achten hat.“ Kuhn will sich mit ihm um den Grund des Ausländerhasses und die Kritik seiner Rechtfertigungen streiten, Gremliza denkt ans Übelnehmen: er glaubt nämlich die falsche Erklärung aus den sozialen Nöten – und verübelt ausgerechnet den nationalen Idealisten, die nichts so sehr wollen wie einen starken Staat, der keine Interessen mehr gelten läßt, persönlichen Egoismus und Genußsucht.

3.

Den Irrtum, den ihm Kuhn nachweisen möchte, beansprucht Gremliza ausdrücklich als geistiges Eigentum: Er weist da nichts zurück, sondern beharrt darauf, daß die Antriebe des faschistischen Mobs politikferne Charaktereigenschaften der ziemlich unverbesserlichen deutschen Art sind. Er verlangt, daß der deutsche Rassenhaß nicht (nur) aus der nationalen Politik zu erklären sei, sondern „eine besondere sozio- und psychogenetische Geschichte“ habe. Daß alles, was in der Zeit existiert, so seine Geschichte hat, ist unbestreitbar. Daß etwas heute so ist, weil es früher einmal irgendwie gewesen ist, – ist das falsche Dogma aller Historie. Auch beim Rassismus verhält es sich so, daß man mit seiner Erklärung auch seine Geschichte begreift – und nicht umgekehrt mit dem Verweis auf die Geschichte die Nichtbefassung mit seinen aktuellen Gründen fordern kann. Das genau tut Gremliza, wenn er ganz pauschal auf kompetente Fachwissenschaften verweist. Es schadet nicht, daß er dem Leser deren Erklärungen vorenthält. Mehr als die Versicherung, Rassismus habe bei den Deutschen eine lange und schlimme Tradition, sitze also ziemlich tief, bringen geschichtliche Beweisführungen grundsätzlich nicht zustande: eine Charakterologie des ewigen Deutschen, ohne daß gleich offiziell das Blut bemüht wird.

Wer die völkerpsychologische, Willen und Bewußtsein umgehende, tiefe Verankerung der Barbarei in der deutschen Seele nicht mitmacht, wer die Beschuldigung der deutschen Art ebensowenig hilfreich findet wie die darin liegende Entschuldigung ihrer stark vorgeprägten Einzelexemplare, „entschuldigt den Mob und entwaffnet die Kritik“. Es mag ja sein, daß Gremliza nicht mehr weiß, wie er ohne das ewige Deuten auf Auschwitz den Rassismus kritisieren soll, viel interessanter ist, wie er mit dieser Völkerpsychologie den unverbesserlichen Mob eigentlich noch „kritisieren“ will – oder was sonst könnte diesen Volkscharakter zivilisieren? Wenn überhaupt, dann bringt es Gremliza zu einer Kritik von Sittenlosigkeit und Unmoral, wie sie Präsidentenreden nicht unähnlich ist: Fehlende Selbstbeschränkung und Tugend läßt die deutsche Art ungehemmt ausbrechen. Er fordert Fesseln für den ewigen Deutschen – solche von innen für diejenigen, die sich am Zivilisationsniveau der europäischen Umwelt ein Vorbild nehmen, die Fesseln der Polizei und des starken Staates gegen die Schwachen, die ihren deutschen Schweinehund nicht selbst disziplinieren, und Fesseln des Auslands gegen Deutschland als ganzes mit seinem Gefahrenpotential. Ist der Nationalismus der anderen wirklich die einzig denkbare praktische Kritik des deutschen? Ist der starke Staat das richtige Heilmittel gegen Privatfaschisten? Ist der nationale Fanatismus denn ein so eingeborener und unkritisierbarer Wahn, daß nur Selbstdisziplin hilft? Soll das die erforderte Kritik des deutschen Nationalismus sein – und ist es überhaupt eine?

4.

Mit seinem deutschen Fimmel macht sich Gremliza zum negativen Spiegelbild des selbstgerechten Nationalismus, den er angreift. Dessen entlastendes Vergleichen und Aufrechnen eigener Unarten mit fremden, welches Gremliza überall vermutet, wo seiner nationalen Selbstbezichtigung nicht beigepflichtet wird, betreibt er selbst mit umgekehrtem Vorzeichen. Wo positive Deutsche auf Imperialismus und Rassismus der anderen deuten, um ein gleiches deutsches Recht einzuklagen, da verharmlost der negative Nationalist ausdrücklich die staatliche Barbarei auswärts und jeden nichtdeutschen Nationalismus. Er kennt einen aktuellen Imperativ, der die Systemfrage von der Tagesordnung absetzt, und ein engagiertes Standpunktbeziehen innerhalb der Welt von Nationalismus und Imperialismus fordert: Heute gebe es nur mehr die Wahl zwischen einer deutschnationalen oder einer mehr „internationalistischen“,[1] europäisch oder atlantisch geprägten Variante des Imperialismus. Deshalb hätten auch Kritiker jedes Imperialismus für letztere zu optieren. Ganz abgesehen davon, daß „wir“ diese Wahl nicht haben – Klassenkampf würde das Projekt bekämpfen, ohne Klassenkampf wird sowieso ohne „uns“ entschieden –, wäre „uns“ diese Wahl auch wurscht. Varianten in der Unterwerfung anderer Staaten, Varianten der Ausbeutung ihrer menschlichen wie natürlichen Ressourcen sind kein guter Grund, für eine davon zu sein. Gremliza ist ein so verantwortlicher Deutscher, daß er fordert, man solle gegen den deutschen für den US- oder einen Euro-Imperialismus optieren – als ob die ohne Kriegs- und Hungertote zu haben wären. Oder geht’s um die genauen Zahlen? Ist alles unter 60 Millionen Toten besser? Und was, wenn nun schon der Frieden der vom Kommunismus befreiten Welt diesen traurigen Rekord bricht? Gehen die Opfer der Atombomben in Ordnung, weil die Opfer der Deutschen nicht in Ordnung gehen? Eine Erläuterung des zweiten Weltkriegs derart, daß da eine Nation, die sich entrechtet vorkam, einen Aufstand gegen die herrschende imperialistische Weltordnung unternommen hatte, und daß dies und nicht etwa eine besondere Widerwärtigkeit der deutschen Faschisten der Grund der angegriffenen Mächte war, bis zur bedingungslosen Kapitulation zurückzuschlagen, – eine solche Erläuterung würde Gremliza nicht sachlich bestreiten, weil er sie sowieso für verwerflich hielte. Er würde von vornherein nur eine ent-schuldigende Funktion in solche Aussagen hinein- und aus ihnen herauslesen.

5.

Gremliza bestreitet seine ganze Publizistik mit einem einzigen und noch dazu falschen Argument: Was immer er bespricht, Analyse und Kritik bestehen in einem Vergleich mit und in einer Warnung vor dem Nazireich. Statt der aktuellen Politik auf den Grund zu gehen, ihre Ambitionen, Mittel und Schweinereien aufzudecken, zieht er alles in einen Vergleich mit Hitler – und verfehlt zielsicher die Eigenarten der heutigen Klassenherrschaft, des heutigen Imperialismus und Rassismus. Das neue Deutschland hat viele Ziele und üble dazu, aber sie heißen nicht Rückkehr nach ’33 oder Wiederholung der Geschichte: Die laufende innere Mobilmachung ist nicht dasselbe wie Hitlers nationale Rettung vor Kommunismus und feindlichem Ausland, sondern das Aufbruchsprogramm einer erfolgreichen Nation, die gar keine inneren Feinde zu erledigen hat; deutscher Imperialismus heute zielt auf die Schaffung einer europäischen Weltmacht und nicht auf einen Eroberungskrieg gegen den Rest der Welt. So sehr das offizielle Deutschland darauf besteht, daß „die freieste Republik, die es auf deutschem Boden je gab“, aus der Geschichte gelernt habe und sich Vergleiche mit damals verbitten könne, so sehr beharrt Gremliza auf diesem Vergleich und darauf, daß nichts gelernt worden sei. Das könnte einen wunderbaren Dialog auf der höheren Etage bundesdeutscher Selbstbespiegelung erge-ben; recht haben beide Positionen nicht. Nicht weil es heute besser ist als damals oder schlimmer, sondern weil es darum einfach nicht geht.

Je weniger aber sich das offizielle Deutschland noch auf seine antifaschistische Staatsmoral der frühen Jahre ansprechen läßt, desto mehr sieht sich ihr übriggebliebener Hüter in seiner Anklage bestätigt. Dabei ist sein Urteil – alles ein Schritt zum Faschismus – bei aller moralischen Radikalität durchaus teilnehmend: Was Schritt für Schritt auf dem Weg nach Auschwitz ist, ist jedenfalls noch nicht dort angekommen. Sein Vergleichen macht ein Verhältnis zu einem absoluten Bösen auf, gegen das die bundesdeutsche Gegenwart immer noch verteidigenswert erscheint und noch mehr ihre jüngste Vergangenheit – unbeschadet dessen, daß diese in den Kolumnen von gestern genau demselben Verdikt verfiel. Seit zwanzig Jahren sieht Gremliza die Republik auf der schiefen Bahn und im stetigen Fortschritt auf dem Weg nach Auschwitz begriffen. Damit verpaßt er die wirklichen Fortschritte der deutschen Politik, die gar nicht auf der Linie vom reumütigen „Nie wieder!“ zum erneuerten Faschismus liegen, – deswegen aber noch lang nicht harmlos sind.

[1] Die Anführungszeichen verraten, daß diese Idee sogar ihrem Erfinder nicht ganz geheuer ist. Auf die aparte Kombination von Imperialismus – die Rede ist von Gewaltverhältnissen zwischen Nationen – und dem völkerverbindenden Attribut „internationalistisch“ will er gleichwohl nicht verzichten. Der Warner vor der deutschen Gefahr möchte sich den Gegensatz imperialistischer Interessen – besonders deutscher zum Rest der Welt –, von denen er weiß, daß sie zu Krieg führen, durch Bündnisse wie Nato, EG, WEU etc. zivilisiert und gemildert vorstellen. Instrumente des Imperialismus mißversteht er als Bremsen und Hemmungen: Wo Nationen sich zusammentun, um die Reichweite ihrer Macht zu vergrößern, sieht er wechselseitige Einbindung und ein Abstandnehmen von Aggressivität.